Kapitel 11
Viviane kehrte dem leitenden Ermittler den Rücken und gönnte sich zur Beruhigung ein höchst kalorienreiches Frühstück, das sie bei der Lektüre der Lore Lay von Apollinaire zu verdauen suchte. Das Gedicht rutschte so gut, dass sie es auswendig lernte. Die Eier mit Bacon lagen ihr hingegen schwer im Magen. Es war idiotisch, jetzt würde sie die Kalorien bei der Aquafitness verbrennen müssen. Sie begab sich mit bußfertigen Schritten dorthin.
»Die Arme vor euch ausstrecken, jetzt rennen, rennen, über die ganze Beckenbreite«, kommandierte Kiki-Platsch. »Versucht es in schlängelnden Bewegungen, um schneller zu werden. Mit den Schultern, mit den Hüften. Geht das Wasser in Schräglage an, um besser vorwärtszukommen.«
Die gelehrigen Chéris schlängelten sich und gingen das Wasser in Schräglage an. Es waren nur Frauen. Ausgebreitet auf den Liegestühlen, betrachteten die Männer das Spektakel aus der Expertensicht, die Hände über den faltigen Wampen gekreuzt. Viviane hüpfte und verdrehte sich nun schon seit zwanzig Minuten, breitete die Arme aus, nach rechts, nach links und rundherum mit gestreckten Beinen. Zehn Minuten musste sie noch durchhalten: Sie wollte mit Platsch-Kiki sprechen.
»Hände auf den Beckenrand, Arme strecken, mit den Beinen schlagen, zweihundert Mal, zweihundert, ich zähle mit, eins, zwei, aber nein, meine Chéries! War nur ein Spaß, die Stunde ist vorbei«, schloss die junge Blonde schließlich. Etwas leiser ergänzte sie: »Wenn jemand von euch an Einzeltraining interessiert ist, dann sprecht mich an!«
Während die moppeligen Undinen sich zu ihren Liegestühlen begaben, ging Viviane zu Platsch-Kiki.
»Oh Viviane, das ist aber nett. Ich nehme 30 Euro die Stunde, an welchem Schwimmstil möchten Sie arbeiten?«
»Ich möchte nur an meinem Drehbuch arbeiten.« Sie erklärte ihr, dass sie in ihre Geschichte eine Episode einbauen wolle, die der letzten Begegnung mit King im Amphitheater glich. Platsch-Kiki erzählte ihr ohne große Begeisterung von dieser Episode. King sei auf einige notwendigen Verbesserungen ihrer Aktivitäten zu sprechen gekommen und habe ihr dann Fragen zu seiner Frau gestellt. Eine Aussage, die nichts Neues brachte. Als Antwort auf eine Frage von Viviane ergänzte die junge Frau, dass King lange weiße Handschuhe getragen habe und unter seiner goldenen Tunika eine Rheingrafenhose derselben Farbe.
»Eine Rheingrafenhose?«
»Ein Kostümbildner-Begriff – mein eigentlicher Beruf. Hier mache ich das nur abends, für die Aufführungen, sonst wäre ich nicht tragbar. Die Rheingrafenhose ist eine Art Kniehose mit Bändern. Man könnte sagen, eine Art Strumpfhose. Die Puppe hatte auch so eine an. Man hat die Beine zwar nicht gesehen, weil die goldene Tunika so lang war, aber ich habe darauf bestanden, von Berufs wegen, und für den Fall, dass Wind aufgekommen wäre.«
»Das Band an der Rheingrafenhose, schnürt man das am Knöchel?«
»Nein, das wird auf halber Wade angebracht. Außerdem schnürt man es nicht, es hat nur dekorativen Charakter.«
»Gut, Platsch-Kiki, ich werde Sie nicht länger nerven. Ach doch, noch eine Frage: Mein Freund Willy, muss der eigentlich auch 30 Euro zahlen?«
»Der? Nein, der ist zu süß.«
Viviane bedankte sich und ging zufrieden davon. Sie hatte gelernt, schlängelnd durch das Wasser zu rennen, sie hatte ihrem Wortschatz einen Begriff hinzugefügt, aber vor allem hatte sie begriffen, wie alle Welt hatte tanzen können, ohne zu erahnen, dass sich in der gehängten Puppe eine Leiche verbarg. Blieb nur diese Sache mit der Druckstelle am Knöchel, die sie umtrieb.
