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Der Montagmorgen begann sonnig und warm, sodass
die ganze Familie noch vor dem Frühstück ein kurzes Bad nahm. Der
Ausblick aus dem Anbau mit dem Pool war atemberaubend. Zur Linken
standen die mächtigen Tannen des nahen Waldes, der sich über den
Hang bis hinunter zum Wasser zog. Dichte Nebelschleier zogen über
den spiegelglatten See und man hatte fast den Eindruck, dass der
Nebel den Wald suchte, um darin Schutz vor der Sonne zu
finden.
Petra stand am Rand des Pools und genoss sowohl das warme Wasser
als auch den Blick auf die Natur. Die beiden Kinder hatten sich
bereit erklärt, das Frühstück zu machen, was Mike und seiner Frau
ein paar zweisame Minuten verschaffte. Mike tauchte einmal der
Länge nach durch das Becken, stellte sich hinter Petra und
umschloss sie mit seinen Armen. »Da oben wäre ich jetzt gerne mit
dir!«, flüsterte er und deutete auf eine kleine Lichtung, knapp
unterhalb des Gipfels. Ihr Blick folgte dem Berghang, der fast
direkt hinter dem Haus begann und sich sanft in die Höhe zog. Auch
sie konnte sich das Gefühl vorstellen, dort oben im Gras zu liegen
und den gesamten See unter sich zu haben. Ebenso leise fragte sie:
»Und was würden wir dort machen?«
»Uns frei fühlen«, erwiderte Mike und drückte sich etwas fester an
ihren Körper.
»Schon wieder?«, fragte sie verschmitzt, löste sich dann aus seiner
Umarmung und stieg aus dem Pool. »Die Kinder warten!«
Mike sah sie böse an: »Du bist eine Spielverderberin!«
Sie ignorierte den Satz, zog sich ein dünnes Kleid über und ging in
das eigentliche Wohnhaus. Mike ließ noch einmal den Blick über den
dunkelgrünen Berghang gleiten und stutzte.
War das Nebel, oder Rauch? Fast schon durch die Hausecke verdeckt,
dort wo eine kleine Felsformation aus dem Wald ragte, hatte sich
ein weißes Wölkchen aus den Baumkronen gelöst und schwebte in den
Himmel. Mike starrte weiter auf die Stelle, die geschätzt einen
halben Kilometer weit weg war, konnte aber nichts mehr erkennen.
Bestimmt nur Nebel, beschloss er und
stieg ebenfalls aus dem Wasser.
»Was machen wir heute?«, fragte Felix nach dem zweiten
Frühstücksbrot und sah seinen Vater dabei erwartungsvoll an. Doch
der gab die Frage an seine Frauen weiter.
»Wir könnten doch etwas besichtigen«, schlug Petra vor, worauf Mike
Einspruch einlegte, da er nach der langen Anreise noch keine Lust
auf weitere Autofahrten hatte.
»Also mir würde Tonstad völlig reichen«, stellte Katja nüchtern
fest und alle lachten.
»Warum denn nur? Kennst du da wohl jemanden?«, neckte Mike sie,
worauf er einen leichten Schlag auf den Arm erhielt.
»Gehen wir zum See?«, fragte Felix, der nur seine Angel im Kopf
hatte. Petra überlegte einen Moment und schlug dann vor: »Wir
könnten doch den Vormittag unten am Strand verbringen, und wenn wir
Lust haben, später noch mal in den Ort rüberfahren.« Die Kinder
waren mehr als zufrieden mit diesem Plan und auch Mike stimmte zu,
sagte dann aber etwas ernster: »Zum Ort fahren wäre gut! Ich wollte
heute mal kurz Peter anrufen und fragen, wie es ihm geht, ich habe
hier auch keinen Netzempfang.«
»Ja klar!«, antwortete Petra verständnisvoll, hatte aber insgeheim
gehofft, dass Mike seine Arbeit schon etwas vergessen
hatte.
