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Nürnberger Abendblatt:
Dreizehnte Leiche gefunden – Polizei am
Ende
Nach dem Fund des vermissten achtjährigen
Jungen Thomas H., dessen Leichnam gestern am Ufer eines Stausees
gefunden wurde, scheint die Polizei am Ende ihrer Möglichkeiten zu
sein. Offenbar liegen auch bei den Ermittlern die Nerven blank, wie
der Ausbruch des verantwortlichen Hauptkommissars Mike Köstner
gegenüber unserer Reporterin zeigt. Der Leiter der Sonderkommission
bezeichnete den Serienmörder als »einen völlig kranken Psychopathen
ohne Eier in der Hose«.
…
»Das hast du wirklich gesagt?«, fragte Peter ungläubig und legte
die zwei Tage alte Zeitung auf den Rücksitz des BMW.
»Hab ich!«, antwortete Mike mit einem Schmunzeln im Gesicht, fügte
dann aber hinzu: »Allerdings in Rücksprache mit dem Chef. Wir
wollten diesen Irren ein wenig reizen.«
Peter dachte einen Augenblick lang nach: »Hast du eigentlich nie
Angst um deine Familie? Immerhin wirst du namentlich
genannt.«
Ohne seinen Partner anzusehen, schüttelte Mike den Kopf: »Laut
Statistik passiert es äußerst selten, dass sich ein Krimineller
direkt gegen die Polizei wendet. Außerdem müsste ich diesen Job an
den Nagel hängen, wenn ich solche Ängste hätte.«
Schweigend saßen sie eine Weile nebeneinander und starrten in die Dunkelheit
hinaus.
»Glaubst du, er ist schon drin?«, fragte Peter ein wenig zu
leise.
Mike löste seinen Blick von der Motte, die ohne Unterlass gegen die
Windschutzscheibe flog und nicht begreifen konnte, warum sie nicht
weiterkam. Im Restlicht der Straßenlaternen sah Peter noch fahler
und ungesunder aus. Ein gräulicher Schimmer hatte sich auf das
sonst so jugendliche Gesicht gelegt. Der Fall hatte jetzt schon
mehr von ihnen gefordert, als viele ihrer Kollegen aushalten
würden.
Er antwortete in normaler Lautstärke, was seinen Freund und Partner
zusammenzucken ließ: »Laut der E-Mail, die Henrik abgefangen hat,
hätte er bereits mit dem Jungen auftauchen müssen!«
»Henrik!«, äußerte Peter abfällig: »Ich hoffe, du hast dir diese
E-Mail selbst angesehen! Henrik kann vielleicht ein Byte in seine
Bestandteile zerlegen, aber von Menschen hat der keine
Ahnung.«
Mike blickte seinen Kollegen strafend an: »Natürlich habe ich das,
ich habe den Ausdruck sogar hier.« Nachdem er die dritte seiner
vier Jackentaschen durchsucht hatte, zog er ein zusammengefaltetes
Stück Papier hervor und entfaltete es.
»Zeig mal«, forderte Peter, worauf Mike ihm den Ausdruck
herüberreichte. Das Handy als Lichtquelle nutzend, studierte Peter
die wenigen Zeilen, stutzte, und las sie noch einmal.
»Verdammt!«
Mike war mit einem Schlag hellwach. Er arbeitete seit fünf Jahren
mit Peter zusammen, und es bedurfte kaum noch Worte zwischen den
beiden. Sie hatten diesen gewissen Draht zueinander! Ein Umstand,
der schon so manch brenzlige Situation gerettet hatte.
»Was ist los?«
»Von welchem Datum bist du ausgegangen?«, fragte Peter
angespannt.
Mike sah ihn verständnislos an und deutete auf die Passage mit dem
Datum: »Na von dem, das da steht! Vom 12.05.«
»Dann sind wir einen Tag zu spät!«, erwiderte Peter
emotionslos.
»Würdest du mir bitte erklären, was los ist?« Mike wurde dieses
Ratespiel langsam zu dumm.
