Kapitel 8

Um 9 Uhr traf sich die Kommissarin mit Königin an der Tür der Royal-Lodge. Königin unterhielt sich in einer fremden Sprache mit einem Mann, dessen sanfter Blick von einem großen grauen Schnurrbart unterstrichen wurde. Der Türke schien über sechzig zu sein. Sein Körper, massig und muskulös, war aber noch der eines Jahrmarktringers.

»Ist Ihr Lieutenant nicht da?«, fragte Königin.

Sie war irritiert, wirkte angespannter als am Morgen nach dem Aufstehen. Viviane beruhigte sie, Willy würde bald kommen.

»Eben hat der Arzt die junge Frau wegbringen lassen«, verkündete Königin. »Er hat den Badetod diagnostiziert. Zecher-Koko hat geholfen, das Mädchen wegzubringen, dabei hat er sie erkannt: Sie hat anscheinend gestern im Nachtclub viel getrunken und ist ziemlich betrunken von dort weggegangen. Gut möglich, dass sie wirklich baden gegangen ist und so betrunken war, dass ihr Herz Probleme gemacht hat, ob mit oder ohne Überdosis.«

Die Kommissarin war eine begeisterte Rechtsmedizinerin und mochte es gar nicht, wenn man ihre Diagnose infrage stellte, vor allem, wenn sie unsicher war. Um das Thema zu wechseln, kam sie auf den Zwischenfall mit King und dem jungen Mädchen zurück. »Manche meinen, es sei nichts passiert«, wagte sie sich vor.

Königin stürzte sich in einen Monolog, der vor erkalteter Wut nur so bebte. Sie war ganz außer sich über den Versuch, King rehabilitieren zu wollen. Nichts passiert? Weil sie zu früh dort gewesen sei. Es sei nicht dieses vermeintliche Techtelmechtel, das das Fass zum Überlaufen gebracht habe – es habe schon so viele davon gegeben sogar echte –, sondern die Art, wie ihr Mann darüber gelacht habe. Seiner Meinung nach habe die Kleine nur das Eine gewollt, und das könne er ihr doch nicht verwehren.

»Und das hat Sie so gekränkt, dass Sie nicht einmal seinen Leichnam zur Bestattung nach Frankreich begleiten wollten?«

»Um seine Eltern zu treffen? Das wäre der Gipfel gewesen. Ich bin Maronitin, er war sephardischer Jude. Unsere Familien waren gegen unsere Heirat. Meine Eltern haben ihn nie bei sich empfangen wollen, deshalb existiere ich auch nicht für seine Eltern.«

Ängstlich beobachtete der Türke die aufgekratzte Königin, Viviane wusste nicht, wie sie die Situation entspannen könnte. Lieutenant Cruyff nahm das schließlich in die Hand. Er kam in Sportkleidung, mit zerzausten Haaren und schweißgebadet angerannt und warf ein fröhliches »Huhu!« in die Runde.

»Steht Ihre Lodge unter Wasser, Willy? Wo kommen Sie denn her?«

»Vom Training am Strand. Als ich gesehen habe, wie spät es ist, war keine Zeit mehr, im Zimmer vorbeizugehen, also bin ich so gekommen, das war einfacher.«

Viviane antwortete nicht. Immer war alles einfach für Lieutenant Cruyff, sie sollte sich wohl daran gewöhnen.

»Nun«, meinte Königin genervt, »können wir loslegen? Was wollen Sie wissen?«

»Wenn der Türke für gewöhnlich nachmittags am Eingang steht, warum hat King ihn dann nicht am Morgen befragt?«, fragte Willy. »Dann hätte er sich auf seinem Posten nicht von seinem Sohn vertreten lassen müssen. In jedem Fall hätte er ihn als Ersten vorladen können, oder nicht?«

