20

 

Im Spiel ist die Symmetrie, wie und wann immer sie auch erreicht sein mag, nicht verloren, aber sie kann auch nicht bestehen.

Die Spieltexte

 

Und so warteten sie alle auf dem die Vertiefung umgürtenden Sims darauf, daß die Mitglieder der abgelösten Webe zu ihnen heraufkamen. Eine Zeitlang stand Sanjirmil dicht neben der Perwathwiy Srith, neben der Tastatur der Hauptkonsole, während sie offensichtlich Fragen beantwortete und kleine Bedienungsanweisungen hinzufügte. Die Besucher bekamen die Worte nicht mit, noch konnten sie ihre Bedeutung erfahren; die Worte waren unhörbar und von einem seltsamen, aber vollkommenen Fehlen körperlicher Gesten begleitet. Fellirian schloß hieraus, daß die Perwathwiy und Sanjirmil in der einen oder anderen Form von Multisprache miteinander redeten.

Und während sich die Meister miteinander unterhielten, schritten die anderen aus der Vertiefung herauf; behutsam wählten sie ihren Weg, als seien sie benommen, jetzt, da sie von der Anspannung des Fliegens befreit waren. Besonders das jüngere Mädchen, Sunderlai, wirkte benommen und desorientiert durch das Gewicht ihrer vergangenen Schicht an den Kontrollen: Ihre Aufmerksamkeit schien zerstreut, ihre Bewegungen, als sie die Stufen emporstieg, fast behäbig zu sein. Eine Schande; Sunderlai war ein kleines, zartes Mädchen mit weichen, rundlichen Formen, ihre Haut zeigte die Farbe geschleuderten Honigs. Sie war doch noch ein Kind, rundgesichtig, freundlich, hübsch, obgleich keine Schönheit. Aber insgesamt ein gesundes, lebhaftes junges Ding. Oder sie wäre dies gewesen. Fellirian konnte es sich ziemlich gut vorstellen: Auswahl, ohne daß das Mädchen selbst etwas davon erfuhr, dann frühe Entwurzelung von Yos und Heimat und Versetzung in die harte Ausbildung, damit sie unter der strengsten Zuchtmeisterin, die es gab, fliegen lernen konnte – Sanjirmil.

Die anderen waren kaum anders. Alle waren sie ermüdet und zerstreut. Benommen von den langen Stunden an den Konsolen.

Bei Sanjirmils Innenverwandten, Tundarstven, schienen die Auswirkungen weniger deutlich zu sein, ersetzt durch etwas, das eher an tiefe Gleichgültigkeit erinnerte. Und Sanjirmil kehrte sich von ihrer Unterhaltung mit der Perwathwiy ab, sagte etwas zu ihrem Innenverwandten, das Fellirian nicht vollständig mitbekam, etwas, die Spielperiode betreffend, die sie soeben beendet hatten, tief in der Terminologie des Inneren Spiels verwurzelt. Und die Gewohnheit der Flugschicht steckte noch tief in ihm, denn er drehte sich ihr sofort zu, aber seine Antwort, die nach einer kleinen Pause kam, war eindeutig und nichts anderes, begleitet von einer kleinen Handbewegung, die Gleichgültigkeit ausdrückte. Dieser kleine Wortwechsel zeigte Fellirian den über sie geschwungenen Einfluß Sanjirmils; manche Dämonen konnten nur durch Gleichgültigkeit exorziert werden.

Die drei anderen Mitglieder von Sanjirmils Webe stiegen aus der Vertiefung empor und verließen den Raum, ohne sich aufzuhalten, durch die Hauptluke. Sanjirmil, die als letzte kam, hatte jetzt offenbar die Unterhaltung mit der Perwathwiy beendet, und so verließ auch sie den Konsolenbereich, indem sie sich, wie es den Anschein hatte, mit Zögern und einem schleppenden Schritt abwandte.

Sie stieg zu dem von einem Geländer begrenzten Sims empor, wobei sie einen Teil, jedoch nicht alles, von der stählernen Kontrollmiene abwarf, die sie immer trug, wenn sie die Kontrolle innegehabt hatte. Auch sie war sichtlich ermüdet, aber sie wirkte nicht desorientiert wie die anderen. Sanjirmil hatte Reserven, von denen zu erfahren sie bisher nicht einmal angefangen hatten … Und als sie näher kam, fielen Fellirian insbesondere die Augen des jüngeren Mädchens auf; sie hatten einen eigenartigen Ausdruck, einen fast glasigen Blick, der bei näherem Hinsehen nicht so sehr Unaufmerksamkeit oder Unkonzentriertheit war, sondern eine unbewußte, forschende Angewohnheit, ein beinahe ausschließliches Vertrauen in das periphere Sehen. Natürlich, sie verstand: Nur mit geübtem peripherem Sehen konnten sie das über ihnen schimmernde Spielfeld sehen und darauf reagieren, besonders dann, wenn das komplette Feld aktiviert war.

Sanjirmil erreichte den Treppenabsatz gegenüber Fellirian. Der unheimliche, forschende Blick wandte sich in ihre Richtung, gewahrte Pellandrey, Fellirian, Morlenden. Augenblicklich las sie in ihren Gesichtern, wobei sie das aussonderte, auf das sie ihre wirkliche Aufmerksamkeit heften würde. Pellandrey bot für sie nichts Neues, das war klar. Und Fellirian tat sie von vornherein ab. Eine traditionelle Rivalin war Fellirian, die loyale Innenverwandte gewesen, aber nicht mehr.

In der zeitlosen Art aller Lebewesen, die sich frei bewegten, maßen sie Wert und Gewicht des Gegenübers, als sie einander ansahen. Was sie selbst betraf, so spürte Fellirian die Zuversicht, die ihre Reife und Elternschaft ihr gebracht hatten … Hunderte von Entscheidungen, die sie hatte treffen müssen, die gelösten Probleme. Sie hatte ihren Platz im Institut, und diese Tatsache stärkte ihr Selbstbewußtsein ebenfalls. Sie wußte von sich, daß sie eine bedeutende Persönlichkeit war. Aber Sanjirmil besaß einen ungeheuer starken Willen, einen grimmigen Richtungsvektor und natürlich die Tarnung und Irreführung ihres Wahnsinns; sie war davon überzeugt, recht zu haben. Und hier, an diesem Ort, hatte sie die Macht ihrer Stellung hinter sich, denn in der Tat gehörte dieses Schiff ihr. Aber da war noch mehr: Sanjirmils Sexualität war beinahe erschreckend. Fellirian konnte sie spüren, konnte fast die von ihr ausstrahlenden Wellen gegen sich anrennen fühlen, Wellen reiner Körperlichkeit. Extrem, pervers. Nie zuvor war Fellirian einem von solch roher Gewalt besessenen Mädchen begegnet.