Peter deutete auf die Kopfzeile der E-Mail: »Schau dir die
Sendedaten an! Alle Angaben sind im amerikanischen Datumsformat. Es
heißt also nicht 12.05.11, sondern 11.05.2012! Sonst hätte ja auch
das Jahr nicht gestimmt!«
»Aber die Sendeangaben kommen doch vom E-Mail-Programm. Wie kommst
du darauf, dass der Täter dieses Format auch in seinem Schreiben
benutzt?«
Wieder deutete Peter auf das Papier, diesmal jedoch eine Zeile
tiefer: »Wie du sehen kannst, ist der Empfänger ein Amerikaner und
unser Täter ist Profi genug, dies zu berücksichtigen.«
Mike dachte einen Augenblick darüber nach, zog dann die
Stabtaschenlampe aus der Halterung unter seinem Sitz und öffnete
die Fahrertür.
»Los komm, wir gehen rein!«
Das alte Versandlager stand verlassen und trostlos vor ihnen. Nur
aus der Ferne drangen ab und zu Motorengeräusche zu ihnen. Mike
mochte die Zeit zwischen 3 und 4 Uhr morgens, wenn die Stadt
eine Pause machte und sich eine ungewohnte Stille
ausbreitete.
»Willst du Verstärkung anfordern?«, fragte Peter, während sie sich
im Schatten des Nachbarhauses dem Industriebau näherten.
Mike schüttelte den Kopf: »Wir haben nur diese E-Mail. Sollte sich
diese als Fake herausstellen, möchte ich nicht dafür verantwortlich
sein, um diese Zeit ein Sonderkommando herbestellt zu haben. Wir
gehen rein, sehen uns um, und wenn sich unser Verdacht bestätigt,
rufen wir die großen Jungs.« Mike machte eine Pause und sah seinen
Partner an: »Ist das o. k. für dich?«
»Klingt vernünftig«, gab Peter gelassen zurück.
Je näher sie dem Gebäude kamen, desto deutlicher wurde, wie marode
der ganze Bau war. In dem fahlen Mondlicht wirkten die
zertrümmerten Fenster und die mit Graffiti beschmierten Mauern fast
schon unheimlich.
Der vermutlich einzig offene Zugang zu dem Keller des Gebäudes lag
in der Mitte des langgezogenen Baues. Um ihre Ermittlungen nicht zu
gefährden, hatten sie darauf verzichtet, dies genauer zu
überprüfen. Alles, was sie über das Gebäude wussten, hatten sie aus
den Plänen des Bauamtes und durch die Aussagen eines früheren
Mitarbeiters.
Sie überquerten die letzte Querstraße und drückten sich schließlich
an die Stirnseite ihres Zielobjektes. Noch mussten sie nicht
besonders vorsichtig sein, da es an dieser Wand kein einziges
Fenster gab. Doch sie wussten, dass sich das ändern würde, wenn sie
erst um die Hausecke herum waren. Peter ging voran, blieb aber kurz
vor dem Ende der Mauer stehen. Dann streckte er vorsichtig den Kopf
nach vorne und musterte die Längsseite des Versandlagers und den
großzügig ausgelegten Parkplatz. Die Gläser der wenigen Laternen,
die auf dem Parkplatz standen, waren ausnahmslos Opfer von
vermutlich jugendlichen Steinwerfern geworden und nie repariert
worden. Ein Umstand, der es ihnen jetzt leichter machte, ungesehen
an den vielen Fensteröffnungen vorbei bis zur Mitte des Gebäudes zu
kommen.
»Alles ruhig!«, flüsterte Peter und verschwand um die Ecke. Mike
folgte ihm in kurzem Abstand.
Sie kamen gut voran. Nur einmal stockte Peter vor einem der
eingeschlagenen Fenster, da er dachte, einen Schatten dahinter
gesehen zu haben. Endlose Sekunden verharrten beide regungslos
unter der Öffnung, doch nichts regte sich. Schließlich hob Mike den
Kopf über die untere Fensterkante und warf einen Blick hinein. Er
wagte es nicht seine Lampe zu benutzen, aber das Licht der
Straßenbeleuchtung, die auf der anderen Seite des Gebäudes stand
und durch das Gebäude schien, reichte ihm. Außer etwas Unrat war in
der sonst völlig leeren Halle nichts zu erkennen.
»O. k., weiter!«, wies er seinen Partner an und kurz darauf
hatten sie den Kellereingang erreicht. Eine schräge Rampe, die
offensichtlich für Gabelstapler ausgelegt war, führte erst parallel
zum Gebäude in die Tiefe und verschwand dann nach einer Rechtskurve
in der Dunkelheit.
