- 20 -

Am Montagmorgen stand der Wecker auf Viertel nach sechs, aber schon um Viertel vor fünf war Dana hellwach. Nahtlos, dachte sie immer wieder. Die Kinder sollen möglichst wenig davon merken, dass ich jetzt arbeite. Um sieben stand sie in der Küche und machte Frühstück. Sie hatte sich eine Schürze mit dem Aufdruck MANGIA! umgebunden, um sich nicht schmutzig zu machen. Grady, dem das Schlafanzugoberteil von einer Schulter gerutscht war, kam hereingeschlurft.

»Pfannkuchen oder Waffeln?«, fragte sie.

»Was für ein Tag ist heute?« Seine nur halb geöffneten Augen blinzelten in ihre Richtung.

»Montag.«

»Ist heute Schule?«

»Natürlich. Montag ist Schultag, das weißt du doch, du Dummerchen.«

»Pfannkuchen gibt’s aber nur am Wochenende.«

»Na ja, ich bin früh aufgestanden und hatte Lust, welche zu machen. Also was: Pfannkuchen oder Waffeln?«

»Toast«, sagte er, während er sich auf einen Küchenstuhl fallen ließ und sich am Hals kratzte. »Bei Dad und Tina gab’s gestern schon Pfannkuchen. Er tut so viele Schokochips da rein.«

Dana starrte die Schüssel mit dem Pfannkuchenteig an. »Klingt, als hättet ihr ein lustiges Wochenende gehabt.« Sie goss Grady ein Glas Orangensaft ein.

»Es war der Hammer.« Schlürfend trank er von seinem Saft. Ein Tropfen lief ihm am Kinn hinab, und er wischte ihn an der Schulter seines Schlafanzugoberteils ab. »Wir sind in Dads Fitnessstudio gegangen, nur er und ich, und haben im Pool Rennen gemacht, bei denen man nur einen Arm benutzen durfte und so was. Ich habe ihn vierzehn Mal geschlagen. Nein, fünfzehn

»Und wo war Morgan?«, fragte Dana. Er hätte sie nicht allein in seiner Wohnung lassen sollen, wo sie ohne Ende im Internet surfen konnte, dachte sie, während sie den Toaster bestückte und den Knopf mit Wucht hinunterdrückte.

»Sie und Tina sind im West End shoppen gegangen.«

Er kann die Rechnungen nicht bezahlen, aber sie können im West End shoppen gehen? Dana kochte. Mein lieber Mann, da ist ja wohl ein Anruf fällig!

»Aber es war so dämlich«, sagte Grady. »Sie haben noch nicht mal was gekauft! Sie haben sich die Sachen nur angeguckt. Was hat denn das für einen Sinn?« Er sank noch tiefer auf seinem Stuhl zusammen. »Ich will nicht in die Schule. Ich hasse sie.«

»Nein, das tust du nicht, mein Spatz«, sagte sie. »Schule macht Spaß. Vor allem die Pause, stimmt’s?«

»Ich hasse sie. Vor allem die Pause.«

Dana wartete vor der schweren Glasaußentür des Cotters Rock Dental Center, als Tony mit den Schlüsseln eintraf. Er trug eine lederne Fliegerjacke, unter der ein blauer Arztkittel hervorlugte. »Sie sind früh dran.« Er lächelte freundlich, während er die Tür aufschloss. »Kein Wunder.«

Sie füllten ihre Einstellungspapiere aus und sprachen durch, wie sie Akten finden, Anträge einreichen und ähnliche Dinge erledigen konnte. »Ich habe mir von Marie dieses verrückte Telefonsystem erklären lassen«, sagte Tony, über sie gebeugt, als sie auf dem Drehstuhl hinter dem Schreibtisch saß. Dieser sonderbare Geruch, den er an sich hatte, eine Mischung aus Minze und moschusartigem Aftershave, wehte an ihr vorbei. »Um das zu bedienen, braucht man praktisch einen Pilotenschein«, scherzte er. »Sie kommt um halb neun, falls wir es nicht zum Funktionieren bringen.«

Die kleine Glocke, die am Griff der Praxistür hing, bimmelte, und ein Mann im Straßenanzug kam herein. Er zog sich seinen Bluetooth-Kopfhörer heraus und steckte ihn ein, während er auf die Rezeption zukam.