Langsam kam Sanjirmil auf sie zu. Fellirian blickte ihr entgegen, machtlos, unfähig, davonzulaufen oder sich auch nur abzuwenden. Vom Sims herunter betrachtet, in ihrer Kontrollwiege zurückgelehnt, war die dunkle Kleidung, die Sanjirmil trug, kaum mehr als eine Ablenkung gewesen, aber hier, in nächster Nähe, auf gleicher Höhe, sah Fellirian die Gestalt auf sich zukommen, eindrucksvoll in Pechschwarz gekleidet, das lediglich von dünnen, weißen Linien unterbrochen wurde. Ihre Blicke begegneten sich, konzentrierten sich, blieben aneinander haften; der glasige, unscharfe Blick wich aus Sanjirmils Augen, wurde durch ein verwirrend direktes Starren bloßen Willens, ätzender Fähigkeit, grenzenloser Bosheit ersetzt. Ein brennender Blick war es. Fellirian schaute instinktiv weg, wich dem Blick aus, schützte sich vor etwas, von dem sie fühlte, daß es weit über ihre Fähigkeit, es zu zähmen, zu bezwingen hinausging.

Sie sprach, beinahe unfreiwillig: „Morlenden trägt die Matrix von Mevlannen.“

Sanjirmil nickte, wobei sich ihr Blick wieder in jene suchende Art zurückverwandelte, als sei dies nicht mehr gewesen, als sie zu hören erwartet hatte. Und jetzt stand sie Morlenden gegenüber, fixierte ihn mit dem gleichen verwirrenden Blick. Er sah sie fast genauso wie Fellirian, aber auch eindringlicher, denn dieses feige, gefährliche Wesen, das für sie alle nahezu unkontrollierbar war, dieses Mädchen in Schwarz, war ihm einst wohl bekannt gewesen und hatte keine Armeslänge entfernt in einem stillen Raum mit ihm gesessen. Aber jetzt war sie in ihrer Zeit, in ihrer vollen Reife, auf dem Gipfel ihrer Macht, sicher an ihrem eigenen Ort, und er fühlte ihre Stärke eher noch eindringlicher als Fellirian.

Sanjirmils Arbeits-Überhemd hing schlaff an ihrem Körper; die langen Stunden, die sie an der Konsolen-Tastatur verbracht hatte, hatten ihre Spuren hinterlassen. Und so waren die kantigen, schlichten Kurven ihres Körpers leicht zu erkennen. Auf Gesicht, Hals und Unterarmen, die allein entblößt waren, erschien der warme, gemaserte Ton der Haut deutlicher; ein hartes, brüniertes Oliv an den Linien der Knochen und Sehnen; weiches, mattes Rosa in den sanfteren Vertiefungen. Drahtig und doch auch reif, bedingungslos erotisch, auch dort, wo andere von dieser Farbe nur hübsch oder attraktiv waren. Er dachte, daß diese Wirkung vielleicht der Figur zu verdanken war, denn Sanjirmil gehörte nicht zu den eher undifferenzierten, gleichgeschlechtlich wirkenden, typischen Ler-Mädchen, sondern war näher an der alten menschlichen Figur mit ihren Kurven, Vertiefungen, Fülligkeiten, der insgesamt stärker ausgeprägten sexuellen Differenzierung. Und Morlenden war sich der Tatsache bewußt, daß ihr Körper, obwohl von einer vollen Schicht an der Meister-Konsole ermüdet, noch Reaktionen in ihm hervorrufen konnte, sogar trotz der großen Veränderung. Er fühlte sich eingeschüchtert, gefordert.

Unter dem Elan, der Kraft, die sie ausstrahlte, spürte er, kaum verborgen: Feindseligkeit. Dieses Mal war es keine durch Neid hervorgerufene Feindseligkeit, wie das anfangs der Fall gewesen sein mochte, dieses Mal war es eine aus Arroganz, Verachtung, Überheblichkeit und allzu lange, zufällig in jemandem, der von Natur aus nicht darauf vorbereitet gewesen war, angehäufter Verantwortung geborene Feindseligkeit. Ein Heilmittel hierfür gab es nicht; er sah es wie Pellandrey. Die Umstände hatten ihren bösen Zauber auf sie alle angewandt, genau wie bei anderen und ihren Plänen und Träumen. Morlenden zweifelte überhaupt nicht daran, daß alle auch noch so fremden Wesen, die das Universum mit den Menschen und den Ler teilten, vor demselben Dilemma gestanden hatten, daß in der Tat sogar gerade jetzt irgendwo etwas denselben Problemen gegenüberstand wie sie – oder etwas Ähnlichem. Morlenden spürte eine plötzliche Woge der Sympathie für die unbekannten Wesen, denn er mochte dieses Gewicht nicht. Er spürte es heftig, zu heftig. Irgend etwas lauerte im Hintergrund seines Verstandes, etwas, das gerade weit genug außer Sicht war, etwas, das diese Begegnung mit Sanjirmil bedeutsamer machte, als sie es war. Gab es etwas, mit dem sie erreichen konnte, etwas, das Pellandrey nicht bereits versucht hatte? Er überlegte; es gab nichts, was seiner Meinung nach hinzuzufügen wäre, und doch wuchs eine Art Erwartungshaltung in ihm. Das war eine sehr eigenartige Empfindung, denn momentan hatte er kein wirkliches Verlangen danach, Sanjirmil wiederzusehen, gewiß keines mit der Freude und dem Eifer eines Liebenden, aber trotzdem war es ein Gefühl, das in der Nähe davon lag. Gleichzeitig aber war es auch fremd, als wären weitere Komponenten darin enthalten.