Solange sie noch den offenen Nachthimmel über sich hatten,
verzichteten beide auf ihre Lampen, doch nach der Kurve herrschte
absolute Finsternis und Peter zog sowohl die Lampe als auch seine
Waffe.
Mike tat es ihm gleich und richtete den Lichtstrahl nach
vorne.
»Mist!«, stieß Peter aus, denn der Schacht endete bereits nach
wenigen Metern an einer schweren Feuerschutztür.
»Pass auf, wo du hintrittst!«, hörte er Mike noch sagen, doch es
war zu spät! Er stand bereits in einem der vielen Haufen
menschlicher Exkremente.
»Verflucht!«, stieß er erneut aus und versuchte dabei den gröbsten
Dreck an einer Steinstufe von seinem Schuh zu kratzen.
»Wie ich immer sage«, stellte Mike belustigt fest: »Wir haben den
beschissensten Job der Welt.«
Peter antwortete nichts, sondern ging stattdessen Slalom um weitere
Haufen herum, bis zum Ende des Ganges. Dann beleuchtete er jeden
Quadratzentimeter der Tür.
»Wie sieht es aus?«, fragte Mike mit gedämpfter Stimme.
Peter fuhr mit seiner Untersuchung fort und leuchtete dann auf den
Boden vor der Tür: »Sie wird benutzt!«
Mikes Blick folgte dem Strahl der Lampe und erkannte es ebenfalls.
Im Öffnungsradius der Tür lag nichts! Dafür hatte sich dort, wo
sich der Türstopper befand, ein Haufen aus Laub, Müll und Staub
gebildet. Ein Griff an die Klinke bestätigte, was er schon geahnt
hatte. Die Tür war verschlossen.
»Bekommst du das hin?« Doch die Frage hatte sich erübrigt, denn
Peter hatte bereits sein kleines Werkzeugtäschchen in der Hand und
suchte nach der richtigen Öffnungsnadel. Wenig später verkündete
das leise Knacken hinter dem Schloss, dass sie nun Zutritt
hatten.
Mike wartete, bis sein Partner das Werkzeug wieder gegen seine
Waffe ausgetauscht hatte, und zog dann leicht an der Tür, welche
diesmal, ohne Widerstand zu leisten, nach außen schwang. Beide
nickten sich noch einmal zu und traten dann in die Dunkelheit
hinein.
Vor ihnen tat sich der typische Keller eines Industriebaues auf.
Sie folgten dem grauen Schacht einige Meter und stießen dann auf
einen Quergang, der sich offensichtlich einmal längs durch das
komplette Gebäude zog. In unregelmäßigen Abständen gab es auf
beiden Seiten schwere Stahltüren, die, laut der Beschilderung, zu
verschiedenen Lagerräumen führten. Anscheinend gab es sonst keinen
offenen Zugang zu dieser Kelleretage, da hier alles sauber und
unberührt aussah.
»Und nun?«, fragte Peter flüsternd.
Mike ließ den Schein seiner Lampe unschlüssig herumwandern und
verharrte dann auf einem alten Fluchtplan, der an der Wand
angebracht war.
Nachdem er diesen studiert hatte, stellte er fest: »Wir sollten uns
ganz unten umsehen!«
»Was meinst du mit ›ganz unten‹?«, wunderte sich Peter.
»Schau!«, forderte Mike ihn auf und leuchtete erneut auf den Plan:
»Es muss noch eine weitere Kellerebene geben.« Mit diesen Worten
deutete er auf eine Ansammlung von schraffierten Vierecken, in
denen das Wort ARCHIV stand.
Peter wollte gerade antworten, als ein lautes Knarren durch die
Gänge hallte. »Verdammt!«, zischte Mike und fuhr herum. Er spürte,
wie sich sein Magen zusammenzog, versuchte es aber zu
ignorieren.
»Was war das?« Mike konnte an Peters Stimme hören, dass es ihm
nicht besser erging. Wie abgesprochen suchte jeder eine andere
Richtung des Ganges ab, doch da war nichts! Mike spürte erst den
Luftzug, dann folgte ein erneutes Knarren, das hier unten fast wie
eine verstimmte Geige klang und Einfluss auf jedes seiner
Nackenhärchen hatte. Dann hielt er die Lampe in Richtung Ausgang
und entspannte sich ein wenig. Der Luftzug hatte die Brandschutztür
wieder etwas aufgedrückt und diese hatte dabei das Geräusch
erzeugt.