Eine halbe Stunde später schloss Mike die Terrassentür, schulterte
die schwere Badetasche und verließ das Haus durch die Vordertür.
Ein weiterer Blick den Berg hinauf bestätigte seine Annahme, dass
es sich bei der Felsformation um Nebel gehandelt hatte. Ohne einen
weiteren Gedanken daran zu verschwenden, umrundete er das Haus und
stieg dann mit seiner Familie zum Seeufer hinab.
Der einfache Campingtisch hatte alle Mühe, dem Schlag der wütenden
Faust standzuhalten. Eigentlich hatte der Ausbruch dem Laptop
gegolten, aber diesem würde er nie etwas antun! ER hatte so lange Daten in die Welt geschickt, bis
nur noch ein letzter Notakku übrig geblieben war und ihn zum
Aufhören zwang. Keines dieser Datenpakete hatte es geschafft, bis
zu der entscheidenden Schaltung des Telefonanbieters durchzukommen,
dann begriff er auch, warum. Das Handy befand sich im Ausland und
war damit ungewollt geschützt. Sicher, er hätte die Sache einfacher
erledigen können, doch dabei hätte er auf so viel Leid verzichten
müssen und niemand hätte etwas daraus gelernt! Nein, er hatte zehn
Tage Zeit und wollte jeden Einzelnen davon auskosten!
Die Webcam hatte deutlich gezeigt, dass auch diese Familie nur den
Schein wahrte! Dass sie sich Gefühle vorspielten, die sie nicht
hatten. Sie wollten die Kinder Glauben machen, in einer heilen Welt
zu leben, und dabei war alles nur Lug und Trug. Köstner war genau
der Richtige, um der Welt wieder eine Lektion zu erteilen. Und
seinen Kindern tat er letztendlich nur einen Gefallen. Denn was
sollte das für ein Leben sein, wenn man über so viele Jahre in
einer Scheinwelt lebte und dann irgendwann begreifen musste, dass
man von den eigenen Eltern hintergangen wurde.
Köstner würde lernen müssen, wie es war, verlassen, allein und
verzweifelt zu sein!
ER atmete einmal tief durch und
versuchte seine Wut unter Kontrolle zu bringen, denn es half
nichts, er musste an das Handy!
Nach nur drei Stunden Schlaf weckte ihn sein Laptop mit der
Meldung, dass ein Bewegungsmelder im Haus aktiviert wurde. Er erhob
sich von seiner Luftmatratze, befahl dem Dämon seiner Träume, sich
zurückzuziehen und klickte durch die einzelnen Webcams. Dann machte
er sich ein winziges Feuer und hing den kleinen Wasserkessel
darüber. Ein dünner Rauchfaden ließ sich nicht vermeiden, aber er
war sich sicher, dass dieser durch die Blätter seiner
provisorischen Tür genug verteilt wurde. Alkohol, Zigaretten, auf
alles konnte er verzichten, nur auf heißen Kaffee nicht. Er
brauchte den Schmerz, der entstand, wenn die fast noch kochende
Flüssigkeit seine Kehle hinunterlief. Erst dann konnte er sich
vorstellen, wie es sein musste, wenn er das Messer ansetzte, um
langsam die Kopfhaut abzulösen. Dieses Gefühl musste
unbeschreiblich sein, was ja auch die lustvollen Schreie derer, die
das schon genießen durften, immer wieder bestätigten.
Er goss den Kaffee auf und nahm sofort den ersten Schluck des noch
brodelnden Getränks. Webcam Nummer vier erwachte zum Leben und
zeigte die ganze Familie, wie sie schlaftrunken versuchte, langsam
in den Pool zu kommen. Nur der große Herr und Meister sprang
natürlich sofort in das Wasser und tat dann so, als wäre gar nichts
dabei, was bei seiner Tochter einen angepissten Gesichtsausdruck
auslöste.
