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Dana hatte gerade ein Päckchen Süßstoff aufgerissen und bestäubte die dampfende Oberfläche ihres Tees damit, als Morgan hereinkam. »Ich dachte, du gehst zu Kimmi«, sagte sie erstaunt.

»Ja, ähm, ich wollte …« Morgans Hände steckten in den Ärmelbündchen ihrer Fleecejacke, und die Schultern hatte sie hochgezogen, als wäre die nachmittägliche Kühle ihr ins Haus gefolgt. »Ich wollte nur noch ein bisschen Cello üben. Mit dem Stück für das Konzert bin ich arg im Rückstand.«

Bis zum Weihnachtskonzert waren es noch sechs Wochen, und Dana war versucht, das anzuführen, doch da war Morgan schon unterwegs zur Treppe. Bald wehte ein von gelegentlichen Momenten der Stille durchbrochenes melodisches Summen herunter.

Irgendetwas macht sie nervös, dachte Dana. Morgan war keine besonders gute Musikerin, und sie beschwerte sich regelmäßig über Stücke, die sie langweilig oder zu schwierig fand. Vergangenen Herbst hatte sie sogar zu ihren Eltern gesagt, sie würde aufhören. Doch nach Neujahr war Kenneth dann ausgezogen, und das Cello war geblieben.

Nachdem die Tür zur Diele auf- und mit Wucht wieder zugegangen war, kam Grady, ohne seinen Schulranzen abzusetzen, in die Küche galoppiert. »Kann ich hin?«, fragte er. »Zu Dad und Tina?«

»Dad und ich haben darüber gesprochen. Er holt dich gegen halb fünf ab«, sagte sie, während sie ihm den Schulranzen von den Schultern nahm. »Morgen früh bringt er dich zurück. Leg doch dein Skelett-Kostüm schon mal an die Tür, damit du es nicht vergisst.«

»Ich ziehe das Ninja-Kostüm vom letzten Jahr an. Das Skelett ist blöd.« Er schlüpfte aus seiner Jacke, die er zu Boden gleiten ließ, während er quer durch die Küche auf den Schrank mit den Snacks zusteuerte.

»Was? Vor zwei Wochen hast du mich deswegen angebettelt. Da war es noch das Allercoolste überhaupt.« Dana hob die Jacke auf und hängte sie über eine Stuhllehne. Grady begann auf die Anrichte zu klettern, doch sie schubste ihn hinunter und holte selbst die Cheez-Its aus dem Schrank.

Er fuhr mit der Hand in die Packung, legte den Kopf in den Nacken und ließ sich ungefähr die Hälfte dessen, was er erwischt hatte, in den Mund fallen. »Skelette sind was für Babys«, sagte er laut kauend. »Da hätten sie sich über mich lustig gemacht.«

»Nein, hätten sie nicht. Viele Kinder gehen als Skelett. Ganz nebenbei war das Kostüm auch teuer, und jetzt kann ich es nicht mehr zurückbringen.«

»Aber sie haben sich schon über mich lustig gemacht«, sagte Grady und stopfte sich die restlichen Cracker in den Mund. »Und wie!«

Dana sah ihn prüfend an. »Was haben sie denn gesagt?«

Erst antwortete er nicht; dann platzte er heraus: »Sie haben gesagt, ich wär schon ein Skelett, aber eins ohne Knochen! Und dann haben sie bis zum Ende der Pause so getan, als ob sie mich nicht sehen könnten!« Er knallte die Cheez-Its-Packung auf den Tisch. Sie fiel um, worauf kleine orangefarbene Vierecke sich auf der Tischplatte verteilten.

»Oh, Grady.« Sie streckte die Arme nach ihm aus, und er vergrub sein Gesicht an ihrem Bauch. »Das war gemein von ihnen. Du bist ganz bestimmt kein Skelett ohne Knochen.«

»Können wir wegziehen?«, bettelte er, die Stimme durch ihren Pullover gedämpft. »Ich hasse es hier.«

»Willst du deswegen nicht mit Travis und Farruk losziehen?«

»Nein, die sind bloß Idioten! Meine ganze Schule ist voll mit Idioten, und das nervt mich, das ist alles!«

Zankt sich mit Freunden, hatte Gradys Lehrerin gesagt. Er war mürrisch und reizbar, weil sein Vater ihm fehlte, und das ließen seine Freunde sich nicht gefallen.