»Kann ich etwas für Sie tun?«, sagte Dana. Tony klopfte ihr auf die Schulter und ging in sein Behandlungszimmer zurück.

Um Viertel vor zwölf kam Marie, die Zahnhygienikerin, in den Anmeldungsbereich, in der Hand eine Speisekarte mit Gerichten zum Mitnehmen von Nellys Feinkostladen. »Macht es Ihnen was aus zu bestellen?«, fragte sie Dana. »Tony bekommt ein vegetarisches Jumbosandwich ohne Zwiebeln und einen Eistee. Sagen Sie ihm einfach kurz Bescheid, wenn der Typ mit dem Essen auftaucht.«

»Klar. Und was nehmen Sie?«

»Nichts. Ich jogge in der Mittagspause.« Den Körper kerzengerade aufgerichtet, wandte Marie sich zum Gehen. »Schalten Sie um Punkt zwölf auf Anrufbeantworter um, sonst kommen Sie überhaupt nicht weg.«

Dana aß gerade ihren Joghurt, als Tonys Mittagessen eintraf. Er kam heraus und drückte dem Ausfahrer ein paar Scheine in die Hand. Dann drehte er sich zu Dana um und meinte: »He, Sie haben ja ohne mich angefangen.«

»Oh, Entschuldigung – ich dachte, ich esse hier und passe vielleicht lieber aufs Telefon auf.«

»Ach was«, sagte er. »Kommen Sie und leisten Sie mir Gesellschaft.« Sie folgte ihm in die Teeküche im hinteren Teil der Praxis, wo sie sich an den kleinen hölzernen Cafétisch setzten. Bemüht, irgendetwas zu sagen, fragte sie ihn, wie das Ablagesystem funktionierte, obwohl sie das schon selbst herausgefunden hatte. Bald hatte sie alle die Arbeit betreffenden Themen ausgeschöpft, und für eine ganze Weile trat Schweigen ein. Tony tupfte sich mit einer Serviette den Mund ab. »So«, sagte er. »Wie war Ihr Wochenende?«

»Äh … prima. Und Ihres?«

»Sehr schön, muss ich sagen.« Er streckte sich auf seinem Stuhl nach hinten aus.

»Irgendetwas Spezielles?«

»Na ja, wo Sie schon fragen …« Er bedachte sie mit einem leichten schiefen Grinsen. »Meine Tochter Lizzie war vom College nach Hause gekommen, und ich war ein bisschen nervös, weil meine … Freundin zu Besuch da war. Martine lebt in New York, und die beiden waren sich bis dahin noch nicht begegnet.«

»Wie lief’s?«

»Überraschend gut.« Er nickte. »Ich bin ja nicht so leicht einzuschüchtern, aber wenn die Mädchen meine Partnerinnen in Augenschein nehmen, kriege ich richtig Angst. Eigentlich sollte es ja umgekehrt sein, oder? Ich bin ihr Vater – sie sollten um meine werte Meinung bangen, sage ich ihnen immer.« Sein Gesicht wurde rosig vor kaum verhohlenem Stolz. »Aber das nehmen sie mir nicht ab. Ihre Mutter hat ihnen die richtige Erziehung angedeihen lassen.«

Dana lächelte. »Ein ganz kleines bisschen hatten Sie bestimmt auch damit zu tun.«

»Ein klitzekleines bisschen vielleicht. Aber Sie wissen ja, wie das mit Müttern und Töchtern ist – ein Kampf praktisch bis aufs Messer. Und dabei liebt ihr euch über alles. Es ist wirklich ein Wunder, dass überhaupt jemand von euch überlebt.«

Er hat recht, dachte sie. Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob ich es schaffen werde.

»Die Mutter der Mädchen muss sich ziemlich gut geschlagen haben«, sagte Dana, gleichzeitig mit der Frage beschäftigt, wo die Frau sich jetzt befand. Waren sie geschieden? Würde Kenneth sich einer Fremden gegenüber so positiv über sie äußern?

