Kapitel 16

Fünf Minuten später setzte ein Taxi Willy und Viviane am Ortseingang von Lindos ab. Alles war klein, charmant und viel zu eng für die Horden von Touristen. Sie überquerten den Platz und stießen in der kleinen Gasse, die sich zwischen den weißen Häusern durchschlängelte, auf den ersten Stau.

»Die Esel gehen gerade los«, erklärte der Lieutenant. »Man bewegt sich hier auf Eseln fort, sollen wir?«

»Sonst noch was? Mit mir dürfen Sie da nicht rechnen.«

»Kommen Sie, Commissaire, seien Sie doch nicht wieder die Spielverderberin. Ich gehe jedenfalls.«

Es war wie mit dem Karaoke: Touristenfallen übten auf ihren Lieutenant eine rührende Faszination aus. Sie folgte ihm. Die Tiere waren in einem Pferch aus Steinen eingesperrt. Ein junger Eseltreiber holte zwei heraus und kam ihnen entgegen. Er parkte die Esel gegen ein Mäuerchen und lud die beiden Polizisten ein, sich dort abzustützen, um aufzusteigen. Willy bestieg den größeren, ohne auf Vivianes Proteste einzugehen.

Der Esel der Kommissarin war so schmächtig, dass sie zurückwich. »Da steige ich nicht auf, das ist ja ein Fohlen. Ich bin zu …« Sie suchte nach einem passenden Wort, fand aber keines. Das einzige, das ihr auf der Zunge lag, war zu simpel. Schließlich sagte sie: »Ich bin zu kräftig.«

Willys Wortschatz umfasste weniger Delikatesshäppchen.

»Aber nein, Sie sind nicht zu dick, diese Tiere halten viel aus. Los, steigen Sie auf, Commissaire!«

Sie schwang ihr Bein über den Widerrist und setzte sich. Doch der Sattel rutschte, und sie mit ihm. Sie krallte sich am Sattelknauf fest, der Sattel rutschte weiter.

»Willy, sagen Sie dem Eseltreiber, er soll mir helfen, ich falle.«

Der Junge hatte schon verstanden. Er schob sie, um sie wieder ins Lot zu bringen, ächzte aber unter dem Gewicht der Kommissarin, die sich immer mehr ins Lächerliche abgleiten sah. Willy lachte, der Eseltreiber lachte, alle Leute auf der Terrasse des Cafés nebenan lachten, es war tragisch.

Willy stieg wieder ab und kam dem jungen Griechen zu Hilfe. »Machen Sie sich keine Gedanken, Commissaire, ich werde das niemandem erzählen.«

Da erkannte sie auf der Terrasse des Cafés einen kleinen Bärtigen, der lauter lachte als alle anderen: Zecher-Koko saß alleine an einem Tisch und trank ein Wasser mit Pfefferminzsirup. Es war das erste Mal, dass sie ihn so vergnügt sah. Tatsächlich stand ihm seine unangenehme Seite besser zu Gesicht.

Der Tross kam langsam in Bewegung. Vivianes Esel hatte Schwierigkeiten, Schritt zu halten. Der junge Anführer und Willy drehten sich ab und an zu ihr um und lächelten ihr freundlich zu, als wäre sie es, die man ermutigen müsste. Sie blickte zu der Akropolis, die über dem Dorf thronte. Wie konnte man nur auf die Idee kommen, so weit oben einen Tempel zu bauen? Sie brauchten zehn endlose Minuten, um das Ende des Weges zu erreichen. Der Lieutenant war ihr beim Absteigen behilflich.

»Das macht Spaß, oder? Und diese coolen Geschäfte! Ich habe auch Restaurants gesehen, die nett aussahen. Wir klettern da hoch, das soll beeindruckend sein.«

Sie hatte Mitleid mit dem guten Willy, weil seine Sätze immer mit »Spaß«, »cool«, »beeindruckend« gespickt waren. Später würde er seine Erinnerungen in drei Kategorien einteilen müssen, die spaßigen, die coolen, die beeindruckenden. Vielleicht als vierte noch die netten. Und sie? Sie merkte, dass sie ihre Freizeit damit verbrachte, sich die kleinen Glückserlebnisse zu versagen, genau, wie sie es auch bei der Arbeit tat. Besser fühlte sie sich deswegen aber nicht. »Ja, Willy, das ist bestimmt beeindruckend.«

Sie erklommen den steinigen Weg und ignorierten die Verkäuferinnen mit ihren bestickten Deckchen, kletterten die letzte Treppe hinauf und stellten sich vor die Akropolis. Ja, es war beeindruckend. Aber mit Lieutenant Monot wäre es schön gewesen.