»Weißt du, was ich glaube?«, sagte sie.

»Was?«

»Ich glaube, du musst jetzt mal an was anderes denken«, beschwatzte sie ihn. »Und ich bin gespannt wie ein Flitzebogen, wie es mit Rowan of Rin weitergeht.«

Schließlich blickte er zu ihr auf, das Kinn auf ihren Bauch gestützt, die Wimpern vor Tränen funkelnd. »Ich habe keine Lust zu lesen«, stöhnte er.

»Wie wär’s, wenn ich lese, und du hörst zu?«

Er wischte sich die Nase am Ärmel seines T-Shirts ab und dachte über ihr Angebot nach. »Das könnte gehen«, räumte er ein. »Wann kommt Dad noch mal?«

»Halb fünf. Lauf und hol das Buch.«

Um zehn vor fünf war Grady von Kenneth abgeholt worden, und Dana hatte Morgan zu Kimmi gebracht. Alder rief an, um zu sagen, dass sie und Jet vorhatten, sich im Goodwin Street Cinema in East Hartford die Rocky Horror Picture Show anzuschauen. »Und was machst du?«, fragte sie.

Dana erklärte, wo Grady und Morgan waren. »Und ich halte hier die Stellung, teile Süßigkeiten aus.«

»Ganz allein.«

»Mit meinem Buch, das ich schon seit Wochen nicht mehr zur Hand nehmen konnte.« Sie versuchte, das Ganze positiv darzustellen. »Es wird schön, ein bisschen Zeit für mich zu haben.«

»Ich könnte nach Hause kommen und mit dir abhängen. Das macht mir wirklich nichts aus.«

»Nein, mein Schatz, ich wünsch dir viel Spaß. Ich werd’s mir mit meinem Buch hier supergemütlich machen.« Doch dann kam Dana ein Gedanke: Suchte Alder nach einem Hintertürchen? War das die Chiffre für »Mach, dass ich nach Hause komme«? Rasch murmelte sie: »Außer, du willst, dass ich dich bitte, nach Hause zu kommen. Wenn’s was nützt, schieb es ruhig auf mich.«

»Das ist ja süß«, sagte Alder, und zwar so, dass Dana das Gefühl hatte, das goldige Baby von früher vor sich zu haben. »Eigentlich glaube ich aber, dass ein bisschen Ablenkung mir ganz guttut. Letztes Jahr hatte ich ein tolles Halloween, und wenn ich zu viel daran denke, werde ich ganz … du weißt schon.«

Um Viertel nach fünf, als die letzten Sonnenstrahlen die Ränder der Baumspitzen umspielten, klingelte es zum ersten Mal an der Tür. Zwei Ballerinas, ein Feuerwehrmann und ein Waschbär. Das Waschbärkostüm war schön, offensichtlich von einer Schneiderin gemacht, die wusste, wie man mit Kunstfell umging. »Das ist ja mal ein Kostüm!«, bemerkte Dana mit einem Seitenblick auf die Mutter, während sie den Kindern Milky-Way-Riegel austeilte.

»Meine Schwiegermutter«, murmelte die Frau mit einem Augenrollen. »Muss man in die Reinigung geben.«

»Ach du je«, sagte Dana und lachte mitfühlend. Die Frau lächelte zurück – anscheinend erleichtert darüber, dass endlich jemand sie verstand.

Ist deswegen vermutlich mit ihrem Mann aneinandergeraten, dachte Dana, als die Kinder ihr Dankeschön flöteten und sich zum nächsten Haus aufmachten. Sie ging zurück in die Küche, wo sie ihr Buch weiterlesen wollte, und wünschte, die Auseinandersetzungen mit ihrem Exmann drehten sich auch um etwas so Simples wie eine Schwiegermutter, die sich einmischte.

Doch wie es schien, wollte das Buch nicht gelesen werden. Dabei mochte sie normalerweise Science-Fiction-Romanzen, versetzte sich gerne an einen Ort und in eine Zeit, die so fern von ihrem eigenen Leben waren. Es gab immer Rätsel zu lösen und Widersacher zu überlisten. Und obwohl die Welt sich gegen sie verschworen hatte, entdeckten die Liebenden immer das eine Szenario, das sie am Ende vereinen würde. Und die Liebesszenen hatten ein recht passables Maß an Detailgenauigkeit. Gerade genug, dass man das Gefühl hatte, selbst mit einem starken und doch freundlichen intergalaktischen Krieger zu schlafen, dachte Dana oft, aber nicht so viel, dass man gezwungen war, sich sein »pochendes Glied« auszumalen.

