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Um Viertel vor drei, kurz bevor die Kinder nach Hause kommen sollten, klingelte Polly an der Tür. Sie hatte nie geklingelt, seit den Anfängen ihrer Freundschaft nicht.

Stattdessen hatte sie gerufen: »Ich bin’s!« und war eingetreten.

Als Dana ihr die Tür aufmachte, sagte Polly: »Soll ich hier draußen stehen bleiben?« Obwohl ein gewisser Humor mitschwang, vermutete Dana, dass Polly die Frage ernst meinte, und hielt ihr die Tür auf. Dann standen sie in der Diele, ohne sich anzusehen, bis es aus Polly herausplatzte: »Ich bin aus dieser Büchergruppe ausgetreten. Das ist ein Haufen Klatschweiber, und ich habe mich auf dieses Niveau hinabbegeben. Nora hält sich für die Ballkönigin schlechthin, dabei ist sie nichts als ein manipulatives Miststück.« Darauf folgte ein kurzes, heftiges, frustriertes Kopfschütteln. »Ich will mich nicht rausreden – es ist alles meine Schuld. Du sollst aber wissen, dass das ein Fehler ist, den ich nie wieder machen werde.«

Dana nickte. »Gut«, sagte sie.

»Außerdem ist Victor kurz davor, sich deswegen von mir scheiden zu lassen.« Eine Übertreibung, aber Dana verstand, was sie meinte. »Ständig sagt er: ›Du hast Dana den Wölfen zum Fraß vorgeworfen, und wofür? – Für diese schnöselige Nora Kinnear? Was ist denn in dich gefahren?‹ Er hat natürlich recht, aber findest du das nicht auch ziemlich frech, nachdem er so in sie verknallt war? Und dann sagt er jeden Tag zu mir: ›Geh bloß nicht rüber zu den Stellgartens und belästige Dana so lange, bis sie dich aus purer Erschöpfung wieder aufnimmt. Lass sie zu dir kommen, wenn sie dazu bereit ist.‹ Gerade so als ob er ein Diplom in zwischenmenschlichen Beziehungen hätte. Hat er nicht, kann ich dir versichern.«

Dana blickte ihr in die Augen. »Es geht nicht um das, was du mir angetan hast, Polly, obwohl das schon schlimm genug ist. Es geht um das, was du Morgan angetan hast.«

Polly wurde blass. »Gott, ich weiß«, flüsterte sie. »Das macht mich ganz krank. Ich hätte nie gedacht …«

»Niemand denkt, dass Tratsch sonderlich weit reicht. Aber es ist Tratsch und verletzt einen. Sie hat Nora sagen hören, dass du diejenige warst, die es ihr erzählt hat.«

»Ich könnte mich umbringen.« Ihre elfengleiche Gestalt schien noch dünner zu werden, und Dana dachte an diese Zeile aus Peter Pan: »Klatsch in die Hände, wenn du an Feen glaubst.«

»Und jetzt geht es ihr schlecht, weil sie glaubt, sie hat unsere Freundschaft zerstört.«

»Das ist doch verrückt! Sie hat überhaupt nichts gemacht!«

»Ich wünschte, du würdest ihr das sagen. Am besten heute noch. Verrate ihr nicht, dass du weißt, dass sie sich für unseren Streit verantwortlich fühlt. Bitte sie einfach um Entschuldigung und mach ihr klar, dass sie keine Schuld trifft. Bitte.«

»Abgemacht.«

»Wie lief’s?«, fragte Tony, als er sie an diesem Abend gegen zehn anrief, just als Dana ins Bett gehen wollte. Sie hatte eben erst beschlossen, dass es wohl zu spät wäre, ihn anzurufen.

»Ganz gut, glaube ich.« Sie erzählte ihm von ihrem Gespräch mit Polly.

»Hat sie es getan?«

»Ich glaube schon. Morgan kam mir heute Abend ruhiger vor. Ich wollte sie aber nicht fragen – dann hätte sie gewusst, dass der Anstoß von mir kam.«

»Gut gedacht«, sagte er. »Du bist schon eine tolle Mom.«

Dana stöhnte. »Du kennst ja die Redensart: ›Das ist kein Hexenwerk‹. Ist es nicht – es ist schwieriger.«

»Wem sagst du das.« Tony gluckste. »Ich habe vorhin mit Lizzie gesprochen. Sie ist ganz glücklich, weil – man höre und staune …«

»Sie wieder mit Zack zusammen ist!«

»Nein, Zack hat versucht, wieder mit ihr zusammenzukommen, und sie hat ihm gesagt, er solle doch hingehen, wo der Pfeffer wächst. Die genaue Formulierung war sicher aktueller, aber du weißt, worum es geht.«