Willy trat schon nach vorn zum Steilhang, um die Altstadt zu sehen. »Das ist lustig«, bemerkte er ernst, »keine Straße von Lindos, die man von hier nicht sehen könnte, aber von Lindos aus ahnt man nicht einmal etwas von der Akropolis. Das ist immer so: Von unten sieht man nichts.«

Viviane, die einen ganzen Strauß von Plattitüden befürchtete, gab das Zeichen zum Abstieg. Alle Straßen glichen einander. Eng, kurvenreich, abschüssig. Die Geschäfte hatte alle die gleichen Auslagen im Fenster. Sie verirrten sich.

Plötzlich hielt Willy vor einem kleinen Portal, das von einer Fülle von Jasmin verdeckt war. »Ah, hier ist das Captain’s House, die berühmteste Bar von Lindos.«

In seiner Vision von der Welt war die Tatsache, dass der Ort berühmt war, ein unerschütterlicher Grund, dort einzukehren. Die Flucht von aufeinanderfolgenden Räumen war im Übrigen sehr einladend. Sie blieben im ersten Raum, der angenehm frisch und schattig war, und fanden einen Platz etwas abseits auf einer Steinbank, vor kleinen Fässern, die als Tische dienten.

»Vielleicht sollten wir mal über unseren Fall reden, Commissaire. Ich habe mit Küchen-Koko gesprochen und hätte außerdem noch eine ganz neue, sehr interessante Aussage über Königin zu bieten.«

»Ich auch, Willy. Ich schlage Ihnen eine Wette vor. Wer die interessantere Information hat, wird vom anderen zum Aperitif eingeladen. Und da ich gewinnen werde, nehme ich etwas Teures.«

Sie rief den Kellner, fragte nach der Zusammenstellung des Hauscocktails, ah, Curaçao, Triple Sec, Ananassaft, Kiwi, Granatapfelsirup, Honig und Soda, perfekt. Willy blickte vorwurfsvoll drein und bestellte ein Mineralwasser mit einer Scheibe Zitrone.

»Wer fängt an? Los, Willy, Sie sind der Jüngere.«

Der Lieutenant wartete, bis die Getränke serviert worden waren, lehnte sich gegen die Wand und flüsterte: »Küchen-Koko hat die Aussage von Clown-Koko bestätigt. Er hat ihm am 14. Juli wirklich geholfen, Gags zu entwickeln, so viele Gags, dass sein Kumpel ein Notizheft holen musste, um sie aufzuschreiben. Davor, als Küchen-Koko Schraubenzieher-Koko geholfen hat, die Pumpe zu reparieren, brauchten sie einen Sechskantschlüssel. Küchen-Koko ist ins Lager gelaufen, aber weil er dort keinen fand, ist Schraubenzieher-Koko noch einmal losgegangen. Es stellte sich heraus, dass er ihn in seinem Zimmer gelassen hatte.«

Viviane rieb sich bedächtig das Kinn. Das waren nun doch etwas viele Zufälle. »Das ist interessant, aber was sagt uns das? Welches Ziel könnte dieses Hin und Her gehabt haben? Haben Sie eine Ahnung, Willy?«

»Wenn man jede Stunde zum selben Ort geht, macht man das häufig, um etwas nachzuprüfen. Oder um zu sehen, ob jemand angekommen ist.«

»Wir müssen darüber nachdenken. Vielleicht macht man das nur, weil man ein Heft braucht, ein Metermaß oder einen Sechskantschlüssel. Kann das jemand bestätigen?«

»Ja, der Heyduda, mit dem ich gesprochen habe, während Sie telefonierten. Er hat mir von dem Pfad erzählt, der zum Belvedere führt. Die Heydudas kennen ihn alle. Sie gehen dort mit ihren kurzlebigen Eroberungen hin. Zu dritt auf einem Zimmer haben sie nicht viel Privatsphäre. Also gehen sie da nach oben. Die Partnerin ist beeindruckt vom engen Durchgang, das regt sie an …«

Viviane zuckte mit den Schultern und nahm einen Schluck von ihrem Cocktail. »Und warum macht es sie nicht gleich heiß, oder kann man sie direkt vernaschen, wenn Sie schon dabei sind? Könnten Sie Ihren Wortschatz nicht ein bisschen zügeln, wenn Sie von Frauen sprechen?«

Der Lieutenant senkte den Kopf und sprach weiter: »Entschuldigen Sie. Also, was habe ich gesagt, da, mit den beiden Liegestühlen, der Sonne, dem Himmel, der Sicht, und man muss nur noch …« Er wollte sich zügeln, aber ihm fiel kein Wort ein.

