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Heute Nachmittag warst du klasse, Connie«, sagte Dana, als sie an diesem Abend schlafen gingen.

»Worauf willst du hinaus?« Connie drehte sich um und zog dabei Decke und Laken mit auf ihre Seite.

»Du hast Alder über Ethan reden lassen, als sie dazu bereit war – das war genau das, was sie gebraucht hat.« Dana zog ein paar Zentimeter Decke zu sich zurück und seufzte. »Bevor ich Kinder hatte, war mir gar nicht bewusst, wie viel Selbstbeherrschung man als Mutter aufbringen muss.«

Connie boxte ein oder zwei Mal in ihr Kissen, ehe sie sich hineinwühlte wie eine Bärin, die sich zum Winterschlaf fertig macht. Ihre Atmung verlangsamte sich, und Dana dachte schon, sie wäre vielleicht eingeschlafen, als Connie sagte: »Warum hast du Dad ›abwesend‹ genannt?«

»Wovon redest du?«, brummte Dana in der Hoffnung, schläfrig zu klingen.

»Heute Morgen, als ich dich gefragt habe, ob du manchmal Albträume mit Dad hast, da hast du ihn einen ›abwesenden Vater‹ genannt.«

»Na ja, das ist er doch. Oder siehst du ihn hier irgendwo? Ich nicht.«

»Werd nicht gleich empfindlich.«

»Ich bin nicht empfindlich, ich bin müde. Es war ein langer Tag, und ich muss nicht alte Sachen aufwärmen, wo ich im Moment genug aktuelle Sorgen habe.«

Connie schwieg. Nach einer Weile sagte sie: »Du weißt, dass Dad tot ist, oder? Sag mir, dass du nicht mehr wie früher, als wir Teenager waren, diese Artikel überAmnesie und Entführungen ins Ausland ausschneidest.«

»Mein Gott, Connie, kannst du nicht einfach den Mund halten? Ich muss morgen arbeiten – ich brauche Schlaf!«

»Du glaubst, dass er immer noch da draußen ist«, murmelte Connie. »Hab ich recht?«

Dana setzte sich im Bett auf. Sie hatte die Nase voll von Connie – immer wusste sie, was einen am meisten ärgerte, und bohrte so lange nach, bis man es nicht mehr aushielt. Wut blitzte wie Wetterleuchten durch Danas Kopf. »Wir sind nicht absolut sicher, wo er ist, oder

Connie stützte den Kopf auf ihre Hand. »Wir wissen, dass er nach Swampscott gefahren ist und dass er seine Kleidung und seine Brieftasche am Strand gelassen hat.«

»Genau! Ein Mann darf also nicht in seine Heimatstadt fahren und dort schwimmen gehen?«

»Mitten in der Nacht«, sagte Connie. »Er ist bei Nacht und Nebel aufgestanden, zwanzig Meilen gefahren und hat alles, was er besaß, im Sand liegen lassen.«

»Ihm ging es schlecht! Da musste er sich ins Auto setzen und losfahren!« Plötzlich erschien es ihr wichtig, ihn zu verteidigen, sich an der entfernten, wenn auch noch so irrationalen Möglichkeit festzuklammern, dass er nicht …

»Er war klinisch depressiv«, sagte Connie ruhig. »Und er hat sich umgebracht. Wie es hieß, ist seine Leiche wahrscheinlich aufs Meer hinausgeschwemmt worden. Könnte aber auch sein, dass er sich von einem Gewicht hat hinunterziehen lassen. Das machen Selbstmörder manchmal.«

Dana grabschte nach dem nächstbesten Gegenstand – einem Kissen – und warf es nach Connie. »Warum tust du das!«, zischte sie durch zusammengebissene Zähne. »Warum musst du so verdammt gemein sein?«

»Tja«, antwortete Connie, »vermutlich, weil ›verdammt nett‹ bereits vergeben war.«

»VERFLUCHTE SCHEISSE! Manchmal HASSE ich dich wirklich!«

Da saß sie, die Brust hob und senkte sich, ihre Halsschlagader pochte, als würde sie gleich platzen. Dad. Das Wort hüpfte immer wieder in ihrem Kopf hoch, wie ein flacher Stein, der ins Meer hinausgetitscht wird. Dad, schwimm zurück!, hätte sie gerne gesagt. Nimm deine Brieftasche, zieh dich wieder an und fahr nach Hause!

Das hatte er jedoch nicht getan. Und würde es nie tun. Er hatte ihre Kinder nie gesehen, ihre kleinen Gesichter nie gestreichelt, nicht bestaunt, was für einzigartige Geschöpfe sie waren, so wie Opas es gemeinhin taten. Vielleicht hatte er, als sie klein war, ihr eigenes Gesicht gehalten, aber es war auch gut möglich, dass sie sich in ihrem sehnlichen Wunsch, ihm etwas zu bedeuten, dieses Bild zurechtgelegt, es aus dem Fernsehen oder einer Zeitschrift kopiert und eingefügt hatte.

