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Bitte«, bettelte Morgan am nächsten Morgen vor dem Tor der Cotters Rock Middle School. Eine Glocke ertönte, und die Kinder machten sich auf den Weg nach drinnen; manche hatten es so eilig, dass ihnen der Schulranzen gegen den Rücken schlug, andere bewegten sich so schleppend, als wären sie auf einem Gewaltmarsch.

»Morgan, mein Schatz, du darfst nicht noch mehr Unterricht versäumen. Ich weiß, es wird hart, aber wenn du mich brauchst, ich bin nur einen Handyanruf entfernt, versprochen.« Sie versuchte, positiv zu klingen, musste sich jedoch beherrschen, damit sie nicht mit Morgan im Auto wieder losfuhr, um ihr die bevorstehende Gehässigkeit zu ersparen.

Schließlich zog Morgan den Reißverschluss ihrer Jacke hoch, aus der ihr Gesicht so blass herausragte wie ein Eisberg aus einem sanft wogenden Meer. Dana strich ihr das Haar glatt. »Heute Abend gehst du zu der Therapeutin. Ich glaube, das wird dir helfen.«

Morgan verdrehte die Augen. »Ich bin so blöd«, murmelte sie, und stieg aus.

Den ganzen Weg zur Arbeit liefen Dana Tränen über die Wangen. Während sie sich mit einer Serviette, die sie im Handschuhfach gefunden hatte, das Gesicht abtupfte, rief sie sich selbst zur Ordnung. Am Tag zuvor hatte sie hart gearbeitet – es gab viel Liegengebliebenes zu erledigen, und es war eine willkommene Abwechslung gewesen, an nichts anderes zu denken als an Antragsformulare und Abrechnungen. Arbeit, sagte sie sich jetzt. Konzentrier dich nur darauf.

Sie arbeitete so konzentriert, dass sie um halb zwölf nichts anderes mehr zu tun hatte, als rund um die Anmeldung zu saugen und die Poster über Zahnweißung gerade zu richten. Aus ihrem Handy erklang die »Ode an die Freude«.

»Es ist Mittagspause«, flüsterte Morgan. Handys waren in der Schule streng verboten.

»Wie geht’s?«, fragte Dana besorgt.

»Niemand wollte neben mir sitzen«, murmelte sie. »Niemand. Als dann zwei Jungs – Kimmi-Fans – anfingen, pantomimisch zu kotzen, bin ich gegangen.«

»Oh mein Schatz.« Dana seufzte. »Wo bist du denn jetzt?«

»Auf der hinteren Turnhallentreppe.«

»Schaffst du’s bis zum Schluss?«

Morgan zitterte die Stimme. »Ich muss jetzt in Naturwissenschaft gehen.«

»Ich hab dich lieb, meine Süße.«

Doch Morgan war schon weg.

Als Tonys vegetarisches Sandwich und der Eistee gebracht wurden, kam Tony heraus, um den Lieferdienst zu bezahlen. Er warf Dana einen flüchtigen Blick zu. »Kommen Sie mit?«, fragte er.

Da all ihre Vorhaben abgeschlossen waren, nahm sie ihren Joghurt und die Karottenstifte und ging nach hinten in die Teeküche. Marie kreuzte sie in Laufkleidung. Auf dem Handgelenk hatte sie ein neues Tattoo, eine kleine Amsel, die ein Pentagramm zwischen den Füßen hielt. »Viel Spaß beim Laufen«, sagte Dana.

»Guten Appetit«, erwiderte Marie mit einem kurzen Lächeln, das zwar nicht direkt freundlich war, aber auch nicht von Boshaftigkeit zu zeugen schien.