Stattlicher Krieger oder nicht, Dana konnte sich nicht so recht auf die Geschichte konzentrieren. Ihre Gedanken schweiften zu Grady ab. Ein Skelett ohne Knochen – was sollte das heißen? Und wie war er mit seinen Freunden an einen Punkt gekommen, wo sie ihn beschimpften und so taten, als wäre er gar nicht da? Danas Vater hatte kein einziges ihrer Basketballspiele besucht, geschweige denn ihre Mannschaft trainiert, aber das war für sie nie ein Grund gewesen, sich aufzuregen oder Streit mit ihren Freundinnen anzufangen. Im Gegenteil, es war umso wichtiger, miteinander klarzukommen, auch wenn belanglose Meinungsverschiedenheiten und Verrat durchaus vorkamen.

Connie dagegen – sie zog Freundschaften an und aus wie Kleidungsstücke. Am Ende wurden alle als dumm oder nervig hingestellt, wobei sie es mit denen, die unterhaltsam waren, etwas länger auszuhalten schien. Dana vermutete, dass das auch mit Alders Vater der Fall gewesen war, aber da sie nicht wusste, wer er war, konnte sie es nicht mit Sicherheit sagen.

Nach dem Abbruch ihres Kunststudiums hatte Connie als Kellnerin im Durgin-Park in Boston gearbeitet, einem für sein mürrisches Personal bekannten Restaurant, in dem ihre spitzen Bemerkungen nicht weiter auffielen. Das gewissenhaft beiseitegelegte Trinkgeld hatte ihr eine ausgedehnte Reise durch Europa finanziert.

Damals hatte Dana fast den Kontakt zu ihr verloren. Connie rief gelegentlich an (allerdings nie an Feiertagen oder Geburtstagen, wenn man sich wünschte, dass sie anrief). Bald nach ihrer Abreise hatte Dana geheiratet und war in einem Leben aufgegangen, das ihren Idealen von ehelichem Glück entsprach. Es war einfacher, Connie nicht in der Nähe zu haben – sie hatte so eine Art, einem zu vermitteln, wie beschissen die eigenen Ideale waren. »Wie geht’s denn so in deiner kleinen Spießeridylle?«, fragte sie bei einem ihrer unregelmäßigen Auslandsgespräche. »Oder ist da schon alles im Arsch?«

Doch bald darauf war Connie schwanger nach Hause gekommen. Und seltsam traurig. Und auf noch seltsamere Weise still.

»Sie ist ganz in sich zurückgezogen«, hatte ihre Mutter gesagt. »Wenigstens ein Mal.«

Connie war wieder in das Haus in Watertown, Massachusetts, gezogen, in dem sie aufgewachsen war. Ihr Vater war fort, und für ihre Mutter war es gut, dass ein Baby da war, das sie versorgen konnte. Dana kam sie, so oft sie konnte, besuchen. Man war einhellig der Meinung, dass Alder ein Wunder von einem Kind war. Klug und witzig, besaß sie das verblüffende Talent, jeder von ihnen das Gefühl zu geben, in einzigartiger Weise vergöttert zu werden.

Und jetzt hatte dieses glückselige Kind die Haare pechschwarz gefärbt (was allerdings so langsam herauszuwachsen schien) und musste von der Erinnerung an das schöne Halloween vom letzten Jahr abgelenkt werden.

Den ganzen Abend klingelte es an der Tür, während Dana erfolglos versuchte, ihr Buch zu lesen. Jedes Mal machte sie begeisterte Bemerkungen über die Kostüme, teilte Süßigkeiten aus und sah nach, ob nicht jemand mit Klopapierrollen herumschlich und ihre Bäume ins Visier nahm. Das tat niemand.

Als sie gerade auf der Toilette war, klingelte es erneut, und da es sich mehrfach wiederholte, musste sie sich rasch die Hände waschen und rufen: »Komme! Bin gleich da!« Sie packte den Hexenkessel aus Plastik mit den Süßigkeiten und riss die Tür auf. Da sie erwartet hatte, in die Gesichter kleiner Süßes-sonst-gibt’s-Saures-Bettler hinabzublicken, war sie völlig perplex, dass das einzige Gesicht vor ihrer Haustür auf sie herabsah.