Sie stand jetzt vor ihm, und er konnte sie wie durch ein Vergrößerungsglas sehen; mit Immanenz und Schrecken. Wie bei allen starken Persönlichkeiten war ihre Erscheinung aufgewühlt, turbulent, weiter bewegt durch eine stürmische, unruhige Folge von Erinnerungen. Sie mochte gut und gerne verrückt sein: Morlenden war sicher, daß ihr Gedächtnis dafür um so klarer war. Empathetisch ertastete er mit seinen Instinkten eine Gestalt-Wahrnehmung von ihr, nach außen projiziert und durch die Realität ihres allgegenwärtigen Jetzt bestätigt. Ja, er konnte sie in der überlebensgroßen Gestalt vor sich sehen, jene Gestalt, die näher kam, näher, nahe genug, um sie mit der vorgestreckten Hand berühren zu können. Aber er wußte nicht, ob er es jetzt wagen sollte. Ja, er konnte es sehen … Sanjirmil war ein Wildfang gewesen, Dantlanosi, drahtig, stark, aggressiv; sie hatte es am liebsten im Stehen gemacht, unter einer kühlen Brücke im Regen, schnell und hart, hatte keine Schonung erbeten und keine gegeben, eine heiße und schweißnasse, durchdringend süße Umarmung und Vereinigung.

Dies war ihre Natur, aber der Unfall, der sie zu einer Spielerin, aber auch zu einem Ungeheuer, gemacht hatte, hatte diese Natur gänzlich von ihr genommen. Was übriggeblieben war, das war die tiefe Innerlichkeit der Innenverwandten, jetzt allerdings weitgehend überproportional vergrößert. Einst hatte sie die gleiche Chance zu den ungestümen Freiheiten der Heranwachsenden gehabt wie alle anderen auch, die leichte und zwanglose Promiskuität, die entspannten und trägen Affären, die mit der Zeit und den Zwanzigern kamen. Aber sie hatten sie nicht gehabt: Statt dessen hatte Sanjirmil eine furchtbare Belastung erfahren und gesiegt, aber um welchen Preis? Und irgendwo in ihr lag das Wissen, sorgfältig verborgen und daran gehindert, an die Oberfläche heraufzutreiben, daß, wie bei allen Geisteskrankheiten, der Preis für die Rückkehr nicht festgesetzt blieb, sondern langsam und unvermeidlich immer größer wurde. Er wußte, daß sie jetzt nicht mehr aus eigenem Willen normal werden würde. Jetzt? Jetzt blieb nur noch eines – ihr die Matrix zu übergeben und vielleicht ein paar Worte zu versuchen, jetzt, da er es wußte. Ja, vielleicht war es ein Gefühl der Besorgnis, das er empfand. Er würde Sanjirmil in einer Position der Schwäche haben, wenn sie empfing; Vielleicht könnte er dann … Vielleicht könnte er sie von ihrem Kurs abbringen, sie durch einen Verweis auf ihre gemeinsamen Erinnerungen, ihre Vergangenheit, in eine neue Bahn lenken?

Er sprach zuerst. „Ich habe die Matrix von Mevlannen zu dir gebracht, wie es meinem Auftrag entsprach. Bist du bereit zu empfangen?“ Und noch während er zu ihr sprach, spürte er eine wilde Woge der Vorahnung, gänzlich ungewohnt, und er verstand nicht, weshalb er sich so übermütig, so … wild fühlte. Was, zum Teufel, ging mit ihm vor? Der Raum begann zu schrumpfen, sich zusammenzuziehen, sich auf ihn selbst und Sanjirmil zu konzentrieren. Was geschah? Ganz gleich, was es auch war, er fühlte sich zunehmend machtloser, den Lauf der Dinge zu ändern. Eine wilde Unbeherrschtheit ergriff ihn, flüsterte in sein inneres Ohr: Laß es sein! Laß das, was geschehen wird, geschehen. Es wird dir gefallen; du wirst damit gern in die Zukunft fahren!

Sanjirmil antwortete einfach, leise, mit einer Stimme, die große Ermüdung verriet: „Darauf habe ich gewartet, denn ich wußte, daß die Zeit gekommen ist, Spiel und Matrix zu integrieren. Sprich weiter, Bote. Deskris … Ich erwarte dich.“

Ihre Blicke beendeten ihre Suche, fanden Morlendens Augen, bohrten sich in seinen Blick. Morlenden begann, und es war leicht, denn er brauchte sich nur an die Reihenfolge zu erinnern, die ihm Mevlannen eingegeben hatte, sie in sein Gedächtnis zurückzurufen und sodann freizugeben. Leicht. Und die wilde Vorfreude in seinem Herzen flammte wie ein Lauffeuer hoch, frohlockend. Fast erreicht, schien sie zu sagen, fast erreicht, und der Augenblick wird noch im Verlauf dieser Szene gekommen sein! Leise sang er ihr die Folge vor, während er langsam, ungeschickt fühlte, wie sie sich, als Empfängerin, in seinen Einfluß beugte, ein Teil von ihm wurde, eine Erweiterung seiner selbst. Alles natürlich das Ergebnis der Multisprache, aber es floß auch einiges von ihrer Beziehung darin ein. Sie erlaubte Morlenden, einen Teil von sich zu übernehmen, weil sie ihm vertraute, wie sie niemandem sonst auf der Welt vertraute. Und er sah am Rande seiner Wahrnehmungen, daß der wilde Glanz irgendwie aus ihren Augen wich, die Anspannung ihres rauhen, kantigen Gesichts, das er einst so ungestüm und heftig geliebt hatte. Andere, vertraute Emotionen begannen, sich darauf zu zeigen, und etwas, das sie hörte und erkannte, etwas, von dem sie sagen konnte, daß sie es wirklich kannte wie kein anderer. Diese neuen Empfindungen flackerten über das rauhe, aber weicher werdende Gesicht wie Feuerschein über eine rauhe, neue Steinmauer. Ihre dünnen Lippen waren straff und weiß vor lauter Anspannung, als sie nach den feineren Nuancen der Matrix griff, sie gleichzeitig integrierte.

Und die Kette der Matrixzahlen endete plötzlich, hörte auf; es hatte keine Warnung gegeben, keine Vorahnung, auch nicht für das, was an ihre Stelle trat: Morlenden stellte fest, daß er ganz ohne es zu wollen in der stärksten Kommando-Multisprache sprach, die er je gehört hatte. Sanjirmils Ich-Abwehrkräfte, ihre Willensabwehr gegen äußere Kontrolle durch den Kommando-Modus der Multisprache waren nicht gefallen, jedoch so weit gelockert, daß es keine Rolle spielte; sie hätten genausogut gefallen sein können. Der plötzliche Ansturm, der Morlenden ebenso überraschte wie Sanjirmil, zerschmetterte ihren Willen, hämmerte ihn flach, schlug ihn nieder und griff nach dem zentralen Knotenpunkt in ihrem Verstand, der sie gesund machen würde, ja, gesund, obwohl er sie von innen heraus tötete. Seine Stimme hallte und dröhnte in ihrem Schädel, tastete, zerrte, packte zu. Und ein Abbild von Mevlannen erschien, und es sagte: Entschuldige den Zwang, Morlenden. Ich habe dich gewarnt und dir prophezeit, daß wir dich hintergehen würden. Ich wußte, wer Mael in den Tod geschickt hat, aber ich bin nie nahe genug herangekommen, um es selbst zu tun. Dir war diese Möglichkeit gegeben, und jetzt ist dieser Augenblick gekommen. Führe unsere Rache aus! Vernichte dieses Ding vor dir! Es kann nicht geheilt, sondern nur getötet werden, und nur von innen heraus! JETZT!