»Es hat meinem Mann Spaß gemacht, ihn schmoren zu lassen.«

Willy rieb sich das Kinn und machte ein Gesicht wie ein Ermittler. Er übertrieb. Viviane hielt ihm ihren Notizblock und einen Kugelschreiber hin. Wenn er hier war, dann um mitzuschreiben. Entgeistert sah sie, wie das Papier ihres Notizblocks auf den nassen Schenkeln ihres neuen Sekretärs aufweichte und der Stift sich geifernd hineinbohrte. Dann fragte sie den Türken, wann und wo er am Nachmittag an die Arbeit gegangen war. Königin übersetzte die Fragen, aber Viviane brauchte sie kaum, um die Antworten zu verstehen. Der Türke unterstrich seine Worte mit ausdrucksstarker Mimik und Gestik, er dolmetschte sich selbst: Er hatte damit begonnen, Blumen entlang der Treppe zum Amphitheater zu pflanzen, bis er an der Reihe war.

»Könnten Sie ihm sagen, dass er aufhören soll, zu untertiteln, das ist verwirrend«, schlug Willy Königin vor.

»Unmöglich, er spricht immer so, wegen seines taubstummen Sohnes. Für uns im Club ist das außerdem praktisch.«

Viviane wollte wissen, wer zu welcher Zeit im Amphitheater gewesen war. Der Türke mimte einen schweren, majestätischen Gang, zeigte auf seine Uhr, »King gegen 14.15 Uhr«, flüsterte Königin. Dann zeigte er Brüste und Bizeps, »Muskel-Kiki um 14.30 Uhr«; zwei kraulende Arme, »Platsch-Kiki um 14.45 Uhr«; einen dicken Bauch und eine Spritze, »Spritzen-Kiki 15 Uhr«; drei Tanzschritte, »Walzer-Kiki um 15.15 Uhr«; einen großen Schritt und ein Gesicht mit hervorstehenden Augen, »Gegenwind-Koko um 15.30 Uhr«; ein dichter Bart und eine Hand, die etwas einschenkte, »Zecher-Koko um 15.45 Uhr«; gut geführte Hammerschläge, »Schraubenzieher-Koko um 16 Uhr«; eine Hand, die durch einen imaginären Topf rührte, »Küchen-Koko um 16.15 Uhr«; ein Gang wie ein lustiger Bär, »Clown-Koko um 16.30 Uhr«; einen Pfeifenraucher mit einem servilen Lächeln, »Animateur-Koko um 16.45 Uhr« …

»Animateur-Koko raucht Pfeife?«, erkundigte sich Willy.

»Ja, eine sehr lange Pfeife, die er in einer Tasche um den Hals trägt«, antwortete Königin. »Haben Sie die nicht bemerkt?«

Viviane zählte anhand ihrer Finger die Namen und Zeiten noch einmal durch. »Ist es normal, dass er erst die Frauen befragt hat?«

»Es geht nicht um Männer oder Frauen«, korrigierte Königin. »Er hat mit den einfachen Unterredungen begonnen. Je später es wurde, desto mehr kam auf den Tisch und desto zäher wurde der Austausch.«

»Zäher Austausch? Sogar mit Animateur-Koko?«

»Nein, er sollte Bilanz ziehen. Und ich sollte gleich danach dem Türken dolmetschen, dass er entlassen würde. Letztlich hat King aber seine Meinung geändert und davon abgesehen.«

»Haben Sie eine Vorstellung, worum es in dieser Art des zähen Austauschs ging?«

»Natürlich, das hatte nämlich mit der Verwaltung zu tun. Laut King brachte Zecher-Koko mit seinem Nachtclub nicht genug ein, Schraubenzieher-Koko gab zu viel für Instandhaltung aus, und Küchen-Koko wirtschaftete nicht gut mit seinen Vorräten. Jedenfalls bekämen die Kunden nicht, was ihnen für ihr Geld zustünde. Was Clown angeht, so war er sein Geld nicht mehr wert und King hatte beschlossen, ihn zu entlassen. Machen wir weiter?«

Sie nickte dem Türken zu, damit er fortfuhr, und der Pantomime legte wieder los.

