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Dr. Sakimoto war selbst am Telefon. Als Dana am nächsten Morgen anrief, sagte sein unverwechselbarer Bariton mit diesem merkwürdig lässigen Brummen: »Cotters Rock Dental, was kann ich für Sie tun?«
»Tony?«, sagte sie, über sich selbst erstaunt. Seit wann war ihr Umgang so ungezwungen, dass sie ihn Tony nannte?
»Ja?«
»Hier ist Dana Stellgarten.«
»Dana«, sagte er hörbar erfreut. »Sagen Sie bloß nicht, dass Ihr Zahn Probleme macht. Das war eins meiner besten Werke.«
»Nein, der ist in Ordnung. Bestens, wirklich.« Während sie sich mit der Zungenspitze an den Zahn tippte, wurde ihr bewusst, dass sie kaum noch an ihn gedacht hatte. »Eigentlich … äh … habe ich angerufen, um Sie zu fragen, ob Sie noch an meiner – vorübergehenden – Unterstützung als Sprechstundenhilfe interessiert sind.«
»Sie wollen mich wohl auf den Arm nehmen?«
»Nein, nein … aber wenn Sie schon …«
»Das ist fantastisch!«, sagte er. »Jetzt ist mein Tag gerettet!«
»Hoffentlich finden Sie das auch noch, wenn Sie erfahren, dass für mich nur halbtags infrage kommt …«
»Sie sind alleinerziehende Mutter mit kleinen Kindern, Dana. Ich hatte mir schon gedacht, dass Vollzeit für Sie nicht drin ist.«
Jawoll!, dachte Dana und schlug lautlos auf den Küchentisch.
In der anschließenden Unterhaltung ging es um einzelne Verhandlungspunkte, die mit seinem inzwischen vertrauten Geplänkel durchsetzt waren. »Denken Sie dran, Ihr Strickzeug mitzubringen«, sagte er zu ihr. »Oder was Sie sonst für ein Hobby haben.«
»Töpfern«, witzelte sie zurück. »Ich werd mir im Wartezimmer einfach ein Eckchen für meine Drehscheibe freiräumen.«
Die Vergütung, die er ihr anbot, war akzeptabel, und er glaubte, damit zurechtzukommen, dass sie an den meisten Tagen um fünfzehn Uhr ging, wenn sie bereit wäre, Liegengebliebenes am nächsten Morgen zu erledigen. Mittwochs arbeitete er allerdings von zwölf bis acht, und er hoffte, sie würde für diesen Tag eine regelmäßige Betreuung für ihre Kinder organisieren können.
»Oh, das kriege ich hin«, sagte Dana, ohne auch nur die geringste Ahnung zu haben, wie. Trotz dieses Hakens verspürte Dana ein siegesgewisses Prickeln. Sie hatte es geschafft. Ab Montagmorgen hatte sie offiziell einen Job.
»Bitte, Dad!«, bettelte Morgan. In ihrer coolsten Jeans und ihrem knappsten Shirt saß sie ihm an diesem Abend im Esszimmer gegenüber. »Mom bringt mich dann zu dir. Kimmi wartet schon auf mich!«
Kenneth bemühte sich nach Kräften, seine Gesichtszüge nicht entgleisen zu lassen, doch dadurch, dass er seine Backenzähne zusammenpresste, sah man seine Schläfen vor Wut pochen. »Mom hätte das erst mit mir abklären müssen …«
»Morgan«, mahnte Dana, »ich habe dir gesagt, es ginge nur, wenn Dad nichts dagegen hätte.«
»… aber da sie das nicht für nötig gehalten hat«, fuhr Kenneth fort, »bin ich mal wieder der Buhmann.«
»Mein Gott, Dad, warum denn? Danach bin ich doch das ganze Wochenende bei dir. Und werde auch besonders kooperativ sein – nicht mit Grady zanken oder Tina ignorieren, das verspreche ich. Aber du musst mich zu Kimmi gehen lassen!«
Kenneth warf Dana einen vernichtenden Blick zu. »Morgan.« Seine Stimme rang um Geduld. »Heute ist Tinas Geburtstag. Sie wird dreißig, und sie wünscht sich sehr, dass es ein besonderer Tag wird. Besonders heißt, dass wir alle vier zusammen ihren Geburtstag feiern. Da gibt’s gar keine Wahl.«
Morgan wandte sich zu Dana um und heulte: »Mom!«
»Ich wusste nicht, dass Dad etwas vorhatte, Liebes. Wir hätten uns vorher mit ihm absprechen müssen …«
»ICH HASSE EUCH BEIDE!«, schrie Morgan und stampfte aus dem Zimmer.