Dies also war der Quell der Vorfreude, des Frohlockens, dessen Ausstrahlungen er gefühlt hatte, als der Moment nahte – überhaupt nicht er selbst, sondern ein Zwang, eingegeben von Mevlannen, als sie die Matrix an ihn übergeben hatte.

Morlenden zögerte, denn obwohl er Maellenkleth rächen wollte, hatte er Sanjirmil nie Böses antun wollen. Nur Zorn war in ihm gewesen. Und jetzt bedeutete dieses Zögern beinahe sein Ende, denn obwohl Morlenden noch Vorbehalte hatte und Mevlannens Zwang zu widerstehen versuchte – Sanjirmil hatte solche Vorbehalte nicht im geringsten. Und er sollte herausfinden, daß sie, wenn ihr Überleben auf dem Spiel stand, ihre Müdigkeit abwerfen konnte, so wie eine Fichte in einem plötzlichen Wind die Regentropfen abwirft.

In diesem Augenblick, in dem er mit sich selbst gestritten, gezögert, den Zwang bekämpft hatte, war seine Aufmerksamkeit von Sanjirmil abgelenkt gewesen. Und jetzt erholte sie sich von dem gegen sie geschmetterten Multisprachen-Ansturm. Und er verlor den Glauben an das Programm, das ihm Mevlannen eingesetzt hatte, und die Worte wurden jetzt zu Worten, die harmlos von Sanjirmil abfielen. In seinen Wahrnehmungen erlosch der Raum und wurde von einer grenzenlosen Dunkelheit ersetzt. Er konnte sich Sanjirmil vorstellen, sie jedoch nicht sehen, wie sie sich zusammennahm, sich erholte, sich jetzt erhob, um zurückzuschlagen. Zögernd bewegte er sich. Er wußte, daß er in großer Gefahr schwebte und suchte nach einer Möglichkeit, sich gegen den nahenden Gegenangriff zu wappnen.

Und eine Stimme gellte von allen Seiten auf ihn ein:

Also solltest es doch du sein, nicht wahr? Es war genau so, wie ich an jenem Tag befürchtete, da ich in Begleitung der Perwathwiy kam: Du würdest das lange Band abwickeln und dich auch gegen mich stellen, wie alle anderen. Nun bist du so weit gekommen, also bezeuge, was andere, die es versuchten, sehen mußten. Manche sind noch da. Du wirst bei ihnen sein.

Und gleich darauf wurde die pelzige Dunkelheit von der abstrakten Ebene ersetzt, die er vorhin erblickt hatte. Nur stand er jetzt auf deren Oberfläche, benommen, orientierungslos, und schaute umher. Er war allein. Eine braune, flache Ebene, die von einem schwachen, bernsteinfarbenen, ursprunglosen Licht erhellt wurde, das in die Unendlichkeit fortjagte, ein Horizont, der überwältigend weit entfernt war. Sanjirmil hatte Morlanden in ihren eigenen privaten Vorhof der Hölle geschleudert.

Er zwang sich nachzudenken, nicht in Panik zu verfallen und loszurennen, wie es die anderen zweifellos getan hatten. Wild rennen, wie sie es getan hatten, und er wußte, der Tod würde aus tausend Richtungen kommen, auf unfaßbare Art und Weise. Er mußte überlegen. Morlenden sah sich den „Boden“ an. Er schien schwach mit parallelen Linien graviert, deren Verlauf er jetzt, da er sie sah, bis zum Horizont verfolgen konnte. Also gab es wenigstens etwas Regelmäßiges an diesem Ort. Und er wußte, daß dieser Vorhof der Hölle während des Spiels entstanden war, von Sanjirmil geschaffen, aber noch immer Teil eines Spielprogramms. Er versuchte, sich an alles zu erinnern, was er von Krisshantem gelernt hatte, versuchte, einen Ausweg zu finden. Zögernd begann er, kurze Ausbrüche in der Spielsprache zu formulieren, im Kommando-Modus. Anfangs geschah nichts, aber bei einem gewissen Sektor gab es eine plötzliche Instabilität. Der braune Horizont flackerte auf. Ja. Sein Herz übersprang einen Schlag. Ja! Er konnte diesen Vorhof der Hölle niederreißen. Wieder tastete er danach.

Jetzt entwickelte sich ein Fleck, knapp außerhalb der Mitte seines Blickfeldes, wie ein Migränefleck, ein unbeständiger, flackernder Fleck in Schwarz und Hummel-Gelb, der pulsierte, wuchs, sich in sein Blickfeld wand, seine Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Er steigerte seine Bemühungen. Der gelbschwarze Fleck nahm an Intensität zu, und ein Summen wurde laut, immer lauter, und gleichzeitig begann er, einen Willen zu spüren, der sich gegen ihn drängte, fester, fester … Der wabernde Farbfleck wuchs, wurde riesig, bedeckte ein Drittel der Szenerie und schrumpfte dann ganz plötzlich, nahm Gestalt an, wurde ein menschliches Wesen … Und Sanjirmil materialisierte aus dem Flecken heraus, ohne Warnung, mit einer seltsamen, tanzartigen Bewegung; ihr lederner Umhang wirbelte um sie herum und beruhigte sich wieder, nachdem sie mit einem schwachen Zischen verdrängter Luft in dieser befremdlichen Welt materialisiert war. Und jetzt stand sie nur ein paar Fuß entfernt, in Schwarz gekleidet, ihre Gestalt in einer Pose unheilvoller Drohung; dann setzte sie sich in Bewegung, langsam, in einem sanften Bogen, näherte sie sich ihm.