Viviane eilte ihm zu Hilfe. »Man muss nur noch, gut, sehr gut, Willy. Und dann?«

»Sie nennen diesen Ort ihren ›Alkoven‹. Die kleine Venusstatue, die wir auf dem Weg bemerkt haben, ist ein Code. Wenn sie liegt, heißt das ›nicht stören‹. Wenn das Pärchen geht, stellt es sie für die Nächsten wieder auf.«

»Und wenn sie auf die Idee kommen, sich die Landschaft anzusehen, bevor sie sich angezogen haben, dann erwischt sie der Mitarbeiter des Bürgermeisters, der vor der Küste herumkreuzt und der Skandal ist perfekt. Ihre Geschichte ist unterhaltsam, aber ohne jedes Interesse für unsere Ermittlungen.«

Willy trank langsam sein Zitronenwasser aus und wischte sich die Lippen ab. »Moment, ich war noch nicht fertig. Am Nachmittag des 14. Juli ist ein Heyduda mit einer Holländerin zum Alkoven gegangen, die …« Er suchte nach einem Verb, es war mitleiderregend. Er stammelte: »… die nur das wollte. Die Venus stand, also sind sie weitergegangen. Aber auf der Anhöhe sind sie dann auf Königin gestoßen. Sie hatte vergessen, die Venus hinzulegen.«

»Und was tat sie?«

»Was man tut, wenn man nackt ist mit einem Mann.« Er machte eine Pause, als wollte er die Verblüffung der Kommissarin auskosten, bevor er ergänzte: »Der Heyduda meinte, Königin sofort erkannt zu haben, liegend, nackt. Nur mit Sonnenbrille. Den Mann hat er nicht sehen können, sein Liegestuhl war von einem Busch verdeckt, aber er hat seine großen roten Sportschuhe bemerkt. Das hat ihm gereicht, er hat mit seiner Holländerin kehrtgemacht.«

»Und weiter?«

»Sie haben gewartet, dass sie an die Reihe kommen, er und seine Holländerin, unten am Pfad, während sie … sich miteinander beschäftigt haben, wie es ging. Später dann, so gegen 17 Uhr, haben sie gesehen, wie Königin allein heruntergekommen ist. Der Heyduda war unsicher, ob sie noch einmal zum Alkoven gehen sollten, wegen des Typs mit den roten Sportschuhen. Die Holländerin war deswegen genervt und ist gegangen. Der Heyduda ist noch einmal aufgestiegen, er war neugierig und wollte wissen, wer da nun in die Verlängerung gegangen war: Es war aber niemand mehr da.«

Viviane rief den Kellner. »Bringen Sie uns noch zwei Mineralwasser. Und Willy, machen Sie sich keine Gedanken. Natürlich werde ich das alles bezahlen.«

Er sah sie zufrieden an. Nicht triumphierend, aber wie ein Sieger. Der Ausdruck eines Mannes, der den Diskus zwei Meter weiter geworfen hat.

»Und waren die Sportschuhe noch da?«

»Nicht mal das. Der Heyduda hat am nächsten Tag im Club alle von Kopf bis Fuß gemustert. Er wollte unbedingt herausfinden, mit wem Königin schlief. Aber niemand trug rote Sportschuhe. Auch nicht bei den Chéris.«