Kenneth richtete sich zu seiner ganzen Größe auf. »Ist dir eigentlich klar, wie sehr du mich unterminiert hast? Jetzt wird sie den ganzen Abend sauer auf mich sein und Tina den Geburtstag verderben. Ich hätte gute Lust, sie zu ihrer verdammten Freundin gehen zu lassen, nur damit Tina nicht gekränkt wird!«
Dana wurde ganz flau, aber nicht wegen Kenneths möglicherweise ruiniertem Abend. Ganz hinten in ihrem Kopf ging ein winziges Alarmsignal los: Tina wird dreißig, und sie besteht darauf, ihren Geburtstag mit Kenneth UND seinen Kindern zu verbringen? »Wir alle vier«, hatte er gesagt. Das war immer etwas Besonderes gewesen. Früher war es etwas Besonderes gewesen, dachte Dana. Damals war ich noch eine von den vieren.
»Es war ein Versehen«, sagte sie trocken zu ihm. »Mehr kann ich dazu nicht sagen.« Dann ging sie hinten hinaus in den Garten, wo Morgan, die Arme um sich geschlungen, vor Wut und Selbstmitleid weinte.
»Außerdem kann ich nicht glauben, dass du es Mr Kresgee erzählt hast!«, heulte Morgan.
Sie hatte also endlich mit dem Vertrauenslehrer gesprochen. »Ich hab mir Sorgen um dich gemacht, mein Schatz«, sagte Dana. »Ich musste mich vergewissern, dass es dir gutgeht.«
»Er ist in die Schulkantine gekommen, um mich zu holen, Mom. In der Essenspause«, zischte sie. »Ich wär fast gestorben.«
Dana konnte sich lebhaft vorstellen, wie unangenehm es gewesen sein musste, so öffentlich herausgegriffen zu werden. Wie konnte ein Vertrauenslehrer dermaßen unbedarft sein? »Hat es denn wenigstens geholfen?«, fragte sie, wusste die Antwort aber schon, bevor sie die Frage zu Ende formuliert hatte.
Morgan schauderte es beim Gedanken daran. »Er trägt einen Cordanzug und riecht nach Senf. Mit dem spreche ich nie wieder.«
Schließlich beruhigte sich Morgan, und Kenneth trieb beide Kinder hinaus zu seinem Auto. Und so sehr Dana sie auch an den Vater-Wochenenden vermisste, so war die Ruhe, die sich über das Haus legte, doch eine willkommene Erleichterung. Sie trottete nach oben, um sich für Nora Kinnears Cocktailparty fertig zu machen, doch nichts in ihrem Kleiderschrank erschien ihr passend. Sämtliche Hosen, die sie besaß, probierte sie an, um sich schließlich für die schwarze Jeans zu entscheiden. Jeans, lässig, sagte sie sich. Schwarz, nicht zu lässig. Der Versuch, das richtige Oberteil dazu zu finden, war hoffnungslos, nahm also wesentlich weniger Zeit in Anspruch. Unten am Fuß der Treppe schlug ihr der Geruch von Eintopf entgegen – das Abendessen für die McPhersons! In dem ganzen Theater mit Kenneth und Morgan hätte sie es fast vergessen. Zum Glück waren das knusprige Brot, die Buttererbsen und der Apfelstreuselkuchen schon fertig eingepackt.
Alder und Jet lagen ausgestreckt auf der Couch im Fernsehzimmer, die Köpfe an den entgegengesetzten Enden, die Füße in spielerischem Gerangel um den Platz in der Mitte. Dana unterbrach sie bei einer kichernd ausgetragenen Meinungsverschiedenheit darüber, welches der dämlichste Horrorfilm war, als sie den Kopf hereinsteckte, um zu sagen, dass sie jetzt gehe. »Die Nummer der Kinnears steht auf dem Block in der Küche, und meine Handynummer hast du.«
»Viel Spaß«, sagte Alder, während sie sich streckte, um Jet die Fernbedienung aus der Hand zu reißen.
»Ja, genau«, kicherte Jet und schmiss ein Kissen nach Alder. »Tierischen Spaß sogar.«
Die McPhersons lebten in der entgegengesetzten Richtung von den Kinnears in einem Viertel, wo die Häuser kleiner waren und es so schien, als wollten sie sich gegenseitig jeden Zentimeter Garten streitig machen. So sehr Dana sich gefreut hatte, Mrs McPherson und ihre Tochter im Supermarkt zu treffen, so sehr hoffte Dana jetzt, dass niemand an die Tür kam, damit sie das Essen nur schnell abstellen konnte.