Dad hatte sich umgebracht. Er hatte die Wahl gehabt zwischen dem Leben mit einer Familie, die ihn liebte, und dem Tod … und sich für den Tod entschieden. Natürlich wusste sie das – schon immer. Nur wünschte sie sich so sehr, es nie gewusst zu haben.

»Ich glaube, du hast mir noch nie gesagt, dass du mich hasst«, bemerkte Connie. Dana rollte ungehalten mit den Augen. »Schon seltsam«, fuhr Connie fort, »aus deinem Mund, meine ich.«

Dana rutschte tiefer unter die Decke, riss sie Connie weg und zog sie sich über die Schultern. Natürlich hatte Connie sie nie »Ich hasse dich« sagen hören. Dana hatte es einfach noch nie gesagt, zu niemandem. Sie holte tief Luft, die sie langsam wieder ausströmen ließ.

»Weißt du, bei dir ist es so«, sagte Connie, »du kommst einem so normal vor, niemand kapiert, wie verkorkst du bist.«

»Halt bloß die Klappe, Connie.«

»Du solltest deine Psychose lieber annehmen.«

»Und wenn ich meine Brutalität annehme und dir eine knalle? Hältst du dann die Klappe?«

»Halt sie schon«, sagte Connie pseudofreundlich, und Dana war versucht, um sich zu schlagen, doch Connie legte ihr die Hand auf die Schulter. »Lieb dich, Day«, murmelte sie.

»Bla bla bla.«

Connie brach in lautes Gelächter aus.

Als Dana am Freitagmorgen ging, schliefen sie alle noch. Sie legte einen Zettel auf den Küchentisch. »Bin bei der Arbeit, komme um fünf zurück. Gruß, D.« Die anderen wussten das, aber sie schrieb trotzdem eine kurze Notiz. Sie hatte es lieber, wenn man wusste, wo sie war.

Heute waren die Patienten ebenso heiter ermattet, wie sie am Mittwoch hektisch gewesen waren. Das schien die Nachwirkung vom Truthahn und von der Erleichterung zu sein, die sich einstellte, wenn man eine erfolgreiche Feiertagsaktion organisiert oder zumindest überlebt hatte. Der Terminplan war locker, es gab keine Zahnreinigung, nur kleinere Behandlungen, die Tony ohne Assistentin durchführen konnte, da Marie um einen freien Tag gebeten hatte. Tony beichtete, dass er mitbekommen habe, wie sie in einer Pause zwischen zwei Patienten übers Handy einen Flug nach Kanada gebucht hatte.

»Wow«, bemerkte Dana. »Sie hat’s tatsächlich ernst gemeint, als sie sagte, dass sie Thanksgiving nicht feiert.«

»Ich glaube ja, dass sie auf einem alternativen spirituellen Weg ist«, sinnierte er, während er in der Türöffnung zum Empfangsbereich lehnte und darauf wartete, dass der nächste Patient auftauchte.

»Sind wir das nicht alle«, murmelte sie. Als sie den Kopf hob, sah sie, dass er sie amüsiert betrachtete. Es war der Blick, mit dem er Lizzie bedacht hatte, als sie sagte, sie hätten spannendere Gesprächsthemen als ihn. Eine Art kaum verhohlene Bewunderung.

So ein schönes Gesicht, dachte sie. Die anmutig geschwungenen Linien seiner Nase und Augen. Die glatte Haut mit den markanten, kurz geschorenen Koteletten. Sie brauchte ihn nur anzuschauen, dann verspürte sie eine sonderbare Zufriedenheit, die Drama und Enttäuschung wegwischte. Doch nach kurzer Zeit kam es ihr komisch vor, ihren Chef anzustarren, während er sie anstarrte, und mit einem Blinzeln sagte sie: »Wie ist es denn nun gelaufen? Sind Ihre Mädels alle miteinander ausgekommen?«

Er schnitt eine Grimasse. »Phasenweise ja. Die übrige Zeit haben sie sich aufgeführt wie gackernde Hühner auf einer Hackparty.« Er beschrieb eine Zeitspanne von vierundzwanzig Stunden – von Martines Ankunft am Mittwoch bis zu ihrer dramatischen Abreise am Donnerstag, kurz nachdem ihre Feigentarte angebrannt war, weil Lizzie sie nach hinten in den Ofen geschoben hatte, statt sie, ihrer Bitte entsprechend, vorne hinzustellen. »Wie Fünfjährige haben sie sich gegenseitig genervt«, sagte er. »Das war die Hölle.«