„Ho, Morlenden!“ rief sie ihn an. „Du bist findiger, als ich dachte. Ein Spieler, nicht weniger! Wie bist du dahintergekommen?“

Er musterte sie und unterbrach einen Moment lang seine Bemühungen, die Wälle dieser Vorhölle zu durchbrechen. „Genauso wie es mir gelang, dich anzugreifen, Sanjir. Es wurden Dinge in mich gepflanzt, um die ich nicht gebeten habe.“

„Ich weiß, daß dir Mevlannen einen Zwang auferlegt hat; solche Dinge hinterlassen Spuren, wie die Witterung des Jägers an seinen Fallen.“

„Krisshantem pflanzte mir das Programm eines Äußeren Spielers ein. Und damit sehe ich das Licht. Ich werde diese von dir geschaffene Hölle niederreißen.“

„Dies bezweifle ich keine Sekunde lang. Du würdest es wirklich tun – wenn ich es dich tun ließe. Das kannst du aber nicht von mir verlangen. Verstehst du mein Handeln? Du bist der erste, der merkt, daß es möglich ist, obwohl schon weit bessere Spieler hierher verschlagen worden sind. … und versagt haben. Deshalb komme ich persönlich. Was getan werden muß … Aber das weißt du. Kannst du mich davon abbringen, bevor ich …?“

„Dich davon abbringen? Das habe ich nicht vor. Behalte deinen Abstand bei, sonst werde ich Mevlannens Vernichtungsprogramm reaktivieren. Ich weiß, daß du mächtig bist, Sanjir, aber du kannst nicht auf beide Enden achten.“ Und ohne Warnung verfiel er in Kommando-Multisprache, versuchte Mevlannens Anweisungen zu rekapitulieren, dieses Mal jedoch mit einem Glauben daran und mit einem tiefen Gefühl der Selbstbehauptung unterlegt. Sanjirmil war auf den zweiten Angriff nicht vorbereitet; offenbar hatte sie gedacht, nur diese Vorhölle betreten und sich dieses lästigen Fremden entledigen zu müssen … Jetzt taumelte sie zurück, ihr Abbild flackerte, der Horizont war plötzlich unbeständig geworden. So einer hatte ihr noch nie gegenübergestanden! Er wehrte sich unvorstellbar! In einer ungeheueren Anstrengung, die ihre Stirnadern zu einem scharfen Relief hervortreten ließ, stellte sie ihm, konfrontierte ihn mit ihrer eigenen Kommando-Multisprache, und wieder fühlte sich Morlenden in der Umklammerung eines ungeheueren Willens gefangen. Die seltsame Welt festigte sich, ebenso ihr Wille. Und sie begann, ihn zu umkreisen, wie ein Wolf, und langsam kam sie näher. Morlenden setzte sich ebenfalls in Bewegung, umkreiste sie, zog buchstäblich seine eigenen Kreise, denn er wußte, daß ein Schwanken in diesem Augenblick sein sofortiges Ende bedeutete; nie würde er von diesem Ort zurückkehren, wo auch immer sich dieser befinden mochte.

Er rief ihr zu: „Ho, Sanjirmil! Ich kann dich endlos hinhalten! Greif mich an, und ich entwirre deine Vorhölle. Bessere deine Weltlinien aus, und ich werde dich angreifen.“

Ihr Gesicht zu einer angestrengten Grimasse verzogen, erwiderte sie: „Hinhalten, meinst du? Hier gibt es nichts außer meiner eigenen Zeit. Ich werde dich erschöpfen. Aber du weißt, daß dies nicht mein Herzenswunsch ist, Morlen …“

„Dann sprich von Herzenswünschen. Es scheint, daß wir uns auch hier nur wenig mehr als Boshaftes zu sagen haben.“

„Wenn du aufhörst, mich zu bekämpfen, und dich mir in meinem Kreuzzug gegen die Dummheit anschließt, so werde ich alles mit dir teilen, so oder so. Gleichberechtigt teilen. Du bist zu gut, um in einem so absurden Kampf wie diesem vergeudet zu werden.“

„Warum hast du Maellenkleth in die sichere Gefangenschaft hinausgeschickt?“

„Du hast es gesagt, deshalb weißt du, warum. Ich habe die alte menschliche Geschichte von Damvidhlan und Baethshevban{46} gelesen und sah meinen Weg frei. Maellen fiel natürlich Hurthayyans Rolle zu, oder, wie ihn die Vorläufer nennen: Uria, der Hethiter. Wie er, mochte sie die Front des Kampfes gern, übermäßig gern und wie er besaß sie etwas, das ich begehrte, nämlich die Hochachtung der restlichen Spieler-Gemeinschaft. So habe ich sie, wie Damvidhlan es tat, dorthin geschickt, wo es am heißesten herging.“

Morlenden unterbrach. „So etwas dem Zufall zu überlassen, sieht dir gar nicht ähnlich.“

„Nein“, erwiderte sie traurig. „Es war kein Zufall. Ich hatte einen wertlosen Agenten der Menschen gefördert und ihn für eine außergewöhnliche Tat zurückgehalten. Und da war sie. Durch ihn sorgte ich dafür, daß sie in Gefangenschaft geriet. Es war ein Mann namens Errat. Aber am Ende wurde er zu gerissen, und ich mußte ihn beseitigen. Zu gefährlich. Es ist etwas Gräßliches, mit Menschen zu tun zu haben; sie sind gefährlich … Erfüllt mit tausend Feindseligkeiten. Ihre Gedanken untergraben die eigenen, übernehmen sie, und man wird wie sie. Deshalb ging ich hinaus, um Errat zu töten; er war dabei, mich zu verderben.“

„Ha!“ bellte Morlenden. „Du von Errat verdorben? Andersherum würde ich es wohl glauben. Wenn du ihn eliminiert hast, so hast du ihm damit gewiß einen Gefallen getan.“

„Ich habe einen Pfeil auf dich abgeschossen, um dich zu warnen. Jetzt bedauere ich es fast, dich verfehlt zu haben.“

„Knapp verfehlt, ja? Oder paßt du deine Motive den Tatsachen an? Das ist eine Rechnung, die ich selbst mit dir begleichen muß: Du hast eine Waffe gegen mich gerichtet, die die Hand verläßt.“

„Ich sah, daß du hinzukamst und konnte nicht darauf hoffen, dich zu täuschen. Perwathwiy und die anderen konnte ich abhalten, denn sie wollten glauben … Aber ich sah, daß dich dein Weg schließlich zu mir führen würde. Ich stimme zu, daß es unklug war … Aber in dieser Angelegenheit wirst du kein Urteil über mich erhalten, denn dies würde das kleine Kontingent der Spieler schmälern. Sie brauchen mich jetzt – ganz abgesehen davon, daß ich die Herrin des Schiffes bin.“

„Dann brauchst du meine Hilfe nicht.“ Morlenden wandte sich von ihr ab und begann, die Enden der seltsamen Halbwelt, die Sanjirmil geschaffen hatte, aufzulösen. Sie entgegnete plötzlich, stabilisierte sie wieder, wobei heißer Zorn von ihr ausstrahlte.