»Alles o. k.! Es war nur die Tür.« Auch Peter atmete
erleichtert durch, fragte dann aber mit immer noch unsicherer
Stimme: »Sollen wir wirklich alleine da runter?«
Mike überlegte einen Augenblick, bevor er auf die Frage einging:
»Wenn du Bedenken hast, lassen wir es und holen Verstärkung.
Allerdings haben wir bis jetzt nichts gefunden, was einen solchen
Einsatz rechtfertigen würde.«
Peter kniff kurz die Lippen zusammen: »Du hast recht, also los! In
welche Richtung müssen wir?«
Mike blickte zum dritten Mal auf den Fluchtplan und wandte sich
dann nach links, sein Partner folgte ihm.
Die ersten Lagerraumtüren kontrollierten sie noch, da aber keine
einzige unverschlossen war, folgten sie einfach weiter dem Gang.
Unsicher drehten sich beide immer wieder um, doch hinter ihnen lag
nur die stille Dunkelheit.
Endlich reichten die Lichtkegel ihrer Lampen bis zum Ende des
Kellers und Mike fragte sich schon, ob er den Plan falsch
interpretiert hatte, denn von einer Treppe war nichts zu sehen.
Dann sah er das Fluchtwegzeichen und seine Anspannung steigerte
sich. Er blieb stehen und wartete, bis Peter ihn eingeholt
hatte.
»Da müsste es hinuntergehen«, erklärte er leise und deutete dabei
auf eine schmale Tür ohne Schloss. »Lass uns kurz die Lampen
ausmachen.«
Peter nickte und einen Augenblick später herrschte absolute
Dunkelheit. Eine Dunkelheit, die Mike nur von einer Höhlenführung
kannte, bei der ebenfalls alle Lichter ausgeschaltet wurden, um den
Besuchern zu zeigen, wie sich das völlige Fehlen von Licht
anfühlte.
Für einen Moment fürchtete er, keine Luft mehr zu bekommen, und
hatte das Gefühl, als würde die Schwärze alles zusammendrücken.
Dann schaffte er es, sich zu beruhigen und fragte: »Alles klar bei
dir?«
»Alles klar!«, gab Peter gepresst zurück.
»Gut, dann öffne ich jetzt die Tür!« Mike war sich sicher, genau
neben der Klinke zu stehen und doch brauchte er etwas, um diese zu
finden. Ein leichter Druck genügte und die Tür ließ sich fast ohne
Widerstand öffnen. Er steckte den Kopf durch die Öffnung, doch auch
hier war absolut nichts zu erkennen.
Sein Finger suchte bereits nach dem Druckknopf der Lampe, als er
ein leises Geräusch vernahm und erstarrte. Ohne zu atmen, lauschte
er in den Keller. Nichts – oder doch? Er konnte es nicht
zuordnen! War es einfach nur ein Geräusch, welches alte Bauten
manchmal machten, oder war es menschlicher Natur?
»Hast du es auch gehört?«, flüsterte er nach hinten.
»Ich glaube ja«, wisperte Peter zurück. »Was war das?«
»Ich weiß es nicht, aber wir sollten vorsichtig sein!« Dann folgte
eine kurze Pause. »Ich mache jetzt meine Lampe wieder an, decke sie
aber ab. Du lässt deine aus!«
Peter zuckte zusammen. Mike hatte seine Hand über das Glas der
Taschenlampe gelegt und diese dann in Peters Richtung gehalten, was
zur Folge hatte, dass nur knapp vor dessen Gesicht eine
gespenstisch aussehende, rot durchleuchtete Hand wie aus dem Nichts
auftauchte.
»Mach das nie wieder!« Peter versuchte wütend zu klingen, erntete
aber nur ein Grinsen.
Dann schwenkte die leuchtende Hand in das Treppenhaus und
beleuchtete es dürftig. Wie in einem Parkhaus führten immer nur
wenige Stufen nach unten, denen nach einer
Hundertachtzig-Grad-Drehung weitere Stufen folgten.
Langsam und so leise wie möglich begann Mike die ersten Stufen
hinunterzusteigen. Doch ganz wohl war ihm bei der Sache nicht.