»Animateur-Koko ist kurz vor 17.30 Uhr gegangen … Er und ich sind etwas später wieder ins Amphitheater zurückgekommen, gleich darauf aber wieder gegangen … Und dann kam der Brigadier.«

Viviane unterbrach den Gärtner, ohne ihn aus den Augen zu lassen: »Ich spreche auch schon Türkisch wie der Türke. Ich dolmetsche weiter, korrigieren Sie mich, wenn ich falschliege. Sie sind kurz vor 18 Uhr zurückgekommen, Sie und Animateur-Koko, in Begleitung von Clown-Koko. Sie sind mit dem Bullen im Amphitheater geblieben und als Letzte gegangen. Der Türke hat dann seine Arbeit liegen lassen. Stimmt meine Übersetzung?«

»Das ist richtig«, bestätigte Königin. »Er hatte es eilig, seinen Posten an der Schranke wieder zu übernehmen. Sein Sohn musste nach Lindos zu seinem Job als Tellerwäscher.«

»Also war King bei Ihrem ersten Besuch da. Aber beim zweiten Mal nicht mehr, war das so?«, schloss Viviane.

Königin nickte. »Ja, und zwischen beiden Besuchen bin ich Animateur-Koko keinen Zentimeter von der Seite gewichen, falls Ihnen das Sorgen macht.«

Der Lieutenant schien seinerseits auch nach einer schlauen Frage zu suchen, die er stellen konnte. Endlich fand er eine. »Fragen Sie ihn, ob er gesehen hat, was innerhalb des Amphitheaters vor sich gegangen ist. Ist er zwischendurch mal die Treppe ganz nach oben gestiegen?«

Der Türke hörte sich die Frage an, zuckte mit den Schultern, zeigte auf den Boden und tat, als ob er pflanzen würde.

»Nein, er hat seine Beete nicht verlassen.«

»Ich weiß, er hat ein gutes Gedächtnis, aber wie kann er die Uhrzeiten jedes Einzelnen so genau wissen?«

Der Türke schwang die Schultern, öffnete die Hand, tat, als ob er kratzen würde.

»Er braucht ungefähr fünf Minuten, um ein Alpenveilchen einzupflanzen. Deswegen weiß er ungefähr, wann die jeweiligen gekommen und gegangen sind. Zum Schluss hatte er keine Orientierung mehr, weil er mit dem Pflanzen fertig war, er hat noch gejätet, um die Bepflanzung für den nächsten Tag vorzubereiten.«

Willy hatte die Zettel fallen lassen, auf denen er die Zeiten der Gespräche mit King notiert hatte. Er hob sie auf und versuchte, sie unter den belustigten Blicken von Königin zu sortieren.

»Die Reihenfolge der Gespräche hätten Sie auch von mir haben können, wenn Sie mich gefragt hätten«, teilte sie mit. »King hatte die Liste am Vorabend erstellt und mir gezeigt. Der einzige Unvorhergesehene war der Polizist. Wollen Sie noch etwas anderes überprüfen? Ich werde ihn fragen, ob er seinerseits noch etwas anzumerken hat.«

Der Türke hörte sich Königins Frage überrascht an und zeigte dann, wobei er ganz langsam sprach, auf das rote indische Kleid, das sie trug, und auf ihren roten Schal. Danach ging er unbeholfen zur Tür, bevor er die Hand über den Türrahmen streckte und sich mit fragendem Blick umdrehte.

»Beim Gehen«, dolmetschte Königin, »hat er sich umgedreht und in der Ferne einen großgewachsenen Typen gesehen, der Richtung Amphitheater ging, er trug eine Art weiße Soutane und eine lange rote Maske. Er war größer als die Tür hoch ist.« Sie runzelte die Brauen und wandte sich Viviane und Willy zu. »Ich weiß nicht, ob Sie verstehen, was er uns hier beschreibt: Das ist die Verkleidung des Henkers, wenn wir das Revolutions-Stück spielen.«

Der Türke schien erstaunt über das Schweigen, das seinen Ausführungen folgte. Schließlich klopfte er ungeduldig auf seine Uhr.

