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Das Spiel erzeugt optisch gewisse Muster, die an einem Ort bleiben und um diesen herum rotieren; andere bewegen sich mit unterschiedlicher Geschwindigkeit über das Spielfeld hin, wobei unterschiedliche Grade der inneren Identität und Kohärenz beibehalten werden. Was das anbelangt, besteht überhaupt keine Schwierigkeit zu begreifen, was das Spiel ist und welche die Parameter eines spezifischen Spiels sind, die solche Muster in Gang setzen. Im physikalischen Universum jedoch erkennen wir ähnliche Bewegungen und unterschiedliche Bedingungen der Identität und Stabilität und haben daraufhin eine unglaubliche und irrige Menge von Regeln aufgestellt, um diese Bedingungen zu erklären. Wenn Gesetze etwas nicht vorhersagen können, dann füge man Verwicklungen und Feinheiten hinzu, genau wie die ptolemäischen Astronomen Epizykel um Epizykel ihrem im Grunde falschen Modell von der Bewegung der Planeten hinzufügten. Auf die Weise wurde eine bessere Theorie ersonnen. Wir sprechen von Kopernikus, von Newton, von Kepler, von Kegelschnitten und von der Erhaltung des Drehmoments. Aus der Perspektive des Spiels heraus gesehen sind diese Dinge kaum weniger falsch als das ptolemäische System. Wir werden diese Dinge nun bei ihrem eigentlichen Namen nennen, natürlich unter der Voraussetzung, daß sie ein weitaus besseres Modell zum Ausdruck bringen.

Die Spieltexte

 

In den frühesten Gesellschaften tritt das Symbol der Macht an die Stelle der Macht selbst, und dann treten Symbole an die Stelle der Symbole, wobei jedes nach und nach verfeinert wird: Keule, Speer, Messer, Schwert, Pistole. Sie entwickeln sich zu den Trägern dieser Gegenstände, bloßen Andeutungen natürlich, aber deswegen nicht geringer in der Bedeutung, die ihnen vom Beobachter beigemessen wird. Oder vom Besitzer. Im fest gegründeten, zivilisierten, im wesentlichen nicht gewalttätigen Beamtenstaat werden diese Symbole sogar noch abstrakter: Schalter, Schreibtische, Büros. Je wuchtiger der Schreibtisch und je leerer das Büro, um so größer die Autorität. Um so größer auch, je isolierter und unsichtbarer das Büro. Klaneth Parleau, der Vorsitzende der Behörde der südlichen Küstenregion, hatte einen solchen Schreibtisch, ein solches Büro. Das Büro war übertrieben groß und wäre dies zu jeder Zeit gewesen, aber dieses war noch in einer Zeit, in der Volumen und Raum hoch im Kurs standen und bei sämtlichen Gebäuden der Gedanke der Funktion und Effizienz vorrangig war, besonders eindrucksvoll; Fenster gab es keine, Fenster förderten die Zerstreutheit und das Träumen mit offenen Augen, und dafür war wenig Zeit. Was Parleau betraf, so konnte er sich überhaupt keine Epoche vorstellen, in der dafür Zeit gewesen wäre.

Einer, der in Parleaus Büro kam, mußte zuerst die scheinbar unermeßliche Länge des ganzen Raumes durchqueren und dann vor Parleaus Schreibtisch hintreten, ein wuchtiges kreuzförmiges Ding aus einem einzigen Titanguß, dessen Oberfläche durch Anodisierung stumpf, beinahe schwarz geworden war. Um eine noch größere Entfernung vorzutäuschen, war der Sockel des T-förmigen Schreibtisches ein wenig schmaler als der dem Besitzer zugewandte Teil, was den doppelten Effekt hatte, daß der Schreibtischinhaber sowohl weiter weg als auch überlebensgroß erschien. Dieser Hals des T wurde gelegentlich als Konferenztisch benutzt, und an ihn waren einige Stühle herangeschoben. Auch sie waren Teil dieses Effekts, denn je weiter sie vom Kopfende des Schreibtisches weg waren, um so kleiner und unbequemer zum Sitzen wurden sie. Und der am Kopfende Sitzende konnte durch ein in die Oberfläche eingearbeitetes Pult wählen, welcher Stuhl für den Besucher hervorgleiten würde, wobei der Status mit der jeweiligen Situation abwechselte. Es gab meilenweit keine einzige Waffe um dieses Büro herum, und es war zweifelhaft, ob der Vorsitzende selbst einer Fliege etwas hätte tun können; doch innerhalb seines Büros und innerhalb seiner vollen Amtsgewalt konnte er Menschen zu Würmern erniedrigen, und sie selbst hätten es als erste zugegeben.