Durch die Hand vor der Lampe hatte er seine Waffe wegstecken müssen
und war somit völlig auf Peter angewiesen.
Nach dem ersten Treppenabschnitt blieben sie erneut stehen, doch
von dem Geräusch war nichts mehr zu hören. Beide warfen sich einen
kurzen Blick zu und gingen dann weiter. Als nur noch drei Stufen
übrig waren, ließ Mike etwas mehr Licht durch seine Finger und
leuchtete nach vorne.
Eigentlich hatte er auch hier eine Tür erwartet, doch die Treppe
endete direkt in einem weiteren Kellergang. Als er sich etwas
orientiert hatte, setzte Mike den Fuß auf die letzte Stufe. Im
selben Augenblick, in dem er spürte, dass etwas nicht stimmte, war
es zu spät. Sein Fuß rollte über die leere Plastikflasche ab und
Mike kippte nach hinten. Peter hatte schnell reagiert und konnte
den Sturz verhindern, doch die Flasche rollte wie in Zeitlupe über
die Stufenkante, und das Geräusch ihres Aufschlages brach sich
mehrfach an den Wänden. Draußen hätte man es vermutlich gar nicht
wahrgenommen, doch hier unten glich es einem Pistolenschuss. Die
beiden Polizisten hielten die Luft an. Peter hatte seine Waffe
instinktiv in Richtung des dunklen Ganges gehalten und Mike presste
die Lampe an seinen Körper, um sie noch mehr zu verdunkeln. Beide
hatten Schweißperlen auf der Stirn.
Einige Sekunden passierte nichts, dann hörten sie es deutlich und
jetzt waren sie sich sicher. Das Geräusch kam eindeutig aus dieser
Etage und es war mit Sicherheit kein Geräusch, welches das Gebäude
machte. Jemand versuchte zu rufen, konnte aber nicht!
Beide ahnten, wen sie da hörten. Die Fahndung nach dem neunjährigen
Tom lief seit drei Tagen und das Muster der Entführung stimmte
exakt mit den anderen Fällen überein.
Mike machte etwas mehr Licht und sah seinen Partner fragend an.
Peter deutete zuerst auf seine Handytasche am Gürtel, dann nach
oben. Er wollte Verstärkung holen!
Wieder drang ein leises Wimmern durch die Dunkelheit. Mike warf
einen kurzen Blick in den stockdunklen Keller, dann schüttelte er
den Kopf und deutete auf seine Armbanduhr. Er wollte den Jungen
keine Minute länger hier unten alleine lassen. Das Bild seines
eigenen Sohnes schoss ihm in den Kopf und erzeugte eine Wut, der er
sich nicht hingeben durfte, da er sonst einfach losgestürmt
wäre.
Ohne auf Peters Reaktion zu warten, nahm er die letzte Stufe und
schlich dicht an der Wand zur ersten Türöffnung auf der linken
Seite des Ganges. Anders als in der oberen Kelleretage gab es hier
keine Türen, alle Räume hatten einen offenen Zugang.
Entgegen dem Lehrbuch sprang Mike nicht um die Ecke, um den
Überraschungsmoment zu nutzen, sondern ging in die Hocke und sah
vorsichtig in den Raum hinein. Er hatte Glück, denn das Licht eines
kleinen LED-Lämpchens zeigte ihm, dass niemand hier war. Mike
deutete seinem Partner, dass er hineingehen würde, und er
verschwand um die Ecke.
Als Peter neben ihm stand, zog Mike die Hand etwas von seiner Lampe
und im selben Augenblick begriffen sie, was sie da sahen. Das LED
gehörte zu einer Kamera, welche auf einem Stativ in der Mitte des
Raumes stand und auf etwas gerichtet war, das wie eine Folterbank
aussah. Auf skurrile Weise saß mitten auf dieser Folterbank ein
Plüschteddy und blickte sie mit seinem einzig verbliebenen Auge
traurig an. Mike wurde schlecht!
Der Rest des Raumes war, bis auf einen alten Holzstuhl, unter dem
eine Knabenunterhose lag, leer.
»Dieser Bastard!«, stieß Peter leise aus. Doch Mike deutete ihm
ruhig zu sein und trat bereits wieder in den Mittelgang hinaus.
