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Es dämmerte bereits, als Mike das Auto vor seinem kleinen, aber fast bezahlten Einfamilienhaus unter das Carport fuhr und ausstieg. Die Morgenluft war jetzt im Juni noch angenehm frisch, hatte aber keine Chance gegen die Geister in seinem Kopf. Noch eine Stunde, bis Petra und die Kinder aufstehen werden. Eine Stunde Ruhe, die er dringend für sich brauchte!
Auch wenn alles in ihm nach einem Glas Bourbon schrie, tat er erst, was er sich vorgenommen hatte. So leise wie möglich schloss er die Haustür auf, zog seine Schuhe aus und schlich hinauf in die erste Etage. Die Tür zu Felix’ Zimmer stand wie immer einen Spalt breit offen, doch er wollte zuerst zu Katja.
Es war das typische Zimmer einer Sechzehnjährigen! An den Wänden gab es kaum einen Quadratzentimeter, den nicht das Gesicht irgendeines Teeniestars zierte, und für einen kurzen Augenblick stieg Ärger in ihm hoch. Er hatte schon tausendmal darum gebeten, dass abends alle Geräte ausgeschaltet werden und wieder war der CD-Player die ganze Nacht durchgelaufen. Doch dann kamen wieder die Geister und der Ärger wich dem dankbaren Gefühl, zwei gesunde Kinder zu haben. Leise schlich Mike zu dem Bett seiner Tochter und war kurz versucht, ihr über das verstrubbelte, blonde Haar zu streicheln.
Felix’ Zimmer stellte den totalen Kontrast zum Zimmer seiner Tochter dar. Der spärliche Wandschmuck beschränkte sich auf Szenen aus den Star-Wars-Filmen und der Teppich glich einem Minenfeld aus Autos, Lego-Spielzeug und undefinierbaren Dingen aus dem nahen Wald.
Irgendwie schaffte Mike es, bis zum Bett seines Sohnes zu gelangen, ohne auf irgendetwas zu treten. Felix’ Gesicht war ihm zugewandt und sah unendlich friedlich aus.
Das Bild des erschossenen Jungen blitzte in Mikes Kopf auf und für einen Augenblick war Felix’ Hinterkopf genauso explodiert. Fast hätte sich der Brechreiz durchgesetzt, aber Mike konnte ihn gerade noch rechtzeitig unterdrücken und den Raum verlassen.
Der Bourbon stand wie immer in der kleinen Schrankbar und es war Gott sei Dank auch noch genug in der Flasche, um Wirkung zu zeigen. Mike griff sich ein Glas und die Flasche, öffnete die Terrassentür und setzte sich hinaus in den Sonnenaufgang. Dann goss er sich großzügig ein und leerte das Glas schnell, aber mit Genuss. Nach zwei weiteren Gläsern stellte sich endlich etwas Wirkung ein, und ohne darüber nachzudenken, griff Mike nach dem Päckchen Zigaretten seiner Frau, das noch vom Vorabend auf dem Tisch lag.
»Du rauchst wieder?« Petras leise Stimme ließ ihn zusammenzucken. Dann blickte er über die Schulter zu ihr auf und versuchte ein Lächeln.
Petra kannte ihren Mann seit fast neunzehn Jahren und wusste, dass Mike hier nicht ohne Grund mit Schnaps und Zigarette saß. Und sie wusste auch, dass er nur reden würde, wenn er es wollte, daher fragte sie nur: »Gibst du mir auch eine Zigarette?«
Während sich Petra auf den Stuhl neben ihm setzte, schob er ihr das Päckchen hin und legte das Feuerzeug oben drauf. Dann wartete er, bis sich seine Frau ebenfalls eine Zigarette angezündet hatte, und begann kurz zu schildern, was sich ereignet hatte.
Petra betrachtete ihren Mann einige Sekunden lang, dann fragte sie voll Sorge in der Stimme: »Wie geht es dir jetzt?«
Mike suchte nach den richtigen Worten, fand keine und schenkte sich stattdessen noch einmal nach. Diesmal nippte er aber nur etwas, zuckte mit den Schultern und antwortete knapp: »Die Bilder werden blasser werden!« Und nach einer etwas zu langen Pause fügte er hinzu: »Ich hoffe nur, Peter zerbricht nicht daran!« Dann blickte er mit leeren Augen in den Garten hinaus und stieß verbittert aus: »Gottverdammt, er hat ein Kind erschossen!«
Petra nahm seine Hand und drückte sie bewusst etwas zu fest. Es schien zu helfen! Mike sah sie traurig an, aber keiner von beiden musste noch etwas zu sagen. Jeder wusste, was der andere fühlte und das Gefühl von Liebe vertrieb die düsteren Gedanken ein wenig. Mike schaffte ein kleines Lächeln und beschloss: »Eine rauche ich noch mit dir, dann versuche ich ein wenig zu schlafen. Die Kinder müssen mich nicht unbedingt so sehen, es reicht schon, wenn ich so oft nicht da bin.« Dann sah er Petra in die Augen und flüsterte ein einfaches »Danke!«.