Die Südküste war nicht wesentlich mächtiger als andere, ähnliche Verwaltungseinheiten, in die die gesamte bewohnbare Erde eingeteilt war, mit einer Besonderheit: Ihm war die Verwaltung des Instituts unterstellt, das die Zwischenstation zwischen den Menschen der Erde und ihren künstlich mutierten Stiefvettern, den Ler und das Reservat, in dem die Ler lebten, darstellte. Dies machte es im Grunde zum Makler der gewaltigen Datenmengen, die in das Institut hinein- und aus ihm herausflossen und in denen sämtliche Wissenschaften des Planeten ausführlich dargelegt waren.

Auf ähnliche Weise war der Vorsitzende Parleau nicht sonderlich verschieden von seinen theoretischen Amtsgenossen, den Vorsitzenden anderer, ferner und naher Bezirke, mit Ausnahme eben dieses einen Gebietes und dem Wissen des Bezirksvorsitzenden um eben diese Tatsache. Parleau hatte bis jetzt sehr wenig getan, was den direkten Einsatz jener Kräfte betraf. Bis jetzt. Aber die bloße Vorstellung, daß er konnte, wann immer es ihm beliebte, hatte dazu geführt, daß die Vorsitzenden der benachbarten Bezirke sehr genau auf die Vorfälle an der Südküste achteten.

Parleau selbst war ein großer und schwerknochiger, aber allgemein gepflegter, ziemlich kahl gewordener Mann, der wohl im frühen mittleren Alter stand: gereift, fest etabliert auf hohem Posten. Kein einziger Zug hätte Klaneth Parleau von tausend Berufsbeamten in der Verwaltung unterschieden – nichts außer einer ziemlich aggressiven Art und kürzer als üblich geschnittenen Haaren (soweit man bei ihm noch von Haaren sprechen konnte). Seine Bewegungen verrieten eine Lebendigkeit und Dynamik, die aus irgendeinem Grunde den meisten anderen abging.

Parleau war eigentlich etwas jünger an Jahren, als sein Äußeres vermuten ließ, und wurde, weit davon entfernt, einen Höhepunkt erreicht zu haben, sorgfältig auf noch höhere Ämter vorbereitet; manche glaubten, auf das des stellvertretenden Personalchefs, einem anonymen Koordinierungsposten. Andere, nicht weniger gut Informierte meinten, daß es mindestens ein Amt im Kontinentalen Sekretariat mit einem Bein im Planetarischen Präsidium sein mußte. Die Südküste war sein erster Bezirksvorsitz, und wegen der langen Beziehung zu den Ler und zum Institut war dies eine von seinesgleichen ausgewählte Schlüsselstellung. Historisch gesehen war es immer eine Stellung gewesen, bei der man entweder ein gemachter Mann war oder bei der man zerschlissen wurde, und die meisten ehemaligen Vorsitzenden hatten den kürzeren gezogen. Die Mehrzahl hatte es, wenn anderswo eine Stelle frei wurde, vorgezogen, niedrigere Posten zu übernehmen. Aber ein paar hatten es bis zu den dünngesäten oberen Rängen geschafft.