»Warten Sie«, warf Viviane ein, »wusste er von der Existenz dieser Verkleidung?«

»Ich glaube nicht«, antwortete Königin. »Er steht immer an seinem Posten an der Schranke, wenn wir dieses Stück ein Mal im Jahr aufführen. Die Proben sind nachmittags, aber nie im Kostüm. Aber vielleicht hat er Fotos davon gesehen.«

»Wer spielt normalerweise den Henker?«

»Oft ist es Gegenwind-Koko.«

»Er ist sehr groß«, bemerkte Viviane, »und der Türke hat auf den Türrahmen gezeigt …«

»Ja, aber der Henker, den er gesehen hat, kann jeder gewesen sein. Die Maske ist hoch und spitz, wie die der spanischen Büßer. Es genügt, sich so etwas aufzusetzen, um größer zu wirken, als man ist.«

Sie bedeutete dem Türken, dass er gehen konnte.

»Bevor der Lieutenant und ich ins Amphitheater zurückgehen, könnten Sie uns da das Kostüm zeigen?«, fragte sie Königin.

»Sie finden es leicht ohne mich. Es liegt bei den anderen im Lager, ganz am Ende der Personal-Lodges, neben dem Häuschen mit dem Gartenwerkzeug. Dorthin wird alles aufgeräumt, was wir für Animation, Spiele und Aufführungen brauchen.«

»Und wegen des Schlüssels …«

»Da ist immer geöffnet«, unterbrach Königin sie genervt, »abgesehen von den beiden hinteren Räumen, die mit den Getränken und dem Material zur Instandhaltung. Dort ist allen der Zutritt verboten, bis auf den betreffenden Koko und mich selbst. Was das Amphitheater betrifft, so brauchen Sie mich nicht. Der Eingang wird mit einem großen Zahlenschloss abgeschlossen, dessen Nummerncode jede Woche wechselt; aber alle Kokos kennen ihn, es ist der Tag und der Monat des Montags der laufenden Woche. Im Moment der 12. Juli, also 1207.«

»Den Chéris ist der Zutritt zu dem ganzen Bereich verboten«, wandte Willy ein, »die Kokos werden uns rauswerfen.«

»Wenn man Sie nicht hineinlässt, sagen Sie, dass Sie in Absprache mit mir dort Fotos machen dürfen.«

»Fotos? Ich habe meinen Apparat nicht dabei«, gab Willy zu bedenken.

Königin ging in ihre Lodge und kam mit einer kleinen Canon wieder. »Ich leihe Ihnen meinen Apparat. Geben Sie ihn mir einfach später zurück.«

Es war noch nicht 9 Uhr, trotzdem knallte die Sonne schon unerbittlich herunter. Die Kommissarin und der Lieutenant machten sich auf den Weg zum Lager, hielten sich dabei aber dicht bei den Lodges, dort war es schattig.

Ein Fenster öffnete sich, Animateur-Koko rief ihnen nach: »Hey, Chéris, hier ist zona privada!«

»Königin hat mir erlaubt, hier Fotos zur Orientierung zu machen.«

»Ihm auch?«, fragte Animateur-Koko und zeigte mit dem Kinn in Richtung Willy. »Ist er Fotograf?«

»Ich habe ihn gebeten, mich zu begleiten, er soll sich daneben stellen, als Maßstab für das Dekor.«

»Wenn Königin da schon mitmischt, hab ich wohl nichts mehr zu sagen«, knurrte Animateur-Koko und schloss sein Fenster.

Die Türen zum Lager waren geöffnet. Die Kommissarin und der Lieutenant trafen dort auf Zecher-Koko, der aus dem hintersten Raum kam und eine Sackkarre mit Bierkästen schob. Er wirkte noch kleiner und unsympathischer als hinter seiner Theke.

