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Felix hatte den alten Mann und dessen Warnung vor dem Wald zwar nicht vergessen, aber es war ja nicht wirklich weit bis zu dem kleinen Bach und außerdem konnte er über den Zufahrtsweg dorthin laufen. Wie immer lag er bereits um 7 Uhr hellwach in seinem Bett, und bis die anderen aufstanden, würde es noch mindestens eineinhalb Stunden dauern. Da die Wetterlage nicht mehr ganz so stabil war, gingen auch die Nachttemperaturen etwas zurück, sodass Felix froh über die dünne Jacke, die er übergezogen hatte, war. Seine Eltern wussten, dass er schon vor dem Frühstück ein wenig herumstromerte und er es liebte, um diese Zeit draußen zu sein. Es war, als würde auch die Natur langsam erwachen, und alles schien irgendwie friedlicher zu sein.
Felix benutzte die Terrassentür, da er diese auch wieder aufbekommen würde, wenn er früher zurückkommen sollte. Die feuchte, kühle Morgenluft verjagte den letzten Schlaf und zauberte geisterhafte Erscheinungen in die Luft, welche als Nebelschwaden über die nahe Wiese zogen. Morgens hatte er nie Angst, nur die Nacht verbreitete ihren Schrecken.
Heute wusste er genau, wo er hinwollte. Er umrundete das Haus und folgte dem Schotterweg, quer durch die große Wiese. Eine kleine Feldmaus, die das Maul voller kleiner Stängel hatte, sah ihn ängstlich aus ihren winzigen Knopfaugen an und verschwand dann in einer ihrer Höhlen. Wie von Geisterhand bogen sich immer wieder einzelne Halme in der Wiese und federten dann wieder zurück. Felix wollte gar nicht so genau wissen, was dort drin alles lebte, aber solange kein Elch vor ihm stand, war alles in Ordnung.
Ohne jeden Übergang endete die freie Fläche und der dunkle Wald begann. Außer mit dem Auto war er noch nie hier gewesen, aber er wusste, dass es bis zu dem kleinen Bach nicht weit sein konnte. Aufgrund der Dunkelheit, die hier immer noch herrschte, sah sich Felix nach einem Stock um, der lang und schwer genug war, um als Waffe zu dienen.
Nach ungefähr zwanzig Metern machte der Weg eine kleine Biegung, und genau hier musste es sein. Tatsächlich drang bald leises Plätschern aus den dicht stehenden Bäumen und lockte ihn damit in den Wald hinein. Wie ein Streifen aus glasklarem Eis durchzog das Wasser den Waldboden, fiel über kleine Stufen und floss dann weiter in Richtung See. Felix war begeistert! Er kramte sein letztes Geburtstagsgeschenk, eine echte Digitalkamera, aus dem kleinen Rucksack und begann damit, jede der faszinierend schönen Stellen zu fotografieren. Nachdem er den unteren Bereich eines kleinen Wasserfalles abgelichtet hatte, stieg er über einige ausgewaschene Wurzeln ein Stück höher. Kurz bevor das Wasser über die Felskante floss, musste es durch ein kleines Becken, doch irgendetwas stimmte hier nicht. Seifiger Schaum hatte sich an den Rändern abgesetzt und das ankommende Wasser trug noch mehr davon mit sich. Da man von ihrer Hütte aus den gesamten Berghang sehen konnte, wusste er, dass es dort oben nichts außer Wald gab. Daher fragte sich Felix, wo dieser Schaum wohl herkam. Vorsichtig tauchte er zwei Finger in die Brühe und verrieb das Zeug dazwischen. Es fühlte sich seifig an, und als er daran roch, erinnerte es ihn an den Rasierschaum seines Vaters. Nach einem Blick auf seine Armbanduhr beschloss er, der Sache ein wenig auf den Grund zu gehen und folgte dem Bach weiter den Hügel hinauf.
Dichter Bewuchs machte es ihm immer schwerer, doch dank seiner Kunststoffsandalen war es kein Problem, zwischendurch auch ein paar Meter durch das Wasser zu waten, um die schwierigen Stellen zu überbrücken. Auch die dabei entstehende Abkühlung tat, trotz der hier immer noch kühlen Morgenluft, gut. Immer steiler führte ihn der Bach hinauf, bis er schließlich eine kleine Lichtung erreichte, wo er bei einer kurzen Rast den Blick über das Tal genoss. Auch der Ort mit seinem kleinen Hafen war gut zu sehen und Felix glaubte sogar erkennen zu können, wie einer der Angler dort einen Fisch an Land zog.
Es war spät geworden, und da ihm nun schon länger kein Schaum mehr entgegengekommen war, beschloss er umzudrehen.