Das Problem, wie Parleau es formulierte, lag nicht darin, daß die Neuen Menschen lästig oder aufmüpfig waren, nein, ganz im Gegenteil. Im Grunde benahmen sie sich im allgemeinen besser als ihre menschlichen Nachbarn. Es war eine Tatsache, daß Überfüllung und persönliche Beschränkungen sie weniger hart angingen, aber, dachte er verschlagen, bei ihrer Bevölkerungsdichte konnten sie sich kaum über Verhaltensprobleme beklagen, wie sehr sie auch auf ihr Reservat beschränkt sein mochten. Mehr noch, das Reservat stellte keine große Belastung für die Mittel der Südküste dar, wie man bei einem solchen Projekt vielleicht erwartet hätte. Nein; zusammen waren das Reservat und das Institut autark, und ihr Bruttosozialprodukt war größer, als wenn das Land auf irgendeine andere vorstellbare Weise verwendet würde.

Nein. Das allem zugrundeliegende Problem schien das zu sein, daß die Menschen jetzt genausowenig wie zu Beginn wußten, wie sie mit den Neuen Menschen fertig werden sollten. Als sie sie aus ihrer eigenen gemischten Rasse heraus entwickelten, hatten die Menschen des Jahres 2000 das lange erträumte Ziel erreicht – die gelenkte Mutation und die Verwandlung des Menschen in den Übermenschen. Es sollte der letzte Sieg einer voll erblühten Wissenschaft sein, die eigentlich von noch größerer Bedeutung war als der immer noch unentdeckte Flug mit Überlichtgeschwindigkeit. Denn sie hatten den alten Mythos eines rein physischen Typs, des Übermenschen des Körpers, verworfen; sie trachteten nach dem Geist. Und dann wollten sie einen Menschentyp vorprogrammieren, der sie unter sorgfältiger Anleitung zu in den zufälligen, unendlichen, quälend langsamen Abläufen der Natur unerreichbaren Höhen emportragen sollte. Sie wollten, kurz gesagt, also nicht so lange warten, bis sie in den Garten der irdischen Lüste hineingewachsen wären, noch waren sie erpicht darauf, durch Zufall in ihn hineinzustolpern, sondern sie wollten ihn mit Gewalt erstürmen, mit der Gewalt des Geistes nämlich. Aber das Programm, das harmlos genug mit Experimenten mit niederen Lebensformen begann, hatte sich ständig durch immer komplexere Formen hindurch weiterentwickelt; und als sie schließlich die letzte, halb magische Deutung und den letzten Programmierversuch der menschlichen DNS durchgeführt hatten, stellten sie fest, daß sie keine Straße in die Zukunft gebaut, sondern statt dessen eine neue und geheimnisvolle Tür zu einer unerforschten Zukunft errichtet hatten. Eine Tür, die nur in eine Richtung aufging, und noch dazu eine, die nur der Schlüssel der DNS öffnen würde. Nach hundert Jahren „Produktion“ wurde die Tür schließlich hermetisch verschlossen – und dann zerstört.

Nichts wurde je vergessen; es war vielmehr so, daß die gesamte Disziplin in Mißkredit geriet, dann keinen Gewinn mehr abwarf und schließlich ihres finanziellen Fundaments beraubt wurde. Ein Problem löste diese Technologie nie: Es war entsetzlich teuer, die DNS unter den bestimmten Bedingungen, unter denen man Resultate erwarten konnte, zu verändern. Und paradoxerweise wurden die Kosten anders als bei jedem anderen im wesentlichen technologischen Prozeß bei der Wiederholung nicht geringer. Der letzte künstlich erzeugte Ler kostete de facto das gleiche wie der erste. In einer Zeit, in der tausend andere Projekte mehr Aufmerksamkeit wert gewesen wären, plünderten sie den Planeten für etwas, was sie nicht einmal selbst gebrauchen konnten. Die Menschheit zog daraus den weisen Schluß, der das Urteil der Theologen bekräftigte, daß, wie aufregend es auch sein mochte, Gott zu spielen, es zugleich ganz schön teuer war. Es mochte vielleicht möglich sein, etwas so gut wie das Original zu machen, zu bezahlen war es aber nicht.