»Raus, ihr zwei, ihr habt hier nichts zu suchen!«

»Wir wollen Fotos von den Kostümen machen, Königin hat es genehmigt. In welcher Ecke liegen die denn?«

Zecher-Koko entfernte sich, ohne zu antworten. Sie gingen an den Regalen entlang: Pfeile und Bogen, Bälle, Boule-Spiele, Rollschuhe, Musikinstrumente, Stelzen, Trödel, Fallschirme, Strandspiele, Hüpfbälle, aufblasbare Gummiringe, Jonglierartikel, alles, was nötig war, um aus schlappen Touristen aufgedrehte Chéris zu machen.

Willy sah sich die Regale sehr konzentriert an. »Ich frage mich, ob das hier nicht interessante Fährten sind.«

»Sie machen den klassischen Anfängerfehler, Lieutenant, Sie sehen überall Indizien. Je mehr falschen Fährten Sie folgen, desto weniger können Sie die richtigen entdecken. Kommen Sie?«

Die Kostüme hingen hinten im Raum, auf Kleiderbügeln, die Willy rasch durchsah. Er fischte eine weiße Tunika und eine lange, rote und spitze Maske heraus. »Ich probier die mal an«, schlug er vor.

Viviane blieb keine Zeit, es ihm zu verbieten, der Lieutenant hatte die Tunika schon übergezogen. Er war wirklich wie ein großes Kind.

Er setzte die Maske auf und murmelte mit gedämpfter Stimme: »Haben Sie gesehen, Viviane? Das ist schlau. Anstatt nur kleine Löcher für Augen und Mund zu machen, hat man ein großes Loch mit roter Gaze davorgemacht. So kann jeder etwas sehen, egal ob groß oder klein.«

»Sehr gut, Willy, aber seien Sie brav und räumen Sie das weg. Wir spielen an einem anderen Tag Verkleiden. Gehen wir.«

So leer wirkte das Amphitheater riesengroß. Sie schritten alles sorgfältig ab, ohne etwas Besonderes zu entdecken. Das Regiehäuschen war durch die Glastür komplett einsehbar. Die Trennwand am hinteren Ende der Bühne bot keine Möglichkeit, etwas zu verstecken, und die Toiletten hatten halbhohe Schwingtüren. Blieb der Zwischenraum unter der Bühne, der von einem Vorhang verdeckt war: Dahinter war auf wenigen Metern ein Sammelsurium von Schienen, Stangen, Dekor und Requisiten ineinandergestopft.

»Werfen Sie mal einen Blick ganz nach hinten, Lieutenant«, wies Viviane ihn an.

Willy krabbelte erst auf allen vieren, dann robbte er. Eine dumpfe Stimme erklang von hinten: »Wir verlieren unsere Zeit, Commissaire. Hier ist es zu eng, um sich zu verstecken. Oh, Beine! Eine Leiche! Ach nein, das ist nur eine Strohpuppe.«

»Bringen Sie die her!«

Ihr Assistent brauchte einen Moment, um alle Hindernisse aus dem Weg zu räumen und auf die Bühne zurückzukommen.

»Ganz schön schwer, das Ding, wiegt bestimmt fünfzig Kilo.«

Die Strohpuppe war gut gemacht: ein Kopf, ein Rumpf, die Glieder aus Stoff in einer Hülle aus Sackleinen. Willy betrachtete die Puppe freundschaftlich. Er mochte wirklich jeden. »Das ist bestimmt die Puppe aus der Aufführung. Wenn man die ganz hinten verstecken kann, hätte man auch Kings Leiche hier verstecken können.«

»Unmöglich. Sie haben doch gesehen, wie schwer Sie sich damit getan haben. King war zwei- oder dreimal so schwer.«

Sie setzte sich an den Bühnenrand und dachte nach. Die Geschichten von Kokos und Kikis, die ein und aus gingen, entzogen sich ihrem Verständnis. Nichts passte zueinander. Willy hatte sich zu ihr gesetzt, einige Plätze weiter, und spielte mit der Canon von Königin.