Viviane rief im Kommissariat an und verlangte Lieutenant Monot. Sie zeigte sich warmherzig, erkundigte sich nach seiner Gesundheit, seiner Stimmung, seinem Dienstbeginn. Er blieb einsilbig. Sie bat ihn, Informationen zu der verstorbenen Kokserin einzuholen. Ohne weiteren Kommentar notierte er sich die Adresse der Frau. Sie erzählte von dem Koks, das sie im Koffer gefunden hatten, er fragte schroff nach der Menge, lakonisch, schrecklich professionell. Und plötzlich wurde ihr klar: Augustin Monot war eifersüchtig.
»Die Ermittlungen gehen voran. Mit Ihnen wären sie wahrscheinlich schon abgeschlossen. Sie fehlen mir, Augustin. Sehr.«
»Kommen Sie, Commissaire, Willy Cruyff ist ein bemerkenswerter Lieutenant. Ich habe nur Gutes von ihm gehört. Entschuldigen Sie mich bitte, man erwartet mich.«
Er hatte aufgelegt, dieser Muffel. Begriff er nicht, wie sehr sie sich danach sehnte, ihn am anderen Ende der Leitung zu wissen, ihn zu hören – mehr noch als ihm etwas zu erzählen?
Sie dachte an die Geschichten dieser Frauen, die Urlaub in Deauville machten und noch das Bedürfnis hatten, ihren Gatten im Büro anzurufen, bevor sie der Versuchung nachgaben und sich in die Arme ihrer Tennislehrer flüchteten. Die Parallele war absurd, weder hatte sie einen Gatten, noch einen Liebhaber, auch kein Deauville. Und keine Versuchung. Sie hatte nur das Telefon und wusste nicht, wen sie anrufen sollte.
Sie ging in Richtung Bar, um dort Bekanntschaften zu machen, als ein Aufruf aus den Lautsprechern sie innehalten ließ: »Viviane, die Drehbuchautorin, wird am Empfang erwartet.«
Besorgt ging sie dorthin. War es Monot? Oder das Hauptkommissariat?
Eine Heyduda reichte ihr den Hörer, Viviane zog sich in eine Ecke zurück, um ungestört zu sein. Es war nur Willy. Im Hintergrund hörte man Geräusche von Gläsern, Flaschen, Unterhaltungsfetzen. Er rief aus einem Bistro an.
»Warum rufen Sie nicht auf meinem Handy an?«
»Weil ich Ihre Nummer nur in meinem gespeichert habe, und das habe ich im Zimmer vergessen.«
»Was gibt es denn so Dringendes?«
»Auf der Fahrt nach Rhodos hatte ich Zeit nachzudenken. Mit etwas Abstand wird alles viel klarer. Ich glaube, ich habe die Lösung. Der Mörder – das kann nur der Türke sein. Er ist der Einzige, der stark genug war, um die Leiche von King zu transportieren. Er hat ihn erstochen, während Animateur-Koko Königin holen gegangen ist, dann hat er ihn in seiner Schubkarre aus dem Amphitheater gebracht und unter den Berberitzensträuchern versteckt. Als die anderen zurückgekommen sind, konnten sie ihn natürlich nicht finden. Später, als alle weg waren, hat der Türke auf seinen als Henker verkleideten Komplizen gewartet – wahrscheinlich sein Sohn. Sie haben das zu zweit gemacht, anders wäre es nicht gegangen, die Leiche war zu schwer, sie haben ihn zu zweit oben am Galgen aufgeknüpft, mit dem gelben Seil, das ich unter der Bühne gefunden habe. Einer von beiden ist auf die Leiter gestiegen, um das Seil zu fixieren. Dann haben sie sich davongeschlichen, und hopp!«
»Bravo, Lieutenant, die Ermittlungen machen Fortschritte. Neulich war es ›bamm, bumm‹, und jetzt ist es ›und hopp!‹ Sagen Sie mir mal, wie heißt das in Ihrem Manga, wenn man mit einer Leiche, die über den Schubkarrenrand hängt, unbemerkt irgendwo vorbeiwill? Steht dann da psst? Und um die Verkleidung des Henkers zu holen und zurückzubringen? Und woher konnte der Türke wissen, dass Animateur-Koko lange genug weg sein würde, damit er King abmurksen und verstecken konnte? Wenn Sie weiter Ermittler spielen wollen, kommen Sie zurück zu Ihrer Kommissarin, anstatt in der Stadt herumzulungern.«
Sie legte auf, wütend auf Willy, aber vor allem auf sich selbst. Sie hatte keine Geduld, kein Verständnis. Sie war keine Pädagogin. Wie konnte sie ihrem Lieutenant etwas beibringen, wo sie doch selbst nicht wusste, wie sie die Sache anpacken sollte? Ein gutes Essen würde sie beruhigen.