»Süßes, sonst gibt’s Saures, Schöne«, sagte Jack Roburtin. Zwei rote Teufelshörner ragten aus seinem rotblonden Bürstenschnitt auf.

»Jack!«, sagte sie mit einem Erstaunen, das an Entsetzen grenzte.

»Ich weiß.« Er grinste. »Ich bin etwas zu früh, aber ich konnte nicht warten.« Er trat in die Diele und schloss die Tür hinter sich. »Ich war so aufgeregt, weil du nicht angerufen hattest«, fügte er hinzu.

»Ich habe nicht … angerufen?«

Sein rechter Arm, der hinter seinem Rücken gesteckt hatte, zauberte jetzt eine Schachtel Pralinen hervor. »Ich bin garantiert der einzige Süßes-sonst-gibt’s-Saures-Bettler, der sein Süßes selbst mitbringt«, sagte er.

»Oh, das ist so …«, sagte sie dankbar, als sie die kleine Schachtel entgegennahm. »Aber haben wir denn …? Ich erinnere mich nicht an ein Gespräch über …«

»Nein«, antwortete er. »Die Nachricht auf deiner Mailbox. Ich versuche ja, diskret zu sein und alles, deshalb hab ich gestern Abend auf deinem Handy angerufen.« Dana war mit Nora im Keeney’s gewesen und hatte das Klingeln weggedrückt. »Aber du bist nicht drangegangen, da hab ich gedacht, ich hinterlasse dir am besten eine Nachricht auf deiner Mailbox zu Hause. Keine Sorge, wenn eins der Kinder drangegangen wäre, hätte ich aufgelegt.«

Sie hatte vergessen, die Mailbox abzuhören, als sie heimgekommen war. »Ich muss zugeben, dass ich die Nachricht überhaupt nicht bekommen habe, Jack. Was habe ich denn verpasst?«

»Dass ich vorhabe, gegen neun vorbeizukommen, falls ich nichts von dir höre. Ich dachte mir, dass dein Ex die Kinder haben würde.« Er suchte nach Bestätigung in ihrer Miene. »Moment mal – hat er? Oder hab ich jetzt Mist gebaut?«

»Nein, schon in Ordnung«, sagte sie. »Es hat sich so ergeben, dass keiner von ihnen zu Hause ist.«

»Hervorragend!«, sagte er. »Dann hast du ja sicher nichts dagegen, wenn ich dir mal einen kleinen …« Er beugte sich zu ihr und küsste sie auf die Wange. Es war ein weicher, zarter Kuss, und als Jack fertig war, flüsterte er ihr ins Ohr: »Deine Haut ist die beste.« Sein Arm umfasste ihre Taille, und er zog sie ganz dicht zu sich heran. Er wollte sie auf die Lippen küssen, das wusste sie. Sie hob ihm das Gesicht entgegen.

Ein dumpfes Pochen war zu hören, und für eine Sekunde dachte sie, es sei sein Herz, das an ihrer Brust hämmerte. Im nächsten Moment wurde das Pochen lauter – Schritte, die ihre Eingangsstufen hochkamen. Es klingelte.

»Geh nicht hin«, flüsterte Jack.

»Ich muss«, murmelte sie entschuldigend, während sie sich seinem Griff entwand. »Es ist Halloween.«

Sie scheuchte ihn nach hinten, außer Sichtweite des kostümierten Trupps. Die Gruppe war größer, älter, und ihre Kostüme waren einfallsloser. Die meisten von ihnen trugen bloß ihre Schulsportklamotten. Ein paar waren als Penner verkleidet. Eins der Mädchen trug ein Tinker-Bell-Kostüm, aber offensichtlich nur wegen der Art, wie es ihre Figur zur Geltung brachte. »Fröhliches Halloween!«, rief eine Jungenstimme von hinten. »Wenn Sie keine Lust mehr haben, an die Tür zu gehen, können wir Ihnen die restlichen Süßigkeiten einfach abnehmen.« Die Gruppe lachte zustimmend.