Als Mike die Augen wieder öffnete, stellte er verwundert fest, dass er tatsächlich geschlafen hatte. Offensichtlich hatte der Alkohol seine Wirkung nicht verfehlt, denn der Wecker zeigte bereits kurz vor 12 Uhr mittags.
Er stand auf, duschte sich und trank einen Kaffee in der Ruhe des Hauses. Die Kinder waren noch in der Schule und Petra besuchte ihren Vater im Altersheim. Grundsätzlich hatte Mike gerne Leben um sich herum, eine Ausnahme bildete allerdings die erste halbe Stunde nach dem Aufstehen. In dieser Zeit war er weder aufnahmefähig noch gesprächsbereit.
Verzweifelt versuchter er über die vergangene Nacht nachzudenken, doch diese Gedanken wurden immer wieder von dem Wunsch nach einer weiteren Zigarette attackiert. Schon der erste Zug nach ihrem Einsatz hatte die Mauer eines ganzen Jahres eingerissen und sein Körper schrie wieder nach dem Gift!
Nach der ersten halben Tasse Kaffee beendete Mike den Kampf und holte sich eine Packung L&M aus dem Versteck seiner Frau. Ein einziger Zug reichte und die Gedanken an die letzten Stunden schafften es, wieder in den Vordergrund zu treten.
Seine Hauptsorge galt Peter! Er wäre nicht der erste Polizist, den so ein Ereignis völlig aus der Bahn warf und letztlich dienstunfähig machte. Er dachte kurz daran seinen Chef anzurufen, um nach Peter zu fragen, ließ es aber bleiben, da seine Kollegen mit Sicherheit genug zu tun hatten. Dann trank er den letzten Schluck Kaffee, legte den Brustgurt mit seiner Waffe an und verließ das Haus.

Vor Nürnbergs Hauptwache bestätigten sich seine schlimmsten Befürchtungen in Form zahlreicher Übertragungswagen der Radio- und Fernsehsender. Noch hatte man nicht herausgefunden, wer die undichte Stelle im Präsidium war, aber es gab sie! Und offensichtlich wurden auch die Geschehnisse der letzten Nacht schon verbreitet.
Am liebsten wäre Mike direkt in den Innenhof des Präsidiums gefahren, was aber angesichts einer Baustelle zurzeit nicht möglich war. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sein Auto auf dem Notparkplatz abzustellen und den Spießrutenlauf über sich ergehen zu lassen. Noch hatte ihn niemand entdeckt und Mike beschloss, es über einen der Seiteneingänge zu versuchen. Er stieg aus, nahm eine der kleineren Gassen, die zunächst weg vom Präsidium führten, und umrundete dann das Gebäude in einigem Abstand. Doch als er schon fast den Liefereingang der Polizeikantine erreicht hatte, stellte sich eine ihm schon seit Längerem bekannte Reporterin in den Weg.
»Herr Köstner, was sagen Sie zu den Vorfällen von letzter Nacht? Hat Ihr Partner fahrlässig gehandelt? Haben Sie durch Ihre Vorgehensweise ein Kind auf dem Gewissen?«
Mike hasste diese Person! Er konnte mit gestylten Blondinen in Hosenanzügen einfach nichts anfangen und ihre penetrant-aufdringliche Art machte es nicht besser. Diese Radioreporterin schien langsam zu seinem Schatten zu werden. Egal wo er war, sie fand ihn! Verärgert sah er der Frau in die Augen und erwiderte abweisend: »Für Sie immer noch Hauptkommissar Köstner!«
Ihre Irritation hielt nicht lange an, dann setzte sie ihr überlegenes Lächeln auf und fragte erneut: »Und was sagen Sie zu den Vorwürfen, die gegen Sie und Ihren Kollegen erhoben werden?«
Mikes Gesicht nahm einen Ausdruck an, den zumindest seine Kinder fürchteten und für einen Augenblick war er kurz davor, die Beherrschung zu verlieren. Dann setzte die antrainierte Reaktionsweise ein und er antwortete mit emotionsloser Stimme: »Wenden Sie sich bitte an die Presseabteilung!« Mit diesen Worten umrundete er das Blondchen und schaffte es ohne weitere Vorfälle bis zum Lieferanteneingang.
Einen Haken hatte der von ihm gewählte Weg allerdings, er würde nun durch die ganze Kantine müssen, um zu seinem Büro zu kommen.