Physiologisch gesehen kannten die Menschen die Ler recht gut, obwohl die Zahl derer, die ein solches Gebiet interessierte, mit der Zeit immer mehr abnahm. Aber die Physiognomik stellte nur den kleinsten Teil der Wirklichkeit dar, und der Unterschied in der Kultur wurde mit jedem Jahr größer. Der Mensch entschied sich für die Effizienz, der Ler für die Harmonie. Jeder, ob reich und gebildet oder arm und ungebildet, hatte schon im voraus bestimmte Vorstellungen von den Übermenschen gehabt: sie waren groß von der Statur her, stark, von dominierendem Wesen, mit einem scharfen, analytischen Verstand begabt, schließlich Meister der Technologie, die alle möglichen Folgen im voraus kannten. Für Aberglaube und Eitelkeit würde da kein Platz mehr sein.

Aber die Neuen Leute – oder Ler, wie sie selbst sich in ihrer eigenständig entwickelten Sprache nannten, was „neu“, aber auch „unschuldig“ bedeutete – waren entschieden unheldenhaft. Im Durchschnitt waren sie von der Gesamtgröße her kleiner, vom Gewicht her leichter und von der Statur her schlanker als der durchschnittliche Mensch. Noch dazu behielten sie auch als Erwachsene etwas, das den Menschen als ein Übermaß an Jugendlichkeit erschien. Daß dies das natürliche Ergebnis der forcierten Evolution, eine Neotenie genannter Prozeß war, in dem die Jugendphase auf Kosten fortgeschrittener Entwicklungsphasen verlängert wurde, beruhigte nicht diejenigen, die darauf bestanden, sie als Kinder anzusehen, was ihre erwachsenen Mitglieder nun wirklich nicht waren. Und als es soweit war, daß sich eine echte Ler-Kultur entwickelt und Wurzeln gefaßt hatte, steckten die einzelnen Exemplare unter einer immer undurchdringlicher werdenden Decke aus Sprache, Ritual, Mystik und einer eklektischen bukolischen Philosophie, die jeden normalen Fortschrittsgedanken zu leugnen schien. „Wie merkwürdig!“ riefen die schrillen Stimmen der Zweckmäßigkeit und übersahen dabei völlig, daß Ethik und Ritual uns vor dem anderen beschützen …

Und so verbrachte Parleau jeden Tag in seinem Büro und hoffte über der Ablenkung durch die anderen Seiten der Südküste, daß nie ein Problem auftauchen würde, das seine Alters- und Artgenossen vielleicht als „Gelegenheit zur Profilierung“ bezeichnet hätten. Und nach den Tagesschichtstunden, die er kraft seines hohen Amtes unablässig absolvierte, pflegte er allein{24} zu seinen Zellen zurückzukehren und nur um so intensiver zu hoffen, daß der nächste Tag ebenfalls ruhig verlaufen würde.

Die Ruhe hatte ein Ende genommen. Parleau wußte das und sah dieser Tatsache nüchtern entgegen. Es hatte sich natürlich vorher angekündigt. Das konnte er rückblickend wie jeder andere sehen, aber er konnte auch sehen, sogar ohne die Ausbildung auf dem Gebiet der Situationsanalyse, die die Aufsichtsbeamten erhielten, daß diese Situation nicht ewig unveränderlich und friedlich bleiben würde. Warum sollte sie auch? Nichts sonst im bekannten Universum blieb unveränderlich. Die Feindseligkeit würde also an einem bestimmten Punkt offen ausbrechen. Was dann? Es sah so aus, als ob die Menschen immer noch alle Karten in der Hand hätten. Aber das war eben die Schwäche. Es war ein abhängiger und angreifbarer Befehlsstand. Die Alten Menschen waren dem Output des Instituts im Grunde völlig ausgesetzt, und zwar so sehr, daß jetzt, in diesem Jahrhundert, die kontinuierliche Stabilität (Fortschritt nannten sie es schon lange nicht mehr) direkt an den sich ständig vergrößernden Output gebunden war. Aus dieser Situation gab es kein Entkommen: Das Institut pfuschte an grundlegenden Leistungen herum, an haargenau dem, woran eine Million Menschenleben hing, an dem, was fünf Hundertstel von einem Prozent an Unterschied ausmachten. Ja. So heikel war die Situation. Wäre es etwas so Einfaches gewesen wie irgendeine Materialknappheit, so hätten sie Parleaus Meinung nach irgendwie damit fertig werden können. Darauf verzichten vielleicht. Sich einen Ersatz ausdenken. Aber diese Wege waren alle schon erforscht. Die Zeit, in der sie es mit einfachen Mängeln aufnehmen konnten, war seit mehreren hundert Jahren vorbei. Allein die Vorstellung … Es war das schwierigste Problem, dem sich der zivilisierte Mensch je gegenübergesehen hatte, und Parleau rechnete nicht damit, es im Laufe eines Vormittages zu lösen.