Felix schien es dagegen zu imponieren und anzutreiben. Der
schmutzige Finger strich über die Stelle des Monitors, auf der der
Junge zu sehen war, und laut sagte er: »Du hast es bald geschafft,
bald werde ich dich erlösen!«
Nach nur zwei geschwommenen Bahnen verschwanden die Kinder und, wie
schon kurz nach der Ankunft, versuchte Köstner bei seiner Frau zum
Zuge zu kommen, bekam aber offensichtlich eine Abfuhr. Schließlich
verschwand auch sie und nur der Polizist blieb im Bild. Irgendetwas
schien ihn zu irritieren, da Köstner eindeutig zu den Bergen
hinaufstarrte?
Etwas stimmte nicht, und als er sich umdrehte, wusste er auch was!
Er war so auf den Monitor konzentriert, dass er den Rauch, der ihn
umgab, nicht mitbekommen hatte. Eine Ecke seines Schlafsackes hatte
zu nahe am Feuer gelegen und langsam begonnen, vor sich hin zu
qualmen. Er sprang auf und stampfte barfuß auf dem Stoff herum, bis
dieser zu qualmen aufhörte. Dann löschte er auch noch das Feuer mit
einem großen Blecheimer, den er einfach darüberstülpte. Danach war
auch Köstner vom Bildschirm verschwunden und Webcam vier schaltete
sich ab, um dem Bild von Nummer drei Platz zu machen.
Als er wusste, was sie geplant hatten, galt es keine Zeit zu
verlieren. Er zog sich an, nahm das vorbereitete Handy und verließ
die Höhle.
Petra und Katja zierten sich erst ein wenig, wagten sich dann aber
doch in das kalte Wasser des Sees. Ein Umstand, den Felix sofort
nutzte, um die beiden mit seiner Luftmatratze aufzunehmen. Mike saß
am Ufer und sah seiner Familie dabei zu, wie sie nebeneinander
liegend immer weiter auf den See hinaus paddelten. Ein tiefes
Gefühl von Liebe und Zufriedenheit machte sich in ihm breit. Es war
heutzutage nicht mehr selbstverständlich, in einer intakten Ehe zu
leben und die eigenen Kinder aufwachsen zu sehen! Wie viele seiner
Kollegen waren inzwischen geschieden? Er hatte viele von ihnen
leiden sehen, weil erst die Frau und dann auch noch die Kinder aus
ihrem Leben verschwanden. Manchmal kamen sie ihm vor wie Zombies,
die einsam und dumpf durch das Leben stolperten, weil es einfach
keinen Sinn mehr hatte.
Auch Katja würde nicht mehr ewig bleiben, dachte er, als er sie so
neben ihrer Mutter sah. Beide waren schon gleich groß und von
hinten fast nicht zu unterscheiden. Einzig die etwas sportlichere
Figur und Katjas lange braune Haare bildeten noch einen
Unterschied. Wo waren nur die Jahre geblieben? Mike hatte das
Gefühl, dass sich Katja immer schneller entfernte. Sicher, er
wusste, dass es normal war, dass sie sich irgendwann abnabelte,
aber leicht war es trotz dieses Wissens nicht!
Felix war mit seinen zehn Jahren dagegen immer noch das
Nesthäkchen. Sie hatten lange überlegt, ob sie mit fünf Jahren
Abstand noch einmal ein Kind wollten, doch jetzt stellte sich diese
Frage nicht mehr. Vor allem Mike war stolz noch einen Sohn zu
haben, denn Töchter waren einfach anders!
Er zündete sich die letzte Zigarette aus dem Päckchen an und genoss
es einfach einmal, nichts tun zu müssen. Petras Wunsch hierher nach
Finnland zu fahren war genau das Richtige gewesen und er fragte
sich, warum sie das nicht schon viel früher gemacht hatten. Urlaub
zu Hause bedeutete Post, Computer und im schlimmsten Fall auch noch
Anrufe vom Revier. Hier war alles ganz weit weg. Hier gab es nur
ihn selbst und seine Familie!