Oberhalb der Lichtung brach ein Ast und Felix fuhr herum, konnte aber bis hinauf zu der Felskante, die sich ein Stück höher quer über den Hang zog, nichts erkennen. Er stand auf, um besser sehen zu können, und im selben Moment rollten kleine Steinchen über die Kante und verschwanden in dem darunter wuchernden Dickicht. Felix wechselte die Position, konnte aber immer noch nichts erkennen. Hoffentlich kein Elch, dachte er, und ahnte nicht, dass ihn nur zehn Meter von einer viel schlimmeren Gefahr trennten. Noch einmal knackte ein Ast, dann raschelten Blätter und Stille kehrte ein. Unheimlich Stille, wie er sich einbildete. War der Wald vorher nicht viel lebendiger gewesen? Hatten nicht Insekten gezirpt und Vögel ihr Morgenlied gezwitschert? Felix wurde erst mulmig und dann unheimlich. Jetzt fiel ihm auch ein, dass keiner zu Hause wusste, wo er war und wenn ihm etwas passieren sollte, würde es ewig dauern, bis man ihn hier oben finden würde … wenn man ihn überhaupt finden würde.
Er drehte sich um, und hätte er sich nicht die Hand des Alten auf seinen Mund gedrückt, er hätte geschrien. Einen halben Meter hinter ihm stand wieder der alte Mann vom See und deutete ihm leise zu sein. Felix nickte, worauf die Hand seinen Mund wieder freigab. Das Herz schlug ihm bis in den Kopf und Panik stieg in ihm hoch. Einzig beruhigend war, dass der Alte inzwischen einen großen Schritt zurückgetreten war, dann den Finger vor den Mund hielt und anschließend nach oben deutete. Felix wusste zwar wieder nicht genau, was ihm der Alte sagen wollte, nickte aber zustimmend.
Der Alte lächelte und machte eine Geste, die Felix als großes Gesicht oder eine große Nase deutete, dann endlich fiel der Groschen. Meint er etwa, dass dort oben ein Elch ist? Felix tat so, als würde er auf vier Beinen laufen, was der Alte mit einem heftigen Kopfnicken quittierte. Dann drehte er sich um und ging auf einen schmalen Pfad zu, den man nur erkannte, wenn man wusste, dass es ihn gab. Kurz vor den ersten Büschen blieb er stehen und winkte Felix zu sich. Dieser warf noch einen letzten Blick nach oben und folgte ihm anschließend in den Wald hinein. Die Ansage seines Vaters, mit niemandem mitgehen zu dürfen, galt bestimmt nur für die Stadt und nicht für diese Wildnis!
Der Alte bewegte sich hier wie selbstverständlich und Felix hatte Mühe ihm hinterherzukommen. Immer wieder kreuzten sie den Bach, was Felix etwas beruhigte, da er bereits nach der zweiten Wendung die Orientierung verloren hätte. Schon nach fünfzehn Minuten endete der Wald so unvermittelt, dass sich Felix die Hand vor seine Augen halten musste, um nicht von der noch immer tief stehenden Sonne geblendet zu werden. Der Pfad endete fast genau hinter dem Ferienhaus und nur wenige Meter vor ihm war die Glaswand, hinter der seine Schwester gerade im Pool badete. Der Alte klopfte ihm kurz auf die Schulter, drehte sich um und verschwand wieder im Wald.
»Felix? … Felix, Frühstück!«, hörte er seinen Vater rufen.
Kurz darauf saßen alle zusammen am Tisch und Felix erzählte von seinem morgendlichen Abenteuer. Mike war natürlich absolut nicht begeistert, und wären sie in Nürnberg gewesen, es hätte richtig Ärger gegeben. Da er aber die Urlaubsstimmung nicht verderben wollte, beließ er es bei der Ansage, dass Felix sich morgens nur noch im Umkreis des Hauses aufhalten durfte und ihn sofort holen musste, wenn dieser alte Mann noch einmal auftauchen sollte. Dieser hatte zwar Felix heute geholfen, doch Mike wusste aus seiner Erfahrung, dass es oft so anfing und dann übel für die Kinder enden konnte.
Nachdem dies geklärt war, fragte Katja: »Was machen wir denn heute?«, und noch bevor jemand etwas sagen konnte, lautete Mikes Antwort: »Nicht Autofahren!«
Petra sah ihn verwundert an, wodurch er sich genötigt fühlte, sich zu erklären: »Für euch mag es ja ganz entspannend sein, kreuz, und quer durch dieses Land zu fahren, aber gefühlt habe ich die letzten zwei Tage nur im Auto gesessen …« Dann fügte er noch hinzu: »… und bin hunderte Kilometer durch Einkaufspassagen gelaufen.« Alle lachten und die beiden Frauen der Familie konnten sich den unschuldigen Blick zu den an der Wand aufgereihten Einkaufstüten nicht verkneifen.
