Kapitel 6

Willy holte Luft und tauchte ein: »Der Nachmittag war merkwürdig. King hatte im Amphitheater eine Unterredung mit allen Kikis und Kokos, mit jedem einzeln, wie bei einer feierlichen Prüfung, in einer festgelegten Reihenfolge. Um sich in Szene zu setzen, hat er die Kostümierung benutzt, die für die Aufführung am Abend dienen sollte. Der Abend des 14. Juli läuft hier normalerweise immer gleich ab. Am Anfang sitzt King alleine auf der Bühne, auf einem Thron, verkleidet als Monarch in einer goldenen Tunika, die ihm viel zu groß ist, mit einer Perücke und einer Krone. Die Kokos und Kikis mimen die Revoluzzer. Alle dürfen ihn beschuldigen und dumme Witze machen, wie in einer Posse. Für sie ist das auch eine Gelegenheit, ihren Frust abzulassen. Sogar die Chéris dürfen daran teilnehmen. Dann kommt ein Henker, es folgen Revolutionslieder, ein Donnerschlag, eine Rauchwolke vom bengalischen Feuer, und dann ist es so, wie der Brigadier erzählt hat: Man entdeckt King, aufgeknüpft am Galgen. Natürlich ist das nur eine Strohpuppe, der man die goldene Tunika angezogen und eine Maske aus Latex aufgesetzt hat, die halb von der Perücke und der Krone verdeckt wird. Es werden Bambusstöcke an die Chéris verteilt, damit sie auf den Gehängten einprügeln dürfen, wenn sie möchten. Meistens möchten sie. Verstehen Sie?«

Natürlich verstand Viviane. Sie malte sich aus, wie die Chéris das laut jubelnde Volk spielten, dafür mussten sie sich wohl nicht einmal anstrengen. Die Maulhelden und Fanatiker in der ersten Reihe, in der zweiten die Feigen und Frustrierten, danach kam die gehorsame Masse, die nach und nach in Rage geriet. Sie malte sich sogar die ganze Menschheit aus, sämtliche Revolutionen. Es stiegen altbekannte Gefühle von verdrängter Abscheu in ihr auf, sie wusste gar nicht wogegen. Sie musste diese schlechten Gedanken verscheuchen, sie war hier, um zu ermitteln. »Und dann?«

»Dann geht es aus, wie jede Revolution ausgeht: noch ein Donnerschlag, mehr bengalisches Feuer, die Masse weicht zurück, aus der Anlage ertönt ein Tedeum; und der auferstandene King taucht oben im Amphitheater auf, verkleidet als Napoleon, die Hand in der Weste und in weißen Beinkleidern. Die Revolutionäre stehen still, Napoleon mustert sie, kneift sie ins Ohr und alles endet mit einem großen Ball im Stile des Kaiserreichs.«

»Ein schönes Schauspiel mit einer starken, philosophischen Botschaft, nicht wahr, Willy?«

Der Lieutenant zog vorsichtig einen Flunsch und fuhr fort: »Nur, dass nichts so war wie sonst: Die Vorführung hatte am Abend direkt mit dem gehängten König begonnen, und es gab am Ende auch keinen Napoleon, und zwar aus gutem Grund.«

»Und was war den Nachmittag über los gewesen?«

»King saß schon auf seinem Thron, als Monarch verkleidet. Er hat die Kokos und Kikis nacheinander vor der Bühne antreten lassen. Die Unterredungen mit den Einzelnen waren kurz. Er hat bei jedem das Haar in der Suppe gesucht, aber nicht lange. Sein eigentliches Interesse galt Königin. Ihren Freundschaften. Ihren heimlichen Vorlieben. Er hat ihnen hinterlistige Fragen gestellt in der Art: ›Und wenn sie erneut heiraten sollte, mit wem würde sie das deiner Meinung nach tun?‹ Alle haben ihr Fett abbekommen; ich weiß nicht, in welcher Reihenfolge sie bei ihm waren, aber der Türke wird uns das sagen können. Er hat den ganzen Nachmittag entlang der großen Treppe, die zum Amphitheater führt, Blumen gepflanzt. Alle mussten an ihm vorbei. Wir sollten ihn befragen.«

»Gute Idee, Willy, aber wir werden eine Dolmetscherin brauchen. Königin könnte das machen, ich werde sie heute Abend fragen. Und die Kokos und Kikis, was halten die von der Geschichte?«

»Bedauert wird King von niemandem. Bei Königin ist man schon zurückhaltender. Was Animateur-Koko angeht: Den finden alle nett, witzig, aber karrieregeil.«

»Gut, Willy! Sie haben in der kurzen Zeit schon viel herausgefunden.«

»Danke. Darf ich noch etwas Unangenehmes sagen?« Ohne Vivianes Antwort abzuwarten, fuhr er fort: »Königin hatte Ihr Kommen angekündigt. Alle Kokos wissen, dass Sie Drehbuchautorin sind, auch einige Chéris. Animateur-Koko erzählt sogar schon herum, dass Sie fürs Fernsehen arbeiten; das ist zwar perfekt, aber man wird es merkwürdig finden, wenn Sie mit niemandem reden. Eine Drehbuchautorin, die Material sammelt, geht auf die anderen zu.«

