Kapitel 22

Für den letzten Abend, an dem die Kommissarin hier ausgehen würde, hatte sie ihre Sache besonders gut gemacht: Sie hatte sich getraut, den Pareo anzuziehen und mit einem sehr eng anliegenden weißen T-Shirt zu kombinieren, dazu hatte sie ein ausdrucksvolles Make-up aufgelegt. Sie fühlte überraschte Blicke auf sich, als sie den Nachtclub betrat, ignorierte sie aber. Der Einzige, auf den es ankam, war ihr Mitarbeiter. Er erschien kurz nach ihr und starrte sie an, während sie ihn mit einer entschlossenen Geste an ihren Tisch zog.

»So habe ich Sie noch nie gesehen, Viviane.«

»Ich mich auch nicht. Sehen Sie gut hin, Willy, ein zweites Mal wird es nicht geben.«

Auf der Tanzfläche drängelte man sich schon, und verschiedene junge Mädchen hatten Willy aufdringlich angezwinkert, woraufhin Willy lässig zurückzwinkerte. Wie schaffte er es, Gefühle so treffend auszudrücken, indem er nur kurz das Augenlid schloss? Die Botschaft war jedenfalls klar: Bin in Gesellschaft, nicht stören.

Die Kommissarin und ihr Lieutenant beobachteten die Kunden und versuchten zwischen Salsa-Kunden und Drogen-Kunden zu unterscheiden.

»Ist das nicht lustig: Alles ist, wie wir es heute Morgen besprochen haben, ein bisschen, als würden wir den Film sehen, nachdem wir schon das Drehbuch gelesen hätten.«

»Ja, einige haben schon ihre Kreditkarte in der Hemdbrusttasche, bereit für die Lines – obwohl es an der Bar kein Kartenlesegerät gibt. Das hätte uns auffallen müssen.«

Alles, was sie beobachteten, brachte sie zum Lachen. Ein seltsames Lachen, voller Nostalgie. Sie sahen die flirtenden Heydudas, die Chéris, die mit konspirativen Mienen an der Bar anstanden und dann im angrenzenden Wald verschwanden. Es war charmant.

»Sehen Sie, Willy, es sind Zecher-Kokos Heydudas, die die Kunden anschleppen. Eine klassische Falle, in die man auch Sie am ersten Abend zu locken versucht hatte. Der Kunde wird angemacht, man bittet ihn um Geld, nur so viel, dass es für eine Line reicht, dann schlägt man vor zu teilen. Das Täubchen sagt Ja, aus Neugier. Der Stoff ist gut, es findet Geschmack daran. Und los geht’s.«

Der Lieutenant lächelte. An diesem Abend schien ihn alles zu amüsieren. »Unter den Kennern muss dieses Dorf einen verdammt guten Ruf haben. Lindos, die weiße Stadt, was für ein Name, was für eine Werbung! Die Weiße, Viviane, die Weiße! Wie ein blinkendes Neonleuchtschild …«

Die Kommissarin antwortete nicht. Sie beobachtete die Aktivitäten an der Bar. Man schenkte dort nur Bier aus. »Merkwürdig. Wenn an der Bar Bier gekauft wird, gehen manche mit einem Bierdeckel los, aber ohne Glas. Andere wieder gehen mit Glas, aber ohne Bierdeckel los. Gehen Sie mal alleine Salsa tanzen, in der Nähe der Bar. Ich glaube, ich weiß, wie es läuft.«

Viviane blickte Willy nach, der in Schlangenlinien zur Bar tanzte. Er tanzte sehr gut allein, wozu sollte sie ihm Gesellschaft leisten? Zwei Minuten später kam er ganz erfreut wieder.

»Richtig beobachtet, Commissaire: Die Koks-Tütchen sind unter den Bierdeckeln festgeklebt. Zecher-Koko nimmt sie aus einem großen blauen Karton, der bei ihm auf dem Boden steht. Das war es, was der Taubstumme uns erklären wollte.«

»Gut, aber egal, es ist nicht mehr unser Fall. Was ist, tanzen wir Salsa?« Viviane stand auf. Alle Frauen sahen sie spöttisch an, auch die dunkelhaarige mit den Kanonenkugelbrüsten. Sie würde sich lächerlich machen. Sie sagte das leise zu Willy, der sie sehr komisch fand.