»Sie war zäh.« Er lächelte zwar immer noch, aber seine Stimme hatte einen Hauch von Bitterkeit angenommen. »Das ist ihre beste Waffe, habe ich immer gesagt: dass sie länger durchhalten konnte als die beiden. Allerdings hat sich dann herausgestellt, dass sie doch nicht ganz so zäh war.«

Obwohl seine Miene sich kaum veränderte, schien der Raum plötzlich von Trauer erfüllt, und die traf Dana so schmerzlich, als hätte sie einen freiliegenden Draht berührt. Als sie wieder auszuatmen wagte, entschlüpfte ihr ein Ton, ein kaum wahrnehmbares »Oh«.

»Knochenkrebs«, sagte er. »Vor fünf Jahren.«

»Das tut mir sehr leid, Tony.«

»Danke.« Er nickte. »Ich vermisse sie immer noch.«

»Sie muss etwas ganz Besonderes gewesen sein.«

»Das kann man wohl sagen«, murmelte er. Kurz darauf fragte er: »Und wie sieht’s bei Ihnen aus? Was haben Sie am Wochenende gemacht?«

Ermutigt durch das Vertrauen, das er ihr entgegengebracht hatte, antwortete Dana, ohne nachzudenken: »Ich war verabredet.«

»Aha? Und?«

»Nein, es war nichts. Nur ein Footballspiel.«

»Mögen Sie diesen Mann?« Es war dieselbe Frage, die Billy ihr gestellt hatte. Warum waren alle so neugierig?

»Er scheint recht nett zu sein.« Sie zuckte die Schultern, darauf konzentriert, einen Tropfen von ihrem Joghurtbecher abzuwischen. »Erste Verabredung, schwer zu sagen.«

»Manchmal«, sagte er. »Dann wieder funkt es auf Anhieb. Aber Sie haben recht, es ist gut, erst einmal nicht so kritisch zu sein und abzuwarten, wie’s läuft.«

Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. »Es ist gleich eins«, sagte sie, dankbar für einen Vorwand, um das Gespräch über ihr dürftiges Liebesleben zu beenden. »Ich geh jetzt mal besser an meinen Schreibtisch.«

Dana starrte auf eine Packung Hühnerbrüste ohne Knochen, die feucht und rosa in der flachen Styroporschale vor ihr lagen. Sie versuchte gerade, eine Entscheidung zwischen Grillen und Braten zu treffen, als das Telefon klingelte. »Hallo«, sagte sie, mit einem Stirnrunzeln das Hühnchenfleisch betrachtend.

»Ich bin’s. Und ich hab allmählich die Schnauze voll von deinem kleinen spießigen Austauschprogramm.«

Dana lächelte. Die Zuverlässigkeit, mit der ihre Schwester bissige Bemerkungen machte, hatte etwas seltsam Beruhigendes. Dana riskierte eine spielerische Entgegnung: »Dabei kriegt sie gerade erst den Dreh raus, wie das hier läuft – überzogene Ansprüche formuliert sie schon fast fließend.«

»Das glaube ich dir aufs Wort.«

»Keine Angst«, sagte Dana, während sie, um ungestört zu sein, mit dem Telefon in die Diele ging. »Ich bin nicht ein einziges Mal mit ihr shoppen gegangen. Sie ist immer noch ganz deine Tochter.«

»Was zum Teufel macht sie dann da? Es sind jetzt schon vier verdammte Wochen!«

»Ach du je, tatsächlich?«, sagte Dana. Es war Ende September gewesen, als Alder in ihren Briefkasten gerauscht war, und jetzt war schon bald November. »Du musst sie ganz schön vermissen.«

»Ja, ich vermisse sie – sie ist mein Kind, verdammt noch mal! Als ob du deine Kinder nicht vermissen würdest. Du hättest doch nach zwanzig Minuten schon einen Nervenzusammenbruch.«

»Meine Kinder gehen jedes zweite Wochenende zu ihrem Vater, Connie«, erwiderte Dana sachlich, »deshalb kenne ich es besser, als du denkst.«