»Tun Sie sich keinen Zwang an, Lieutenant. Was ist mit Diskretion?«

»Das sind ja nur Fotos, interessante Fotos.« Er hatte den digitalen Apparat auf Wiedergabe eingestellt und klickte sich durch die Aufnahmen. Man sah fast immer dieselbe Person: groß, übergewichtig und souverän thronte King mit seiner riesigen Hornbrille und bedachte das Objektiv mit einem munteren Lächeln. Er wirkte nicht so böse, wie er beschrieben wurde. Ein gutherziger Tyrann, hatte Animateur-Koko gesagt. Mehrere Fotos zeigten die beiden zusammen. Es war eindeutig, die beiden verband echte Freundschaft. Manchmal posierte King mit Königin. Hier war die Beziehung schon fragwürdiger. Das Lächeln war eingefroren, fast künstlich. Wer simulierte das Glück mit wem? Willy unterbrach seine Gedanken. »Commissaire, sehen Sie mal …« Er zeigte auf eine lange, schmale Metallleiter, die gegen die erste Reihe der Stufen gelehnt war.

Viviane betrachtete nachdenklich das obere Ende des Galgens und die Scheinwerfer, die dort angebracht waren. »Was denn, eine Leiter, ja und? Wahrscheinlich, um die Scheinwerfer zu montieren. Oder einen Dorfchef aufzuhängen.«

»Vielleicht hat man sie auch benutzt, um das Amphitheater zu verlassen und zu betreten.«

Er könnte recht haben, Viviane war beleidigt. Das musste an der Sonne liegen, sie machte sie müde, sie konnte sich nicht konzentrieren. Willy schien in Bestform zu sein.

»Und wenn sie King ermöglicht hat hinauszugehen und dem Mörder, mit der Leiche wiederzukommen?«

Viviane zuckte die Schultern. Der Typ nervte sie mit seinen Einfachlösungen. Sie las die Sicherheitsvorschriften durch, die auf einem Aufkleber auf der letzten Sprosse vermerkt waren. »Können Sie rechnen, Lieutenant? Maximalbelastung: hundertfünfzig Kilo. Aber nur hundertzwanzig, wenn sie ausgezogen ist, bei mehr als vier Metern. Vier Meter, das entspricht der Höhe der Mauer. Ihr Mörder hätte also höchstens dreißig Kilo gewogen? Ein Miniaturherkules, der Junge, dreißig Kilo reine Muskeln, um hundertzwanzig Kilo auf die Leiter zu hieven.«

Willy schwieg. Er schmollte. Viviane hatte auch nicht wenig Lust zu schmollen. Eine Lösung mit der Leiter hätte ihr gefallen. Eine hübsche Lösung, so einfallsreich wie Logik-Spiele für Kinder. Diese Geschichten, wie man vier Liter mithilfe eines Fünf- und eines Drei-Liter-Eimers bestimmen kann, oder die Geschichte vom Boot, dem Wolf, der Ziege und dem Kohlkopf – sie hatte das immer geliebt.

Willy, der weniger theoretisch veranlagt war, war schon dabei, die Leiter an die Mauer des Amphitheaters zu lehnen.

»Wir werden einen Test machen, Commissaire. Ich wiege zweiundsiebzig Kilo, und Sie?«

Sie starrte ihn entgeistert an. Der Kerl wagte es, sie nach ihrem Gewicht zu fragen. Niemals hätte einer ihrer Männer es gewagt, eine so unsinnige Frage zu stellen. »Ich weiß nicht, ich habe mich lange nicht gewogen. Ich würde sagen, gute fünfzig.«

Der Lieutenant sah sie skeptisch an und justierte die Leiter. »So oder so, es wird gehen. Da wir die Verlängerung nicht brauchen, um bis nach oben zu kommen, können wir bis hundertfünfzig gehen. Klettern Sie mit mir hoch?«