»Gut!«

»Außerdem habe ich ihr von dir erzählt.«

Dana stockte für eine Sekunde der Atem. Sie hatte noch niemandem etwas erzählt. Es erschien ihr noch zu zerbrechlich, um es einer öffentlichen Begutachtung auszusetzen. »Und?«

»Ich glaube, der exakte Wortlaut war: ›Das ist ja voll fett!‹ Ich klinge immer lächerlich, wenn ich ihren Jargon benutze.«

Er fragte nach den Vorbereitungen für Dermotts Beerdigung. Dana hatte für den älteren Jungen eine Anzugjacke vorbeigebracht, denn sie erinnerte sich, dass die Ärmel seiner eigenen zu kurz gewesen waren. Dabei hatte sie erfahren, dass es keine Totenwache und keine Trauerfeier geben würde. Dermott hatte sich gewünscht, dass seine Asche über dem Nipmuc Pond verstreut würde; da dieser jedoch gerade zugefroren war, hatte Mary Ellen beschlossen, im Frühjahr einen Gedenkgottesdienst zu feiern.

Sie unterhielten sich noch eine Weile, und Tony gab ihr Tipps für ihr Bewerbungsgespräch am nächsten Tag. Schließlich sagte er: »Gute Nacht, mein Schatz.«

Dana grinste. »Du nennst mich deinen Schatz?«

»Du bist so kostbar wie ein Schatz«, sagte er. »Das musste ich einfach erwähnen.«

Vor dem Bewerbungsgespräch zog Dana sich zwei Mal um. Das erste Mal wirkte sie zu langweilig, und sie wollte nicht wie eine traurige graue Maus aussehen, die so dankbar für die Stelle war, dass sie sich auf eine schlechte Bezahlung einlassen oder sich einen Mangel an Respekt gefallen lassen würde. Beim zweiten Mal wirkte sie zu synthetisch – eine bedruckte Polyesterbluse und dunkelbraune Hose aus Viskose. Das ist ein Erneuerbare-Energien-Unternehmen, tadelte sie sich selbst. Da musst du grün aussehen!

Als sie endlich ins Auto stieg, trug sie eine Wollhose, einen Baumwollpullover und eine Kette mit Maries Dreifachgöttin. Sie hoffte, dass Schafzucht und Baumwollanbau umweltfreundliche Branchen waren. Und sie hoffte, dass ihre potenziellen Arbeitgeber, falls sie die Symbolik des Amuletts überhaupt kannten, keine »Frömmler« waren, um mit Marie zu sprechen.

Das Büro befand sich in einem kleinen Gewerbegebiet im nahe gelegenen Glastonbury, und als Dana ein paar Minuten zu früh dort eintraf, konnte sie sehen, wie nötig ihre Dienste gebraucht wurden. Akten lagen aufgeklappt auf Tischen, Büromaterial stapelte sich wahllos in einer Ecke, und das Telefon klingelte ununterbrochen.

»Ich gehe nicht dran!«, hörte sie einen Mann aus einem Büro im hinteren Teil rufen. »Ich war letztes Mal dran!«

»Und ich hab für dich Frühstück gemacht, den Hund Gassi geführt und mich um die Wäsche gekümmert«, rief Bens Stimme aus einer anderen Richtung. »Rache ist süß!«

Am nächsten Tag traf sie sich zum Mittagessen mit Tony im Keeney’s. Sie konnte es nicht erwarten, ihm von ihrer neuen Stelle zu erzählen. »Rasend viel Geld ist es nicht, dafür haben sie mir eine ganz kleine Beteiligung an der Firma gegeben.«

»Sie haben sich so schnell entschieden? Du warst doch erst gestern zum Bewerbungsgespräch da.«

»Ich hab schon angefangen! Bis sie den Papierkram erledigt haben, bezahlen sie mich unter der Hand. Das ist vielleicht ein Chaos dort, aber sie scheinen wirklich nett zu sein.«

Ihre Unterhaltung wanderte von Maries neuem Tattoo über Kendras gewaltige Mittagsmahlzeiten bis hin zu den atmungsaktiven Walkingsocken, die Polly ihr gekauft und den Kindern mitgegeben hatte.

»Sie will dich wirklich zurückhaben«, sagte Tony.