Dann schlug Mike vor: »Wie wäre es mit ein bisschen Baden, ein bisschen Essen und einfach mal nichts tun?«
»Nichts dagegen«, stimmte Petra zu.
»Kann ich dann etwas mit Sjören machen?«, fragte Katja und erntete ein Nicken, begleitet von einem unterdrückten Schmunzeln ihrer Eltern.
Nach dem ausgedehnten Frühstück ging Katja über die Wiese, bis sie knapp vor dem Waldrand endlich ein wenn auch schwaches Handynetz gefunden hatte. Zu ihrer Überraschung hob Sjören fast sofort ab und teilte ihr mit, dass einige Lehrer krank geworden sind, weshalb er schon frei hatte und in einer halben Stunde da sein könnte.

Als das Mofa vor dem Haus hielt, war der Rest der Familie gerade dabei hinunter zum See zu gehen. Katja versprach bis zum Abendessen wieder da zu sein, dann setzte sie sich hinter Sjören und sie fuhren los. Die Art, wie seine Tochter ihre Arme um den Jungen geschlungen hatte, versetzte Mike einen Stich, aber er wusste, dass er sich daran gewöhnen musste.
Kurz nach der ersten Kurve im Wald blieb Sjören stehen und stellte den Motor ab. »Was ist?«, fragte Katja, als sie ihren Helm abgenommen hatte. Sjören tat es ihr gleich, wirkte aber ziemlich nervös: »Fahren wir wieder zu der Strandbar …«, Katja wollte schon zustimmen, als er weiterredete, »oder wollen wir zu einem kleinen versteckten Strand, den ich vor Kurzem entdeckt habe?«
Katja musste nicht lange überlegen. Erstens wäre sie gerne einmal mit Sjören etwas alleine gewesen und zweitens hatte sie keine Lust, wieder dieser Hanna über den Weg zu laufen. Mit jedem anderen Jungen hätte sie es sich zweimal überlegt, zu einem abgelegenen Ort zu fahren, aber auch sie wollte Sjören etwas näherkommen. Außerdem hatte sie in der letzten Zeit lernen müssen, wie man Grenzen setzt, auch wenn sie es sich nicht vorstellen konnte, dass das bei ihm nötig war. Grinsend sah sie ihn an und sagte: »Na dann los, auf zu deinem Strand.« Der Versuch, sich die Freude über diese Entscheidung nicht anmerken zu lassen, missglückte ihm völlig. Darum zog er sich schnell den Helm über den Kopf und startete den Motor.

Keiner von beiden ahnte, dass das Motorengeräusch nicht nur Tiere aufgeschreckt hatte. Und die kurze Pause verhalf IHM zu einer Information, die er trotz seiner Technik nie bekommen hätte. Gerade als er im Begriff war, das alte Fahrrad aus einer mit Zweigen abgedeckten Mulde abseits der Straße zu holen, hörte er das Mofa zum zweiten Mal näher kommen. Er hatte nur wenige Sekunden, aber diese reichten, um sich hinter einen Busch zu ducken und die beiden passieren zu lassen. Doch genau, als sie sich auf seiner Höhe befanden, hielt der Junge seltsamerweise an und es war für ihn ein Leichtes, das Gespräch zu belauschen. Jetzt brauchte er ihnen nicht mehr direkt zu folgen. Es gab nur eine Bucht, die dieser Sjören meinen konnte und die kannte jeder, der hier aufgewachsen war. Er dankte seinem Dämon, wartete, bis die beiden weg waren, und fuhr dann gemütlich mit seinem Fahrrad zu dem Ort, an dem das Spiel beginnen würde.

Anders als auf der Seeseite, wo ihr Ferienhaus stand, war das Ufer hier steiler und an vielen Stellen so felsig, dass man nicht bis an das Wasser herankam. Als Sjören plötzlich von der Uferstraße abbog, dachte Katja zuerst, er hätte die Kontrolle verloren und sie würden abstürzen. Der schmale Pfad war von der Straße aus kaum zu erkennen und für das Mofa schon sehr grenzwertig. Aber irgendwie schafften sie es ohne Schrammen an den dicht stehenden Dornenbüschen und herumliegenden Felsbrocken vorbei bis fast direkt an den See. Als eine hohe Steinstufe die Weiterfahrt verhinderte, stiegen sie ab und kletterten die letzten Meter bis zum Ufer hinunter.
»Da entlang!«, sagte Sjören, noch bevor Katja sich über den wenig attraktiven Ort wundern konnte. Er deutete nach rechts und ging auch schon voran. Nach höchstens fünfzig Metern ragte eine mächtige Felskante bis ins Wasser hinein und Katja fragte sich erneut, was denn hier so toll sein sollte.