Sobald das Restaurant zur Mittagszeit öffnete, begab sich Viviane dorthin, und setzte sich alleine an einen Zweiertisch. Die Gruppe der Kokos und Kikis stürmte von der Bar herbei. Königin war ganz aufgeregt und redete schon wieder vom Vertrag des Wachmanns. »Zecher-Koko, bring mir zwei Flaschen Samos-Muscat aus dem Lager, ich will sie dem Türken zur Feier des Tages schenken.«
Animateur-Koko kam als Letzter, mit finsterer Miene. Als er die Kommissarin sah, ging er freundlich auf sie zu.
»Ich habe einiges wiedergutzumachen, ich wäre glücklich, mit Ihnen essen zu dürfen.« Er kaufte eine halbe Flasche italienischen Weißwein, bot Viviane an, den Hauptgang für sie am Buffet zu holen – gegrillten Fisch mit Rohkostsalat, sehr empfehlenswert – und setzte sich schließlich ihr gegenüber. »Ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen, wegen gestern Abend. Es war nur ein Spiel, ich wollte Sie nicht verletzen. Normalerweise finden das alle lustig und nehmen es gut auf, einschließlich der zehn improvisierten Paare.«
»Vergessen wir das. Aber deswegen müssen Sie sich nicht verpflichtet fühlen, mit mir zu essen.«
Animateur-Koko wurde leise und deutete mit einem Blick auf den Nachbartisch. »Ich tue das gerne. Und, um Ihnen alles zu gestehen, ich wollte mich außerdem davor drücken. Ich spiele gerne den Höfling, aber nicht wenn Ihre Majestät einen in der Krone hat. Ich weiß nicht, wer die Idee hatte, sie auf einen Aperitif einzuladen, das ist bescheuert, sie verträgt keinen Alkohol. Jetzt liegt sie uns schon seit fünf Minuten mit dieser Vertragsgeschichte in den Ohren. Ah, da ist er ja …«
Der Türke war wieder auf dem Weg in sein Häuschen und trug dabei in einem metallenen Korb das Essen, das er am Buffet ausgewählt hatte. Königin rief ihn zu sich, und er trottete zu ihr. Sie wedelte mit zwei Seiten Papier, sagte ihm ein paar Worte in seiner Sprache, holte die beiden Flaschen vorsichtig aus ihrer Strandtasche und überreichte sie ihm. Der Gärtner küsste ihr die Hand und ging.
»Schauen Sie sich das an, Viviane, man könnte meinen, man wäre im Mittelalter. Bald muss man sich auch noch vor ihr verbeugen.«
Der Rohkostsalat war zu sauer, die Kommissarin hatte nicht übel Lust, sich am Buffet etwas anderes zu holen. Aber sie wollte die vertrauensvolle Atmosphäre, die sich ergeben hatte, nicht zerstören, und ebenso wenig die Unterhaltung unterbrechen. Stoisch würgte sie die sauren Paprikastreifen hinunter und schob die Unterhaltung wieder an. »Merkwürdig, sie hat ihm den Vertrag gar nicht gegeben.«
»Es fehlt noch eine Klausel. Nach dem, was sie uns beim Aperitif erzählt hat, muss die Fläche der Baracke, die dem Türken zur Verfügung gestellt wird, noch eingetragen werden. Sie will das nach dem Essen ausmessen. Spannend, nicht?«
Viviane versuchte, sich die Zusammenarbeit von Königin und Animateur-Koko vorzustellen. Sie schien ihr so grotesk wie der Apfeltanz gestern Abend.