Tony und Dana saßen an dem kleinen, runden Tisch und unterhielten sich auf eher oberflächliche und unpersönliche Weise. Anfangs war es genau das, was Dana wollte: allem aus dem Weg gehen, was ihre angespannten Emotionen zum Ausbruch bringen könnte. Nach einer Weile fand sie es jedoch armselig – ja herzlos –, über den frisch gefallenen Schnee in Vermont zu reden, während so viele wichtige Themen unter der Oberfläche ihres Gesprächs pulsierten. »Wie geht es Ihrer Tochter?«, fragte Dana plötzlich. »Der Medizinstudentin.«

Tonys gebräunte Wangen rundeten sich zu einem Grinsen. »Viel besser!«, sagte er, offenbar ebenso erleichtert wie sie, dass sie aufhörten, über entfernte Wetterlagen zu sprechen. »Sie hat ein oder zwei Tage frei bekommen und …«

»Hallo?«, rief eine Männerstimme von der Anmeldung her. »Jemand zu Hause?«

»Ich gehe«, sagte Tony und legte sein Sandwich auf das Papier.

»Nein, ich«, beharrte Dana, als sie beide auf die Anmeldung zugingen. »Ich habe vergessen, den Riegel vorzuschieben, als Marie ging.«

Tony war ihr einen Schritt voraus und sagte zu dem Mann: »Tut mir leid, wir haben über Mittag geschlossen.«

Als Dana kurz darauf in Sicht kam, sagte der Mann: »Da ist ja mein Mädchen!«

Es war Jack, der mit seinen breiten Schultern und seiner lauten Stimme den Wartebereich ausfüllte. Er trug eine bordeauxrote Krawatte mit einem schwindelerregenden Muster aus kleinen braunen Fußbällen. Als er sah, dass Dana sie entdeckt hatte, fragte er: »Gefällt sie dir? Hab ich letztes Jahr von meiner Mannschaft bekommen. Hervorragender Gesprächsgegenstand bei Autokäufern. Außer es sind Frauen oder Ausländer oder was immer.«

Dana hoffte, dass man ihr nicht ansah, wie peinlich ihr das war, als sie ihn Tony vorstellte.

»Freut mich, Sie kennenzulernen, Dr. Sakimoto.« Jack sprach den Namen »Säcki-mou-tou« aus, so als gehörte er selbst zu dem wilden Haufen von Soldaten aus der Militärkomödie McHale’s Navy und Tony wäre Fuji, der kleine Koch. Flüchtig drückte er Tony die Hand und wandte sich Dana zu. »Geh’n wir!« Er grinste.

»Gehen?«

»Ich entführe dich zum Mittagessen. Auf keinen Fall warte ich noch eine Woche, um dich zu sehen.«

»Was für eine schöne Idee«, sagte sie rasch. »Aber leider ist meine Pause schon fast vorbei. Tony und ich wollten gerade wieder an die Arbeit gehen.« Sie sah Tony an, der glaubhaft nickte. »Lass uns heute Abend reden, okay?« Sie nahm Jack beim Arm und machte sich mit ihm auf den Weg zur Tür.

Doch Jack wollte sich noch nicht geschlagen geben. Er wandte sich an Tony. »Hey, Dr. Sakimoto, mein Freund. Können Sie diese hübsche Dame nicht für eine Stunde von ihrer Verantwortung entbinden? Danach wird sie ganz bestimmt extra viel arbeiten.« Und dann zwinkerte er sogar.

Tonys Gesicht nahm einen Ausdruck freundlicher Verwirrung an. »Also, sie arbeitet auch so schon ziemlich viel, Jack.«

»Ganz bestimmt tut sie das, aber jetzt braucht sie erst einmal was zwischen die Kiemen.« Er drehte sich wieder zu Dana um. »Stimmt’s, mein Schatz?«

Dana wäre am liebsten im Boden versunken. Was glaubte Jack eigentlich, wer er war? Wie kam er dazu, an ihrem Arbeitsplatz aufzukreuzen und ihren Chef so plattzuwalzen? »Ich kann wirklich nicht weg, Jack«, sagte sie. »Ich musste mir diese Woche schon mal freinehmen und ersticke jetzt in liegengebliebenen Dingen.«

