Kapitel 5

Das Restaurant befand sich im Freien, unter einem einfachen Schilfrohrdach. In der Mitte standen ein riesiges Buffet und ein Grill. Darum herum Tische, die die Kommissarin verzweifelt musterte: Sie wusste nicht, wo sie sich hinsetzen sollte. Viviane war noch nicht bereit, jemanden kennenzulernen. Diese Leute waren ihr zu fröhlich, fühlten sich zu wohl. Ihre Teller quollen über, ihre Wänste auch.

Die Kommissarin spürte die Blicke auf sich. War sie zu blass? Oder mit ihren schwarzen Shorts, ihrer weißen Bluse und den Sandalen zu chic angezogen, inmitten der vorherrschenden Nachlässigkeit? Hielt man sie für eine Nonne? Sie suchte nach ihrem Lieutenant und entdeckte ihn in fröhlicher Unterhaltung an einem großen, voll besetzten Zwölfer-Tisch. Alle Tischnachbarn trugen die gleichen grellgelben T-Shirts. War das die Uniform der Kokos und Kikis? Viviane trug keine Uniform, sie sah niemandem ähnlich, sie kam sich lächerlich vor und einsam. Sie stand beim Eingang herum, suchte immer noch nach einem Sitzplatz.

Eine näselnde Stimme half ihr aus der Verlegenheit: »Sind Sie die Drehbauchautorin? Ich bin Animateur-Koko, setzen Sie sich zum Essen zu mir.«

Er war hager, von mittlerer Statur, und trug eine große Brille auf dem Kopf, die einen Teil seiner rot gelockten Haare verbarg. Sein Gesicht schien einzig aus einem breiten Lächeln und einer Himmelfahrtsnase zu bestehen. Sein Blick war wohlwollend und schalkhaft und erinnerte an den eines zu schnell gewachsenen Zwergs. Auf seinem grellgelben T-Shirt baumelten ein Medaillon mit einem ägyptischen Schriftzeichen, ein längliches Etui an einer Kette und ein Collier aus dicken Perlen.

Er nahm sie mit zum Buffet, bediente sich an den kalten Gemüseplatten und beobachtete Viviane amüsiert, die sich zwischen den Fleischplatten, den salzigen Quiches, den Gemüse- und Fischsalaten nicht entscheiden konnte.

»Die Chéris sind alle wie Sie. In den ersten Tagen wissen sie nicht, wo ihnen der Kopf steht. Nur zu, probieren Sie von allem. Das hier sind nur die Vorspeisen. Die Hauptgerichte sind auf der anderen Seite.«

Hatte er erraten, dass Viviane sich beim Essen manchmal nicht beherrschen konnte? Sie begnügte sich mit einem griechischen Salat. Dann kam sie zurück, bediente sich an den Wurstwaren und krönte den Teller mit einem Stück Gemüsequiche mit Speck und Pflaumen. »Das muss eine griechische Spezialität sein«, entschuldigte sie sich, »das muss ich doch probieren.«

»Der Pounti? Nein, der kommt aus der Auvergne. Kommen Sie?« Er führte sie an einen Tisch für zwei. »Wollen Sie lieber griechischen oder italienischen Wein? Der griechische ist umsonst.«

Die Kommissarin zog den griechischen vor, bereute es aber schon nach dem ersten Schluck.

»Wahrscheinlich wissen Sie, dass ich der neue Chef des Dorfes bin.«

»Ah, Sie sind derjenige, der mit Königin arbeitet.«

»So kann man es auch sagen, jeder hat seinen Bereich. Sie kümmert sich um die Verwaltung und die Buchhaltung. Das ist anscheinend wichtig, aber nur für sie und den Hauptsitz. Abgesehen davon macht sie das aber sehr gut. Ich bin der Chef für alles andere. Aber erzählen Sie lieber von sich: Stimmt es, dass Sie Drehbuchautorin sind?«

Viviane fühlte sich unwohl. Sie mochte es, Leute weichzukochen, die in Polizeigewahrsam saßen – und nun wurde sie selbst befragt. Zitternd wie eine Verdächtige, erfand sie eine Geschichte von einer deutsch-französischen Filmreihe, einer Koproduktion von Arte, über die Entstehung der Gewerkschaftsbewegung in der Dritten Welt. In der Fernsehzeitschrift Telerama sei das sehr gut besprochen worden. Sie sah, dass Animateur-Koko höflich und anerkennend nickte. Jetzt würde man sie in Ruhe lassen, niemand würde mehr mit ihr über ihre Filmografie sprechen wollen. »Hier vor Ort bereite ich ein Thema für ein breites Publikum vor«, erklärte sie munter weiter. »Auch wenn der Moment unpassend ist, wie man mir sagte.«