»Anscheinend interessieren Sie die Audienzen der Kokos mit King am 14. Juli im Amphitheater. Sollen wir darüber sprechen?« Animateur-Koko zeigte sich unglaublich zuvorkommend. Er beantwortete alle Fragen langsam, betonte jedes Wort, machte lange Pausen, um sich alles besser in Erinnerung zu rufen und kein Detail auszulassen. Er erinnerte Viviane an jene Verdächtigen, die sehr zögerlich gestehen, bruchstückhaft, um Zeit zu gewinnen und die Fristen des Polizeigewahrsams auszuschöpfen.
Aber Animateur-Koko hatte nichts zu gestehen. Er sei für 16.45 Uhr dorthin zitiert worden und zu früh dort gewesen. Da habe er den Türken getroffen, der ihm bedeutet habe, dass King noch im Gespräch sei. Also habe er gewartet. Als er gesehen habe, dass Clown-Koko ging, sei er in das Amphitheater eingetreten, wo er King in seinem Kostüm vorgefunden habe. Er bestätigte alles, was Viviane wusste, den Thron, die Strumpfhose und die Handschuhe, ja, King habe Eindruck schinden wollen.
Animateur-Koko hatte sich in Fahrt geredet. King, erklärte er, finde die Aufführungen zu prätentiös. Er habe zuvor Clown-Koko gekündigt, weil der ihn nicht mehr zum Lachen bringe und, als hätte das nicht gereicht, habe er ihm dann vorgeworfen – ihm, seinem besten Freund – dass es ihm nicht gelinge, die Kokos und Heydudas zu motivieren und eine gute, ausgelassene und beschwingte Stimmung zu schaffen. Animateur-Koko habe versucht, sich zu verteidigen, doch das habe King nur noch mehr gereizt: Die Aufführung am Abend sei ja wohl das beste Beispiel für überintellektualisierte Animation. Diesen ganzen ersten Teil, während dem die Kokos King den Prozess machten, finde niemand lustig, der sorge eher für schlechte Stimmung. Man müsse ihn streichen und gleich mit dem bengalischen Feuer beginnen, mit dem Tanz um die gehängte Puppe, und dann mit der Rückkehr Napoleons enden.
»Und Sie haben ihn Ihr Programm umkrempeln lassen, ohne es zu verteidigen?«
»Pah, was hätte mir das genützt, wo er doch so dagegen war?«
Animateur-Koko seufzte und verfiel in Schweigen. Er sah auf seine Uhr, dann auf den Nachbartisch, den die anderen Kokos verlassen hatten. Königin war allein zurückgeblieben. Sie las noch einmal den Vertrag und trank dabei einen Kaffee.
»Nun reden wir schon seit über einer halben Stunde, Viviane, vielleicht belassen wir es dabei.«
»Gibt es etwas, das Sie stört?«, fragte die Kommissarin und zeigte unauffällig auf Königin. Der Koko nickte.
»Dann lassen Sie uns an der Bar weiterreden«, schlug sie vor. »Ich lade Sie auf einen Kaffee ein.«
Sie setzten sich an einen Tisch etwas abseits, in den Schatten eines Sonnenschirms.
Animateur-Koko nahm die Tasche, die er an einer Kette um den Hals trug, und zog eine lange, dünne Pfeife heraus.
»Stört es Sie, wenn ich rauche?«
Natürlich störte es sie. Nirgends war ein Lufthauch. Aber wenn er sich jetzt eine Pfeife ansteckte, brauchte er eine Weile, um sie zu rauchen. Sie würde ihn nach Lust und Laune befragen können. »Machen Sie nur. Sehr hübsch übrigens, so …«
Sie fand kein anderes Beiwort, um das Ding zu beschreiben, das gleich die Luft verpesten würde, aber Animateur-Koko half ihr aus der Klemme. »Sehr feminin, wollten Sie sagen? Sie haben recht, das ist ein Modell für Ladys.«
Er entfernte den langen Filter, den er mit seiner Serviette abwischte, stopfte dann griechischen Tabak mit einer Weihrauchnote in den Pfeifenkopf, und da wusste Viviane, dass sie mutig sein müsste.
»Sind Sie sicher, dass …«
»Nein, nein, ich mag das, machen Sie nur. Sie wollten mir von King und seiner Frau erzählen?«
Animateur-Koko nickte und stopfte seine Pfeife weiter. Bevor er mit seinen Ausführungen fortfuhr, zündete er sich erst die Pfeife an. Weil er besonders gut antworten wollte, kam er von einem aufs andere, alles war viel zu lang, sinnlos und ohne Interesse.