Man sehe sich die Mathematik und das klassische Problem von der dreifachen Körperlichkeit an: Selbst mit Computern, die das Rechenverfahren millionenfach beschleunigten, konnten sie es immer noch nicht als das begreifen, was es war, nämlich dreifach simultan, sondern ließen es als Zweierreihe laufen. Nun vergrößere man dieses Beispiel, verkompliziere es zu einem milliardenfachen Körper-Problem, füge noch mehrere Wirtschaftstheorien, fünf bedeutende politische Schulen, inklusive Anarchisten, und die inzwischen zur Hälfte kontrollierte Ökologie des ganzen Planeten hinzu und trübe es mit einer ungeregelten menschlichen Bevölkerung, die unvermindert, wenn auch de facto bis aufs Nullwachstum gebremst in der unvorstellbaren Höhe von zwanzig Milliarden verblieben ist. Ja, auf begrenzte Art und Weise war es genau dies, was das Institut zu tun versuchte, dabei eine Frage nach der anderen angehend. Die menschlichen Angehörigen stellten eingehende und spezifische Fragen, und die Forscher entwarfen Alternativen, die sie Hilfslösungen nannten, Reihen von zweifelhaften Handlungsweisen, deren Nachteile bekannt waren oder stark befürchtet wurden. Die Fragesteller diskutierten und fällten die Werturteile.

Dadurch war den Menschen mittlerweile peinlich bewußt, daß die Ler und ihr Institut unentbehrlich geworden waren, was seit Hammurabi der größte Schrecken jedes Führers und Bürokraten war. Wer unentbehrlich ist, kann machen, was er will. Nur wenn man alle Menschen, ja alle Geschöpfe dazu bringen kann, im Grunde entbehrlich und austauschbar zu werden, kann diese Gefahr für den Aberglauben der Omnipotenz der Beamten bedeutungslos werden. Und die Lösung, auf die man am häufigsten kam – sie einfach zu eliminieren und die Angelegenheit für die langsamen Denker hinterher rational zu erklären –, war in diesem Falle sowohl mit der Ethik unvereinbar wie auch offensichtlich verhängnisvoll. Sie setzten schon seit langem voraus, daß es möglich sei, es allein, ohne die Ler-Partner zu schaffen, wenngleich dies, wenn man alle Dinge in Betracht zog, ganz und gar nicht wünschenswert war. Die Zukunft mußte sehr fein erwogen werden.

Und jetzt auch das noch, dachte Parleau, der plötzlich zu erregt war, um still am Schreibtisch zu sitzen, dem Symbol, für das er so hart gearbeitet und für das er sich so viele nachtragende Feinde geschaffen hatte. Ein Mädchen, über das fast nichts bekannt war, außer daß es indirekt mit irgendeinem geringfügigen und unwichtigen Fall von Vandalismus in Beziehung stand. Ein einfacher Vorfall, gewiß, aber irgendwie brachte diese junge Ler es mittendrin fertig, ihren verfluchten Verstand zu verlieren. Dann fanden die verantwortlichen Beteiligten heraus, daß sie eine heranreifende Ler war. Es war unübersehbar. Parleau stand an der Ecke seines Schreibtischs und sah flüchtig die Morgenberichte vom Vorabend und von der Mittelschicht durch; die Kontrolldaten, die Tabellen, die graphischen Darstellungen. Nicht sie interessierten ihn, sondern lediglich die Antwort auf die Frage: Warum gerade ich?

