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Als sie nach Hause kamen, machte Dana sich daran, die Zutaten für eine Truthahnpastete zusammenzusuchen. Sie hatte vor, zwei zu machen – eine für Mary Ellen McPherson und eine, die sie mit zu Jack nehmen wollte.

»Lass uns am Samstag bei mir zu Abend essen«, hatte er gesagt, als sie sich ein paar Tage zuvor zum Frühstück getroffen hatten.

Das hatte sie erst einmal irritiert. Könnte genauso gut sagen: »Komm, lass uns schnell essen und dann zum Sex übergehen«, hatte sie innerlich gegrummelt.

Doch dann hatte er sie so aufrichtig angelächelt und gesagt: »Es wird toll, einfach zusammenzusitzen und zu reden, ohne irgendwelche Ablenkungen oder Gehetze oder so.« Worauf sie weich geworden war und freudig eingewilligt hatte.

Jet rief an. Sie hatte ihre Meinung geändert und wollte jetzt doch mit zu der Wanderung des Wilderness Clubs. Alder grinste – »Sie wird es hassen!« – und fuhr zu Jet, um bei ihr zu übernachten, damit sie auch wirklich pünktlich aufstand und nicht in Flip-Flops aus dem Haus ging.

Als das Essen fertig war und die beiden Pasteten in Kartons im Kofferraum des Minivans standen, machte Dana sich auf den Weg zu den McPhersons. Sie bedauerte, die Todesanzeigen nicht gelesen zu haben, um zu sehen, ob Dermott McPherson womöglich inzwischen seiner Krankheit erlegen war. Einmal hatte sie einer älteren Dame, deren Schwester an einem Lungenemphysem erkrankt war, Essen gebracht und feststellen müssen, dass die Schwester am Vortag verstorben war. Unverheiratet und kinderlos hatten sie über achtzig Jahre lang friedlich in dem Haus zusammengelebt, in dem sie geboren waren.

Als Dana mit ihrem gebackenen Heilbutt angekommen war, hatte die Frau ihr die Tür geöffnet und den Blick auf ein von Verwandten wimmelndes Haus freigegeben. Dana hatte munter gefragt: »Wie geht es Ihrer Schwester?« Die Frau hatte kurz einen Blick in das überfüllte Wohnzimmer hinter sich geworfen, bevor sie auf ihre abschüssige Veranda getreten war und gemurmelt hatte: »Sie wurde erlöst.« Dann hatte sie sich eine knotige Hand vor den Mund gehalten und lautlos geweint. Es war einer der schrecklichsten Momente, die Dana je miterlebt hatte. Und weder durch Worte noch durch Gesten war sie darauf vorbereitet gewesen, weshalb sie nichts anderes hervorgebracht hatte als: »Es tut mir so leid … Es tut mir wirklich leid …« Eine Minute später hatte sich die Frau wieder gefasst, hatte die Aluform mit dem Fisch genommen und war ins Haus zurückgegangen.

Jetzt, wo Dana in die enge Straße einbog, in der die McPhersons wohnten, dachte sie angestrengt darüber nach, was sie zu Mary Ellen sagen könnte, falls ihr Mann tatsächlich verstorben war, aber alles klang banal und abgedroschen. Mein herzliches Beileid … Ich schließe Sie in meine Gebete ein … Jetzt hat er keine Schmerzen mehr … Dana schnaubte frustriert.

Als sie dann mit dem Pastetenkarton in der Hand und der Tüte mit den Beilagen am Arm auf der Eingangsstufe stand, war sie nahezu überzeugt, dass Dermott McPherson wirklich gestorben war. Deshalb war sie umso überraschter, als ein Mann ihr die Tür öffnete.

»Sie müssen die gute Hexe von Cotters Rock sein«, sagte er in freundlichem Ton, auch wenn sein Gesicht kalt und blutleer zu sein schien, als drückten sein Kinn, seine Stirn und seine Wangenknochen zu fest gegen seine Haut. Er war vermutlich nicht älter als vierzig. Dana machte den Mund auf, um zu antworten, doch es kam nichts heraus. Schmunzelnd hielt er ihr die Fliegengittertür auf. »Schon okay. Mellie sagt, niemand kapiert meine Witze.«

»Mellie?« Dana fragte sich für einen Moment, ob sie vor der falschen Tür stand.