»Du musst deine Schuhe ausziehen!«, holte Sjören sie aus ihren Gedanken und sie fragte irritiert: »Was muss ich?«
»Du musst deine Schuhe ausziehen!«, wiederholter er und schnürte bereits seine eigenen Turnschuhe auf. Dann zeigte er auf die Felskante und sagte: »Wir müssen da herum, aber keine Sorge, das Wasser ist nicht tief.« Dann wartete er nicht länger und ging voran.
»Wow!«, mehr brachte Katja nicht heraus. Tatsächlich war ihr das Wasser nur bis knapp über die Knöchel gegangen, aber der Lohn für die nassen Füße war gigantisch.
Vor ihr lag eine Bucht, wie man sie für Reiseführer fotografierte. Eingerahmt von fast glatten, zehn Meter hohen Felswänden lag ein unberührter Sandstrand.
Fast genau in der Mitte der U-förmigen Bucht hatten es drei kleine Bäume geschafft, sich anzusiedeln, was den Eindruck einer Oase vermittelte. Da der Blick nach links von der Felswand versperrt war, konnte man das schmale Ende des Sees, und damit auch Tonstad, nicht sehen. Nach rechts dagegen lag der See in seiner ganzen Länge vor ihnen und man hatte das Gefühl, allein auf der Welt zu sein.
»Das ist phantastisch!«, zeigte sich Katja begeistert, wobei Sjören sie lächelnd beobachtete. »Und hier kommt sonst keiner her?«, fragte sie ungläubig.
»Kaum. Und zu dieser Zeit überhaupt nicht«, erklärte Sören.
»Aber warum nicht?«, hakte Katja verwundert nach.
»Die Fischer fahren weiter bis an das andere Ende des Sees, weil es nur dort erlaubt ist, mit Netzen zu fangen, und für die Leihboote der Touristen ist es zu weit. Lass uns da rübergehen«, schlug Sjören vor und zeigte auf den Schatten der drei Bäume. Inzwischen war es 12 Uhr geworden und die Sonne entfaltete ihre ganze Kraft. Während Sjören seinen Rucksack vom Rücken nahm und das Strandtuch herauskramte, zog Katja ihre Klamotten aus und war froh den Bikini schon darunter zu haben. Denn eine Möglichkeit zum Umziehen gab es hier nicht. Dann rief sie: »Komm ins Wasser!«, und rannte auch schon los.
Sjören brauchte noch etwas, aber kurz darauf schwammen die beiden um die Wette und genossen die herrliche Erfrischung. Nachdem sie die hundert Meter hinaus und wieder zurück geschwommen waren, legten sie sich schwer atmend in das flache Wasser und blickten hinaus auf den See.
»Bleiben wir in Kontakt, wenn du wieder in Deutschland bist?« Die Frage kam völlig unvermittelt und versetzte Katja einen Stich. Dann sah sie Sjören von der Seite an und schaffte es nicht, die Träne zurückzuhalten. Er löste den Blick vom See und sah ihr in die Augen: »Tut mir leid, ich wollte dich nicht daran erinnern!« Seine Hand legte sich vorsichtig über ihre, und Katja genoss diese erste bewusste Berührung. Von den Jungs zu Hause war sie es gewöhnt, dass diese alles, und das möglichst schnell, wollten. Umso angenehmer war es mit Sjören, der sie während all der Tage nie zu etwas gedrängt hatte. »Ist nicht schlimm«, flüsterte sie, »ich möchte nur noch nicht darüber nachdenken.« Er deutete ein Nicken an und blickte wieder nach vorne. Katja beugte sich zu ihm rüber und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Doch er kam nicht mehr dazu, sich darüber zu freuen, denn Katja hatte sich eine vorbeischwimmende Alge geschnappt und ihm diese an den Rücken geklatscht.
»Hey!«, protestierte er, worauf das nächste schleimige Gewächs auf seinem Kopf landete. Er revanchierte sich mit einer satten Packung auf Katjas Bauch und kurz darauf jagten sie sich gegenseitig über den Strand.
Katja gab als Erste auf und stellte fest: »Ich habe riesigen Durst!«
»Oben im Rucksack habe ich eine kalte Cola.«
»Oh ja!«, stieß Katja aus und kurz darauf saßen sie unter der Baumgruppe und genossen das immer noch eiskalte Getränk. »Und jetzt?«, fragte Sjören, nachdem ihr Durst gestillt war.
»Lass uns eine kleine Pause machen, bevor ich dir eine Gesichtsmaske aus Algen auflege«, schlug Katja frech grinsend vor und legte sich auf den Rücken.