Da der Eintopf übergeschwappt war, hatte sie sich beim Hochheben die Hände beschmiert. Nachdem sie sich die Tüte mit den Beilagen ans Handgelenk gehängt und den Topf mit den Fingerspitzen zur Tür getragen hatte, drückte sie den Klingelknopf und begann leise bis zehn zu zählen. Falls sie fertig wäre, ehe jemand öffnete, würde sie das Essen in der Kühlbox von COMFORT FOOD auf der Eingangsstufe stehen lassen. Eins … zwei …
Der Türknauf begann sich hin und her zu drehen, und dann hörte man ein pochendes Geräusch. Die Person auf der anderen Seite klopfte an, als wäre sie es, die hineinzukommen versuchte. »Mama!«, rief ein dünnes Stimmchen. »Ma-maaaa! Tür ist zu!« Die Tür fing an zu beben, als von der anderen Seite rhythmisch an dem Knauf gerüttelt wurde.
Jemand rief von weiter weg, die Worte wurden jedoch deutlicher, je näher sie kamen. »… Moment! Ich kann immer nur sechzehn Sachen auf einmal machen.« Die Tür ging auf, und dahinter stand Mrs McPherson, die sich gerade ein pausbackiges Kleinkind auf die Hüfte schwang.
»Tut mir leid, dass ich so spät dran bin«, sagte Dana.
»Nein, bitte, das ist vollkommen in Ordnung. Es ist so nett von Ihnen, dass Sie überhaupt kommen.« Mrs McPherson lächelte schüchtern und öffnete die Fliegengittertür. Sie wirkte ruhiger als bei den Begegnungen zuvor. Die Haut um ihre Augen lag in sympathischen Fältchen; sie machte einen fast hoffnungsfrohen Eindruck. »Mrs Stellgartens Menüs schmecken uns immer, stimmt’s, mein Klammeräffchen?«, sagte sie zu ihrem kleinen Sohn, während sie ihn fest umarmte, was ihn zum Gicksen brachte.
»Bitte nennen Sie mich Dana.«
»Also, Dana, ich muss zugeben, dass Sie unsere Lieblingsköchin sind«, sagte sie über die Schulter, während sie zur Küche vorausging. »Wobei wir uns natürlich über jedes Essen freuen, das die Leute uns bringen.« Damit setzte sie den kleinen Jungen auf der hellbraunen Resopaltheke ab, die mit blassen Flecken besprenkelt war. »Aber eins steht fest: Ihres kriegt hier im Haus die meisten Punkte.«
Dana stellte den Eintopf zwischen Filzstiften und vereinzelten Bögen Bastelpapier auf den Küchentisch. »Das ist viel mehr Lob, als ich von meiner eigenen Familie bekomme«, sagte sie seufzend.
»Klar.« In Hüfthöhe an die Theke gelehnt, um mit ihrem Körper den kleinen Jungen vor dem Fallen zu bewahren, lächelte Mrs McPherson spöttisch.
Dana erwiderte ihr Lächeln. »Ich weiß Ihren Vornamen gar nicht«, sagte sie.
»Mary Ellen.«
Dana hielt ihr die vom Eintopf klebrigen Hände hin und bat: »Könnte ich vielleicht …?« Mary Ellen drehte das Wasser im Spülbecken auf und ließ es laufen, bis es warm war. »Wie geht es ihm?«, murmelte Dana, während sie sich die Hände wusch und überlegte, wo im Haus sich Mr McPherson wohl aufhielt.
Der kleine Junge entwand sich seiner Mutter, worauf sie ihn mit Schwung von der Theke hob und er aus der Küche hinauslief. »Besser«, sagte sie, Dana ein Geschirrtuch reichend. »Sie haben gesagt, es würde eher schlechter werden, aber ich hab’s nicht geglaubt. Ich hab ihm gesagt, dass er weiterkämpfen muss, und das hat sich am Ende ausgezahlt.«
Das wunderte Dana – der Freiwilligenkoordinator bei COMFORT FOOD hatte gesagt, Mr McPherson sei im Endstadium. Hatte Mary Ellen recht? Oder wollte sie es nicht wahrhaben? Dana schauderte es bei dem Gedanken, wie hart es sie treffen würde, wenn Letzteres stimmte. »Brauchen Sie noch irgendetwas anderes? Einen Lebensmitteleinkauf? Sonstige Erledigungen?«
Mary Ellen lächelte dankbar. »Das ist so großzügig, aber wir müssen nur das hier durchstehen, damit alles wieder zur Normalität zurückkehrt. Bitte bringen Sie uns nur weiterhin Ihr leckeres Abendessen. Wir freuen uns immer, wenn Mrs Stellgarten dran ist.«
Die Kinnears wohnten in einer dieser mäandernden Seitenstraßen, in denen selbst die kleineren Häuser auf riesigen Grundstücken standen. Wie sich herausstellte, wäre es gar nicht nötig gewesen, die Nummern auf den Briefkästen zu entziffern, um abzuschätzen, wie weit sie noch fahren musste. Das Haus der Kinnears stand am Ende der Sackgasse, und seine Einfahrt zweigte scharf davon ab, so als betrachtete es jene Häuser, die näher an der Straße gebaut waren, mit einer gewissen Hochnäsigkeit.