»Und wo war Abby bei alldem?«

Er schmunzelte. »Wie üblich unterhalb des Radars geflogen. Hat sich in ihrem Zimmer verkrochen und für das klinisch-praktische Examen gelernt. Das war das Einzige, worin Lizzie und Martine sich einig waren – dass Abby nicht genug half.«

»Klingt schrecklich«, sagte sie mitfühlend. »Haben Sie seitdem mit Martine gesprochen?«

»Ja …« Seine Miene wurde ausdruckslos, und er wandte den Blick ab. »Ist nicht gut gelaufen.«

»Sie hat sich wegen eines Kuchens von Ihnen getrennt?«

»Hm, ja und nein. Ich glaube, es lag daran, dass ich nicht intensiv genug versucht habe, ihr das Schlussmachen auszureden.« Er zuckte die Schultern. »Die Mädchen haben sich wirklich nicht von ihrer besten Seite gezeigt, und das habe ich ihnen auch gesagt. Ich war stocksauer. Aber Martine hat sich auch nicht gerade wie eine Erwachsene benommen.« Er blickte ratlos drein. »Seit ich sie kenne, hat sie sich noch nie so aufgeführt. Normalerweise ist sie so klug und selbstbeherrscht.«

»Manche Situationen bringen nicht das Beste im Menschen zum Vorschein«, sagte Dana.

»Ja, das habe ich mir auch gedacht. Doch als ich gestern Abend Abby zum Flugplatz gebracht habe, hat sie gesagt: »Dad. Mal ehrlich. Die?« Er schüttelte den Kopf, dann blickte er Dana an. »Wie fanden Sie sie denn?«

»Oh, ähm, sie ist sehr … groß, oder?«

Offenbar war das nicht die Art von Antwort, die er suchte. »Äh, ja, ich glaube schon.«

»Stört Sie … hat Sie das gestört? Mit jemand so Großem zusammen zu sein?«

»Größer als ich, meinen Sie? Nein. Hätte es wohl können, vermute ich. Aber bei meiner Größe würde das die Möglichkeiten erheblich einschränken.« Rasch ließ er ein Grinsen aufblitzen. »Und wo ist der Spaß dabei?« Dann drehte er das Licht in seinen Augen wieder zurück. »Ernsthaft«, sagte er, seine frühere Frage wieder aufnehmend. »Wie war Ihr Eindruck?«

Sie hat mich wie Aschenputtel behandelt. Dana rüttelte an ihrer Computermaus und sah zu, wie der Cursor über den Bildschirm schnellte. »Sie schien nett zu sein.«

Tony musterte sie einen Moment lang. »Sie lügen doch, oder?«

»Also gut«, sagte Dana. »Mir hat die Art nicht gefallen, wie sie sagte: ›Sie sind die Alleinerziehende.‹ Als wäre das die Rolle, die ich in irgendeiner Fernsehsendung spiele.« Sie erwiderte seinen Blick. »Sprechen Sie so über mich?«

»Dana«, sagte er, die glatten Züge schamgerötet. »Ich habe nie …«

Die Glocke an der Tür bimmelte, und Mr Kranefus kam herein, zog seinen weichen Filzhut ab und befingerte die Krempe, während er zum Garderobenständer hinüberging.

»Hallo Mr Kranefus«, sagte Dana. »Wie war Ihr Thanksgiving?«

»Es wollte kein Ende nehmen.« Er legte seinen Mantel ab und hängte ihn an einen Haken. »Aber jetzt ist es vorbei.«

Dana beendete gerade ein Telefonat mit einem Versicherungssachbearbeiter, als sie hörte, dass das Heulen von Tonys Bohrer verstummte. Kurz darauf kam er in den Empfangsbereich und zog den Mundschutz herunter. »Ich möchte Ihnen sagen, dass ich Sie nie so genannt habe. Ich habe hin und wieder über Sie gesprochen, vermutlich habe ich auch erwähnt, dass Sie Kinder haben und geschieden sind, aber als ›Die Alleinerziehende‹ würde ich Sie nie bezeichnen.«

»Gut«, sagte sie.

»Ich sehe Sie nicht so. Und es tut mir sehr leid, dass sie es gesagt hat.« Damit setzte er den Mundschutz wieder auf und ging zu Mr Kranefus zurück.

Beim Mittagessen erzählte sie ihm von Jets genialem Einfall bei den McPhersons, dem erstaunlich leckeren Auberginen-Parmesan-Auflauf als Truthahnersatz, und Ethans Versuch, Vergebung zu erlangen.