Viviane holte ihr Notizheft heraus und zeichnete grob einen Plan: ein Quadrat für das Belvedere, darin einen Kreis für das Amphitheater. Darunter ein großes Viereck für die zona privada, mit ein paar parallelen Strichen, die die Treppe mit den Alpenveilchen darstellen sollten. »Die Geschichte war ja schon kompliziert, aber jetzt wird es unmöglich. Rekapitulieren wir: Um 17.30 Uhr verlässt Animateur-Koko das Amphitheater, um Königin zu holen. Er begegnet ihr auf dem Weg zum Strand und bringt sie zu King, sie unterhalten sich und gehen wieder los, um Clown-Koko zu holen. Wahrscheinlich ist das der Moment, in dem Mister Rotschuh sich in das Amphitheater schleicht – wie, wissen wir nicht. Als Königin und Animateur-Koko mit Clown-Koko wiederkommen, treffen sie nur den Brigadier an, sonst keinen: weder King noch Mister Rotschuh. Die beiden können nicht vor 18 Uhr hinausgegangen sein, sonst hätte der Türke sie gesehen. Aber später können sie auch nicht gegangen sein, sonst hätten die Boule-Spieler sie gesehen. Nicht zu vergessen der Henker, der auch hat drinnen bleiben müssen. Am Ende des Tages gibt es dann ein unüberschaubares Zeitfenster: Es ist die Zeit, zu der viele Kokos, Kikis und Heydudas durch die zona privada gehen, um sich zu erfrischen oder sich vor dem Essen umzuziehen. In diesem Moment wäre es schwierig gewesen, die Treppe zu benutzen, die zum Amphitheater führt, ohne bemerkt zu werden. Das alles bringt uns zu 20.30 Uhr, als Animateur-Koko King am großen Mast hängen sieht und ihn für eine Puppe hält. Ende der Vorstellung. Es war alles für die Katz. Ich gebe auf.«

»Bei Katz fällt mir ein: Ich habe heute Morgen den Tierpräparator angerufen.« Willy begegnete dem Blick seiner Kommissarin und begriff, dass er sich aufs Glatteis begab. Er beugte sich über die Zeichnung, die Viviane gemacht hatte. Sie hatte noch Pfeile, Fragezeichen und anderes Gekritzel hinzugefügt. Der Lieutenant besah sich das Werk mit der ernsten und gottesfürchtigen Miene eines Besuchers der Internationalen Kunstmesse: Es musste darin etwas zu verstehen geben. Erstaunlich war, dass er wirklich etwas fand. »Wo ich so Ihr Bild ansehe, kommt mir eine Idee, Commissaire. Wenn bei einer Aufführung zu viele Figuren vorkommen, erzählt man sich hier, dass ein und derselbe Schauspieler mehrere Rollen spielt. King, Mister Rotschuh und der Henker waren vielleicht eine Person. Stellen wir uns vor, King ist, ich weiß nicht wie, zum Belvedere gegangen, um sich dort auf ein Stelldichein mit seiner Frau zu treffen. Dort hätte er dann seine roten Sportschuhe stehen lassen und wäre ins Amphitheater zurückgekehrt. Als er sie später holen wollte, hat er sich das Henkerskostüm übergeworfen, um unerkannt zu bleiben. Da tötet ihn der Mörder, der schon auf ihn gewartet hat. Ich weiß, das klingt vielleicht blöd, aber es funktioniert.«

»Es funktioniert gar nicht, Willy. Erklären Sie mir Ihr ›ich weiß nicht wie‹: Können Sie sich vorstellen, dass King mit seinen hundertzwanzig Kilo hier ein und aus geht wie bei einem Possenspiel? Mit einer schiefen Leiter? Selbst Sie fänden das gewagt.«

Willy machte ein mürrisches Gesicht, gab sich aber noch nicht geschlagen. »Ich habe eine andere Idee, eine einfachere: Und wenn King Königin ganz nackt in Begleitung von Mister Rotschuh erspäht hätte, als er auf dem Mast stand, um den Scheinwerfer abzuschrauben?«

Viviane antwortete nicht. Sie verschränkte die Arme und lehnte sich gegen die Wand. Das war eine Idee, die nichts erklärte, die Sache sogar noch komplizierter machte, ihr aber vielversprechend erschien. »Weiter Willy, die Sache interessiert mich.«

Der Lieutenant schüttelte kleinlaut den Kopf. Er wusste keine Fortsetzung. Viviane tröstete ihn. Sie würden eine finden, sie würden noch am selben Nachmittag ins Amphitheater gehen. Dann erzählte sie ihm von ihrer Unterredung mit Königin, und Willy machte große Augen.