»Ach stimmt, du bist ja der Star aller Trennungen.« Connie hatte so eine Art, in einem Punkt nachzugeben und gleichzeitig anzudeuten, dass es diesen Punkt eigentlich gar nicht gab. »So oder so, du hast immer noch mein Kind.«

»Gesund und munter. Sie ist sogar nach der Schule noch dortgeblieben, um sich bei einem naturwissenschaftlichen Experiment helfen zu lassen. Soll ich sie bitten, dich zurückzurufen?«

Einen Moment lang war Connie ungewöhnlich still für ihre Verhältnisse. »Sie ist sauer auf mich.«

»Weil du ihr Auto noch nicht hast reparieren lassen?«

»Ja, ja, das«, als wäre es so offenkundig, dass man es gar nicht zu erwähnen brauchte. »Aber da ist noch was, und ich weiß nicht, was. Das nervt mich wahnsinnig.«

»Wann hat es angefangen?«

»Wenn ich bloß wüsste. Vor zwei, drei Monaten vielleicht? Anfangs hab ich gedacht, sie wäre blockiert und ließe es an mir aus. Ungefähr sechs halbfertige Bilder liegen unten an der Kellertreppe, wo sie sie hingeschmissen hat.« Noch ein tiefer Seufzer. »Aber irgendwie hat sie sich … nicht wieder berappelt. Sie ist kein launisches Kind, Dana. Manchmal wird sie sauer, aber sie reißt sich immer wieder zusammen.«

Dana setzte sich auf den Fliesenboden. Einen Moment lang verharrten die beiden Schwestern in schweigendem Nachdenken über ihre Lieblingssechzehnjährige. Dana überlegte, ob sie Connie erzählen sollte, dass Alder gekifft hatte, entschied sich jedoch dagegen. Alder hatte versprochen, dass das nie wieder vorkommen würde, und Dana vertraute ihr. Am besten konzentrierten sie sich auf Dringenderes. »Du weißt von Ethan, oder?«, sagte sie.

Connie wusste, dass Ethan irgendwann im Sommer aufgehört hatte zu kommen, und dann ans College nach Vermont gegangen war. Dana erzählte ihr von seinen Anrufen und Alders wütender Reaktion.

»Er hat hier angerufen, und ich hab ihm deine Nummer gegeben. Armseliges kleines Arschloch«, murmelte Connie. »Sie hat diesen Knaben vergöttert – sie war mit ihm richtig eng befreundet. Dann muss er etwas Fürchterliches gemacht haben, dass sie so reagiert hat …«

»Sie will es mir nicht erzählen.«

»Bring sie dazu, dass sie es dir erzählt.«

»Und wie soll ich das anstellen, Connie? Sie mit Gummibärchen bestechen?«

»Wie du es früher immer gemacht hast. Glaub übrigens nicht, ich hätte das nicht gewusst.«

»Ich habe sie nicht bestochen, sondern sie ihr gegeben.«

»Um das Kind zucker- und chemikaliensüchtig zu machen, wie du es bist?«

»Nein, Connie. Weil sie sie mochte.«

Connie prustete leise, ihr Zeichen, dass sie dem Thema genug Aufmerksamkeit gewidmet hatte. »Du hättest mich wirklich anrufen müssen, Dana.«

»Ich weiß.« Dana biss sich auf die Daumenspitze. »Es sah einfach so aus, als könnte sie sich hier ein bisschen davon erholen. Ich hatte Angst, du könntest sie zwingen, nach Hause zu fahren.«

»Jetzt bist du diejenige, die mir nichts zutraut!«

»Tut mir wirklich leid.« Sie vereinbarten, öfters miteinander zu telefonieren, und Dana sagte gerade: »Bye, Connie«, als Alder zur Tür hereinkam. Sie sah Dana besorgt an, bevor sie ihr die Arme um die Taille schlang. »Ich kann doch noch bleiben, oder?«, flüsterte sie.

»Natürlich, Süße.« Dana erwiderte ihre Umarmung. »So lange, wie du willst.«