»Ach, jetzt komm schon.« Er simulierte einen Schmollmund. »Jetzt bin ich schon den ganzen Weg hierhergefahren und überhaupt …«

»Ich weiß, und ich fühle mich auch wirklich geschmeichelt, aber leider kann ich einfach nicht.«

Der jungenhafte Schmollmund verschwand, und in seinen Augen sah sie Wut aufblitzen. »Ich hab ja nur versucht, romantisch zu sein«, murmelte er. Dann warf er Tony einen ungehaltenen Blick zu und ließ sich von Dana zur Tür bringen.

Sie begleitete ihn zu seinem PS-starken schwarzen Geländewagen und erlaubte ihm, sie heftig und mit zu viel Zungenkreisen zu küssen, während sie befürchtete, von Patienten, die zu früh kamen, gesehen zu werden. Während sie sich auf dem Weg zurück in die Praxis den Mund abwischte, dachte sie: Er küsst überhaupt nicht besser als alle anderen. Meine Maßstäbe sind nur niedrig.

Es war so beschämend, Tony gegenüberzutreten, der sich immer noch im Anmeldungsbereich aufhielt und gerade die älteren Zeitschriften aus dem Stapel zog, der aufgefächert auf einem Beistelltisch lag. »Alles geregelt?«, fragte er unschuldig, während er die Hefte in den Recyclingmülleimer hinter dem Tresen warf.

»Ich weiß gar nicht, wie ich mich bei Ihnen entschuldigen soll, Tony.«

Er schüttelte achselzuckend den Kopf, als wollte er sagen, es sei doch gar nichts gewesen.

»Nein, wirklich, ich weiß nicht, was er sich dabei gedacht hat!« Dana folgte ihm nach hinten in die Teeküche. »Er kann nicht einfach hier reinkommen … und davon ausgehen, ich würde …«

Tony setzte sich und nahm sein Sandwich in die Hand. »Sie hätten gehen können, wenn Sie gewollt hätten. Sie sind hier ja nicht in Geiselhaft.«

»Nach allem, wie er mit Ihnen geredet hat? Er war so« – Dana wedelte mit der Hand durch die Luft, als wäre das Wort eine Fliege, die sie fangen könnte – »einfach peinlich. Er hat Ihren Namen falsch ausgesprochen! Mit Absicht!«

Tony lehnte sich zurück und tupfte sich mit einer Papierserviette die Lippen ab. Dann streckte er seine kurzen Beine von sich und verschränkte die Arme. »Manche Typen sind eben so.«

»Wie denn?«

»So als müssten sie – wenn Sie den Ausdruck entschuldigen – in einem Kreis um alles herumpinkeln, was sie für ihr Eigentum halten. Er hat nur betont, dass er ein Anrecht auf Sie hat.«

»Ein Anrecht auf mich! Dabei sind wir erst seit ein paar Wochen zusammen!«

Tony zuckte die Schultern. Sie sah ihm an, dass er etwas dachte, was er nicht aussprach. »Manche Frauen mögen das«, sagte er nach einer Weile. »Einen Typen, der bestimmt, wo’s langgeht. Sie mögen diesen Höhlenmenschkram.«

»Also ich nicht.« Energisch rührte sie ihren Joghurt um. »Mir passt das ganz und gar nicht.«

Tony kratzte sich am Kinn. »Wie kommt es, dass Sie ihm erzählt haben, unsere Mittagspause sei vorbei? Und was haben Sie mit ›liegen gebliebenen Dingen‹ gemeint? Ihr Schreibtisch ist aufgeräumt.«

Wieder setzte sie ihren Löffel in Bewegung. »Ich … ich wollte einfach nicht.«

»Verständlich«, sagte er und setzte sich aufrecht hin, um sein Sandwich weiterzubearbeiten.