»Ja, wir stehen noch unter Schock. King war ein großartiger Dorfchef.«

»Ich glaube verstanden zu haben, dass die Meinungen diesbezüglich auseinandergingen.«

Der Koko vergaß plötzlich sein Lächeln. Er sah Viviane in die Augen, knallhart, als wollte er sie warnen. »Lassen Sie die Geier gackern. King war ein guter Typ, ich war stolz darauf, sein Freund sein zu dürfen. Als ich hier angefangen habe, war ich eine Zeitarbeitskraft, ein kleines Nichts ohne Diplom. Er hat mich unter seine Fittiche genommen, er hat mir eine Chance gegeben. Er hat mir alles beigebracht, was man über die Verwaltung eines Clubdorfs wissen muss, über die Beziehung zu den Feriengästen, über die richtige Stimmung. Und noch eine sehr einfache, seltene Sache: Freundschaft. Vielleicht drücke ich mich schlecht aus, trotzdem stimmt es. Verstehen Sie?« Da Viviane nicht schnell genug antwortete, fuhr er fort: »Natürlich konnte er mit seiner dominanten Art auch nerven, aber das war nur ein Spiel. Er spielte den gutherzigen Tyrannen, mehr nicht.«

»Man sagt, er sei ein ziemlicher Schürzenjäger gewesen, oder nicht?«

Animateur-Koko zuckte mit den Schultern. »Das war seine mediterrane Seite, dieses Bedürfnis, sich an Leute zu hängen, sie anzufassen. Ich kann verstehen, dass das nicht gut ankommt, aber wir sind hier schließlich am Mittelmeer, nicht wahr?«

»Und diese letzte Geschichte mit der jungen Frau?«

Er schob seinen Teller zurück und kreuzte die Arme.

»Sie werden doch nicht auch noch damit anfangen! Die Geschichte hat es nur in Königins Fantasie gegeben. King hat eine sehr schöne Muschelsammlung, die Kleine hat sich dafür interessiert, sie war bei ihm, um sie sich anzusehen. Im Bikini, okay, aber hier laufen alle halb nackt rum. King hatte ihr den Arm umgelegt, na und? Ist das jetzt Sex, oder was?«

»Aber er hatte doch ein paar Abenteuer, oder nicht?«

»Nichts Ernstes. Aber Königin gefällt sich in der Opferrolle, obwohl sie in erster Linie die Schuldige ist. Ein echter Kühlschrank, diese Frau. King hat mir das selbst erzählt, wir waren gut genug befreundet, um darüber zu reden. Der Arme, manchmal hat er sich eben woanders gesucht, was er zu Hause nicht fand. Er war ganz verrückt nach Königin, er hat alles für sie getan, er hat ihr alles gegeben. Das Ergebnis: ein Abschied ohne Tränen. Sie hat nicht einmal den Sarg zur Beerdigung nach Frankreich begleitet, sie wollte lieber hierbleiben, um sich bei den Besitzern anzubiedern.« Er holte Luft, als würde er zum letzten Stoß ausholen. »Ich werde mit ihr arbeiten, wir werden höflich miteinander umgehen, aber das, das verzeihe ich ihr nicht. Und Sie, schreiben Sie, was Sie wollen. Wenn Sie einen Film drehen wollen, in dem der Dorfchef eine Karikatur von King ist: nichts leichter als das. Aber Sie würden ihm Unrecht tun.« Animateur-Koko stand auf, um sich ein Hauptgericht zu holen. Er kam mit einigen aufgespießten Stückchen Rind und Paprika zurück, die dem Metallspieß auf dem Spaghetti-Nest eine hübsche Farbe gaben. »Ich habe Spaghetti genommen, bei den Pommes war eine Schlange.«

Pommes? Viviane hatte die Vorspeisen auf ihrem Teller vertilgt und fühlte einen mächtigen Hunger in sich erwachen. Man konnte zwischen acht Hauptgerichten wählen. Aber am verlockendsten waren diese Pommes. Wie lange hatte sie schon keine mehr gegessen? Sie hatte es geschafft im Frühling zuzunehmen, ohne der Pommes-Versuchung jemals nachgegeben zu haben. Das war eine Ungerechtigkeit, die sie schnell wiedergutmachen sollte. Sie würde nur eine probieren. Oder zwei. Egal, ob dort eine Schlange war. Sie musste fünf Minuten warten und genehmigte sich einen großen Teller voll – sie wollte nicht umsonst gewartet haben.