»Ach kommen Sie, lassen Sie uns lachen, Viviane, es ist unser letzter Urlaubsabend!« Er zeigte ihr die Grundschritte, die Seitschritte, das Aufsetzen der Füße, den Mambo nach vorn, nach hinten, zur Seite. Salsa war einfacher als Tango. Die einzige Schwierigkeit bestand darin zu tanzen. Es gelang ihr nicht, in die Musik hineinzufinden. Sie hielt Willy an der Hand, die andere hatte sie auf seiner Schulter abgelegt, Willy gab sich alle Mühe.

»Das ist wie Joggen, Viviane. Lassen Sie Ihren Körper machen, lassen Sie ihn alleine tanzen.«

Sie gab nicht auf, aber sie wurde immer aus dem Rhythmus geworfen. Die Beats und Zwischenbeats verwirrten sie.

»Stützen Sie sich auf mich, sehen Sie mir in die Augen, nehmen Sie meinen Rhythmus auf, lassen Sie sich gehen. Spüren Sie nichts?«

Wie lange war es her, dass ein Mann ihr so aufregende Worte gesagt hatte? Sie erlaubte ihrem Körper, sich dem Rhythmus ihres Partners anzupassen. Er war so nett.

»Sehen Sie, Viviane, es kommt, es kommt, los, zusammen!«

Er war süß. In wenigen Stunden würden sie den Flieger nach Paris besteigen. Dann wäre das Abenteuer vorbei.

Es blieben ihr nur diese wenigen Stunden mit Willy, die wollte sie nicht vergeuden. Sie tanzte mit ihm Salsa, alle Salsas, bis geschlossen wurde. Diese Salsa-Nacht würde sie nie vergessen.

Der Nachtclub machte zu und Zecher-Koko ließ seine Heydudas alles aufräumen. Sie sahen, wie er mit dem großen blauen Karton unterm Arm davonging.

»Schnell«, rief Willy, »kommen Sie mit.«

Ohne zu begreifen, lief sie ihm hinterher. Ihr Lieutenant machte mit ihr eine Runde durch den Wald und an den Lodges der Chéris vorbei. Was hatte er vor? Er hörte erst auf zu rennen, als sie wieder auf den Weg kamen, da verstand sie endlich: Zwanzig Meter hinter ihnen ging Zecher-Koko, im Mondschein.

»Das habe ich in der Polizeischule gelernt, Commissaire. Die unauffälligste Art, jemanden zu beschatten, ist, vor ihm zu gehen. Ich möchte wissen, wohin er seinen blauen Karton räumt.«

Der Lieutenant hatte ihr den Arm um die Schultern gelegt. Sie hatte sich noch etwas dichter an ihn geschmiegt, aber natürlich nur, um Zecher-Koko auszutricksen. Als sie die Tür zu ihrer Lodge aufschloss und Willy eintreten ließ, sagte sie ihm nur: »Schauen Sie sich nicht um, es ist unordentlich.« Es gab ohnehin Besseres zu sehen. Sie liefen ins Badezimmer, ohne dort das Licht einzuschalten, um Zecher-Koko durch das Seitenfenster zu beobachten. Zwei Lodges weiter kehrte der jetzt zurück in sein trautes Heim.

»Aha, er stellt das alles zu Hause ab und geht schlafen. Und wir, was machen wir jetzt?«, murmelte Willy.