Der Motor des kleinen Kühlschranks sprang wieder an, und sein leises, wehleidiges Brummen erfüllte den Raum. An der Anmeldung klingelte das Telefon, verstummte jedoch, als der Anrufbeantworter ansprang.

»Er ist kein großer Redner«, sagte Dana.

»Nein?« Tony nahm einen Schluck Eistee. »Er schien doch ziemlich aus sich herauszugehen.«

»Nein. Er ist nur … Also, wir reden sonst über Dinge, die ihm vermutlich … leichter fallen.«

Tony nickte. »Wie zum Beispiel?«

»Ach, wissen Sie.« Wie was? Und warum ging ihre Unterhaltung mit Tony jetzt in diese Richtung? »Unterhaltsames«, sagte sie leichthin. »Sport, weil er Gradys Mannschaft trainiert hat. Er ist so toll mit den Jungs umgegangen.« Sie nagte an einer Salzbrezel. Verdammt, worüber redeten sie sonst noch? »Außerdem ist er wirklich ein fleißiger Verkäufer – mit seinen Kollegen schließt er Wetten ab, wer am meisten Autos verkauft.«

Tony holte Luft, hielt sie einen Moment an und ließ sie wieder entweichen.

»Was?«, fragte sie.

»Hmm?«

»Sie wollten gerade was sagen.« Dana verspürte einen Stich der Verärgerung.

Er zerknüllte das Sandwichpapier und warf es in den Mülleimer. »Nur dass er anscheinend lieber spricht als zuhört. Ich meine, das alles mit dem Sport und den Autos – das sind doch seine Themen, oder?«

Die Stiche der Verärgerung kamen jetzt in immer kürzeren Abständen, so wie wenn jemand mit einem Feuerstein auf einen Fels schlägt. »Wir reden auch über Dinge, für die ich mich interessiere.« Sie hasste den entrüsteten Klang ihrer Stimme und versuchte zurückzurudern. »Wir können aber auch nicht pausenlos über Zahnarzttermine reden, oder etwa doch?«, sagte sie kurz auflachend. »Das wäre ja todlangweilig.«

Seine Augenbrauen gingen nach oben. »Auf jeden Fall.« Er nickte. »Die reinste Spaßbremse.«

Dana seufzte frustriert. »Ich will Sie nicht beleidigen, aber ich weiß nicht, warum Sie so auf den Dingen herumhacken müssen.«

»Ich hacke doch nicht …«

»Doch, tun Sie. Sie stellen mir lauter bohrende Fragen, und am Ende komme ich mir vor wie eine Idiotin.« Sie schloss die Augen und schüttelte kurz den Kopf. Jetzt bin ich sauer, und weiß nicht mal, warum.

Er beugte sich vor, stützte die Ellbogen auf den Tisch. »Dana«, murmelte er. »Sie sind keine Idiotin, nicht im Geringsten. Und sollte ich Ihnen dieses Gefühl vermittelt haben, dann bin ich der Idiot.«

Sie atmete tief aus. Die Funkenbildung in ihrer Brust hörte auf. Unfähig zu sprechen, bat sie ihn stumm um Verzeihung. Er nahm an, wobei die Spur eines Lächelns seine Augenfältchen vertiefte. »Wissen Sie«, sagte er listig, »Sie werden denken, ich sei verrückt, aber die Art, wie Sie sauer auf mich werden – das ehrt mich. Wie als ich Ihnen diese Stelle angeboten habe, erinnern Sie sich? Ich vermute, allzu oft lassen Sie Ihren Ärger nicht raus.« Sein Grinsen wurde breiter. »Gibt mir das Gefühl, irgendwie etwas Besonderes zu sein.«

»Das weiß ich nicht«, sagte sie. »Zurzeit bin ich auf meinen Exmann ziemlich sauer.«

»Ja, aber er erzielt damit keine Punkte.«

»Warum nicht?«

»Weil er es verdient.«