Viviane sah ihm angewidert beim Rauchen zu, der Weihrauch stieg ihr in die Nase, ihr wurde übel, sie hörte ihm enttäuscht zu. Was sie hörte, bestätigte nur, was sie schon wusste: die endlose Fragerei von King über die Beziehungen von Königin mit den Kokos, seine Sorgen. »Und Sie, was halten Sie davon?«
»Ich denke, er hat sich einen Kopf um nichts gemacht. Er hat das erst eingesehen, nachdem er alle Kokos befragt hatte. Niemand hat sich für sein Unschuldslamm interessiert. Wenn Sie meine Meinung hören wollen: Königin hat sich einen Spaß daraus gemacht, ihn das glauben zu lassen, um sich interessant zu machen. Oder aus Grausamkeit, um ihn eifersüchtig zu machen. Sehen Sie sie sich doch nur an, finden Sie sie etwa sexy?«
Die Chefin des Dorfes räumte an ihrem Tisch gerade den Vertrag in eine Mappe und erhob sich.
Die Kommissarin zog es vor, nicht darauf zu antworten.
»Also, an diesem besagten Tag …«
»King wartete auf Königin, die nicht kam. Ich bin auf den Mast geklettert, um den Scheinwerfer für den Abend zu montieren. Das mache ich lieber bei Tageslicht.«
»Sie müssen die Scheinwerfer an jedem Veranstaltungsabend montieren? Diese Dinger wiegen doch Tonnen, oder?«
»Über fünfzig Kilo. Aber wir müssen sie nur ein Mal zu Beginn der Saison richtig anbringen. Dann bleiben sie dort oben unter Planen hängen. Ich muss sie nur noch abdecken, sie an die richtige Stelle rücken und festschrauben. An diesem Abend brauchten wir einen Scheinwerfer von senkrecht oben, über dem Gehängten. Ich habe King um Hilfe gebeten, um eine Schraube zu lockern, die zu fest saß.«
»Sie waren zu zweit auf der Leiter?«
»Oh Gott, nein, natürlich nicht. King alleine, mehr Gewicht wäre nicht gegangen. Ich habe mich oben aufs Rad gesetzt, er ist auf der Leiter geblieben. Er war stärker als ich und hat die Schraube gleich beim ersten Versuch losbekommen, dann ist er wieder runtergeklettert. Warum fragen Sie das? Ist das normal, dass man als Drehbuchautor so viele Fragen stellt? Diese Details könnten Sie sich doch ausdenken.«
»Das Gelebte hat immer mehr Kraft. Und wie ist das ausgegangen?«
»King wurde ungeduldig und hat mich losgeschickt, um Königin zu suchen. Ich habe sie auf dem Weg zum Strand gefunden. Als wir bei ihm ankamen, hat er uns erklärt, dass die Unterredung mit dem Türken nun doch warten könne – so war er eben, etwas sprunghaft. Was seiner Meinung nach nicht warten konnte, war die Aufführung. Er wollte, dass Clown-Koko unter dem Gehängten Witze riss, und dass man einen Totenkranz am Fuß des Galgens deponierte. Er hat uns gebeten, Clown-Koko kommen zu lassen, um die Gags mit ihm vorzubereiten, und einen Kranz aus falschen Blumen aufzutreiben. Er meinte, noch einen im Lager gesehen zu haben. Königin und ich, wir hatten unsere liebe Not, Clown-Koko zu motivieren. Er wollte nichts mehr davon hören, schließlich war er gerade gefeuert worden. Und im Lager war keine Spur von einem Kranz. Als wir dann zu dritt wieder ins Amphitheater kamen, war King nicht mehr da. Da waren nur ein Chéri und ein Bulle in Zivil, der angeblich einen Termin mit ihm hatte. Zusammen haben wir alles abgesucht, ohne Erfolg. Wir haben das als eine von Kings Launen abgetan, das Tor geschlossen und tschüss.« Animateur-Koko saugte schmatzend an seiner erloschenen Pfeife.