»Meine Frau, Mary Ellen.« Er nahm ihr den Karton ab und stellte ihn auf den kleinen Tisch neben der Tür. »Sie hat gesagt, sie hätte Sie getroffen.«

»Oh! Ja, genau.«

»Ich bin Dermott.« Er streckte ihr die Hand hin. »Die ist zwar kalt«, warnte er sie, »aber sie funktioniert immer noch.« Und tatsächlich war die Hand eisig. Das glich Dermott dadurch aus, dass er fest zupackte und ihre Hand so kräftig schüttelte, dass davon sogar ihr Arm bebte. Er schielte so zu der Pastete, als würde er einen Gegner abschätzen. Dann stieß er einen resignierten Seufzer aus. »Macht es Ihnen was aus, das für mich zu tragen?« Seine Jogginghose schlabberte ihm gefährlich um die Hüften, und er zog sie, bevor er sich umdrehte, bis zur Taille hoch. »Ich bin zurzeit ein bisschen wackelig auf den Beinen.«

Dana folgte ihm durch das vollgestopfte Wohnzimmer in die Küche. »Wie geht es Ihnen?« Im selben Moment biss sie sich auf die Lippen. Ihre Mutter hatte diese Frage in ihren letzten Tagen gehasst, als sie, verlassen wie ein winziger Eisberg in einem endlosen Meer, an ihr Bett gefesselt war. Daraus hatte Dana gelernt und akzeptierte seine knappe Antwort – »Ich stehe auf zwei Beinen und atme« – als angemessenen Tadel.

Dermott wandte sich ihr zu, um zu sehen, ob er sie gekränkt hatte, und sie erwiderte seinen Blick mit einem verständnisinnigen Nicken. Darauf schüttelte er kurz reumütig den Kopf. »Was kann ich Ihnen anbieten?«, fragte er. »Tee? Saft? Ein Gläschen Tequila?«

Sie lachte, wohl wissend, dass sie ihm den Gefallen tun musste, und nahm seine unausgesprochene Entschuldigung an. »Dieser Tequila klingt ja gut, aber wenn ich jetzt damit anfange, schlafe ich um acht, oder?« Sie holte das Essen aus der Tüte und legte alles auf die Küchentheke. »Aber Sie können sich gerne ohne mich bedienen, wenn Sie möchten.«

»Ja.« Er grinste. »Als würde in meinen Adern nicht schon genug Giftmüll rumschwimmen.« Er machte die Herdplatte unter dem Wasserkessel an und sank auf einen der zerkratzten Holzstühle. Mit einem Finger fuhr er langsam einen Strich nach, den jemand mit grünem Filzstift auf den hellen Holztisch gemalt hatte.

»Wo sind denn die anderen?«, fragte Dana, während sie sich umdrehte, um sich an die Theke zu lehnen. »Sonst ist hier doch immer ziemlich viel los.«

»Sie hat die Kinder für zwei Stunden zu einer Freundin gebracht.« Er schob einen Ellbogen auf den Tisch und stützte den Kopf in die Handfläche. »Wollte, dass ich mich ausruhe.«

»Und dann komme ich und halte Sie davon ab.« Hastig griff sie nach der Plastiktüte.

»Nein, halt«, sagte er. »Ich wollte nicht, dass Sie … Ich meine nur … Bitte setzen Sie sich doch.«

Dana hörte auf, die Plastiktüte in ihre Handtasche zu stopfen. Der Wasserkessel pfiff. Sie sah Dermott an, doch er stand nicht auf. Fragend zog sie die Augenbrauen hoch. Er lächelte erleichtert zurück. »Im Kühlschrank sind Zitronenschnitze. Bitte legen Sie mir einfach einen davon in heißes Wasser.« Rasch fügte er hinzu: »In dem Schrank da neben dem Herd gibt es auch richtigen Tee, wenn Sie möchten.«

Sie trug die neue Bluse, die Nora ihr geschenkt hatte, und wollte nicht riskieren, Tee darauf zu verschütten. Nachdem sie zwei Tassen mit heißem Wasser und jeweils einem Zitronenschnitz gefüllt hatte, setzte sie sich und fragte: »Warum trinken wir das jetzt?«

Er lachte. »Irgend so ein Käse aus der fernöstlichen Medizin, soll die Leber reinigen. Mellie verbringt die halbe Nacht im Internet auf der Suche nach Wundermitteln.«