»Und was ist draußen in der Einfahrt passiert?«, fragte er. »Hat sie Ihnen davon erzählt?«

»Ein bisschen. Sie hat gesagt, dass sie ihm teilweise verziehen hat und dass der Rest mit der Zeit kommen wird. Sie haben nicht vor, sich wiederzusehen, aber ich glaube, dass sie irgendwann wieder Kontakt zueinander aufnehmen werden. Das Wichtigste ist, dass sie nicht mehr mit diesem ganzen Schmerz und der Wut herumläuft. Oder wenigstens nicht mehr mit so viel.«

»Glauben Sie, sie wird jetzt nach Hause gehen?«

Das war ein erschreckender Gedanke. Der Weg war allerdings geebnet, oder? Hamptonfield, Massachusetts, stellte für Alder nicht mehr einen ganz so verhassten Ort dar, und die Beziehung zu Connie hatte sich eindeutig verbessert. Den Blick auf ihn gerichtet, dachte Dana über die bevorstehende Zeit ohne Alder nach.

»Sie kann sich ganz schön glücklich schätzen, Sie als Tante zu haben«, sagte Tony leise. »Ihr einen sicheren Hafen zu bieten, während sie sich über alles klar wurde, und Ihrer Schwester zu helfen, die Verbindung wieder aufzunehmen – das ist ein Riesengeschenk.«

»Es wär bloß schön, wenn die Dinge mal länger als fünf Minuten am Stück bleiben könnten, wie sie sind.«

»Auf welchem Planeten ist das denn der Fall?« Er lächelte. »Ich besitze einen gültigen Pass und bin jederzeit reisefertig.«

Dana saß an ihrem Schreibtisch, und Tony suchte auf den Regalen hinter ihr nach einer Patientenakte, als Connie hereinkam. »Da draußen ist es kälter als ein Haufen Scheiße auf dem Pluto«, brummte sie.

»Connie!«, sagte Dana und setzte ein Lächeln auf, während ihr Herz Alarm schlug. »Das ist mein Chef, Tony Sakimoto. Tony – meine Schwester, Connie Garrett.«

Connie bedachte ihn mit einem unverhohlen taxierenden Blick.

»Freut mich, Sie kennenzulernen, Connie.« Tony lächelte. »Wie ich höre, machen Sie einen spitzenmäßigen veganen Auberginenauflauf.«

»Und ich hab gehört, Sie sind der beste Boss seit Santa Claus«, antwortete Connie trocken. »Morgens hat sie es so eilig, zur Arbeit zu kommen, als gäbe es Schlittenfahrten und Zuckerstangen gratis.«

Danas Gesicht wurde heiß. Tony ließ ein tiefes, rumpelndes Lachen vernehmen und sagte: »Sie haben mich durchschaut. Ich hab mir gesagt, zum Teufel mit großzügigen Sozialleistungen, wir holen uns ein Rentier hier rein, das hat denselben motivierenden Effekt!«

Connie sah Dana mit hochgezogenen Augenbrauen an, ein Blick, der besagte: Er ist sonderbar, aber unterhaltsam.

»Pass mal auf«, sagte sie, auf den Empfangstresen gestützt. »Ich glaube, die Mädchen und ich fahren fürs Wochenende nach Hause. Ich hab einen Freund beim Hamptonfield Auto Service, der sich meiner erbarmt und das, was an Alders Auto immer noch kaputt ist, repariert, und dann sollte ich wirklich mal wieder zu einer Schicht im Nine Muses auftauchen. Außerdem glaube ich, Jet braucht einen Tapetenwechsel. Sie fängt an, die Würzsoßen zu essen, und so viel Sojasoße kann nicht gesund sein.«

»Ach … ja gut«, sagte Dana, bemüht, alles in sich aufzunehmen. »Was meinst du denn, wann ihr fahrt?«

»Jetzt, mehr oder minder. Die Mädchen sind kurz zu Jet nach Hause gefahren, um ein paar Klamotten zu holen. Wir treffen uns an der Shell-Tankstelle in der Hebron Avenue und fahren dann Kolonne für den Fall, dass ihr Auto Sperenzchen macht.«

»Kommst du denn am Sonntag wieder?« Danas panische Angst vor Connies Anwesenheit verwandelte sich rasch in panische Angst vor ihrer Abwesenheit. Bis die Kinder nach Hause kamen, waren es immer noch sechsunddreißig Stunden. Und ihr wurde klar, dass sie Connie richtig vermissen würde.

»Sonntag?« Nachdenklich kniff Connie die Augen zusammen. »Wahrscheinlich nicht. Ich meine, eine Teilmenge von uns schon, aber ich kann es mir wirklich nicht leisten, noch länger freizumachen. Ich ruf dich aber an. Vielleicht morgen Abend.« Sie klopfte zwei Mal leicht auf den Tresen. »Muss los.«

Doch sie rührte sich erst mal nicht von der Stelle. Irgendetwas fiel ihr ein, und sie lächelte darüber und blickte zu Dana auf. Es war beinahe ein Dankeschön. Dann wandte sie sich Tony zu und sagte: »Bis dann, Santa«, und ging.