»Ich denke drüber nach«, sagte Dana. »Bevor sie mich total hintergangen hat, war sie eine richtig gute Freundin. Dazu kommt, dass ich mich im Moment mit ihr auseinandersetzen muss, ob ich es will oder nicht – sie wird den größten Teil des Wochenendes mit meinen Kindern verbringen. Das Probeabendessen ist am Freitagabend, die Hochzeit am Samstag, und ihr Mann ist Trauzeuge.«

»Wo wir schon bei diesem Wochenende sind … Ich würde dich gerne am Freitag ausführen. Eine Verabredung.«

Eine Verabredung. »Das klingt richtig offiziell.«

»So offiziell, wie du es gerne hättest.«

Sie gestattete sich kaum einen Moment des Nachdenkens, ehe sie sagte: »So offiziell, wie du es machen kannst.«

Schon allzu bald musste er zurück zur Arbeit. Auf dem Parkplatz am Rand des Teichs küsste er sie, als meinte er es ernst, während sein Körper sie an den Minivan drückte. Sie wünschte, es möge nicht enden, doch dann hörten sie nicht weit von ihnen ein Husten, und auf der Suche nach der Quelle dieses Geräuschs drehten sie sich um. Zwei Fischer, deren Angelschnüre an einer der wenigen nicht zugefrorenen Stellen in den Teich hingen, standen einige Schritte weiter am Ufer. Die beiden Männer grinsten anerkennend in ihre Richtung.

»Wie läuft’s?«, rief Tony mit einem schiefen Lächeln.

»Gut«, rief einer der Männer zurück. »Und bei Ihnen?«

Der andere brach in Gelächter aus.

Pollys Entschuldigung schien für Morgan etwas bereinigt zu haben, und die nächsten ein oder zwei Tage war sie entspannter. Am Donnerstag ging sie sogar nach der Schule mit zu Rita. Am Freitag jedoch kam sie nach Hause und machte sich gleich an ihre Schularbeit. Sie spielte eine Stunde lang Cello, und als Dana ihr sagte, sie müsse es jetzt wegstellen und sich für das Probeabendessen umziehen, versuchte sie, Zeit zu gewinnen.

»Kann ich es mitnehmen?«, fragte Morgan. »Ich muss für das Konzert üben.«

»Oh, ich weiß nicht, Liebes. Das Wochenende ist sowieso schon voll, meinst du nicht?«

»Ich könnte morgen früh üben. Die Hochzeit ist doch erst nachmittags.«

Als Polly kam, um die Kinder zu dem Abendessen abzuholen, nahm Dana sie beiseite. »Ich glaube, Morgan ist durch das alles ziemlich gestresst. Sie sagt nicht viel, aber man merkt es ihr an«, sagte sie. »Polly, du musst auf sie aufpassen. Schau einfach, dass du in ihrer Nähe bist, wenn du kannst.«

»Natürlich!«, sagte Polly. »Für dieses Kind würde ich alles tun.«

»Danke. Ich mache mir solche Sorgen um sie.«

Einen Monat oder ein Jahr oder zehn Jahre zuvor wäre darauf eine zehn Sekunden lange schraubstockartige Ganzkörperumarmung von Polly gefolgt. Hätte Dana angefangen zu weinen, vielleicht auch noch länger. Jetzt dagegen nahm Polly nur Danas Handgelenk und drückte es. »Du kannst dich auf mich verlassen.«

Dana hatte geduscht und stand, ein Handtuch um sich gewickelt, vor ihrem offenen Kleiderschrank und überlegte, was sie für ihr richtig offizielles Rendezvous mit Tony anziehen sollte. Einen – wenn auch kurzen – Moment lang wünschte sie, sie hätte die wunderschöne Seidenbluse noch, die Nora ihr geschenkt hatte. Nicht einmal umsonst, besann sie sich, war sie den Preis wert.

Es klopfte an der Tür. »Herein«, sagte sie.

»Hey«, sagte Alder.

»Hübsches Handtuch«, meinte Jet.

»Hallo, Mädels. Was habt ihr heute Abend vor?«

»Ähm …«, machte Alder.

»Wir dachten, wir kiffen uns zu, klauen ein paar Softguns und schießen ohne Schutzausrüstung aufeinander«, sagte Jet. »Wär das für Sie okay?«

Dana kniff sie leicht in die Wange und sagte: »Du bist soooo witzig.«

»Eigentlich«, sagte Alder, »macht Connie gewaltig Druck, dass ich übers Wochenende nach Hause komme. Ich hab aber gesagt, auf keinen Fall, außer vielleicht am Sonntag. Morgan und G kommen Samstagabend zurück, oder?«

Schutzausrüstung, dachte Dana. Sie meint, sie wäre meine Rüstung.