»Das ist ausgesprochen aufmerksam von euch«, sagte Dana mit einem wissenden Lächeln, während sie ihnen einzelne Süßigkeiten in die Kopfkissenbezüge warf, »aber ich möchte nicht, dass die Kinder der nächsten Gruppe enttäuscht fortgehen müssen.«

»Es ist niemand mehr unterwegs!«

»Nur für den Fall«, sagte sie und schloss die Tür.

Sie fand Jack im Wohnzimmer sitzend vor, einen Arm auf der Rückenlehne des Sofas ausgestreckt. Offensichtlich hatte er es darauf angelegt, dass sie sich neben ihn setzte, in den Schutz dieses Armes. Das tat sie, aber irgendetwas sträubte sich in ihr. Es waren die Teufelshörner. Sie ließen ihn albern aussehen. Wie ein zu groß geratener Junge, dachte sie. Sie streckte die Hand nach oben, zog sie ihm ab und warf sie auf den Couchtisch.

»He«, sagte er in gespieltem Ärger. »Mein Kostüm!«

»Du siehst viel zu gut aus für einen Teufel.« Das stimmte. Attraktiv war er in der Tat mit seinen graublauen Augen. »Und wer will schon den Höllenfürsten küssen?« Sie lächelte. »Ich nicht.«

Durch das Kompliment ein wenig aufgeblasen, lächelte er zurück. »Wo waren wir doch gleich …?«, murmelte er, während sein Arm hinter ihr anfing, sie zu einem Kuss heranzuziehen. Er konnte wirklich gut küssen. Doch Dana konnte nichts anderes denken als: »Wo waren wir doch gleich …?«Wer sagt denn heute noch so was? Sie spürte, dass sie sich zurückzog, und während sie das tat, fiel ihr etwas auf der anderen Seite des Zimmers ins Auge. Sie wandte den Blick dorthin und stellte fest, dass es nicht im Raum war – es war vor dem Fenster. Irgendein weißer Ball war in ihren Garten geworfen worden. Klopapier.

»Sie tun’s!«, sagte sie. »Sie werfen …«

Jack folgte ihrem Blick, und im nächsten Moment war er aufgesprungen und jagte zum Zimmer hinaus. »Verdammter …«, hörte sie ihn murmeln.

Dann war er vorne im Garten. Durchs Fenster konnte sie sehen, wie er einem der Jungen den Fluchtweg abschnitt, während der andere vom Grundstück rannte. Ohne ihn auch nur zu berühren, nutzte Jack seine einschüchternde Größe, um den Jungen in Schach zu halten, während er ihm mit dem Finger drohte und auf die Bäume zeigte. »KEIN RESPEKT …«, konnte sie ihn sagen hören, und dann zeigte er auf das Haus und brüllte: »… GANZ ALLEIN …« und »… WENN ICH NOCH EIN MAL …«

Die Arme vor seiner ausladenden Brust gekreuzt, stand er da und überwachte, wie der Junge das Klopapier von dem Holzapfelbaum entfernte. Dana war erstaunt. Und ungeheuer dankbar.

Das Telefon klingelte. »Ja?«, antwortete sie, den Blick immer noch auf Jack und den Jungen gerichtet.

»Mom?«

»Oh, Morgan«, sagte sie. »Bist du fertig mit Süßes, sonst gibt’s Saures

»Mann, das war vielleicht unheimlich. Du sagst sonst nie ›Ja‹, wenn du ans Telefon gehst.«

»Na ja, ich … Wo bist du?«

»Bei Kimmi«, sagte sie. »Kann ich hier schlafen? Und können wir eben zu Devynne rübergehen? Sie wohnt weiter vorne in der Straße.«

»Klar, mein Schatz. Soll ich dir einen Schlafanzug vorbeibringen?« Gerade zeigte Jack auf die Klopapierfetzen, die jetzt auf dem Rasen lagen.