Die noch anwesenden Mittagsgäste taten zwar so, als wäre es ein ganz normaler Tag, aber ihre schnellen Seitenblicke sagten etwas anderes! Punkt 13 Uhr hatte es Mike geschafft und schloss erleichtert die Bürotür hinter sich. Dann ließ er sich in seinen Stuhl fallen und dachte über die nächsten Schritte nach.
Es würde sich nicht vermeiden lassen: Als Erstes musste er zu seinem Chef, und als hätte dieser nur darauf gewartet, klingelte das Telefon.
»Ja!«, meldete sich Mike formlos, da er durch das Display wusste, wer am anderen Ende der Leitung war.
»Mike, gut, dass du da bist!«, stellte Karl Steinbach, sein Vorgesetzter, fest. Sie kannten sich schon einige Jahre und hatten sich schon geduzt, bevor Karl aufgestiegen war.
»Weißt du etwas von Peter?«, fragte Mike, noch bevor Karl irgendetwas sagen konnte. Dann herrschte kurz Stille, die Mike als kein gutes Zeichen deutete.
»Ja, weiß ich, es ist aber besser, du kommst zu mir rüber. Es gibt einiges zu besprechen!«
»Ist gut, ich komme!«
Karl sah so aus, wie Mike sich fühlte! Er war in der Nacht, kurz nachdem Mike nach Hause gefahren war, zum Tatort beordert worden und vermutlich seitdem auf den Beinen. Sein fahles Gesicht wirkte eingefallen und sah selbst im Licht der einfallenden Sonne grau aus.
»Nimm Platz«, sagte er und deutete auf einen der beiden Stühle vor seinem Schreibtisch. Mike setzte sich und sah seinen Chef erwartungsvoll und ungeduldig an. Karl nahm noch einen Schluck Wasser und begann dann endlich zu reden: »Peter geht es den Umständen entsprechend gut. Allerdings hat man ihn erst einmal ruhig gestellt, und erst, wenn er wieder aufwacht, wird man sehen, wie er mit seiner Tat umgeht.«
»Was heißt da mit seiner Tat?«, explodierte Mike ohne Vorwarnung. »Glaubt hier irgendjemand, dass er auch nur geahnt hatte, auf wen er da schoss?«
Karl machte eine beschwichtigende Handbewegung: »Nein natürlich nicht! Es tut mir leid, ich habe mich dumm ausgedrückt!«
Mike entspannte sich ein wenig und ließ sich wieder in den Stuhl zurücksinken. Dann fragte er: »Ab wann macht es Sinn ins Krankenhaus zu fahren? Wie lange wollen sie ihn schlafen lassen?«
Karl machte ein Gesicht, als würde er gleich den nächsten Ausbruch erwarten. Dann sagte er vorsichtig: »Ich denke, wenn du den Termin bei Dr. Stein hast, ist Peter sicher auch wieder wach.«
Mike begriff nicht sofort, runzelte die Stirn und fragte: »Was für einen Termin? Weiß dieser Dr. Stein etwas über den Fall?«
Karl schüttelte den Kopf: »Nein. Dr. Stein ist Psychologe und ich habe ihn gebeten, sich mit dir zu unterhalten.«
Mikes Gesichtsfarbe nahm einen rötlichen Schimmer an. »Du meinst also, ich brauche einen Seelenklempner?« Dann sah er Karl in die Augen: »Ich brauche keinen, und ich werde mich auch mit keinem unterhalten! Wir sollten uns vielmehr Gedanken darüber machen, wie wir diesem Kindermörder endlich beikommen. Was hat denn die Spurensicherung ergeben?«
Karl ging nicht auf die Frage ein, sondern atmete stattdessen einmal tief durch, dann brachte er es hinter sich: »Ich nehme dich raus!«
Der rötliche Schimmer auf Mikes Gesicht wechselte zu dunkelrot und sein Blick wurde stechend. »Das kannst du nicht!« Es war nur ein Flüstern und doch bedrohlich.
»Ich kann nicht nur, ich muss! Abgesehen davon, dass diese Anweisung von ganz oben kommt, halte ich es auch für das Beste! Du bist nicht mehr neutral. Nach dem, was dieser Irre euch heute Nacht angetan hat, kannst du ihn nicht mehr einfach als Täter sehen.« Mit diesen Worten erhob sich Karl und ging um seinen Schreibtisch herum. Dann blieb er in der Tür stehen und fragte: »Kommst du mit in die Kantine? Ich brauche dringend einen Kaffee und wir können auch dort noch alles Weitere besprechen.«
Mike kochte, sagte aber nichts mehr. Er wusste, dass es keinen Sinn mehr hatte, weiter zu diskutieren. Wenn diese Anweisung wirklich von oberster Stelle kam, konnte auch Karl nichts daran ändern. Er stand ebenfalls auf und folgte seinem Chef schweigend durch die Gänge des Präsidiums.