»Kann ich auch eine Zigarette haben?« Mike hatte gar nicht
mitbekommen. dass die drei inzwischen wieder an Land gekommen
waren.
»Die sind leider leer, aber ich könnte sowieso langsam eine
Kleinigkeit zu essen vertragen!«, antwortete Mike.
»Willst du etwa schon wieder zum Haus?«, fragte Petra.
»Nein, aber wir könnten etwas holen!«
»Soll ich?«, fragte Felix beflissen. »Ich brauche eh noch einen
Haken für meine Angel, der andere ist mir vorhin
abgerissen.«
»Wenn du magst! Wir bräuchten das Brot, ein Messer und die Dose mit
der Wurst. Ach, und ein Päckchen Zigaretten aus dem Schlafzimmer.
Schaffst du das?« Felix sah seine Mutter empört an: »Natürlich
schaffe ich das!« Dann zog er seine Sandalen an und verschwand über
die Böschung in Richtung Ferienhaus.
Erst klemmte der Schlüssel, ließ sich dann aber doch umdrehen und
mit einem leisen Schnalzen schlug der Riegel zurück. Felix überkam
ein eigenartiges Gefühl der Angst. Trotz des strahlenden
Sonnenscheins wirkte der Waldrand hinter ihm dunkel und bedrohlich.
Schnell schlüpfte er durch die Tür und schloss sie von innen. Im
Haus war es still, sehr still! Felix fühlte sich unwohl und
beschloss den Toilettengang auf später zu verlegen. Dann kam ihm
der Gedanke in jedes Zimmer zu schauen, um sich selbst damit zu
zeigen, dass seine Angst unbegründet war, aber er konnte nicht. Am
liebsten hätte er kehrtgemacht und seinen Vater gebeten, die Sachen
zu holen, aber wie würde er dann dastehen?
Er nahm seinen ganzen Mut zusammen, schimpfte sich selbst einen
Narren und ging dann in den großen Wohnraum, wo es etwas besser
wurde. Durch die große Terrassentür fiel genug Licht herein und man
hatte einen besseren Überblick als in dem kurzen, engen Flur. Er
schnappte sich eine leere Tüte und stopfte schnell die Lebensmittel
hinein.
Die Tür zu seinem Zimmer stand wie immer offen, was es leichter
machte, die Angelhaken zu holen. Jetzt musste er nur wieder durch
den Flur zurück und dann hatte er es geschafft! Er hatte die Klinke
der Haustür schon in der Hand, als ihm die Worte seiner Mutter
durch den Kopf gingen: »Ach, und ein Päckchen Zigaretten, die
liegen im Schlafzimmer …« Felix hielt inne. Wenn er ohne die
Zigaretten zurückkam, würden sie ihn bestimmt noch einmal schicken!
Ein leises Knarren drang von der Wohnstube herüber und sorgte
dafür, dass sich jedes Härchen in seinem Nacken aufstellte. Wie
paralysiert machte er einen Schritt in die Richtung und schaute
vorsichtig um die Ecke des Durchlasses in den Wohnraum. Alles sah
so aus wie gerade eben, nur dass jetzt die Tür zu Katjas Zimmer
einen winzigen Spaltbreit offen stand.
»Ist da jemand?«, fragte er mit zu leiser Stimme und wie als
Antwort darauf ließ ein Luftzug die Vorhänge des gekippten
Küchenfensters ein wenig flattern. Nur der
Wind, dachte er. Es war nur der
Wind. Mit neuem Mut und energischen Schritten ging er in das
Elternschlafzimmer, schnappte sich eine Packung L&M und verließ
das Haus fast rennend.
Sein Beobachter schaffte es nur mit Mühe und Not die Erregung unter
Kontrolle zu halten. Einzig der Geruch der jungen Frau, die hier
schlief, wirkte abturnend und verhinderte, dass er es jetzt gleich
tat. Endlich schloss sich die Haustür und er konnte den Griff um
seine Hoden lockern.