»Hey Süße«, sagte sie, »deine Mom verdient mehr als nur einen Tag. Sie vermisst dich, und mir geht es hier gut.« Alder sah skeptisch aus. »Wirklich«, sagte Dana. »Mit meiner neuen Stelle habe ich tausend verschiedene Sachen nachzuholen. Ich werde morgen von Pontius zu Pilatus laufen. Und heute Abend« – sie grinste stolz – »habe ich eine Verabredung.«

Alder und Jet sahen sich an. »Mit wem?«, fragte Jet.

»Nicht der iPod-Typ!« Alder war entsetzt.

»Oh bitte. Trau mir doch wenigstens ein bisschen was zu!«, sagte Dana. »Nein, dieser hier ist etwas ganz Besonderes. Vielleicht erzähle ich euch davon, wenn ihr wiederkommt. Am Sonntag.«

So waren die Mädchen rauf nach Hamptonfield gefahren, und Dana hatte sich angezogen. Mit etwas so Ausgefallenem wie dieser Bluse konnte sie nicht aufwarten, aber sie fand, dass sie recht gut aussah. Tony kam um halb acht, in der Hand eine pinkfarbene Stargazer-Lilie, die mit einer dunkelrosa Zierschleife versehen war. Als er eintrat, erfüllte ihr schwerer Duft den Raum. »Ich wollte eine Rose nehmen«, erklärte er, ihr in die Küche folgend. »Aber als ich das Lizzie gegenüber erwähnt habe, hat sie durchs Telefon Schnarchgeräusche von sich gegeben, und Abby hat das hier vorgeschlagen.«

»Du holst dir ja bei deinen Kindern Tipps für deine Verabredungen!«, neckte Dana, den Arm nach einer Langhalsvase ausstreckend.

»Wieso? Vernünftige Ratschläge hole ich mir, wo ich sie kriegen kann.« Er nahm ihr die Vase aus der Hand und begann, sie mit Wasser zu füllen. »Folge dem mit dem funktionierenden Kompass.«

»Dein Kompass funktioniert gut.«

Er nahm ihr die Lilie aus der Hand und ließ sie in die Vase gleiten. »Ich bin froh, dass du so denkst«, sagte er und küsste sie leicht, dann drängender, während seine Arme über ihr seidiges Kleid glitten und ihre Hände sich unter sein Sakko schoben, um sich fest auf die Muskeln an seinem Rücken zu legen. Fast wäre ihr reservierter Tisch wieder freigegeben worden.

Das Restaurant war schön und das Essen köstlich, doch Danas Aufmerksamkeit lag woanders. Während Tony ihr eine Geschichte erzählte oder sie etwas fragte oder – oft recht treffsicher – Vermutungen über ihre Ansichten anstellte, betrachtete sie ihn. Die Art, wie er sie ansah, Augen, die über dem Kerzenlicht funkelten, zufrieden und sehnsüchtig zugleich. Die Art, wie seine gebräunten Finger über die Tischdecke glitten, um kurz die ihren zu berühren, wenn sie etwas besonders Scharfsinniges, Witziges oder Liebenswertes bemerkte.

»Hör mal«, sagte sie, als sie sich zum Dessert ein Stück Schokoladentorte teilten. »Wie kommt’s, dass du ein ganz kleines bisschen froh gewirkt hast, als du mir sagtest, Kendra käme zurück und du müsstest mich gehen lassen?«

»Weil ich es war. Ich wusste, dass es mich ganz schön erwischt hatte, und du würdest entweder mit mir ausgehen oder nicht. So oder so wäre es bald schwierig geworden, weiterhin dein Chef zu sein.«

Als sie danach zum Parkplatz hinausgingen, sagte sie: »Erinnerst du dich, als mir der Zahn abgebrochen war und du mir die Geschichte erzählt hast, wie du das Jackett des toten Ehemanns tragen musstest?«

»Aber sicher«, sagte er. »Das war das Peinlichste, was mir eingefallen ist.«

»Das war wirklich nett«, sagte sie, sich bei ihm einhängend. »Dass du dir die Zeit genommen hast, dafür zu sorgen, dass ich mich nicht mehr so erbärmlich fühlen musste. Das hat mich wirklich beeindruckt.«

Er öffnete ihr die Beifahrertür und nahm selbst auf der Fahrerseite Platz. »Gut zu wissen, dass meine schlimmste Verabredung beeindruckend war«, sagte er. »Lässt reichlich Platz für Verbesserung.« Er startete den Motor, ohne jedoch den Gang einzulegen. Flüchtig sah er zu ihr hinüber. »Du sitzt am Steuer«, sagte er.

Sie blickte ihn an, nahm ihn wahr – alles von ihm, nicht nur das, was sichtbar war. »Ich würde gerne noch mal dein Haus sehen«, sagte sie leise.

»Schnall dich an«, bat er sie, und der Motor lief dröhnend an.