Die übriggebliebenen Spieße machten einen vertrockneten Eindruck. Bei den Fischen konnte man zwischen ganz verschiedenen wählen, und sie sahen verführerisch aus, aber das war ihr zu viel Diät, die hob sie sich für die nächsten Tage auf. Sie stürzte sich auf einen Eintopf, der als Eintopf nach Art des Chefs präsentiert wurde. Als sie an den Tisch zurückkam, entdeckte sie, dass Animateur-Koko ihrer überdrüssig geworden war. Alles, was von ihm zurückblieb, war etwas Sahne auf einem Dessertteller.

Der Eintopf war ungenießbar, zu salzig, zu stark gewürzt. Sie begnügte sich damit, ihre Pommes aufzuessen, zu denen sie einige Gläser Wein trank. Sie kehrte noch einmal zum Dessertbuffet zurück und konnte den Baklavas nicht widerstehen, so süß, wie sie vor Butter und Honig glänzten. Das Galaktoboureko war verlockend, vielleicht etwas schwer, aber eine Chérie, die sich eine ordentliche Portion davon servierte, beruhigte sie. Es sei doch einfach nur Blätterteig mit einer cremigen Füllung, das könne man essen, auch wenn man nicht mehr hungrig sei. Viviane erlag der Verlockung, aß es in der Tat, ohne Hunger zu verspüren, immer abwechselnd mit Baklavas.

Der Eintopf zwickte sie schon im Magen. Sie beschloss, sich beim Koch zu beschweren. Küchen-Koko war leicht zu erkennen: Er war ein großer, glatzköpfiger Mann mit einem hochmütigen Gesichtsausdruck, der seine Gerichte inspizierte wie ein Oberst vor der Schlacht. Viviane winkte ihn zu sich, woraufhin er sich argwöhnisch näherte.

Sie sagte ihm freundlich: »Chef, ich wollte Ihnen sagen, dass der Eintopf ein bisschen zu …«

Der argwöhnische Blick verfinsterte sich. »Ein bisschen zu sehr dies, zu wenig das, klar, das ist normal. Zum Glück gibt es welche, die ihn so mögen. Dann nehmen Sie doch die Spieße.«

»Ja also, was die Spieße betrifft …«

»Tja, wenn also ›was die Spieße betrifft‹ kommt, dann trösten Sie sich doch mit Fisch oder Fleisch. Hier ist für jeden Geschmack etwas dabei.« Er baute sich vor ihr auf, durchbohrte sie mit seinem Blick und flüsterte: »Der Letzte, der auf mein Fleisch gespuckt hat – wissen Sie, wie der geendet hat? Man hat ihn ein paar Stunden später gefunden, erhängt.« Er betrachtete die verdutzte Miene der Kommissarin, wie er eine Hochzeitstorte betrachtet hätte, und entfernte sich mit einem verschlagenen Lächeln. »He, war nur Spaß, ich hab von der Katze gesprochen! Sixiz, die Katze vom Türken!«

Wütend ging Viviane zurück in ihre Lodge, legte sich angezogen hin und wartete auf Willy. Es war sehr heiß, sie hatte wenig geschlafen, das Essen lag ihr schwer im Magen, und der griechische Wein machte sie träge.

Um 16 Uhr wachte sie auf. Auf dem Nachttisch fand sie eine Nachricht: »Ich bin vorbeigekommen, habe Sie schlafen lassen. Treffen am Pool.« Die Handschrift war energisch, fast quadratisch, aber ohne Finesse. Sie dachte an die von Monot, so fein. Dann wieder an Monot, er selbst so fein: Noch nostalgischer wurde sie, als sie sich vor dem Spiegel auszog, um ihren rosa Bikini anzuprobieren.

Viviane fand sich lächerlich. Der Shorty stand ihr, aber so, wie er geschnitten war, war es ganz offensichtlich, dass er ihre Hüfte schlanker wirken lassen sollte. Und statt das Problem zu kaschieren, zeigte er geradewegs mit dem Finger darauf. Sie wich auf ihren schwarz-weiß gestreiften Einteiler aus, der war sportlicher, fast wettkampftauglich. Sie hüllte sich in einen Pareo und machte sich auf die Suche nach ihrem Lieutenant.