»Los, zeigt mir etwas Brauchbares«, sagte ER zu sich selbst und brachte seinen Apparat in Stellung. Es war heiß hier oben auf den Felsen, aber das störte ihn nicht. Genüsslich erschlug er ein Insekt nach dem anderen, und wartete beharrlich auf seine Gelegenheit.


Katja und Sjören lagen eine Weile schweigend nebeneinander und schauten durch das Blätterdach hinauf zum Himmel. Diesmal war es Katja, die ihre Hand in seine legte und selbst diese einfache Berührung genoss. Ein warmes Kribbeln durchzog ihren Körper, ein Gefühl, das sie so nicht kannte. Auch wenn sie schon mit zwei Jungs zusammen gewesen war, dieses Gefühl hatte sie nicht einmal beim Küssen verspürt und zu mehr war es, vielleicht genau deswegen, auch nie gekommen.
Fünf Minuten hielt sie der Unruhe, die sich in ihr breitgemacht hatte, stand. Doch als sie auch bei ihm spürte, dass er sich nur noch beherrschte, rutschte sie ein Stück näher und legte ihren Kopf auf seine Schulter. Nach einer Sekunde der Unsicherheit legte er den Arm um sie und zog sie noch ein wenig an sich heran. Schließlich hielt es Katja nicht mehr aus, wendete den Kopf und sie ließen den ersten Kuss einfach passieren.
Nachdem sie sich wieder etwas voneinander gelöst hatten, strich Katja ihm eine Haarsträhne aus dem Gesicht und sie blickten sich lange in die Augen. Er kam ihr zuvor und flüsterte: »Ich liebe dich.« Sie schenkte ihm ein warmes Lächeln und einen sehr intensiven und langen Kuss.
Das leise Klicken des Apparates über ihnen drang nicht bis zu ihnen herunter.
Katjas Knie berührte ihn leicht an seiner empfindlichsten Stelle und sie spürte seine Erregung. Doch es jetzt und hier zu tun, wäre zu früh! Er sah es, zu ihrer Erleichterung, genauso und sagte: »Ich brauche eine Abkühlung!« Ein Grinsen zog sich über ihr Gesicht und sie konnte sich das »Ich weiß!« nicht verkneifen. Nachdem sie sich von ihm heruntergerollt hatte, sprang er auf und rannte direkt ins tiefe Wasser. Katja folgte ihm etwas langsamer und mit immer noch sehr weichen Knien.
Dieses Mal schwammen sie die Bucht einmal der Breite nach ab, doch auch das frische Wasser konnte sie nicht wirklich abkühlen. Bis zum nächsten Kuss dauerte es nur so lange, bis sie wieder festen Grund unter den Füßen hatten, denn beide sehnten sich nach mehr.
Wieder im flachen Wasser liegend, setzte sich Katja auf Sjörens Bauch und genoss es von ihm gestreichelt zu werden. Dann gingen sie hinauf zu den Badetüchern und machten dort weiter, wo sie vor dem Baden aufgehört hatten, doch dieses Mal erforschten auch ihre Hände den Körper des anderen. All die Unsicherheit und die Scham, welche Katja bei ihren früheren Freunden empfunden hatte, gab es mit Sjören nicht. Sie hatte einfach das Gefühl, dass es stimmte und genauso sein musste, und sie wusste, dass es bald zum ersten Mal passieren würde.
Sjören küsste ihren Mund, ihren Hals und tastete sich vorsichtig bis zum Ansatz ihrer Brust hinunter, als ein lauter Pfiff und anschließendes Gelächter ihrer Intimität ein jähes Ende machten. Sie waren so mit sich beschäftigt gewesen, dass sie gar nicht mitbekommen hatten, wie es vier Jungs tatsächlich mit einem Tretboot geschafft hatten, bis hierher zu fahren.
»Solche Deppen!«, schimpfte Katja, die sich ertappt und enttäuscht fühlte. Sjören stimmte ihr zu, und da die vier keinerlei Anstalten machten, weiterzufahren und stattdessen in den See sprangen, beschlossen sie zu gehen.

Auch ER war enttäuscht und hatte alle Mühe seine Wut unter Kontrolle zu halten. Einer der Jungs hatte zu ihm heraufgeblickt und ihm damit keine andere Wahl gelassen, als sich von dem Felsvorsprung wegzurollen. Am liebsten hätte er einen Steinbrocken hinuntergeschleudert, doch seine schmerzenden Hoden, die fest im Griff seiner Hand waren, verhinderten, dass er etwas Unbedachtes tat. Im Grunde war sein Ausflug schon jetzt ein Erfolg, aber richtiger Sex zwischen den beiden hätte es perfekt gemacht. Als er sich wieder unter Kontrolle hatte, schob er sich vorsichtig vom Abhang weg, stieg auf sein Fahrrad und fuhr in Richtung Tonstad davon.