Dana parkte hinter einem roten Geländewagen und hatte nicht übel Lust, wieder nach Hause zu fahren und sich feiner anzuziehen. Stattdessen holte sie tief Luft und ging die Einfahrt hinauf, ihre kleine Handtasche und eine ziemlich teure Flasche Cabernet an sich gedrückt, auf deren Etikett der Stich einer ländlichen Gegend in Frankreich prangte.
Das Haus war kleiner, als sie angesichts der langen Auffahrt erwartet hatte. Es war jedoch gut ausgeleuchtet, hatte einen sorgfältig angelegten Garten und schien durch das große Erkerfenster eine eigenartige, beinahe sichtbare Wärme auszustrahlen. Das wohlige Summen von Jazzmusik lockte sie ins Haus.
Als sie auf der Veranda stand, überlegte Dana, ob sie klingeln sollte. Die dunkle Holztür war angelehnt. Sollte das eine stillschweigende Einladung sein, sie aufzustoßen, oder hatte jemand es versäumt, sie ganz zuzumachen? Dana klingelte. Es dauerte mehrere Minuten, bis jemand kam.
»Es ist offen!«, rief ein Mann, während er die Tür aufriss. »Es weiß doch jeder, dass man einfach reinkommen kann …« Er war groß, weit über eins achtzig, und in seinen kurzen schwarzen Haaren glitzerte es hier und da silbern. Sein pinkfarbenes Oxford-Hemd trug er mit hochgerollten Ärmeln und offenem Kragen, dessen Falten man allerdings ansah, dass ihn vor Kurzem noch eine Krawatte eingeengt hatte. Das Hemd steckte in einer verwaschenen, perfekt sitzenden Jeans ohne Gürtel. »Eine Freundin von Nora?«, mutmaßte er, einen Unterarm oben an den Türrahmen gelehnt. »Oder hast du dich im Wald verlaufen, kleines Mädchen?«
Das überhebliche Lächeln, die lässige Haltung, bei der das Gewicht auf einem Bein ruhte, während das andere Bein locker stand – das war Dana nur zu vertraut. Genau das machten manche Männer, vor allem gut aussehende, die ein bisschen flirten wollten, um sich als Leittier zu präsentieren, in dessen Rudel man aufgenommen werden könnte. Dana bewältigte die Situation so, wie es ihrer Einschätzung nach von ihr verlangt wurde, indem sie nämlich verhalten flirtete, dabei jedoch nicht im Entferntesten andeutete, dass sie ein solches Angebot, falls es käme, ablehnen würde. »Bin auf dem Weg zu meiner Großmutter.« Lächelnd hielt sie die Weinflasche hoch. »Grandma trinkt abends gern ein Gläschen Roten.«
Ein verschmitztes, anerkennendes Grinsen. Schließlich trat er von der Tür zurück und bat sie herein. »Wir schicken Granny eine SMS und sagen ihr, dass sie nicht aufbleiben muss.«
Dana stellte sich ihm vor. »Unsere Töchter sind Freundinnen«, fügte sie hinzu, die Hand zur Begrüßung ausgestreckt.
Er ergriff sie und hielt sie noch eine Sekunde länger. »Darbys Mom?«
»Nein, Morgans.«
»Oh … ja, stimmt! Morgan.« Es war klar, dass er Morgan nicht kannte, aber Dana nahm es ihm nicht übel. Die Väter hielten nur selten mit der sich ständig drehenden Beziehungswelt ihrer Kinder mit. »Ich bin Carter.« Durch eine granatapfelrote Diele, an deren Wänden kleine Kohlezeichnungen in riesigen schwarzen Rahmen hingen, führte er sie zu der Jazzmusik und dem lauten Gewirr von Stimmen.