Körper. Zuerst sah sie nur Körper. Körper und Haut in allen Nuancen, von totenbleich bis krebsrot. Entgeistert stand sie auf der Terrasse oberhalb der beiden Pools, die von menschlicher Masse umzingelt waren. Was wollten die vielen Chéris hier? Nichts. Sie waren mit dem konkreten Ziel gekommen, nichts zu tun. Sie gingen nicht schwimmen, bewegten sich nicht. Sie waren nur da. Viviane musterte sie beunruhigt. Wie konnten die Menschen nur so hässlich werden, ihre Körper so schwabbelig, so unförmig seit ihrem letzten Urlaub? Natürlich waren auch schöne darunter, sie sah feste Brüste vorbeigehen, flache Bäuche, die aber nur umso erschreckender wirkten. »So wart ihr auch mal, schämt euch«, schienen sie den herunterhängenden, schlaffen zu sagen. Die Kommissarin spürte, wie sie eine seltsame Scham überkam, die Scham der Solidarität: Sie könnte ihren Pareo ohne Bedenken ablegen.

Lieutenant Cruyff schien sich diese Fragen nicht zu stellen. Ganz am hinteren Ende des größeren Pools schwamm er mit einer jungen Frau im grellgelben Badeanzug, eine dünne, lange Blondine mit einem Pagenschnitt. Er schwamm nicht wirklich, er machte ein paar elegante Schwimmzüge und kam dann wieder zu der Frau zurück, die ihn korrigierte, ihn die Bewegung der Arme wiederholen ließ, während sie ihm manchmal an den Bizeps griff, damit er den Arm richtig ausrichtete.

Die Kommissarin näherte sich und rief ihm vom Beckenrand zu: »He, Willy, ich bin da!«

»Hallo, wie geht’s?«

Sogleich tauchte er wieder unter, um an seiner runden Schulterbewegung zu arbeiten. Viviane wartete beleidigt ab. Ob er vergessen hatte, dass sie seine Vorgesetzte war?

Als die Schwimmstunde vorbei war, kam er mit der Blonden zu ihr. »Darf ich vorstellen: Viviane, Drehbuchautorin, eine Freundin, mit der ich hierhergereist bin. Kiki-Platsch, die sich um die Aktivitäten im Wasser kümmert. Sie ist Wettkämpfe geschwommen und will mir helfen, mein Kraul zu verbessern.«

»Na, Willy, ich sehe, Sie haben eine Beschäftigung gefunden. Ich bin gekommen, um Sie auf ein Gläschen einzuladen. Begleiten Sie uns, Platsch?«

Die Blondine lehnte mit einem entzückenden Lächeln ab. Sie müsse gleich den Aquafitness-Kurs im anderen Pool leiten. Schwungvoll drückte sich der Lieutenant vom Rand nach oben, und Viviane erschauderte: So schön konnte also der Körper eines Mannes sein! Nicht das Gesicht, aber der tropfnasse Oberkörper; die Behaarung, die die muskulöse Brust betonte; die Schultermuskeln, die Glieder, die Knochen, die Eleganz der Bewegungen. Und eigentlich auch das Gesicht, das musste sie sich eingestehen. Viviane zog ihren Pareo enger um sich; sie hätte sich in einem Sack verstecken wollen.

Sie schleppte Willy zur Bar, dabei ließ sie ihn vorgehen, um das Spektakel genießen zu können und ihm das ihrer Cellulite zu ersparen. Er bewegte sich wie ein Tänzer, machte seine Schritte, ohne mit den Hüften zu wackeln. Seine himmelblauen Boxershorts lagen eng an, ohne dass es anzüglich wäre, was die Kommissarin nicht daran hinderte, ihn sich nackt vorzustellen. Einige Frauen folgten ihm mit Kennerblick, dann fiel ihr Blick auf Viviane und wurde grausam.

Vor der Meute, die sich an der Bar drängelte, blieb Willy stehen. »Oh, ich habe meine Uhr am Pool vergessen. Ich lasse Sie bestellen. Für mich bitte einen frisch gepressten Orangensaft.«

Würde er sich immer so ungeniert geben? Würde er sie jedes Mal im Stich lassen, sodass sie sich der Meute allein stellen musste? Der Typ war ein Naturbursche, sie musste ihm unbedingt Manieren beibringen.

Mühsam kämpfte sie sich bis ganz nach vorn durch. Die Kellner wirbelten unter der Anleitung eines gedrungenen Mannes herum, dessen Gesicht hinter einem dichten Bart und einer kleinen schwarzen Brille versteckt war; er musterte Viviane.

»Du bist neu hier, was?« Er hatte einen fremdländischen, undefinierbaren Akzent, herb und melodiös.

»Ich bin heute Morgen angekommen«, antwortete die Kommissarin.