Auch Katja und Sjören packten ihre Sachen und gingen zurück zu Sjörens Mofa. »Was machen wir denn jetzt?«, fragte Sjören und sah auf seine Armbanduhr.
»Wie spät ist es denn?«, erkundigte sich Katja. »Erst 15 Uhr!« Dann ging sein Blick zum Himmel. »Und ich glaube, die Jungs haben uns sogar einen Gefallen getan!« Katja folgte seinem Blick und wusste, was er meinte. Über dem Berg, von der Bucht aus nicht zu sehen, hatten sich stockdunkle Gewitterwolken zusammengezogen und diese schoben sich langsam vor die Sonne. »Na, das wird ja eine lustige Heimfahrt für die Typen. Aber sie haben es verdient!«, stellte sie mit Genugtuung in der Stimme fest.
»Was hältst du davon, wenn wir zu mir fahren?«, schlug Sjören vor.
»Ist das deinen Eltern recht?«, fragte Katja sofort.
»Aber klar, ich habe schon so viel von dir erzählt, dass sie dich sowieso kennen lernen möchten. Außerdem ist nur meine Mutter zu Hause, mein Vater ist heute lange unterwegs.«

»Hast du eigentlich Geschwister?« Katja stellte gerade fest, dass sie im Grund nichts über Sjörens sonstiges Leben wusste.
»Nein, ich bin Einzelkind.« Dann hob er den Finger: »Aber kein verwöhntes.« Beide lachten und nachdem Katja seinem Vorschlag zugestimmt hatte, schoben sie das Mofa bis hinauf zur Straße und fuhren zu ihm nach Hause.

Sjören wohnte mit seinen Eltern am Ortsrand, in einem einfachen, aber gemütlichen Holzhaus mit einem großen Garten, der direkt in ein angrenzendes Feld überging. Als die beiden ankamen, dauerte es keine zehn Sekunden, bis eine Frau mittleren Alters um die Hausecke gelaufen kam und schon von Weitem winkte.
»Das ist meine Mutter!«, stellte Sjören mit leicht genervtem Unterton fest. Doch die Erklärung war eigentlich überflüssig, da er ihr wie aus dem Gesicht geschnitten war.
»Herzlich willkommen! Du musst Katja sein, mein Sohn hat schon viel von dir erzählt«, wurde Katja in gebrochenem Deutsch, dafür aber mit überschwänglichem Händeschütteln begrüßt. Und hätte Sjören ihr nicht etwas auf Finnisch zugeraunt, Katja wäre um eine Umarmung nicht herumgekommen. Sie mochte diese etwas hagere Frau auf Anhieb. Durch die vielen Lachfalten und ihre herzliche Art konnte man gar nicht anders, als sich sofort akzeptiert zu fühlen.
Trotz Sjörens Versuchen, sie davon abzubringen, mussten sie zuerst mit seiner Mutter Kuchen essen und eine Tasse Tee trinken, bevor sie hinauf in sein Zimmer gehen durften. Dass sich das alles nicht noch mehr in die Länge zog, hatten sie nur dem Umstand zu verdanken, dass seine Mutter noch einen Termin in der nächstgrößeren Stadt hatte und irgendwann los musste.
»Sie ist sehr nett!«, stellte Katja fest, als sie endlich alleine waren.
»Ja, aber sie kann auch nerven!«, erwiderte Sjören und Katja lachte: »Das können sie alle.«
»Komm, wir gehen rauf in mein Zimmer.« Katja nickte und folgte ihm hinauf in den ersten Stock des Hauses. Doch statt, wie erwartet, eine der beiden Türen zu öffnen, zog Sjören einen Vorhang zur Seite, hinter dem sich eine weitere Treppe versteckte. Man hatte ihm das gesamte Dachgeschoss zur Verfügung gestellt, was ein riesiges Zimmer und sogar ein kleines Bad beherbergte. Fast schon ehrfürchtig trat Katja in Sjörens Reich. Irgendwie hatte sie das Gefühl, ein intimes Detail vom ihm gezeigt zu bekommen.
»Wow, nicht schlecht«, stellte sie fest, als sie sich etwas umgesehen hatte. Vor einem riesigen Fenster, das in Richtung des Feldes zeigte, stand ein großer, aber unaufgeräumter Schreibtisch mit einem kleinen Laptop darauf. In die schrägen Wände hatte man einige Schränke und Regale eingepasst und am hinteren Ende des Raumes stand, etwas durch den Treppenaufgang versteckt, ein großes Doppelschlafsofa. Fast so wie jeder andere Teenager hielt auch Sjören nicht allzu viel von Ordnung. Das Bettzeug lag wild zerwühlt auf dem Bett und einige Klamotten waren unachtsam auf einen kleinen Sessel geworfen worden, der in der Ecke stand.