»Kimmi leiht mir einen. Ich muss nicht mit zu Devynne gehen, wenn du’s nicht möchtest. Ich kann auch hierbleiben und Kimmis iPod hören.«

Der Junge hielt Jack die dünnen Papierfetzen hin. Jack gab ihm mit einer Handbewegung zu verstehen, dass er sie sich in die Tasche stecken sollte, und scheuchte ihn davon. »Ist Kimmis Mutter damit einverstanden, dass ihr beide geht?«

»Äh, also … ja.«

»Dann bin ich es auch. Aber bleibt nicht zu lange, hörst du?«

»Nein«, sagte Morgan rasch. »Kimmi hat versprochen, dass wir nur kurz vorbeischauen.«

»Klingt gut.« Der Junge machte sich gerade auf die Socken, und Jack ging wieder zum Haus zurück. »Ich hole dich dann morgen früh ab. Hab dich lieb, Morgan.«

»Bye, Mom.«

Als Jack ins Wohnzimmer trat, waren seine Wangen dunkelrot vor Kälte. Dana legte ihre Hände darauf. »Das war toll«, sagte sie.

Jack griff nach ihren Handgelenken, zog eine Hand herunter an seinen Mund und küsste sie in die Handfläche. »He«, sagte er mit einem leichten, stolzen Grinsen, »niemand verklopappt das Haus von meinem Mädchen.«

Und dann stand sie auf Zehenspitzen, um ihn zu küssen, presste sich an ihn, wollte sein Verlangen spüren. Mit seinen dicken, kräftigen Armen zog er sie fest an sich, seine Hände liefen ihren Rücken hinauf und hinunter. Ihre Finger kneteten den Muskelstrang über seiner Schulter. Er küsste sie heftiger, und seine Zähne stießen mit einem Klicken gegen ihre, ein kleiner Widerhaken in dem samtigen Gefühl, ihn zu begehren.

Er knöpfte ihre Bluse auf; sie zog ihm das Poloshirt aus der Hose und über den Kopf. Er hatte ein ansehnliches Gesicht, ja, aber das war nichts im Vergleich zu dem Meisterstück von einem Brustkorb. Glatte, makellose Haut, eine Muskulatur wie gemeißelt und sein Nabel ein perfektes kleines Boot, das zwischen den sanften Wogen seiner Bauchmuskeln verankert war. Danas Finger fuhren über die prachtvolle Brust. Ein zufriedenes Brummen rollte aus seiner Kehle, und sie wusste, dass sie ein Signal abgegeben hatte, das empfangen und entschlüsselt worden war, und dass sie in sehr naher Zukunft Sex haben würden. Und damit war sie einverstanden.

Zwar verspürte sie einen Hauch von Sorge darüber, wie es gehen, was es mit sich bringen und was danach passieren würde. Vor allem aber dachte sie: Es ist Zeit. Zeit, wieder von jemandem begehrt zu werden.

Ein paar Minuten später war sie nackt (oder fast nackt – die Socken hatte sie noch an, und der BH hing ihr an einem Träger von der Schulter). Der weiche Sofabezug drückte von unten gegen sie, während Jack Roburtin von oben rhythmisch dagegenhielt. Kenneth und ich haben nie auf dem Sofa miteinander geschlafen, sinnierte sie. Wir hatten es nie so eilig, dass wir nicht hätten warten können, bis wir im Schlafzimmer waren.

Und sie überlegte, ob sie gekränkt sein sollte, weil Jack Roburtin ein Kondom so griffbereit hatte, dass er nur für einen winzigen Moment unterbrechen musste, um daranzukommen. Aber wenigstens brauchte sie so keine Angst zu haben, ausgerechnet jetzt auch noch AIDS zu bekommen oder, Gott bewahre, schwanger zu werden.

Könnte Alder hereinspazieren? Sie hatte gesagt, sie würden in einen Acht-Uhr-Film gehen, und jetzt konnte es nicht viel später als neun sein. Außerdem war East Hartford zwanzig Minuten entfernt. Von daher vermutlich keine Gefahr.

Dana wusste, dass sie sich besser konzentrieren musste. Sonst würde sie nie kommen, und sie war sicher, dass Jack enttäuscht sein würde, wenn es nicht einen greifbaren, hörbaren Beweis für ihren Orgasmus gäbe. Sie hatte Kenneth noch so oft versichern können, dass es nicht auf ein Versagen seinerseits zurückzuführen war, er hatte die Tendenz, eingeschnappt zu sein, wenn sie nicht zum Höhepunkt kam.

Und doch war es wie mit der Lektüre dieses Buchs: Ihr Verstand schwirrte wie ein Kolibri unablässig umher, von einem Gedanken zum anderen. Womöglich litt sie unter ADS im Erwachsenenalter.