Soweit er sehen konnte und auch noch von dem Notfallplan wusste,
gab es auf dieser Seite noch zwei weitere Räume, während gegenüber
nur ein einziger großer Keller das Hauptarchiv gebildet hatte,
dessen Zugang ganz hinten lag.
Sie tasteten sich weiter vor und standen kurz darauf im nächsten
Raum, der mehr an ein Schlafzimmer als an einen Keller erinnerte.
Wieder brach sich das leise Wimmern an den Wänden und trieb sie zur
Eile. Auch wenn sie sich inzwischen ziemlich sicher waren, dass
sich das Kind in dem großen Raum gegenüber befand, mussten sie auch
noch die letzte Kammer auf dieser Seite untersuchen, um nicht in
einen Hinterhalt zu geraten. Wieder machte Mike das gleiche Spiel.
Er ging in die Hocke, schob den Kopf nach vorne und sah um die
Ecke. Fast hätte er einen Schrei ausgestoßen, konnte diesen aber
gerade noch dadurch unterdrücken, dass er die Hand von der
Taschenlampe riss und sie sich auf den Mund presste. Für endlos
lange Sekunden standen die beiden Polizisten im hellen Schein der
Lampe, bis Mike endlich den Druckknopf fand. Doch das Gegenteil war
nicht besser, denn was jetzt folgte, war erneut die
undurchdringliche Dunkelheit des Kellers. Wieder ertönte das
verzweifelte Jammern, doch diesmal viel näher. Peter spürte, wie
sich eine Panikattacke ihren Weg durch seinen Geist bahnte, und
umkrampfte den Griff seiner Waffe derart, dass sich seine
Fingernägel ins eigene Fleisch bohrten.
»Ist er da drinnen?«, flüsterte er in die Richtung, in der er Mike
vermutete.
»Ich hoffe nicht!«, kam gepresst zurück und weiter: »Achtung, ich
mache jetzt das Licht wieder an.«
Im selben Moment leuchtete Mikes Hand knapp neben seinem Partner
auf und hüllte den Kellergang in diffuses, rötliches
Licht.
»Was hast du gefunden?«, flüsterte Peter.
Mike schluckte: »Das, was bei allen gefehlt hat!«
Nun traten sie beide vor die Öffnung und Mike richtete den Strahl
seiner Lampe hinein. »Gottverdammt!«, stieß Peter aus und wendete
sich ab. An der Rückwand des Raumes war ein riesiges Brett mit
Garderobenhaken angebracht und aufgrund der Nummerierung konnte man
schnell erfassen, dass dort nicht weniger als siebzehn Haarbüschel
hingen. Auch wenn sie nicht daran gezweifelt hatten, dem Richtigen
auf der Spur zu sein; jetzt waren sie sich sicher!
Allerdings war man bisher immer von dreizehn Kindern ausgegangen,
offensichtlich waren vier Leichen noch gar nicht
aufgetaucht.
Erneutes Wimmern erinnerte sie daran, dass es noch nicht zu Ende
war, und auch Mike riss sich von dem schockierenden Anblick los.
Jetzt gab es nur noch einen Raum und beide wussten, was auf dem
Spiel stand. Allerdings wussten sie nicht, ob der Täter auch noch
hier war. Vielleicht hatte er etwas gemerkt und den Jungen
zurückgelassen, oder aber der Junge war eine Falle.
Mike und Peter postierten sich zunächst rechts und links des
letzten Durchganges und warfen einen kurzen Blick hinein. Nichts
als Schwärze!
Mike überlegte kurz und flüsterte dann: »Ich leuchte kurz hinein.
Versuche dir den Raum einzuprägen, dann gehen wir ohne Licht. Da
drinnen ist es dunkel wie in einem Bärenarsch, er wird uns nicht
sehen können!« Peter nickte und blickte erneut um die Ecke. Mike
hielt die Lampe für höchstens zwei Sekunden in den Raum, der die
Größe einer kleinen Halle hatte, doch dieser Augenblick genügte, um
alles aufnehmen zu können, denn es gab nicht wirklich viel zu
sehen.
Soweit Peter es erfasst hatte, teilte auf der linken Seite eine
weitere Mauer den Keller. Allerdings nur zu zwei Dritteln, und was
dahinterlag, war von ihrem Standort aus nicht einzusehen. Beide
nickten sich zu, worauf Peter als Erster durch den Durchgang trat;
dann steckte Mike seine Lampe weg und folgte ihm.