Na klar tut sie das, dachte Dana. Sein Gesicht veränderte sich, wurde dunkler, und sie konnte sein Bedauern darüber erkennen, dass er einen Witz auf Kosten seiner Frau gemacht hatte. Er sah zu Dana auf, und sein direkter Blick in ihre Augen bereitete ihr leichtes Unbehagen. Sie kam sich vor wie bei einer Sichtkontrolle für den Geheimdienst. Dann blickte er hinunter auf das dampfende Wasser in seiner Teetasse und tauchte mit der Fingerspitze den schwimmenden Zitronenschnitz unter. »Ich vermisse sie schon«, murmelte er. Dana wusste, dass er nicht heute meinte. »Es ist, als wäre ich schon weg«, fuhr er fort, »und hätte ein ganzes Leben ohne sie alle vor mir.«

Dana spürte, wie ihre Augen brannten – seine Worte waren so unendlich traurig, dass sie unweigerlich weinen musste. Als er zu ihr aufblickte, wollte sie sich entschuldigen, wollte sagen: Sie müssen bedrückte Gesichter dermaßen leid sein! Doch ihre Kehle war wie zugeschnürt.

»Warum machen Sie das?«, fragte Dermott sie, anscheinend unberührt von der Trauer, die sie so verzweifelt zu verbergen suchte. »Ich muss hier sein, Mellie auch, und meine Freunde und Familienangehörigen dürften sich ebenfalls dazu verpflichtet fühlen. Aber Sie sind eine Fremde. Sind Sie wirklich so nett, dass Sie immer wieder bei einer Familie auftauchen, die Sie nicht einmal kennen und die so heillos überfordert ist?«

Ihrer eigenen Stimme gegenüber immer noch misstrauisch, zuckte Dana die Schultern und versuchte es mit einem schwachen Lächeln.

»Es tut mir leid«, sagte er, als hätte er ihren Zustand gerade erst bemerkt. »Aus irgendeinem Grund belästige ich Fremde mit …«

Dana sah ihn kopfschüttelnd an. »Meine Mutter«, sagte sie leise, ihre Stimme testend, als beträte sie einen zugefrorenen Weiher. »Meine Mutter hatte Lungenkrebs. Sie war alt, und die meisten ihrer Freundinnen waren verstorben oder hatten sich irgendwohin zurückgezogen. Niemand kam zu ihr. Niemand half. Es war anstrengend. Meine Schwester war manchmal da, aber sie arbeitete und konnte deshalb nicht täglich kommen. Meistens nur am Wochenende.« Das Brennen hinter Danas Lidern wurde stärker. »Ich vermisse meine Mutter«, sagte sie, »aber ich habe mich nie gefragt, ob sie mich vermisst. Ich bin wohl davon ausgegangen, dass sie, wo immer sie sich befindet, einfach … glücklich ist.«

Dermott lächelte bitter. »So steht es in der Broschüre.« Wieder fuhr er den mit Filzstift gezogenen Strich nach und sagte: »Wie könnte ich ohne sie glücklich sein? Wie sollte das denn gehen?«

Als Dana sah, dass seine Augen glasig und feucht wurden, streckte sie über den Tisch hinweg die Hand aus, um ganz leicht die seine zu umfassen, und er ließ sie gewähren. So saßen sie vielleicht eine Minute, doch sie empfand diesen Moment als den längsten, stillsten ihres Lebens.

»Mensch«, sagte Dermott schließlich, zog seine Hand zurück und wischte sich flüchtig über die Augen, »man sollte meinen, dass bei mir nach den ganzen Brechanfällen kein Tropfen mehr übrig ist.«

»Ziemlich übel, was?«

»Tja, es ist ein Experiment. Die ganzen normalen Sachen hab ich schon hinter mir, und jetzt versuchen sie es, glaube ich, mit Haushaltsreinigern. Bin ziemlich sicher, dass es sich bei der letzten Runde um Tilex oder Drano gehandelt hat.«

Sie lächelte über seinen schwarzen Humor. »Vielleicht glauben die, Sie seien aus glasiertem Porzellan.«

»Und das ist einfach ein richtig schlimmer Fall von Kalkablagerung.« Er grinste.

Von ihrem gemeinsam empfundenen Kummer einigermaßen erholt, plauderten die beiden noch ein paar Minuten. Als das heiße Zitronenwasser alle war, trug Dana die Tassen zur Spüle.