Bei dieser Frage bekam Viviane Gänsehaut. Nur nicht das Licht einschalten, sonst hätte der Lieutenant gesehen, wie rot sie geworden war. Sie schwieg. Er atmete sehr laut, es störte sie aber nicht mehr. Das Schweigen hielt einige Sekunden an, dann unterbrach es der Lieutenant. »Haben Sie gehört?« Er fasste sie an der Schulter, wieder quetschten sie sich vor das Fenster. Zecher-Koko ging wieder los. Bevor er das Außenlicht löschte, hatten sie erkennen können, dass er einen dicken Pullover übergezogen hatte und einen Regenmantel unterm Arm trug. Der Bärtige hatte ein Talent dafür, immer die besten Momente kaputtzumachen.

Viviane wusste nicht mehr, was sie sagen oder tun sollte. Was erwartete Willy? Sie zitterte, als er erklärte: »Er fährt hinaus aufs Meer, um die Lieferung zu holen, die er gestern verpasst hat, weil er das Dingi nicht nehmen konnte. Wir haben alle Zeit der Welt.«

Ja, sie hatten alle Zeit der Welt, er sagte das so schön mit seiner warmen Stimme. Viviane nahm ihn an der Hand und schleifte ihn ins Zimmer.

»Wissen Sie, womit wir anfangen werden?«, fragte der Lieutenant sie entschlossen.

Sie wusste es nicht, aber es würde ihr sicher gefallen. Sie antwortete nicht, warf ihm stattdessen einen vielsagenden, frivolen Blick zu.

»Wir werden seinem Zuhause einen ausführlichen Besuch abstatten. Ich bin sicher, dass er dort ein paar Überraschungen für uns parat hat.«

»Aber Willy«, antwortete sie tonlos, »wir sind nicht mehr befugt, in diesem Fall zu ermitteln. Die Anordnungen des Allmächtigen sind eindeutig: Wir sollen schlafen. Schlafen …«

Er schüttelte den Kopf, wie ein störrisches Kind. Der Fall war nicht mehr ihre Sache, aber der .45-Colt, den man ihnen gestohlen hatte. Dieser Diebstahl, erklärte er, hindere ihn am Schlaf. Drei Minuten später standen sie vor Zecher-Kokos Tür. Willy holte den Generalschlüssel aus seiner Tasche und drängte sich vor sie.

»Machen Sie kein Licht an«, befahl Viviane, »man könnte uns von draußen sehen.«

Die kleine Taschenlampe vom Schlüsselbund gab nur schwaches Licht, aber es genügte ihnen. Der Raum war spärlich möbliert. Sie durchsuchten eine Kommode, die ausschließlich pornografische Literatur enthielt, eine Lade mit etwas Wäsche – schmutziger Wäsche vor allem, die den zweifelhaften Geruch eines ungepflegten alleinstehenden Mannes ausströmte. Willy schlug die Schranktür mit einer Grimasse zu, Viviane machte sie wieder auf und nahm einen schmutzigen Lappen oben vom Stapel.

»Das ist der Lappen, in den der Colt eingewickelt war. Wir haben richtig vermutet, Willy. Weiter.«

Sie fanden zwar nicht die Pistole, dafür aber den blauen Karton, in einem großen Koffer. Er enthielt viele große Scheine und kleine weiße Tütchen.

»Das ist wahrer Reichtum«, merkte Viviane nüchtern an. »100 Euro für ein Gramm! Die Scheine sind dagegen wie Taschengeld.«

Willy schaute die Portionen an, dann die 100-Euro-Scheine. Sie erriet, was er dachte, wartete, dass er etwas sagte.

»Sie wissen doch, Commissaire, dass wir nicht im Dienst sind? Den wahren Reichtum wollen wir nicht anfassen, sein Besitz wäre strafbar. Aber was ist mit dem Taschengeld? Wer würde davon erfahren? Zecher-Koko würde uns nicht anzeigen. Warum sollten wir uns zurückhalten? Sie sagten es ja selbst: Wir sind nicht die Guten, nicht mal die Netten.«

Die kleine Taschenlampe erleuchtete nur die Scheine, Viviane war darüber erleichtert, Willy sollte sie nicht sehen. Sie zitterte vor Verlangen, vor Aufregung. Sie hatte sich selbst immer als ehrlich bezeichnet, hatte nie das geringste Geschenk angenommen, keine Einladung zum Essen, noch nie einen Strafzettel gelöscht. Und plötzlich fragte sie sich, bis wohin es vernünftig war, ehrlich zu sein.