Carter Kinnear sorgte dafür, dass ihre Hand sich fest um den Stiel eines Weinglases schloss, bevor er sie in das unbekannte Terrain der Party entließ. Dana sah sich um und entdeckte ein oder zwei Gesichter, die ihr vage vertraut vorkamen.
»Dana?«, sagte eine Stimme hinter ihr.
Dana drehte sich um und breitete die Arme aus. »Ich bin so froh, dich zu sehen«, murmelte sie Polly ins Ohr. »Ich kenne hier so gut wie niemanden!«
»Mir war gar nicht klar, dass du und Nora euch auf Anhieb so gut versteht«, sagte Polly, deren Umarmung etwas weniger fest war als sonst. »Du hättest es mir sagen sollen.« Und dann schob sie nach: »Wir hätten dich doch mitnehmen können.«
»Wir? Ist Victor auch hier?«
Polly verdrehte die Augen. »Schnüffelt um die perfekte Gastgeberin herum.« Dana folgte ihrem Blick quer durch den Raum. Victor lehnte an einer Granitarbeitsplatte, während Nora Kinnear redete, die langen Finger auf sich selbst, dann von sich weg und wieder auf sich selbst richtend. Auch als er einen Schluck Bier nahm, löste er den Blick nicht von ihr. Nora musste Pollys und Danas Aufmerksamkeit gespürt haben, denn sie sah flüchtig zu ihnen herüber und entwand sich dem Gespräch. Während sie zu ihnen herüberkam, winkte Victor Dana zu.
»Ich bin so froh, dass Sie gekommen sind!«, sagte Nora, und ihre Hände lagen auf Danas Rücken, als sie sich zu ihr neigte, damit Dana sie flüchtig auf die Wangen küssen konnte. »In unserer Büchergruppe spricht Polly jedes Mal von Ihnen, und ich hab mir gedacht: ›Sie klingt interessant, ich muss sie besser kennenlernen.‹«
Dankbar für diese nette Geste, lächelte Dana. Doch als sie Polly kurz ansah, schien irgendetwas nicht ganz zu stimmen. Hinter Pollys Lächeln spürte sie eine Anspannung, eine unterschwellige Beklommenheit, die Dana überraschte. Nora plauderte unbekümmert darüber, wie gut Morgan und Kimmi sich verstanden und dass sie beim Browniesbacken wohl den halben Teig verspeist und so gelacht hatten, dass ihnen die Schüssel runtergefallen war. Dana erklärte, warum Morgan nicht mitgekommen war, und bat um Entschuldigung für die kurzfristige Änderung ihrer Pläne.
»Oh, Kimmi wird das verstehen. Wir haben darüber gesprochen, wie kompliziert es wird, wenn Eltern sich trennen. Jetzt hat sie sowieso Devynne oben bei sich, da gibt es für sie keinen Grund, sauer zu sein.« Mit dem Blick den Raum durchkämmend, sagte Nora plötzlich: »Dana, Sie kennen Beth Getman noch nicht, oder? Die muss ich Ihnen vorstellen. Sie beide haben so viel gemeinsam.« Während sie Dana fortbugsierte, sagte Nora über die Schulter: »Es macht dir doch nichts aus, wenn ich sie dir für einen Moment entführe, Pol?« Dann schlängelten sie sich durch die Menge, hier und da innehaltend, damit Nora Dana verschiedenen Freundinnen vorstellen konnte. Zu Beth Getman schafften sie es nicht mehr, und mit Polly sprach Dana für den Rest der Party auch nicht mehr.
Hin und wieder sah sie sie irgendwo im Raum, und Dana hatte den Eindruck, dass Polly sie beobachtete, vielleicht aber auch Nora, die nicht von ihrer Seite wich und sie mit dem Geschenk neuer Bekanntschaften bedachte. Warum hatte Nora Polly nicht einbezogen? Dana nahm sich die ganze Zeit vor, sich zu ihr zu gesellen, aber es ergab sich nie die Gelegenheit.
Stunden später, als sie die Auffahrt wieder hinunterging und sich vorkam, als hätte sie in einer Klassenarbeit, für die sie nicht gelernt hatte, eine gute Note bekommen, drückte Dana kurz und kräftig ihre kleine, perlenbesetzte Handtasche. Sie hatte neue Freundschaften geschlossen – mit Leuten, die sie nicht als die eine Hälfte von Kenneth-und-Dana oder gar als seine betrogene Frau kannten. Sie hatte einen Soloauftritt gehabt, und obwohl es sich nicht ganz so gut anfühlte wie am Arm eines Mannes aufzutauchen, der sie liebte, kam sie sich clever und mutig und merkwürdigerweise sogar ein ganz klein bisschen gefährlich vor.