»Alleine? Dann musst du in unseren Nachtclub kommen, da wird es dir gefallen.«

Sie hatte dieses Du noch nie ertragen können, am wenigsten so ein halb vernuscheltes. Bei der Arbeit siezte sie alle, und jetzt wollte ihr der erstbeste Bärtige einfach so das Du andrehen, nur weil er in einem grellgelben T-Shirt auf der richtigen Seite der Bar stand? Sie wusste, dass viele Feriengäste in den Clubs es sich zur Aufgabe machten, sich zu duzen. Aber auf sie durften sie bei diesen Vertraulichkeiten nicht zählen: So fing es an, und irgendwann duzte man dann auch seine Leute, wie in Kriminalfilmen. Sie ließ sich einen frisch gepressten Orangensaft und ein Zitronensorbet bringen, wobei sie das ›Ich danke Ihnen‹ besonders betonte.

Als sie zahlen wollte, hinderte der Bärtige sie mit einer Handbewegung daran. »Nein, nicht hier. Hast du noch keine Karte?«

Alle, die neben ihr standen, drehten sich spottend nach ihr um. Ah, wie konnte man nur bei Zecher-Koko bestellen, wenn man keine Karte hatte? Viviane stand gekränkt da und antwortete nicht. Es reichte ihr, sie wollte zurück in ihr gutes altes Kommissariat von Montparnasse, die Kokos und Kikis aus ihrem Wortschatz streichen, ihr Bier mit anständigen Euro im Bistro in der Rue Daguerre bezahlen und Kollegen treffen, die genug Anstand hatten, ihre körperlichen Unzulänglichkeiten unter einer ehrlichen Uniform zu verstecken. Sie würde niemals Clubgeist entwickeln.

Der Lieutenant kam wieder zurück, auf dem Kopf einen kleinen Sonnenhut, aus dem er eine Karte aus dickem Papier zog. »Ich dachte mir schon, dass Sie nicht würden bezahlen können. Kennen Sie das nicht aus den Clubs? Man lebt ohne Geld, um sich freier zu fühlen. Man kauft an der Rezeption für 100 Euro so eine Karte, auf der nach und nach alles notiert und abgezogen wird.«

Er lächelte. In wenigen Stunden hatte er die Bedienungsanweisung einer Gesellschaft verinnerlicht und sich dafür begeistern können. Er hatte ein fröhliches Gemüt. Sie brachte ihn zu einem abseits stehenden Tisch.

»Alles klar, Lieutenant, gefällt es Ihnen hier? Sie haben sich beim Essen mit den ersten Leuten angefreundet, Sie flirten mit der Schwimmlehrerin, Sie bezahlen Ihre Einkäufe mit Falschgeld, das ist wie im Paradies, was? Ob Sie nebenher wohl noch etwas Zeit für die Ermittlungen erübrigen könnten?«

Er antwortete etwas leiser, ohne sie anzusehen, den Blick starr auf das Glas Orangensaft geheftet: »Gewöhnen Sie sich ab, mich Lieutenant zu nennen. Einen solchen Fehler in der Öffentlichkeit sieht uns keiner nach. Ich war zehn Minuten in meinem Zimmer, gerade genug Zeit, um mich umzuziehen. Mein Mitbewohner hat noch geschlafen, wir haben uns noch nicht einmal kennengelernt. Dafür habe ich Platsch kurz vor dem Mittagessen kennengelernt. Ich habe nicht mit ihr geflirtet, ich habe sie gefragt, um wie viel Uhr hier gegessen wird, und wir sind ins Gespräch gekommen. Sie hat mich zu dem großen Tisch mitgenommen, an dem die Kokos und die Kikis sitzen. Ich habe mich in ein paar Unterhaltungen eingebracht, vor allem aber habe ich gut zugehört: Sie haben von der Nacht des 14. Juli gesprochen. Die haben sich in den vier Tagen noch immer nicht davon erholt. Ich habe sehr interessante Dinge von ihnen erfahren. Letzter Punkt: Sie sind Kommissarin, ich nur Lieutenant, aber wenn Sie einen konstruktiven Austausch mit mir wollen, dann müssen Sie anders mit mir sprechen. Ich habe Sie auch nicht gefragt, wie Ihre Siesta war.« Schließlich hob er den Blick und fragte: »Okay?«

Viviane hielt seinem Blick einige Sekunden stand, dann gestand sie ihm ein »Okay« zu. Niemals wäre einer ihrer Männer so ausfallend geworden. Aber Willy war keiner ihrer Männer. Eines wusste sie jetzt sicher: Sie musste den Typen in den Griff bekommen, auch wenn sie noch nicht wusste, wie. »Na dann, Willy, erzählen Sie mal vom 14. Juli«, bat sie sanft. »Erzählen Sie mal, was so Interessantes passiert ist.«