»Mrs Stellgarten«, sagte er, nachdem er sich erhoben hatte, um sie zur Tür zu bringen. »Ähm, ich weiß, das ist eine riesige Gefälligkeit und verstößt womöglich gegen irgendwelche Regeln … aber könnten Sie das Essen wohl noch ein Weilchen länger bringen … hinterher? Vielleicht noch für zwei Wochen? Sie sind hier so was wie die Mjam!Mjam!-Königin, und ich glaube, sie werden es gebrauchen können.«

»Natürlich«, sagte Dana, als sie an der Tür ankamen.

»Und noch was …« Verlegen wandte er den Blick ab, ehe er sich zwang weiterzusprechen. »Könnten Sie Mellie erzählen, was ich gesagt habe … dass sie alle mir fehlen? Ich könnte mir denken, dass sie gerne wissen möchte, dass sie nicht die Einzige ist, die … den Verlust empfindet.«

»Ganz bestimmt«, murmelte sie.

Zum Dank nickte er und machte die Tür auf. »Und jetzt ab mit Ihnen, gute Hexe. Sie müssen ja noch ein heißes Rendezvous haben.« Er lachte über ihre verdutzte Reaktion und fügte hinzu: »Na, so eine Bluse ziehen Sie doch garantiert nicht an, um in den Supermarkt zu fahren.«

Auf dem Weg zu Jack versuchte Dana, nicht daran zu denken, wie Dermott McPherson aus dem Grab heraus seine junge Frau vermisste. Aber egal, worauf sie ihre Aufmerksamkeit lenkte – den bevorstehenden schulfreien Tag wegen des Veterans Day, den neuen BH, der sie etwas in die Rippen piekste, ihr erstes, ehemannloses Thanksgiving in fünfzehn Jahren –, ihre Gedanken kehrten immer wieder zu Dermott zurück und was er sich von ihr gewünscht hatte: Sie möge seiner Familie auch weiterhin Essen bringen und ihr versichern, dass er genauso unglücklich sein würde wie die Lebenden.

Jack wohnte in der Velvet Mill, einer alten Textilfabrik in Manchester, die man Anfang der Neunziger in Wohnungen umgewandelt hatte. Damals war das seinen Worten nach eine Spitzenadresse gewesen, und er hatte als einer der ersten einen Mietvertrag unterschrieben und sich ein »1a-Plätzchen« im obersten Stock gesichert. Sie trafen sich an seiner Wohnungstür, wo er sie mit seinen kräftigen Armen vollständig umfing und murmelte: »Wie kommt’s, dass du so spät dran bist?«

Eigentlich wusste sie gar nicht, warum sie sich entschloss zu lügen und zu sagen, eine Straße sei gesperrt gewesen und sie habe eine andere Route finden müssen. Klar war nur, dass sie nicht darüber reden wollte.

Nachdem Dana die Truthahnpastete zum Aufwärmen in den Ofen geschoben und sich Jacks Beiträge zu ihrem Mahl angesehen hatte – eine Tüte Tiefkühlmais, eine Schüssel Kartoffelchips und ein länglicher Laib Weißbrot mit der Aufschrift »Französisches Baguette!« auf der Papierbanderole –, war sogar sie es, die die Aktivität des Abends in Gang setzte. Sie wandte sich vom Anblick eingebrannten Fetts rund um die Herdplatten ab und drückte sich an seine Brust, die so fest und angenehm warm war wie eine sonnengewärmte Steinmauer.

Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, denn selbst in Stiefeln mit Absätzen war sie nicht annähernd groß genug, um ihr Gesicht auf eine Höhe mit seinem zu bringen. Doch erst als er sich zu ihr hinunterbeugte und sie seine vollen Lippen auf ihren spürte, konnte sie endlich die Vorstellung von Dermotts blutleerem Gesicht und seinen kalten Händen in einer fernen Ecke ihres Bewusstseins ablegen. Ihre Lippen öffneten sich, ebenso wie die von Jack, dessen Zungenspitze zunächst nur bis an den Rand ihrer Zähne in ihren Mund glitt, sich noch einmal zurückzog und dann etwas tiefer eindrang, bis sie ihn wie einen Baum besteigen und sich an der Sicherheit seiner Äste festklammern wollte. Er küsste gut, besser als jeder andere, und das war alles, woran sie hier und jetzt denken wollte.