„Laß das! Du weißt nicht, welche Kräfte du entfesseln wirst!“

„Seit dich das Schiff ergriffen hat, Sanjir, hast du davon gelebt, auf das Undenkbare zu setzen, darauf, daß es Dinge gab, die andere nicht tun würden. Das sehe ich. Aber ich werde sie tun, verstehst du? Du bist zu weit gegangen, und ich werde dich aufhalten!“

„Ohne Rücksicht, was es das Volk kosten wird?“

„Sieh dir an, was du das Volk schon gekostet hast! Wir waren unschuldig, aber das Böse ist in unsere Mitte gekommen, trug dein Überhemd, deine Stiefel, deine Lederkapuze. Dieses Böse möchte ich nicht zu den Sternen getragen sehen, so sehr du selbst es auch möchtest.“

„Schließe dich mir an, komm mit mir, sei wie einst mein Geliebter. Bald fliegen wir zu den neuen Welten, und ich werde dich über mich stellen, wenn wir landen, über Pellandrey.“

„Nein!“

„Du schuldest ihm nichts. Er hat das Herz deiner Innenverwandten vor langer Zeit während ihres vayyon gestohlen. Ja, ich weiß es, obwohl nicht einmal du es weißt. Es waren Pellandrey und Fellirian, und in all diesen Jahren ist es so geblieben.“

„Nein. Das vayyon ist das vayyon. Man kann es tun. Ich hege keinen Groll. Will nichts davon wissen. Ist es nicht so, daß du mich nicht überwältigen kannst und deshalb diese billigen Argumente vorbringst? In der Tat: Du wankst.“

„Jedoch nicht in dem, was getan werden muß. Sieh!“ Und wieder fühlte Morlenden die Wucht ihres Willens, die gegen ihn prallte, immer wieder, wie die Meeresbrandung. Er fühlte, wie er Schritt um Schritt, Zug um Zug in eine kauernde Stellung gezwungen wurde, in eine uralte Abwehrhaltung. Und jetzt kam sie auf ihn zu, drängte sich heran. Morlenden wehrte sich mit allen ihm zur Verfügung stehenden Kräften, verteidigte sich, riß an der Wand, die sich um ihn herum aufbaute, ihn zusammenpreßte, ihn einschloß. Sie stand vor ihm im unheimlichen Zwielicht der bernsteinfarbenen Ebene, eine Gestalt in dunkler Kleidung; ihre Hände waren gekrümmt.

„Schau!“ schrie sie. „Es wäre leicht, dich auszulöschen. Aber ich bin gnädig, und etwas von mir liebt dich noch immer. O Morlenden, gib deinen Widerstand gegen mich auf; schließe dich mir an. Als williger Freund bist du mir weit mehr wert denn als ein bezwungener Feind. Jeder kann seine Feinde bezwingen. Es ist leicht.“

In ihrer hämischen Freude über ihre Multisprachen-Kräfte und ihrer ungeheuren Kräfte als Spielerin war sie zu nahe herangekommen, hatte ihr Netz der Macht zu eng um Morlenden geschlossen. Er starrte konzentriert darauf, tastete mit den Fühlern seines Verstandes an seinen Grenzen entlang, tastete nach einer Spur von Schwäche. Es mußte eine geben, irgendwo.

„Mein letztes Angebot“, sagte sie. „Ich sehe, daß du das grundlegende Können hast. Ich biete dir die Hälfte all dessen, was mir gehört, die Macht und den Ruhm. Sag nur, daß du mich als das akzeptieren wirst, was ich bin, denn dafür kann ich nichts.“

„Nein!“ Morlenden verzog das Gesicht, während er noch immer an ihrem Willen herumtastete, noch immer nach einem schwachen Punkt suchte. Und er fand ihn! Ein winziger Riß: ihre Erinnerung an ihn. Dies war etwas, das ein anderer leicht übersehen hätte, denn sie hatte mit niemandem über ihre lange zurückliegende Liebelei gesprochen. Morlenden floß in diesen Riß hinein, wühlte sich weiter vor in den geschwächten Linien der Willenskraft im Gewebe der Kommando-Multisprache.

Und dann hatte er ihre Abwehr durchstoßen, war innerhalb der Mauern, nicht mehr außerhalb, und jetzt zögerte er nicht mehr, denn hier zu zögern würde das Ende bedeuten.

Sie jammerte: „Neiinnn …“ Und er fand den Knotenpunkt in ihrem Verstand, nach dem er gesucht hatte, und setzte das zerstörerische Programm Mevlannens mit all seinen Schrecken frei, ohne selbst darüber die Kontrolle zu verlieren. Wie ein wildes Tier kämpfte sie gegen ihn, und die Ebene verschwand völlig, und er wurde von einem Schwindelgefühl ergriffen; doch keinen Augenblick ließ er los. Sie drehte sich um und floh, aber Morlenden verfolgte sie wie ein Racheengel. Mühsam arbeitete er sich durch ein Labyrinth des Wahnsinns, des ganzen komplizierten Systems, das sie im Laufe der Jahre aufgebaut hatte. Aber endlich kam es ins Zentrum, zum zentralen Knoten, jenem Ereignis in ihrem Gedächtnis, mit dem alles angefangen hatte, der Erinnerung an jene Zeit im Schiff, als es sich aktivierte und sie gezwungen war, sich dem furchtbaren Kosmos allein zu stellen. Und Morlenden sah den grundlegenden Defekt, griff hinein und reparierte ihn und sah, wie sich der Rest, der sich jetzt dahinter einreihte, neu formierte. Es war vorbei. Der Vorgang war jetzt vorherbestimmt, unaufhaltsam, und am Ende würde sie anders sein. Er war sicher, sie würde geschwächt sein, und es tat ihm weh, sie so zu reduzieren.

Und dann befanden sie sich wieder im zentralen Kontrollraum, ohne Warnung, anscheinend in derselben Sekunde, in der sie ihn verlassen hatten, mit dem einen Unterschied, daß er Sanjirmil jetzt in seinen Armen hielt, sie stützte, als sie gegen ihn sank. Ihr Körper wurde von trockenem Schluchzen erschüttert. Ihre Augen waren fest geschlossen, und zwischen den Schluchzern bewegte sie tonlos ihre Lippen und murmelte etwas. Pellandrey und Fellirian sahen sie an, verwundert über Sanjirmils scheinbar plötzliche Veränderung; noch vor einem Augenblick war sie die Herrin des Kontrollzentrums gewesen, jetzt brach sie in Morlendens Armen zusammen.