»Ein Gehängter mit Ohrringen? Das kann nur von einer Frau kommen, kein Mann würde je daran denken, so etwas zu zeichnen.«

»Sagen Sie mir jetzt nicht, dass Sie nicht bemerkt haben, welche Ohrringe ich gestern im Nachtclub getragen habe?«

»Sie haben Ohrringe getragen?«

Viviane verlangte die Rechnung, bezahlte die vier Posten darauf – der Cocktail war nicht nur teuer, sondern lag ihr auch schwer im Magen – und machte sich mit ihrem Lieutenant auf zum Mittagessen. Sie folgten der Horde der Touristen, die zum Platz hinabgingen. Die Restaurants kündigten alle das gleiche Menü an. Sie wählten per Zufallsprinzip eines aus, setzen sich auf die Terrasse und bestellten Moussaka und Wasser. Viviane hätte sich lieber zurückgezogen, um in Ruhe nachzudenken. Aber Willy sah sie mit seinem Unschuldsblick an und erwartete ihre Ideen und subtilen Fragen. Alles, was ihr einfiel, war: »Und, was macht der Zehnkampf?«

Er redete sich in Fahrt, sie konnte nachdenken. Es genügte, ihrem Lieutenant zuzulächeln und dabei einen interessierten Gesichtsausdruck zur Schau zu stellen.

»Für die Sprünge habe ich zwar genügend Muskelkraft, aber ich kann mich nicht genügend dehnen. Dehnung ist eine komplizierte Angelegenheit …«

Der Türke war der Schlüssel zu dieser Geschichte mit dem Amphitheater. Sie hatte ihn zu schnell ausgefragt, zu mechanisch. Sie erinnerte sich, dass sie in seiner gesprochenen und gemimten Aussage eine Unstimmigkeit bemerkt hatte, aber welche? Immer dasselbe, die Indizien verblassten schnell wieder. Sie versteckten sich in einer dunklen Windung ihres Hirns und kämen erst wieder hervor, wenn es ihr gelänge, sie miteinander zu verknüpfen.

»Den Speer mag ich gerne«, begeisterte sich Willy, »das ist meine Stärke. Das Geheimnis ist, dass ich ihn nicht werfe – ich visiere einen sehr weit entfernten Punkt an, die Bewegung folgt dann.«

Auch beim Mord am Türken war ihr etwas aufgefallen. Nein, sie hatte die Abwesenheit von etwas bemerkt, jetzt fiel es ihr wieder ein. Nicht nur die fehlende Flasche. Sie hatte unbewusst eine zweite Sache gesucht, und noch eine. Was konnte in dieser Baracke, in der es nichts gab, denn fehlen? In Gedanken sah sie, wie sie dort alles durchsuchte, Königin – verweint, zu nichts zu gebrauchen – immer auf ihren Fersen. Wann hatte sie begonnen zu suchen? Warum? Das alles war im Dunklen geblieben.

Willy war mit allen zehn Disziplinen durch. Er wartete auf die nächste Frage.

»Und was machen wir jetzt, Willy? Wir nehmen ein Taxi und gehen ins Amphitheater. Wir müssen Ihre Idee zu Ende denken.«

Ihr Taxi musste bei der Einfahrt zum Clubdorf warten. Viviane stieg aus und traf auf die Polizisten, die Kerim die Habseligkeiten seines Vaters brachten: ein Gartenmesser, einen klappbaren Korkenzieher, einen Geldbeutel. Sie wollten ihn eine Empfangsbestätigung unterzeichnen lassen, er begriff nicht.

»Dieser Junge«, sagte sie zu Willy, als sie wieder ins Taxi stieg, »ist entweder ein bisschen schlicht oder sehr intelligent.«

»Er denkt von uns vielleicht das Gleiche. Wenn er sehr intelligent wäre – würde das etwas an unseren Ermittlungen ändern?«

Das würde alles ändern, auch wenn Viviane nicht genau sah, was denn eigentlich. Sie zog es vor zu schweigen.

Wenig später kamen sie beim Empfang an. Alle Kokos und Kikis strömten entspannt aus einem Versammlungsraum.

Einzig Königin schien besorgt. Sie bedeutete Viviane, zu ihr zu kommen. »Die Versammlung ist gut gelaufen, aber für Sie habe ich eine schlechte Nachricht, Viviane. Alle wissen, dass sie von der Polizei sind. Heute Morgen beim Eselgatter hat Zecher-Koko gehört, wie Willy ›Commissaire‹ zu Ihnen gesagt hat.«

»Und Willy?«

»Ich habe die Version von dem Freund, den Sie im Flugzeug kennengelernt haben, aufrechterhalten.«

Etwas abseits entging dem Betreffenden nichts von dieser Unterhaltung. Viviane wandte sich verärgert zu ihm um. Königin hielt sie zurück. »Ärgern Sie sich nicht, Sie haben neulich den gleichen Fehler gemacht, als Sie beim Empfang telefoniert haben. Die Heyduda, die Sie gehört hat, hat zum Glück nur mit mir darüber geredet, ein vertrauenswürdiges Mädchen.«

Das kleine Glucksen von Willy ignorierte Viviane, sie würde ihn noch brauchen.