Da nun absolut nichts mehr zu sehen war, stellte sich Peter mit dem
Rücken an die angrenzende Wand, hielt seine Waffe im Anschlag und
schob sich so immer weiter in den Raum hinein. Auf den ersten
Metern spürte er immer wieder, wie sein Partner leicht gegen ihn
stieß, dann hatten beide den gleichen Rhythmus gefunden und kamen
sich nicht mehr in die Quere.
Irgendetwas stimmte nicht und Peter brauchte einen Moment, um zu
realisieren, was es war. Wenn der Junge in dem Nebenraum war, hätte
er das Licht sehen, oder sie zumindest hören müssen, und hätte sie
dann sicher auf sich aufmerksam gemacht. Doch jetzt herrschte,
abgesehen von ihren eigenen Geräuschen, absolute Stille. Kein
Jammern, kein Versuch zu schreien, nichts! Oder der Junge war so
verängstigt, dass er sich nicht traute?
Endlich war er am Ende der Wand angekommen und wusste dadurch, dass
der Durchgang zur anderen Raumhälfte jetzt genau
gegenüberlag.
Was sollten sie tun? Das Licht kurz anmachen und damit ihren
Standort verraten oder der nächsten Wand in unbekanntes Gebiet
folgen?
Mike hatte inzwischen aufgeholt und stand nur wenige Zentimeter
neben Peter, als ihnen die Frage abgenommen wurde.
Für einen kurzen Augenblick flammte gleißend helles Licht auf, das
sich förmlich in ihre viel zu weit aufgerissenen Augen bohrte.
Peter musste einige Male zwinkern, schaffte es aber, die Lider
einen kleinen Spalt breit zu öffnen. Tränen verschleierten seine
Sicht und trotzdem sah er das Phantom zum ersten Mal wahrhaftig.
Der Mann saß ihm genau gegenüber in einem alten Sessel und hatte
ein kurzes Gewehr auf ihn gerichtet.
Peter konnte das Ziel gerade noch erfassen, dann erlosch das Licht
so plötzlich, wie es angegangen war, was ihm jetzt aber egal war!
Sein Finger arbeitete automatisch und zog den Abzug selbst dann
noch durch, als das Magazin längst leer war.
Mike knipste seine Taschenlampe an und erstarrte. Dort, wo auch er
zuvor den Mann gesehen hatte, lagen jetzt die Scherben eines
riesigen Spiegels. Dann richtete er den Strahl etwas höher und
erstarrte. Der Junge saß zusammengesunken auf einen Stuhl gefesselt
da und hatte die Augen weit aufgerissen. Soweit Mike von hier aus
erkennen konnte, waren mindestens drei von Peters Projektilen in
den Kopf des Kindes eingeschlagen und hatten ihm fast den gesamten
Hinterkopf weggesprengt.
»Verdammte Scheiße!« Mehr brachte er nicht heraus. Im Augenwinkel
sah er, wie sein Partner neben ihm in die Knie ging und sich
übergab. Sein erster Reflex war Peter zu helfen, doch dann schoss
ihm ein elementarer Gedanke durch den Kopf. Wenn der Mann im
Spiegel zu sehen gewesen ist, dann ist er auch jetzt noch in diesem
Raum. Im selben Augenblick dieser Erkenntnis brachte Mike seine
Waffe, zusammen mit der Lampe, wieder in Anschlag und richtete
beides auf das Ende der Zwischenwand. Er konnte jetzt keine
Rücksicht auf Peter, der sich immer noch die Seele aus dem Leib
kotzte, nehmen. Schritt für Schritt ging er auf die Ecke zu,
versuchte dabei den Anblick des Jungen auszublenden und stattdessen
eine Spiegelscherbe zu finden, die so günstig lag, dass er erkennen
konnte, was ihn auf der Rückseite dieser Wand erwarten würde. Doch
es gab keine solche Scherbe!
Endlich hatte er sein Ziel erreicht und wollte sich gerade zum
finalen Sprung fertigmachen, als er hinter sich erst das vertraute
Geräusch des Magazinauswurfes und dann rennende Schritte hörte.