Ganz unbedarfter Verführer fuhr Willy fort: »Der Fall ist zu Ende, wir haben uns dafür abgemüht, aber das ist nichts gegen das, was uns nach unserer Rückkehr erwartet: kein Dankeschön, kein Bravo. Nur Anschnauzer und wahrscheinlich eine Abmahnung. Wir machen einen Job, für den es nie einen Bonus gibt. Das ist hart, oder? Vor allem angesichts von so viel Kohle.«

Im Lager gegenüber, dem Lager der Banditen und Erpresser, scheffelte man solche großen Summen täglich. Und im Lager über ihnen? Mit seinen Langusten, Limousinen, Impedimenten? Im Lager derer, für die sie nur brave Soldaten waren, oder arme Deppen? Wie hoch musste man im Staatsapparat aufsteigen, um große Seelen zu finden, die sich damit begnügten, Koffer zu öffnen, in Würde nachzuzählen, ohne sich die Hände schmutzig zu machen? Sie wusste es nicht, hatte es nie wissen wollen.

»Wir sind nicht mehr befugt, die Ermittlungen zu führen, Viviane, wir sind nur noch Touristen. Ich bin das nicht gewohnt. Was macht man in solchen Fällen?«

»Ach, Willy …« Sie hatte das in einer Art und Weise ausgesprochen, die ihren Worten keinen Sinn verlieh. Wie würde er das verstehen? Ihre einzige Sorge war, sie könnte den Lieutenant enttäuschen. Aber enttäuschte sie ihn eher mit einem Ja oder mit einem Nein? Dieser Kerl hatte zu viel Einfluss auf sie, ob er sich dessen bewusst war? Sie musste einen Ausweg aus der Falle finden, schnell. Etwas anderes vorschlagen. Action. »Nein, Willy, die Ermittlungen sind nicht erledigt. Wir können jetzt nichts entscheiden. Ich erinnere Sie daran, dass Zecher-Koko gerade seine Einkäufe erledigt. Fangen wir ihn bei seiner Rückkehr ab, dann können wir auch seine Geschäfte besser beurteilen.«

Der Lieutenant schloss den Karton mit einem breiten Lächeln. Die Idee gefiel ihm! Action! Innerlich bereute Viviane diesen Vorschlag bereits. Warum hatte sie ihm stattdessen nicht vorgeschlagen, in ihrer Lodge abzuwarten? Wie hatte sie diese Gelegenheit nur vorbeiziehen lassen können? Zu spät: Er hatte den Schatz wieder in den Koffer gestellt, um zum Kampf aufzubrechen.

»Ich habe meinen Speer im Segel-Bungalow gelassen, und Sie?«

Sie ging bei sich vorbei, um dort die Axt von neulich Abend zu holen, sie war unglücklich. Was wollte sie damit? Angenommen, es gelänge ihnen, Zecher-Koko abzufangen: Wie sollte sie dem Allmächtigen ihren Eingriff erklären? Sie stellte Willy diese Frage, der sie mit einer Handbewegung abtat.

»Wir sagen, wir hätten die Nacht verliebt am Strand verbracht und waren überrascht, ihn dort anzutreffen.«

Die Nacht verliebt am Strand … Wie konnte er nur so grausam sein? War er dabei, das Feld abzustecken, sie einzustimmen? Ja, am Strand wäre es romantischer als in der Lodge …

Vivianes Puls beschleunigte sich, als sie beim Segel-Bungalow ankamen. Die kleine Lampe, die noch leuchtete, warf ihre verformten Schatten an die Wand. Sie glichen zwei Figuren aus einem Sandalenfilm, wie sie sich so gegenüberstanden, mit ihren Waffen. Sie wartete auf das »Und was machen wir jetzt?« und suchte nach einer Antwort, die ihn aus der Fassung bringen würde.