»Nun, da ich jetzt Kommissarin bin, brauche ich niemanden mehr um Erlaubnis zu fragen, um ins Amphitheater zu gehen. Kommen Sie, Lieutenant.« Aber sie ging in Richtung Strand. »Bringen Sie mich erst nochmal zum Belvedere, alleine habe ich Angst.«

Sie traute sich nicht zu sagen »Bringen Sie mich zum Alkoven«, obwohl sie es gerne getan hätte. Sie stiegen zügig hinauf. Das Nichts kam ihr weniger gefährlich vor als beim letzten Mal. Das, was folgte, beschäftigte sie.

Seit ihrem letzten Besuch hier war der Alkoven benutzt worden, sie stellten also die Liegestühle an ihren Platz, in den Schutz der Büsche.

»Wir werden die Szene jetzt nachstellen. Ich lege mich hier hin, an den Platz, wo Königin lag, und Sie, Sie laufen ins Amphitheater, um die Leiter anzulehnen und auf den Mast zu klettern. Geben Sie mir ein Zeichen, wenn Sie mich vom Rad aus sehen können.«

Es war Zeit, dass er ging: Sie fühlte sich irgendwie erregt, bereit, vernascht zu werden. Es war idiotisch. Sie sah ihm erleichtert nach, dann streckte sie sich auf dem Liegestuhl aus. Sie dachte nicht mehr an den Fall, sondern an das Gedicht von Apollinaire. Sie fragte sich, ob man ihre Brüste als sanft rosig bezeichnen konnte. Ah, sich nackt ausziehen und Willy mit ihrem köstlich elastischen Körper überraschen. Eine vertretbare Maßnahme im Rahmen der Nachstellung. Nein, Unsinn. Diese körperliche Nähe, dieses Haut an Haut, die einen überall ansprang, dieser ganze Fall, der ihr zu Kopf stieg wie ein Samos-Muscat. Das musste schnell ein Ende finden.

Sie wartete, den Blick auf die höchste Stelle des Rads geheftet, das über den Mast hinausragte. Da sah sie Willys Kopf auftauchen, dann seine Arme, mit denen er ihr ein Zeichen machte. Aber es war mehr als ein Zeichen, er fuchtelte noch immer herum, es war eine Aufforderung.

Sie stieg den Pfad so schnell hinab, dass ihr gar keine Zeit blieb, sich zu fürchten.

Ihr Lieutenant erwartete sie im Amphitheater. Er schwenkte eine große Hornbrille, die Viviane, und auch ihm, bereits auf den Fotos aufgefallen war. »Erkennen Sie die, Viviane?«

»Ja«, sagte eine Stimme hinter ihnen, »das war seine Brille gegen die Weitsichtigkeit.« Animateur-Koko stieg nachdenklich die Stufen des Amphitheaters hinunter.

»Wo haben Sie die gefunden?«

»Dort oben, am Rand des Rads«, antwortete Willy.

»Haben Sie eine Idee, was er von dort oben beobachtet haben könnte?«, fragte Viviane.

Animateur-Koko verzog seltsam das Gesicht. Er schien sich etwas unwohl zu fühlen. »Wenn Sie mich schon so fragen, kennen Sie wahrscheinlich die Antwort. Woher wissen Sie das?«

»Von einem Heyduda, der an diesem Tag den Alkoven benutzen wollte und aber feststellen musste, dass der besetzt war.«

Animateur-Kokos Stimme überschlug sich leicht. »Und hat er auch den Mann gesehen, der bei Königin war?«

»Nein, nur seine roten Sportschuhe.«

Animateur-Koko setzte sich auf eine Stufe, er war niedergeschlagen und bedeckte das Gesicht mit den Händen. Endlich richtete er sich wieder auf. »Jetzt haben wir Gleichstand: Sie beide, der Heyduda, King und ich. Es wäre mir lieber gewesen, Ihnen nie davon erzählen zu müssen.«