»Also gut, und wie geht es nun weiter?«, fragte Mike gepresst, nachdem sie sich einen großen Pott Kaffee geholt und einen Platz an der Fensterreihe gesucht hatten. Die Kantine war jetzt, nach der Mittagszeit, so gut wie leer. Nur Henrik, ihr Computerexperte, saß zwei Tische weiter, war aber derart in ein Fachbuch vertieft, dass er überhaupt nicht mitbekam, was um ihn herum passierte.
Karl nippte ein wenig an der dampfenden Flüssigkeit, setzte sich dann bequemer hin und begann: »Die Spurensicherung ist noch nicht fertig, aber wir können mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass ihr den Haupttatort entdeckt habt. Wir gehen davon aus, dass dort alle Kinder misshandelt und getötet wurden.« Dann senkte Karl die Stimme: »Und wie du selbst gesehen hast, waren es mehr Opfer, als wir bisher Leichen haben.«
Nach einem kurzen Schweigen fragte Mike: »Wie viele? Ich habe siebzehn gesehen.«
»Einundzwanzig Haarbüschel …«, antwortete Karl, »… und der Junge, den ihr …«. Er wollte es nicht aussprechen.
»Gottverdammte Scheiße!« Mike fuhr sich mir den Händen über das Gesicht. »Wie gestört ist dieser Typ?« Nach einer weiteren Pause fragte er: »Hat die Nachtsichtkamera etwas ergeben? Das Ding lief doch sicher über Funk oder über das Internet und lässt sich bestimmt nachverfolgen.«
Karl nickte zu Henrik hinüber: »Er ist gerade dabei, dies herauszufinden. Die Kamera war tatsächlich ans Internet gekoppelt, aber offensichtlich so gekonnt, dass es bis jetzt kaum Spuren gibt.«
Mike sah mit finsterer Miene aus dem Fenster, wo die Sonne ein friedliches Bild der Stadt zeichnete. »Ich muss diesen Irren finden! Du musst mir den Fall lassen!«
Karl schüttelte kaum merklich den Kopf: »Mike, ich kann das nicht tun! Der Polizeichef hat bereits zwei Spezialisten von Interpol geordert, sie werden morgen eintreffen. Und er will, dass Peter und du Abstand zu der Sache bekommt und erst einmal freinehmt … freiwillig oder befohlen.« Karl sah Mike offen an: »Pfingsten steht vor der Tür! Warum schnappst du dir nicht deine Familie und ihr verreist für ein paar Tage. Ich habe mir deine Überstunden angesehen und mich gefragt, ob dich deine Kinder überhaupt noch kennen.«
»Nach alldem soll ich Urlaub machen?«, keifte Mike etwas zu laut, was Henrik dazu brachte, kurz den Blick von seinen Unterlagen zu nehmen und ihm zuzunicken.
»Genau das!«, erwiderte Karl. »Such dir ein schönes Ferienhaus, weit weg von diesem Wahnsinn, und entspann dich. Ich bin mir sicher, dass Petra und die Kinder begeistert wären!«
Während Mike von seinem Kaffee trank, dachte er kurz darüber nach. Vor einer halben Stunde wäre es ihm noch völlig absurd vorgekommen, gerade jetzt in den Urlaub zu fahren. Doch so langsam nahm dieser Gedanke Gestalt an. »Und was ist mit Peter?«, fragte er etwas versöhnlicher.
»Was soll mit Peter sein?« Karl sah ihn fragend an. »Ich denke, heute Abend ist er auf jeden Fall wieder wach und ansprechbar. Fahr hin und rede mit ihm, mehr kannst du sowieso nicht tun. Wie du dir denken kannst, ist auch er aus dem Fall raus, und nach dem, was passiert ist, wird er eine Weile brauchen, um überhaupt wieder arbeiten zu können.«
Noch einmal blickte Mike in den stahlblauen Himmel, dann atmete er kurz durch: »Also gut, ich denke, du hast recht! Ich fahre jetzt dann zu Peter, schreibe morgen meinen Bericht und mache dann über Pfingsten Urlaub.«
»Wo?«, fragte Karl, dem die Einsicht seines Freundes nicht geheuer war.
Mike brachte ein Lächeln zustande: »Hast du Angst, dass ich alleine losziehe?« Er sah Karl in die Augen: »Mir gefällt deine Idee mit dem Ferienhaus! Ich werde nachher mal kurz ins Netz schauen, ob sich so kurzfristig noch etwas Bezahlbares findet.«
Karl sah ihn mit einem milden Gesichtsausdruck an: »Glaub mir, es tut dir und euch gut!«