Der Hieb saß. Das hatte sie davon, dass sie so nett war; nun meinte er, sich alles herausnehmen zu dürfen. Sie suchte nach einer fiesen Retourkutsche, aber ihr fiel nichts ein. Ihr Lieutenant hatte ja recht. Im Übrigen stimmte es, sie hatte noch niemals auch nur die geringste Lust verspürt, auf andere zuzugehen. Sie war es gewohnt, die anderen aufs Revier zu bestellen, mit einem Gerichtsbeschluss bei ihnen einzufallen, sie zu befragen. Nicht, auf sie zuzugehen. Jemandem auf Augenhöhe begegnen, das konnte sie nicht.

Willy entschuldigte sich und stand auf. Er hatte einen Termin mit Gegenwind-Koko, dem großen Schwarzen, um sich für einen Segelkurs einzuschreiben. Viviane blieb allein zurück, wieder einmal. Sie hing am Pool herum, nicht wissend, mit wem sie reden sollte. Gebrüll aus dem Megaphon befreite sie aus der Situation: Animateur-Koko ging durch die Reihen, um die Einträge für das Karaoke am Abend einzusammeln. Er kam zu Viviane.

»Bei Ihnen könnte ich mir gut vorstellen, dass Sie etwas von Zazie singen. Ich habe noch ›Les pieds nus‹, soll ich das für Sie reservieren? Sie könnten das passend zum Titel barfuß singen, das wäre lustig, kommt gut an.«

»Danke, aber ich bin nicht lustig, und ich will auch nicht gut ankommen. Rechnen Sie in jedem Fall nicht mit mir. Ich bin heute Morgen sehr früh aufgestanden, um den Flug zu bekommen, ich bin müde.«

»Ja, aber gerade die, die als Letzte angekommen sind, müssen da sein: Wir stellen den Chéris jeden Abend die Neuankömmlinge vor. Das findet im Amphitheater nach Einbruch der Dunkelheit, so gegen 21 Uhr statt. Vielleicht mögen Sie lieber Dalida? Wie wär’s mit ›Gigi l’amoroso‹?«

Viviane lehnte eine Karriere als Karaoke-Sängerin fest entschlossen ab, versprach aber, am Abend zu kommen. Wenn sie schon auf die anderen zugehen sollte, dann war das ein ideales Sprungbrett. Sie stellte sich die Gesichter ihrer Männer vor, könnten sie sehen, wie sie eine auf Dalida machte. Und Monot, was würde Monot dazu sagen!

Nach einem kurzen Abstecher in ihr Zimmer, wo sie ihren Gedichtband holte, setzte sie sich in einen Liegestuhl etwas abseits vom Gewimmel an der Bar. Sie blätterte darin und war enttäuscht. Es war schwieriger zu lesen, als sie es sich vorgestellt hatte. Sie verstand nicht, wovon Apollinaire sprach. Und was sie verstand, fand sie langweilig. Baudelaire war doch besser. Ach, wenn Monot doch da sein könnte! Er hätte ihr von Apollinaire erzählt, er hätte ihr seine Gedichte vorgetragen. Mit Monot wäre alles einfacher gewesen. Einschließlich dieses Falls.

Am Ende des Gedichtbändchens war eine Zugabe, ein Bestiarium, das zugänglicher schien: Die Gedichte hatten je nur vier Verse und waren mit Gravuren eines gewissen Dufy ausgestattet. Sie blieb bei der Eule hängen:

Mein armes Herz: der Eule gleich!

Genagelt, frei, nochmals ins Fleisch getrieben,

Die Nägel, blutvoll, glutenreich.

Ich lobe alle, die mich lieben.

Endlich ein Gedicht, das ihr gefiel, wie man es in der Grundschule las. Sie beschloss, es auswendig zu lernen, indem sie es mehrmals leise las:

Mein armes Herz: der Eule gleich!

Genagelt, frei

»Müssen Sie einen Text auch laut sprechen, wenn Sie lesen? Meine Großmutter macht das auch so. Wie ist der Titel? Alkohol? Ein Buch über Alkoholismus? Mögen Sie keine Romane? Ich bin wie Sie, keine Romane, nur Bücher über aktuelle Themen, vor allem über Promis. Man lernt einen Haufen Dinge, über die man sich gut unterhalten kann.«

Eine Chérie in einem grünen Pareo und einem blauen Bikini-Oberteil sah sie wohlwollend an. Ihr Mann hielt sich im Hintergrund. Er trug ein oranges T-Shirt und die gleiche lila Schirmmütze wie seine Frau, schien aber gegenüber Intellektuellen größeres Misstrauen zu hegen.