Pellandrey trat vor; seine Augen funkelten. „Was hast du ihr angetan?“

Morlenden sprach, ohne seinen Blick von dem Mädchen zu nehmen: „Sie geheilt, das habe ich getan. Wahrscheinlich wird sie nie wieder fliegen, aber sie kann sich an die Grund-Integration, die Matrix und die Sterne aus der Sicht des Spieles erinnern, und sie kann euch führen. Aber sie ist jetzt ohne Waffen. Ich habe ihr die Flügel gestutzt.“

„Du Narr! Weißt du, was du getan hast? Du hast uns dazu verdammt zu warten, bis wir sie ersetzen können. Und wir haben nicht mehr soviel Zeit; jene Kräfte, die sie in der Menschenwelt aufgewühlt hat, werden unseren Berechnungen zufolge noch in dieser Woche hier sein.“

„Wenn du ihr, so wie sie war, erlaubt hast, euch zu führen, dann bist du der Narr und verdienst die Schmach all dessen, was passiert ist. Sie war wahnsinnig, du Blindfisch, und sie war auf dem besten Wege, euch alle zu vergiften, einen nach dem anderen. Du hast es soweit kommen lassen; die ganze Zeit über hast du Gegenmaßnahmen hinausgezögert, und sie wußte es, hat dich genau durchschaut. Bis sie dich in völliger Abhängigkeit hatte. Gott allein weiß, was sie in ihrem Zustand nach dem Abheben des Schiffes getan hätte. Wahrscheinlich hätte sie das gesamte Waffenarsenal, das ihr an Bord habt, gegen die Erde gerichtet und versucht, sie zu vernichten. Alles, was wir wollen, ist, sauber wegzukommen, nicht jedoch, ein Fanal der Rache zu setzen.“

Fellirian stimmte Morlenden zu. „Ich bin ganz seiner Meinung; hätten wir dies geschehen lassen, so hätten die Menschen es uns nie verziehen und es nie aus ihrem Gedächtnis entschwinden lassen. Sie hätten das Sternenschiff neu erfunden, ganz allein, um uns aufzuspüren. Ich möchte nicht, daß uns dieser Dämon durch den Raum bis zu den Grenzen des Universums verfolgt.“

Morlenden fügte hinzu: „Wenn es zum Schlimmsten kommt, kannst immer noch du selbst ihren Platz einnehmen. Ich weiß, daß sie systematisch potentielle Ersatzkräfte eliminiert hat, doch es müssen noch einige am Leben sein, die ihren Platz einnehmen können. Setze sie ein. Und laß sie als Astrogatoren für euch arbeiten. Du hast jetzt den hierfür nötigen Einfluß.“

Pellandrey antwortete nach einer Weile: „Natürlich hast du recht. Ich gebe den Fehler zu; wir alle hier haben zu lange damit gelebt, und man neigt dazu, eine solche Situation zu rationalisieren. Und was hast du nun von ihr erfahren? Welche Verbrechen hat Sanjirmil nun im einzelnen begangen?“

„Sie noch mehr zu bestrafen, hat keinen Sinn“, versetzte Morlenden. „Sie wird sich selbst kasteien, jetzt, da sie ihren ganzen Verstand wieder beieinander hat. Was könnten wir mit ihr machen, um ihre Opfer wieder lebendig werden zu lassen? Was könnten wir hinzufügen, was andere, zukünftige Sanjirmils schlagen wird? Wir können nicht mehr tun, als auf ihr Kommen vorbereitet sein, und sie sodann rechtzeitig aufhalten. Ich werde nicht sagen, was ich von ihr erfahren habe. Laß es ruhen: Du wolltest ihrer Position als Herrin des Spiels wegen nicht über sie urteilen und handeln. Deshalb brachte ich meinen Fall vor die Herrin des Spiels selbst, war mit ihrem Schiedsspruch nicht einverstanden und regelte die Angelegenheit mit ihr persönlich. Fahre fort, mir diesen Plan zu erläutern, Pellandrey.“

„Wenn ich zu Ende erzählt habe, was ich vor einigen Augenblicken begann, wirst du nicht mehr so gutherzig sein.“

„Pah. Ich bin nie im Leben gutherzig gewesen. Nur sachlich.“

„Sachlich … Sehr gut. Aber du wirst dich daran erinnern, daß wir ein gesteigertes Interesse der Menschen an diesem Gebiet als Resultat von Sanjirmils Manipulationen registrierten? Daß dies alles einen Zeitplan unterbrochen und zunichte gemacht hat, jenes Programm nämlich, das wir der menschlichen Gesellschaft auferlegten?“

„Ja.“

„Mehr als nur das wurde damit unterbrochen; unterbrochen wurde auch das ordnungsgemäße Wachstum des Schiffes …“

Fellirian legte ihre Hände vor ihren Mund und sagte einfach „Oh!“

„Und das Schiff wächst nur in einem bestimmten und vom Spiel kontrollierten Tempo. Dies gibt uns den Innenraum, den wir sodann bewohnbar machen müssen. Die Geburtenrate unserer Rasse ist so festgelegt, daß zu einem bestimmten Zeitpunkt der verfügbare Raum im Schiff exakt dem für das ganze Volk erforderlichen Raum entspricht.“

„Wenn das Schiff also jetzt die Erde verlassen würde, wäre noch zuwenig Platz vorhanden …“ stellte Morlenden langsam fest.

„Genau. Nach allem, was Maellenkleth herausgefunden hatte, bevor man sie faßte, war die Zeit schon damals reif. Eigentlich ist unser Abflug jetzt überfällig. Wir müssen spätestens nächste Woche fliegen, oder wir sind – unseren Untersuchungen zufolge – gezwungen, uns durchzukämpfen. Dies kann bereits jetzt der Fall sein. Und es gibt nicht genügend Platz. Verstehst du? Es gibt keinen Platz.“

„Also müssen einige zurückbleiben?“

„Ja.“

„Wer?“

„Alle Kinder und Heranwachsenden werden an Bord gehen. Alle Ältesten, bis auf eine Handvoll, die als absolut unersetzbar angesehen werden, bleiben zurück.“

„Du hast die Elternphase ausgelassen“, meinte Fellirian sehr leise.