Herrgott noch mal, konzentrier dich!, sagte sie sich. Pass auf!

Sie merkte, dass Jacks Eau de Cologne, auf normale Entfernung angenehm, jetzt, wo ihre Nase sich so nah an seinem Hals befand, etwas leicht Penetrantes hatte. Seine Hand streichelte ihren Kopf, und das fand sie schön. Seine beschützende Art war sehr verlockend, und je mehr sie darüber nachdachte – wie er mit diesem schrecklichen Klopapier werfenden Jungen umgegangen war und dabei WENN ICH NOCH EIN MAL gebrüllt hatte –, umso erregter wurde sie. Am Ende erreichte sie doch noch ihr Ziel, unmittelbar bevor Jack, vor Befriedigung stöhnend, explodierte.

Puh!, dachte sie. In allerletzter Sekunde.

Dana und Jack lagen zusammen auf dem Sofa, sie am Rand mit dem Gesicht zu den Fenstern, während er sich von hinten an sie schmiegte. »War das zu schnell?«, fragte er.

»Nein«, sagte sie. »Es war genau richtig.«

»Ich kann nicht aufhören, an dich zu denken, Dana. Die ganze Zeit denke ich an dich.«

Sie wusste erst nicht so recht, wie sie reagieren sollte, doch ehe das Schweigen peinlich wurde, sagte sie: »Ich fühle mich so wohl mit dir.«

Das stimmte tatsächlich, wurde ihr bewusst. Sie hatte so viel Zeit in dem Bemühen verbracht, eine gute Ehefrau und Mutter zu sein, die austüftelte, was jedes Mitglied ihrer Familie von ihr brauchte. Mit Jack machte sie das nicht. Er schien einfach nur mit ihr zusammen sein zu wollen und sich nicht daran zu stören, dass sie nicht immer verfügbar war.

Schließlich zogen sie sich wieder an, wobei sie es vermieden, sich gegenseitig beim Zuknöpfen und Reißverschlusshochziehen und Gürtelzuschnallen zuzusehen.

»Alder wird jede Minute nach Hause kommen«, sagte sie, einen kleinen Seufzer des Bedauerns ausstoßend.

»Dann sollte ich wohl besser hier verschwinden, wie?«

»Na ja …«

»Aber wir sehen uns am Sonntag. Es ist das letzte Spiel der Saison«, erinnerte er sie.

Sie gaben sich einen Gutenachtkuss. Dann ging er. Dana duschte, zog den Schlafanzug an und legte sich ins Bett. Als Alder hereinkam, las sie in ihrem Buch.

»Wie lief’s?«, fragte Alder mit prüfendem Blick.

»Gut. Und bei dir? Warst du genügend abgelenkt?«

»Mehr wäre, glaub ich, nicht gegangen.«

»Warst du letztes Jahr mit Ethan unterwegs?«, bohrte Dana behutsam nach.

Alder ließ sich auf Danas Bettkante fallen. »Ja. Wir sind als Franny und Zooey gegangen.«

»Die Geschwister aus der Geschichte von J. D. Salinger?«

Alder nickte. »Keiner hat’s kapiert. Nicht ein Einziger konnte es erraten. Bis jetzt habe ich’s auch niemandem erzählt.« Dana streckte die Hand aus und streichelte Alders Handrücken. »Ich bin froh, dass ich hier bin«, sagte Alder erschöpft. »Aber irgendwie ist es gerade überall, wo ich bin, beschissen.« Sie drehte die Hand um, sodass Dana ihre Fingerspitzen jetzt über die Handfläche gleiten ließ.

Dana hätte gerne etwas gesagt, aber alles, was ihr in den Sinn kam, klang hohl und verlogen. Sie sah Alder vor sich hin starren und streichelte weiter ihre Handfläche. Nach kurzer Zeit schien die Spannung aus dem Gesicht des Mädchens zu weichen, und ihre Schultern sanken etwas tiefer. Alder drückte sanft Danas Hand, erhob sich und verließ das Zimmer. Bald hörte Dana das Wasser im unteren Bad laufen, dann das Quietschen der Federn in der Ausziehcouch.

Sie lehnte das Buch gegen ihre angezogenen Knie und begann mit neuer Konzentration zu lesen, als wäre es von Bedeutung, als könnte es etwas lösen, auch wenn sie wusste, dass dem nicht so war.