Aber Willy sagte nur: »Lassen Sie uns ein Nickerchen machen. Er wird uns bei seiner Rückkehr mit seinem Motorengeräusch wecken.« Er legte sich auf die Segelsäcke und schlief sofort ein.

Sie konnte die Augen nicht von ihm abwenden. Er war schön, berührend. Dieser Typ mit seinen einfachen Freuden: laufen, werfen, springen, wahrscheinlich auch lieben. Jetzt war er nur noch ein Körper, der kräftig atmete, ein Körper, der Kraft tankte. Der Körper eines Mannes. Sie hatte ihn während des ganzen Aufenthaltes immer fast nackt gesehen, sie hatte seine Umarmung gespürt, den Geruch seiner Haut beim Tanzen geatmet. Da war er nun, unbeweglich, ruhig, ganz gewöhnlich angezogen. Sie schaute ihn fasziniert an, hoffnungslos, stand da wie ein Kind vor einem weihnachtlichen Schaufenster. Ein Geschenk, das zu schön war für sie. Sie löschte das Licht, um ihn verschwinden zu lassen, aber sein Atem war in dieser sinnlichen Dunkelheit noch präsenter als zuvor.

Zwei Stunden vergingen, dann hörte Viviane endlich den Motor. Sie weckte Willy und nahm ihn mit zum Strand hinter eine Jolle. Er hielt ihre Hand. Ein erregendes Bild aus ihrer Jugend überkam sie: das von dem Schiff in Perros-Guirec, wohin sie sich seinerzeit mit einem Jungen geflüchtet hatte. Sie zitterte, aber vor Kälte. Sie hatte nicht daran gedacht, dass es am Ufer so frisch sein würde.

Im hellen Mondschein fuhr das Dingi in die Bucht ein und kam näher. Zecher-Kokos Silhouette war am Ruder deutlich zu erkennen. Dann wechselte er plötzlich den Kurs und fuhr auf den anderen Felsen zu, wo das Amphitheater lag.

»Autsch, wir haben einen Fehler gemacht, wir haben das Licht im Segel-Bungalow gelöscht«, flüsterte Willy. »Am Ende des Ausflugs ›Das Meer unter dem Mond‹ hat er mir erklärt, dass dieses Licht ihm nachts zur Orientierung in der Bucht dient. Er muss Verdacht geschöpft haben.«

»Egal. Legen Sie sich hin«, flüsterte Viviane zurück. »Von dort, wo er ist, könnte er uns sehen.«

Zecher-Koko hatte den Motor aus dem Wasser gezogen und war ausgestiegen. Er zog das Dingi auf den Sand. Die Hand des Lieutenant drückte Vivianes fester.

»Haben Sie keine Angst, nicht zittern, ich bin da.«

»Ich habe keine Angst, mir ist kalt«, sagte sie. Und als wollte sie das Gesagte bestätigen, musste sie kurz husten.

»Ist da jemand?«, schrie Zecher-Koko und kam in ihre Richtung. Er war keine hundert Meter mehr von ihnen entfernt. Sie konnten ihn im Mondlicht sehen, die Pistole in der Hand.

»Wir müssen auf die andere Seite des Bungalows«, flüsterte Willy. »Er ist zu weit weg, um uns zu treffen, aber danach knallt er uns ab wie die Hasen.«

Sie standen auf, aber nicht schnell genug. Zecher-Koko war näher gekommen. Er streckte den Arm aus und schoss zwei Mal, über sie hinweg. Er kam noch näher und schoss zwei weitere Male: Die Kugeln flogen ihnen um die Ohren, während sie sich mit einem Sprung hinter den Bungalow retteten. Stille.

»Es waren noch sechs Kugeln im Magazin«, sagte Viviane. »Zwei für Königin und Animateur-Koko, plus vier für uns, Willy. Eigentlich könnten wir jetzt raus, er hat keine Munition mehr. Wenn er welche gekauft haben sollte, steht es schlecht um uns. Aber wir haben keine Wahl.«

Zecher-Koko hatte seine Waffe nicht neu geladen, er sprintete schon zum Dingi zurück. Willy jagte ihm hinterher. Viviane sah ihm fasziniert nach: So schnell konnte man also rennen! Auch sie gab ihr Bestes, weit hinter ihm, indem sie Willys Rat befolgte: »Lassen Sie sich gehen, Ihr Körper läuft auch ohne Sie gut«, aber ihr Körper kam nicht hinterher.