Pellandrey sagte: „Manche Weben werden zwei Elternteile bei den Ältesten zurücklassen müssen.“

Morlenden legte Sanjirmil sehr sanft auf den Boden des Simses nieder. Er richtete sich auf und sagte: „Und welche Weben werden das sein? Sind sie dir bekannt? Noch besser: Wissen sie es?“

„Morgen schicken wir die Läufer aus, um das Volk zu sammeln. Wir haben es so angelegt, daß das Wissen um die Rolle nicht verloren sein wird: Alle Weben, die eine Zahl in ihrem Beinamen tragen, müssen unter sich losen oder eine wie auch immer geartete Entscheidung treffen. Und natürlich wird das bißchen Regierung, das wir haben, ein Beispiel geben und diese sehr bittere Pille schlucken.“

„Es gibt nur zwei Weben, die mit dieser sogenannten Regierung befaßt sind“, sagte Fellirian. „Euch und uns.“

„Ja. Richtig. Uns und euch. Und so weißt du es jetzt, Fellirian Deren; und du bist Klandorh, deshalb mußt du entscheiden, wie ihr es bei euch durchführen werdet. Die Revens haben ihre Entscheidung bereits getroffen. Ich hätte bis zum Morgen warten sollen, um dir dies zu enthüllen, denn der Morgen ist eine bessere Zeit für schlechte Nachrichten.“

Morlenden sagte: „Es gibt keine spezielle Zeit für schlechte Nachrichten. Und du glaubst, dies wird die Zahlen so weit herabsetzen, daß die Verbleibenden vom Schiff aufgenommen werden können?“

„Ja. Und es wird sogar genügend Raum für die unterwegs auftretenden Schwangerschaften übrigbleiben. Im Augenblick wissen wir noch nicht, wie lange wir im Raum sein werden.“

„Und wie lautet die Entscheidung der Revens?“ fragte Morlenden.

„Du enthüllst mir nicht die Verbrechen Sanjirmils; ich enthülle dir nicht, was bereits feststeht“, antwortete Pellandrey. „Du wirst sehen, wer von uns den Startplatz verlassen wird, wenn das Schiff zu seiner Reise aufbricht. Ich möchte nicht, daß jemand von unserem Beispiel beeinflußt wird. Es ist wirklich eine harte Art des Vorgehens, aber ich habe verfügt, daß sich jeder einzelne Betroffene dieser Angelegenheit persönlich stellen muß. Und somit auch du.“

Fellirian schüttelte den Kopf, als könnte sie damit Spinnenweben von ihren Augen wischen. „Dann werden wir zu unserem yos zurückkehren und dort beraten.“

Pellandrey legte seine Hand auf ihre Schulter. „Deshalb haben wir euch gebeten, die Nacht hier zu verbringen, nachzudenken und frisch zurückzukehren. Dies ist eine Entscheidung, die wir niemandem hastig treffen lassen möchten, denn die Folgen werden für ewig sein.“

Fellirian schaute Pellandrey ausdruckslos an. „Nein“, sagte sie. Und zu Morlenden: „Ich weiß nicht, wie lange du subjektiv mit Sanjirmil eingeschlossen warst. Kannst du der Kälte trotzen, Innenverwandter?“

Morlenden legte seine Hände zusammen, verschränkte sie und zog fest daran, bis es in seinen Schultern knackte. Dann richtete er sich auf und sagte: „Heute nacht ist es so weit. Kehren wir jetzt zurück.“ Und zu Pellandrey sagte er: „Wann müssen wir hier sein, und was sollen wir mitbringen?“

„Die Läufer brechen morgen auf, und die Entscheidungen müssen nach Erhalt der Botschaft getroffen werden. Bringt euer wertvollstes Hab und Gut mit, soviel, wie jeder von euch mit eigenen Händen tragen kann. Und was ihr in Erinnerung behalten könnt, denn wir werden diese Welt wieder neu errichten. Das ist es, was von den Läufern hinausgetragen wird.“

Sie sagte: „Dann müssen wir aufbrechen. Wir werden unsere eigenen Läufer sein. Obwohl ich vielleicht um Hilfe werde rufen müssen, um Kaldherman zu überzeugen. Er wird es zweifellos für absurd halten.“ Und sie lächelte, doch es war ein schwaches Lächeln.

„Du magst uns aus diesem Labyrinth hinausgeleiten, Pellandrey“, sagte Morlenden. „Doch ich bin nicht sicher, daß es jetzt, da Sanjirmils Tumor auf dem Körper der Raum-Zeit wieder im Nirgendwo verschwunden ist, aus dem heraus sie ihn aufgebaut hat, leichter sein wird, zu kommen und zu gehen.“

Pellandrey wandte sich schwerfällig wieder der Luke zu. „Sehr gut. Es soll sein, wie ihr es wünscht. Trefft die Wahl klug. Es kann keine Reue geben.“

Und so verließen sie das Meister-Kontrollzentrum. Unterwegs traf Pellandrey einige Älteste, die er anwies, zum Kontrollzentrum zu gehen und sich Sanjirmils anzunehmen. Und in scheinbar kürzerer Zeit, als sie gebraucht hatten, das Schiff zu betreten, fanden sie sich an den Toren des großen Schiffes wieder, die jetzt offenstanden, wie Morlenden schon vermutet hatte. Sie traten in die Nacht hinaus, und Fellirian blickte nicht zurück.

Eine Zeitlang stand Pellandrey in der kalten, klaren Nacht, während das Licht der Sterne strahlend und ausnahmsweise klar durch den Himmelsdunst der guten alten Erde herableuchtete.

Als sie aber die letzte Stelle des Pfades erreichten, von der aus sie zurücksehen konnten, und Morlenden und Fellirian anhielten, um doch noch ein letztes Mal zurückzublicken, war niemand mehr zu sehen. Und sie wandten sich heimwärts, machten sich auf den langen Weg zurück, durch Dunkelheit und noch immer herrschende Kälte, und ihr Atem umhüllte ihre Gesichter mit hellen Nebeln. Sie waren sich nicht völlig sicher, wann es geschah, aber nach einer gewissen Zeit bemerkten sie, daß sie ihre Hände fest ergriffen hielten beim Gehen. Morlenden schenkte seiner Innenverwandten ein schüchternes Lächeln, und Fellirian erwiderte seinen Blick rasch, doch der Ausdruck, der auf ihrem Gesicht lag, war in der eiskalten Dunkelheit nicht leicht zu deuten.