»Schön, dass es dir gefällt«, sagte Sjören und wirkte dabei etwas unschlüssig, was er jetzt tun sollte. Auch Katja stand einfach nur herum und wollte gerade zu dem großen Fenster gehen, als der kleine Laptop die Situation rettete. Sjören hatte den gleichen Hinweiston für neue Facebook-Nachrichten eingestellt wie Katja auch.
»Schau ruhig!«, motivierte sie ihn, da er aussah, als traute er sich nicht, die Nachricht anzusehen. »Ist bestimmt nichts Wichtiges«, erwiderte er, setzte sich aber trotzdem an den Schreibtisch und klappte das Gerät auf. »Schon wieder Hanna. Die geht mir so was von auf den Geist«, stellte er hörbar genervt fest.
»Die Kellnerin am Strand sagte, ihr hattet einmal was miteinander«, ging Katja, ohne jeden Vorwurf in der Stimme, darauf ein. »Ja, und es dauerte genau eine Woche«, stellte er abwertend fest und redete dann weiter, »Hanna ist dumm und so was von eifersüchtig, dass sie nie jemanden finden wird, der es mit ihr aushält. Und wie du siehst, hört ihre Eifersucht auch danach nicht auf! Ich weiß langsam wirklich nicht mehr, was ich machen soll.«
Ohne auf den Monitor zu blicken, ging Katja zu Sjören und nahm ihn von hinten in den Arm. Dann sagte sie leise: »Lass dich nicht ärgern und gehe am besten auf nichts mehr von ihr ein. Eine Freundin von mir hatte das gleiche Problem, und als sie ihren Ex konsequent ignorierte, hörte er nach einer Woche damit auf, ihr hinterher zu spionieren.«
»Danke!«, flüsterte Sjören, drehte sich mit seinem Stuhl um, und gab Katja einen sanften Kuss auf den Mund. Katja lächelte verschmitzt: »Wenn du sie allerdings genauso geküsst hast, verstehe ich, warum sie dir immer noch hinterherrennt … deine Küsse machen süchtig.« Statt zu antworten, zog Sjören sie erneut an sich heran und dieses Mal war es mehr als nur ein sanfter Kuss. All die Gefühle, welche sie schon am Strand hatte, waren mit einem Schlag wieder da und für einen Moment dachte sie, ihre Knie würden nachgeben.
»Warte mal kurz«, flüsterte Sjören, drehte sich zum Laptop und schloss den Internetbrowser. Dazu, das Gerät herunterzufahren, kam er nicht mehr, da Katja einen weiteren Kuss forderte und auch bekam. Keiner von beiden bemerkte, dass sich auf dem Monitor ein kleines Fenster mit dem Hinweis »Interne Kamera aktiv« öffnete und wieder schloss.
Ohne etwas zu sagen, löste sich Katja aus ihrer unbequem-gebeugten Haltung, nahm Sjörens Hand und zog leicht daran. Er verstand, was sie wollte, stand auf und ließ sich von ihr hinüber zum Bett führen. »Wo waren wir stehen geblieben?«, fragte Katja unschuldig, als sie nebeneinander auf dem Bett saßen. Statt zu antworten, drückte er sie sanft in eine liegende Position und folgte ihrer Bewegung. Doch statt sie erneut zu küssen, begann er mit zittrigen Fingern ihr dünnes Oberteil aufzuknöpfen, was sie mit geschlossenen Augen zuließ. Dann beugte er sich über sie und begann ihren Körper mit sanften Küssen, vom Hals abwärts, zu verwöhnen. Das Ziehen in ihr nahm zu und damit ihre Beherrschung ab. Sie richtete sich etwas auf und zog ihm sein T-Shirt über den Kopf. Danach streifte sie ihre Bluse ab und zog sich das Bikinioberteil aus. Sjören konnte nicht anders, als ihre Brüste mit sanften Küssen zu verwöhnen und ein leises Stöhnen zeigte ihm, dass er nichts falsch machte. Zwei unerfahrene Hände glitten beim jeweils anderen tiefer und hatten schließlich den Mut, der nötig war, um die letzte Tabuzone zu erforschen. Gegenseitig streiften sie sich die noch verbliebenen Klamotten herunter, und Katja hätte nie gedacht, dass sie jemals ohne jede Scham nackt vor einem Jungen liegen konnte. Keiner von beiden hielt der Anspannung weiter stand, und doch musste sie Sjören fast schon auf sich ziehen, so zurückhaltend war er. »Sei bitte vorsichtig«, war das Letzte, was Katja ihm, unnötigerweise, ins Ohr flüsterte, dann vereinten sie sich und die restliche Welt existierte nicht mehr.