Zecher-Koko schob das Dingi ins Wasser, sprang an Bord und startete den Motor, der sofort ansprang. Als Willy auf seiner Höhe war, fuhr das Boot schon hinaus. Viviane sah, wie ihr Lieutenant zurückwich, seinen Speer schulterte und einen Arm nach hinten streckte, Anlauf nahm, den Ellenbogen halb beugte, um zum Wurf auszuholen und den Speer mit aller Kraft losschleuderte. Es war großartig.

Wie Viviane verfolgte Willy mit dem Blick die Flugbahn des Geräts. Der Versuch war hoffnungslos, sinnlos: Das Dingi war schon zu weit weg. Oder doch nicht? Der Speer flog auf das Dingi zu und begann seinen Sinkflug. Zecher-Koko blickte besorgt nach oben. Als er die Waffe anfliegen sah, verlangsamte er sein Tempo. Der Speer tauchte vor ihm ins Wasser.

Zecher-Koko hatte bei dem Manöver den Motor abgewürgt und versuchte, ihn neu zu starten. Willy schwamm in seine Richtung.

Viviane zog ihren Pareo aus und rannte in die Wellen, die Axt in der Hand. Sie kam kaum voran. Wie ging das noch? Was hatte Kiki-Platsch gesagt? Ach ja, in schlängelnden Bewegungen, mit den Schultern, mit den Hüften. Das Wasser in Schräglage angehen … Jetzt ging es viel besser. Das Wasser stand ihr bis zur Brust, jetzt musste sie schwimmen. Vor sich sah sie, wie Willy versuchte, an Bord zu klettern. Der Kampf der Gladiatoren hatte begonnen.

Zecher-Koko griff sich ein Ruder, um Willy damit einen Schlag auf den Kopf zu verpassen, aber der konnte ihm ausweichen, tauchte unter das Boot und versuchte, auf der anderen Seite an Bord zu kommen. Das war ein Fehler, Zecher-Koko hatte das vorausgesehen und erwartete ihn dort bereits. Er schlug mit voller Wucht zu. Viviane hörte das schreckliche Geräusch des Holzes auf Willys Kopf und dann seinen Schrei. Sie sah, wie Zecher-Koko gerade zum finalen Schlag ausholen wollte.

Aber es gab keinen finalen Schlag: Die Kommissarin war inzwischen nahe genug herangekommen, warf ihre Axt mit der Kraft der Verzweiflung. Es war idiotisch, so grotesk wie in einem Sandalenfilm, sie hatte beim Boule-Spielen niemals auch nur einen Punkt gemacht. Aber wie durch ein Wunder wirbelte die Waffe durch die Luft, knallte an Zecher-Kokos Kopf, und er brach zusammen.

Viviane packte Willy, der bewusstlos war und den Bootsrand bereits losgelassen hatte. Sie schob ihn mehr schlecht als recht an Bord, fischte den Speer aus dem Wasser, der vor dem Schiff schwamm, und kletterte selbst ins Boot, um es zum Strand zu fahren.

Es tagte schon. Die Kommissarin begutachtete Zecher-Kokos Wunde, die nur oberflächlich zu sein schien, dann beugte sie sich über Willy. Er blutete nicht, bewegte sich aber auch nicht. Sie holte ein dünnes Seil aus dem Bungalow, fesselte Zecher-Koko damit an Armen und Beinen, dann wusste sie sich nicht mehr anders zu helfen, als ein jämmerliches »Zu Hilfe!« zu brüllen.

Sie hörte ein »Ich komme!«, dann sah sie eine lange Silhouette, die gegen das Licht am Strand auftauchte.

Es war Lieutenant Augustin Monot.