Peter stürmte ohne jede Deckung an ihm vorbei, ließ sich kurz nach
der Mauer fallen und schlitterte dann noch einige Meter, mit Waffe
und Lampe im Anschlag, weiter. Doch es passierte nichts! Kein
Schrei, kein Schuss. Als Peter endlich zum Stillstand kam, blieb er
regungslos liegen und schien ungläubig auf irgendetwas zu
starren.
»Was ist los?« Doch statt zu antworten, winkte Peter Mike zu
sich.
Es war alles umsonst, war Mikes erster
Gedanke, als er zögernd um die Ecke blickte. Zwar gab es den Sessel
tatsächlich, aber der Mann, welcher darin saß, war mit Sicherheit
nicht ihr Täter! Er hatte die Augen ebenso weit aufgerissen wie der
Junge ihm gegenüber. Zwei Tote, die sich verzweifelt
anstarrten.
Der Uniform nach handelte es sich bei dem Toten um einen
Mitarbeiter der Wachgesellschaft, die das Gebäude ab und zu von
außen kontrollierte. Den dunkelroten Striemen nach, die einmal quer
über den Hals liefen, war er erst erdrosselt und dann in dem Sessel
fixiert worden. Schließlich hatte man ihm noch ein altes,
verrostetes Gewehr auf den Arm gebunden und ihn so zu einer
scheinbaren Bedrohung werden lassen.
Nachdem Mike den ersten Schock überwunden hatte, leuchtete er den
restlichen Raum ab und blieb dabei an einem kleinen Kästchen, das
an der Decke befestigt war, hängen. Er hatte sich schon gefragt,
wie der Täter es geschafft hatte, den richtigen Zeitpunkt für die
kurze Beleuchtung zu treffen. Erst hatte er an eine Art
Bewegungsmelder gedacht, als er jedoch näher an das Kästchen
heranging, erkannte er, dass es sich dabei um eine Wärmebildkamera
handelte.
Dieses Schwein hatte sie auch noch dabei beobachtet, wie sie auf
ein unschuldiges Kind schossen! Und er beobachtete sie vielleicht
noch immer!
Mikes erster Reflex war, das Ding einfach herunterzuschießen, doch
dann besann er sich. Vielleicht war das die einzige Spur zum Täter.
Ohne sich weiter umzublicken, ging er zu seinem Partner, der
inzwischen wieder aufgestanden war, und sagte so sanft, aber
bestimmt wie möglich: »Komm, lass uns nach oben gehen. Wir können
hier nichts mehr tun!«
Peter nickte leicht und ließ sich dann, wie eine Marionette, durch
die Gänge zurück nach draußen führen.
Oben angekommen atmeten beide tief durch und Peter setzte sich mit
dem Rücken an die kalte Backsteinwand. Ohne noch irgendetwas zu
sagen, starrte er einfach nur geradeaus in die Nacht.
Mike zog sein Handy heraus und informierte die Zentrale, mit der
Bitte, auch einen Psychologen zu schicken.
Es vergingen zwanzig Minuten Ewigkeit, in der Mike sich nach fast
einem Jahr eine Zigarette von Peter geben ließ, und diese auch
doppelt so schnell wie gewöhnlich inhalierte. Gegen das Zittern
half das Nikotin zwar nicht, aber er wurde dadurch etwas
ruhiger.
Kurze Zeit später schien der Parkplatz vor dem alten Versandhaus
regelrecht zu explodieren. Offensichtlich hatte man alles
zusammengetrommelt, was um diese Uhrzeit verfügbar war. Sie kamen
zwar ohne Sirenen, doch alleine das unregelmäßige Zucken von
zwanzig Blaulichtern reichte, um alles verändert wirken zu
lassen.
Peter wurde in einen Krankenwagen gebracht, der, ohne dass Mike
seinen Partner noch einmal zu Gesicht bekam, in Richtung des
städtischen Krankenhauses davonfuhr.
Nach einer kurzen Lagebesprechung begann die Spurensicherung ihre
Arbeit aufzunehmen und kurz darauf leuchtete das alte Gebäude wie
in früheren Zeiten.
Eigentlich hatte Mike vorgehabt, noch einmal mit in den Keller zu
gehen, doch bereits an der ersten Brandschutztür verließen ihn die
Kräfte. Ein junger Streifenpolizist begleitete ihn zu seinem Auto,
und nachdem Mike mehrfach versichert hatte, fit zu sein, ließ man
ihn alleine nach Hause fahren.