Viviane beruhigte die Chérie, es seien Gedichte. Und nicht nur über Alkohol, sondern auch über Tiere. Sie hielt es für angebracht, ihr die Seite zu zeigen, die sie las, als müsste sie sich verteidigen.

»Hübsch, dieses Bild. Schade, dass es nicht farbig ist.«

In der folgenden halben Stunde kam die Kommissarin noch in den Genuss dreier ähnlicher Besucher. »Ich habe auch schon mal ein Buch von Anonymen Alkoholikern gelesen, ich weiß aber nicht mehr, von wem es war«; »In der Schule haben wir Gedichte von Maurice Carême gelernt, kennst du den?«; »Als Dichter mag ich Francis Cabrel lieber, außerdem gibt es da auch Musik zu.«

Sie brauchte nicht mehr auf die anderen zuzugehen, die anderen kamen auf sie zu. Im Club genügte es, sich zurückzuziehen, ein Buch aufzuschlagen, und schon paradierten die Neugierigen.

Nur, dass die Erwähnung ihrer jeweiligen Lektüren die Ermittlungen nicht voranbrachte.

Die nächste Neugierige war eine hübsche Brünette mit dem Körper einer Bodybuilderin. »Hallo, ich bin Muskel-Kiki. Wollen Sie nicht lieber zum Step kommen, anstatt sich hier beim Lesen alleine zu langweilen? Das wird Ihnen bestimmt guttun.«

Die Kommissarin lehnte lächelnd ab: Nein, lesen langweile sie nicht, und ein Step, es tue ihr leid, aber sie wisse nicht einmal, worum es sich dabei handle.

Muskel-Kiki verzog traurig das Gesicht. »Es wäre wirklich schön, wenn Sie kommen würde, das würde mir helfen. King hatte mich schon vorgewarnt: Wenn nicht genügend Teilnehmerinnen kommen, wird der Kurs gestrichen. Und mit Königin und Animateur-Koko wird das bestimmt nicht besser werden, eher im Gegenteil …«

Viviane legte ihre Gedichte beiseite. »Wenn das so ist, komme ich mit, aber Sie erklären mir, warum Sie sagen, dass das bestimmt nicht besser wird, eher im Gegenteil …«

Muskel-Kiki schenkte ihr ein breites, athletisches Lächeln. »Wenn du zum Step kommst, darfst du mich duzen. Na ja, so unter uns: Königin hat nur den Umsatz im Sinn und legt Tabellen an, um zu vergleichen, wie stark besucht die Kurse sind. Sind zu wenige eingeschrieben, hopp!, wird der Kurs gestrichen. Und wenn der Koko plötzlich nicht mehr genügend Kurse anbietet, hopp!, wird der Koko gestrichen. King ist tot, aber das hat nichts geändert.«

»Warst du auch bei ihm vorgeladen, am 14. Juli?«

»Ja, da hat King mir gedroht, den Step zu streichen. Er hat mir einen Aufschub gewährt, unter einer Bedingung: Ich sollte ihm alles berichten, was ich über seine Frau höre. Als ob sie unser einziges Gesprächsthema wäre …«

Viviane stellte sich die Szene vor. Die gleißende Sonne, die grandiose Umgebung des Amphitheaters, die Einsamkeit von King, der erst den Monarchen und dann den Tyrannen spielte; die Vasallen, von denen er Unterwürfigkeit und Verleumdungen erwartete. Er, der das Theater anscheinend so mochte, hatte er begriffen, dass er dabei war, seine eigene Tragödie zu inszenieren? »War King an dem Tag wie immer?«

»Er war nie wie immer, an diesem Nachmittag noch weniger. Er war wie von Sinnen, aufgeregt, von allen guten Geistern verlassen. Ich habe mich gefragt, ob er nicht betrunken war oder unter Drogen stand. Warum fragst du das alles?«

»Ich suche nach Ideen für mein Drehbuch.«

Muskel-Kiki kündigte an, dass es Zeit für den Step sei. Viviane folgte ihr auf dem Fuß, um mit Schrecken festzustellen, dass sie in den Genuss einer Einzelstunde kommen würde. Nie hatte sie sich so einsam gefühlt, wie in der halben Stunde Sport, zu der die junge Frau sie verdonnert hatte. Die Kommissarin stieg auf ihr Step-Brett, und wieder runter, und wieder rauf, eins, zwei, sehr gut, tap up, tap down, und zwei V-Steps, Seite, rechts, links, drei, vier, ja, so, zwei Basics, zwei, und dann knee up, fünf, sechs, turn, sieben, acht.

»Nie wieder Pommes«, versprach sie sich, »jedenfalls nicht vor morgen.« Sie beendete die Stunde taumelnd und hatte kaum noch Kraft zu lächeln, als Muskel-Kiki ihr ankündigte: »Morgen früh erwarte ich dich zum Bauch-Beine-Po-Kurs!«

Viviane war auf die anderen zugegangen, und jetzt tat ihr alles weh.