Viviane nippte weiter an ihrer leeren Tasse. Sie stellte sich vor, wie sich die Geschichte weiterentwickelt hatte, töricht und tödlich. »Wer war eigentlich der Erste, der die gehängte Pseudopuppe gesehen hat?«
»Ich, eine Stunde vor allen anderen. Ich hatte mich etwas früher mit zwei Heydudas verabredet, die mir helfen sollten, die Puppe aufzuhängen. Gleich nach dem Essen bin ich zusammen mit Spritzen-Kiki zum Amphitheater gelaufen, weil sie mit mir reden wollte. Sie war ziemlich aufgebracht wegen Kings Entscheidungen. Nicht nur, weil er Clown-Koko vor die Tür setzen wollte, sondern auch, weil ihr Posten als Krankenschwester sinnlos würde, wenn ein medizinisches Versorgungszentrum mit einem Arzt jeden Morgen am Empfang eingerichtet werden sollte. Spritzen-Kiki wollte, dass ich bei King ein Wort einlege, aber ich habe mich lieber bedeckt gehalten.«
Viviane mochte keine Abschweifungen, da konnte sie nicht richtig folgen. »Wir sprachen von der gehängten Puppe …«
»Ach ja. Ich habe Spritzen-Kiki angeboten, mit mir ins Amphitheater zu gehen, aber mit ihren hundert Kilo wollte sie lieber unten an der Treppe stehen bleiben. Es hat nicht lange gedauert. Ich erinnere mich, dass aus den Boxen des Restaurants ›Alexis Sorbas‹ zu hören war, als ich sie allein ließ. Kaum dass ich durchs Tor gegangen war, habe ich auch schon die Puppe an einem gelben Seil hängen sehen und bin davon ausgegangen, dass meine Heydudas den Job schon allein erledigt hatten. Ich war zwei Minuten im Regiehäuschen, um die Beleuchtung zu überprüfen. Als ich dann wieder bei Spritzen-Kiki und ihrem Gejammer ankam, waren wir erst bei der Busuki aus dem Sorbas-Finale.«
Viviane seufzte verdrossen. Er war freundlich, Animateur-Koko, aber er überflutete sie mit Details. Sie kam aufs Eigentliche zurück: »Wer hat ihn am Ende des Abends abgehängt?«
»Der Heyduda, der auf der Leiter stand, hat sich gewundert, dass die Puppe so schwer war. Er hat mich gebeten zu helfen. Da haben wir es kapiert. Wir haben die Kokos gerufen, der Bulle ist runtergekommen, die Krankenschwester auch, aber es war zu spät. Natürlich.«
»Was haben Sie mit dem Seil gemacht?«
»Das muss dort geblieben sein. Wahrscheinlich hat man es unter die Bühne geräumt, das machen wir mit allem, was herumliegt.«
So, das war’s. Die Kommissarin hatte die gesamte Tragödie mitverfolgt. »Königin hat mir erzählt, dass King sie gebeten habe zu dolmetschen, wenn er dem Türken die Kündigung aussprechen würde. Wozu – wo er seine Meinung doch geändert hatte?«
»Was weiß ich?«, sagte Animateur-Koko und zuckte mit seinen schmalen Schultern. »Vielleicht hat er es in letzter Sekunde entschieden.«
»Er hätte sich überlegen können, Clown-Koko anstelle des Türken zu entlassen. Was meinen Sie: War einer von beiden Königins Geliebter?«
Animateur-Koko hob den Blick gen Himmel und zuckte wieder mit den Schultern. »Sicher nicht. Haben Sie die gesehen, alle beide? Und sie?« Er sah Viviane mit einem ernsten Lächeln an, während er seine Pfeife wegräumte. »Sie wollten Details, jetzt haben Sie welche. Ich werde Ihnen noch eines verraten, sehr vage, subjektiv, machen Sie damit, was Sie wollen: King hat an diesem Tag den Eindruck vermittelt, seinen Tod vorzubereiten. Er schien gewusst zu haben, dass er sterben muss. Ein angekündigter Tod, wie man so sagt. Aber in einem Drehbuch läuft das wohl anders …«
Ein Aufruf aus den Lautsprechern unterbrach sie: »Viviane wird dringend am Empfang erwartet.«
Die Kommissarin begab sich gelassen dorthin. Willy hatte wohl nachgedacht und einen neuen Mörder gefunden. Man reichte ihr das Telefon, es war Königin, sie war sehr aufgebracht.
»Viviane? Ich bin beim Türken. Man hat ihn ermordet, das ist entsetzlich. Kommen Sie schnell.«