Der Schmerz zog sich länger und länger und im Kopf explodierten tausende Sterne, aber ER brauchte das jetzt. Immer wieder hielt er die alte Blechtasse über das Feuer und ließ die brodelnde Flüssigkeit extra langsam in seinen Rachen laufen.
Diese beiden Jugendlichen ekelten ihn an! Er hasste nichts mehr als Körperkontakt und was er da auf seinem Bildschirm zu sehen bekam, war mehr als das. Wie konnte man die Säfte des anderen so bereitwillig in sich aufnehmen und dabei auch noch Genuss heucheln. Er hatte gar keine andere Wahl, er musste strafen!

Als Sjören Katja am Donnerstagabend wieder bei ihren Eltern ablieferte, waren sich beide sicher, dass man ihnen ansah, was passiert war. Am liebsten hätten sie noch die ganze Nacht miteinander verbracht, aber Katja wollte die Gutmütigkeit ihrer Eltern mit dieser Frage nicht ausreizen.
»Hattet ihr einen schönen Tag?«, war Petras erste Frage. Sie hatte das Mofa gehört und war den beiden, um das Haus herum, entgegengelaufen. Das seltsame Grinsen, welches ihre Frage auslöste, nahm sie zwar wahr, dachte sich aber nichts dabei.
»Ja, hatten wir!«, entgegnete ihre Tochter knapp und machte auch keine Anstalten, mehr zu erzählen.
»Schön!«, stellte Petra ebenso knapp fest und sah Sjören an. »Möchtest du noch mit uns zu Abend essen? Es ist gleich fertig.«
Doch Sjören schüttelte den Kopf: »Nein danke! Meine Mutter bringt etwas zu essen mit und wäre sauer, wenn ich satt nach Hause käme.«
»Schade, aber ich kann das verstehen!«
Dann fiel Sjören noch etwas ein: »Kommen Sie morgen auch zu unserem Hafenfest?« Katja sah ihre Mutter hoffnungsvoll an und diese fragte: »Davon wissen wir ja gar nichts. Wird denn keine Werbung dafür gemacht?«
Der Junge schüttelte den Kopf: »Das ist eigentlich nicht nötig, weil jeder im Ort weiß, wann es stattfindet. Es ist jedes Jahr an dem Tag, als der Ort offiziell gegründet wurde. Beginn ist schon um 16 Uhr, aber es reicht, wenn man etwas später kommt« Und wie um Katjas Eltern zu locken, erklärte er weiter: »Und in der Nacht gibt es dann noch ein Feuerwerk über dem See.«
Petra hatte begriffen, dass es mehr um ihre Tochter als den Rest ihrer Familie ging. Doch sie lächelte und sagte: »Ich muss zwar noch mit meinem Mann darüber sprechen, aber ich denke, wir kommen!«
»Sehr schön!« Man sah Sjören seine Freude an. Dann wandte er sich zu Katja: »Ich muss jetzt los. Sehen wir uns morgen? Ich habe wegen des Festes wieder etwas früher Schulschluss.« Doch statt zu antworten, sah Katja ihre Mutter mit diesem Lass uns alleine-Blick an.
Katjas Mutter hob die Hände, als wollte sie jemanden abwehren. »Ich bin ja schon weg. Komm gut heim, Sjören und morgen sehen wir uns bestimmt!« Dann drehte sie sich um und verschwand hinter der nächsten Hausecke.
Katja machte immer noch keine Anstalten zu antworten, sondern trat stattdessen an ihn heran und gab ihm noch einen langen Kuss. Dann erst sagte sie: »Wir sehen uns bestimmt! Ich rufe dich so gegen elf an. O. k.?«
Nach einer langen und zärtlichen Umarmung stieg Sjören auf sein Mofa und Katja ging ins Haus, um sich vor dem Essen umzuziehen.
Das geplante, abendliche Grillen musste ausfallen, da auf der anderen Seeseite bereits beeindruckende Blitze die Luft zerschnitten und ein dumpfes, bedrohliches Grollen über das Wasser schickten. Petra improvisierte ein einfaches Abendessen, bei dem beschlossen wurde, auch auf das morgige Fest zu gehen. Um etwas Druck auf ihre Eltern auszuüben, hatte Katja ihrem Bruder von einem gewaltigen Feuerwerk erzählt, was zur Folge hatte, dass Felix nun seinen Vater bearbeitete und Katja gar nichts mehr zu sagen brauchte.
Nach dem Essen sprangen alle noch einmal in den Pool und sahen beeindruckt dabei zu, wie sich das Gewitter hinter den Scheiben des Anbaues austobte.