»Machen Sie das mal alleine, ich bin nicht schwindelfrei.«

Er kletterte leichtfüßig hinauf. »Die Aussicht ist toll! Ah, das ist ja interessant. Direkt darunter ist es gar nicht steil, hier führt ein Pfad am Felsen und dann an der Mauer entlang, wie ein Zöllnerpfad.«

»Könnte man die Leiter dort abstellen, wenn man sie auf die andere Seite holen würde?«

»Unmöglich, der Pfad ist viel zu schmal, und danach kommt gleich der Abgrund.«

»Haben Sie den Weg heute Morgen gesehen, vom Strand aus?«

»Nein, er wird zu großen Teilen von Büschen verdeckt, die weiter unten angepflanzt sind, dann verliert er sich zwischen dem Geröll und den Brombeersträuchern, die den Strand säumen.«

»Und von der Seite des Nachtclubs aus? Von der großen Wiese oder von den Stufen aus müsste man ihn doch sehen können, oder?«

»Auch nicht, da verbergen ihn die Berberitzensträucher. Man muss über den Strand gehen, um ihn zu erreichen.«

»Führt Ihr Pfad entlang der Mauer des Amphitheaters?«

»Warten Sie, ich klettere etwas höher.« Er hievte sich auf die Mauer, setzte sich rittlings drauf und arbeitete sich nach vorne. »Das müssten Sie wirklich sehen, Commissaire.«

»Nein, ich vertraue Ihnen, Cruyff. Sagen Sie es mir.«

»Der Pfad wird sehr schmal, dann teilt er sich und wird wieder breiter und endet schließlich auf einem kleinen Hochplateau, das zum Meer hin liegt. Ein richtiges Belvedere, mit einer Orientierungstafel. Nur Erde, Geröll, Gestrüpp und Wind. Ah, und zwei Liegestühle, die hinter großen Büschen stehen. Weiter nichts.« Er vollführte eine kunstvolle halbe Drehung auf der Mauer und kehrte zur Leiter zurück. Er stieg hinab, glücklich wie ein kleiner Junge.

»Sehen Sie mit Ihrer Leiter mal auf der anderen Seite nach«, sagte Viviane und zeigte auf den Mauerabschnitt, der zu dem Bereich führte, der außerhalb des Clubgeländes lag.

Sie war der Boss, er der Befehlsempfänger, das sollte er nicht vergessen.

Der Lieutenant kletterte dort nach oben, beugte sich über die Mauer und schüttelte den Kopf. »Auf dieser Seite geht es hinter der Mauer steil bergab. Irgendwann wird sie an der Stelle zusammenstürzen.«

»Und wenn man auf dem Belvedere ist, könnte man von dort mit der Leiter rauf- oder runterklettern?«

»Nein, hier ist zwar genügend Platz, um die Leiter aufzustellen, aber man kommt nicht auf die Mauer, das ist der Teil des Amphitheaters, der von dem Glasdach bedeckt ist. Ich glaube, ich bin jetzt ein Mal rum, ich komme runter.« Leichten Fußes gesellte er sich wieder zur Kommissarin. »Das ist interessant, oder?«

»Interessant, ja, aber was machen wir damit? Mit der Leiter kommt man nicht rüber, weder in die eine noch in die andere Richtung. Da wo man raufkommt, kommt man nicht runter. Und wo man runterkommt, kommt man nicht rauf.«

»Einspruch! Man kann von innen hinauf, auf der Mauer entlanggehen, dabei die Leiter tragen, sie dann schräg am Rand des Glasdachs aufstellen und runterklettern.«

»Würden Sie sich das zutrauen?«

Er zögerte, verzog das Gesicht. »Ist schon sehr gewagt, aber wenn Sie mich fragen …«

»Ich verbiete Ihnen, das auszuprobieren, Willy.«

Die Hände auf den Hüften, betrachtete der Lieutenant die Mauer. »Mit einem Bambusstab, wie man ihn früher benutzt hat, müsste man diese vier Meter gut überwinden können. Man müsste nur schräg Anlauf nehmen …«

Viviane seufzte vor Überdruss. Warum nicht gleich ein Batmobil?