Der Verwaltungsbeamte im vorderen Büro meldete, daß die Besucher, die Parleau zuvor angerufen hatte, jetzt dort versammelt seien und auf ihn warteten. Die Zeit war gekommen. Parleau räusperte sich, seufzte tief und verwandelte seinen Gesichtsausdruck von einem der tiefsten Besorgnis zu einem solchen der unnachgiebigen Führung. Und daß sie sich nicht etwa um irgendwelche Unterbrechungen Gedanken machten. Alle anderen Angelegenheiten außer Naturkatastrophen und Bürgerunruhen waren für diesen Tag zurückgestellt. Sie mußten hier und jetzt wissen, was los war; soviel war sicher. Diese Angelegenheit konnte sich entweder als ein Nichts herausstellen, das man vergessen konnte, oder als Einladung zu einem totalen Reinfall.

Er drückte einen Knopf auf dem Schreibtisch, dadurch Zustimmung signalisierend, und wenig später traten seine Besucher ein. Es waren alles wohlbekannte Persönlichkeiten, Inhaber von Schlüsselstellungen in der höheren Bezirksverwaltung aus der Gegend, aber Parleau merkte gleichzeitig, daß er keinen von ihnen gut kannte. Es waren alles entweder Überbleibsel des vorherigen Regimes oder Importe – wie er selbst – aus einem anderen Teil der Welt.

Edner Eykor kam als erster herein. Er war einer von denen, die von auswärts gekommen waren. Parleau hatte in den Akten nachgesehen, aber den Fakten keinerlei Bedeutung beigemessen und sie folglich auch vergessen. Wie bei den anderen Benutzern programmierter Namen gab Eykors Nachname keinerlei Aufschluß in bezug auf Wohnort oder Herkunft. Wo mochte er hergekommen sein? Irgendwo aus Europa, dachte Parleau. Eykor war ein dünner, nervöser Mann, der immer in Eile zu sein schien, immer kurz davor, irgendeine Sache zu versäumen, zumindest schien es so. Ein schlechtes Zeichen, hatte Parleau mehr als einmal gedacht. Nervosität bei einem Geheimdienstler. Gar nicht gut. Seiner Meinung nach hatte ein Geheimdienstler auf der Personalebene so steif wie ein Götze zu sein. Eykor hatte rotblondes, nicht näher zu beschreibendes, sich lichtendes Haar und ein langes Pferdegesicht, in dem ein Paar gummiartiger Lippen ziellos wiederkäuten.

Der zweite war Mandor Klyten, der Ler-Experte der Region. Er war ein eigenartiger Typ, denn seine Stelle hatte fast überhaupt nichts mit dem Institut zu tun. Bis Klyten sie angenommen hatte, war sie wenig mehr als eine Stelle ohne jeden praktischen Nutzen, ein einträglicher Ruheposten gewesen. Man mußte es Klyten schon zugute halten: Wenigstens hatte er viel von seiner praktischen wissenschaftlichen Arbeit selbst getan, etwas, was seit Jahren, wenn nicht seit Generationen, beispiellos war. Er forschte und arbeitete hart, und es lohnte sich immer, auf seinen Rat in Ler-Angelegenheiten zu hören, wenn er auch eigenartig unspezifisch blieb. Er war so gut informiert, wie man es außerhalb des Reservats nur irgend sein konnte. Klyten war ein gedrungener, feister, eher desorganisiert wirkender Mann mittleren Alters; Parleau ließ sich durch die geistesabwesende äußere Erscheinung nicht täuschen. Unter dem sich lichtenden grauen Haar steckte ein beachtlicher und scharfer Geist. Parleau fragte sich allerdings, was so ein Mann zur Pedanterie führte.

Aseph Plattsman trat als letzter ein. Der Analytiker und Aufsichtsbeamte. In früheren Zeiten hätte Plattsman von der allgemeinen Erscheinung her ein Musiker, ein Künstler sein können. Heute war er Aufsichtsbeamter. Einer, der Aufsicht führte, der beobachtete und überwachte. Der die Kontrolle hatte. Komisch, aber so komisch auch wieder nicht. Parleau hatte mehr als einmal gehört, daß die Disziplin der Aufsichtsbeamten, die Situationsanalyse, zur letzten Kunstform geworden sei. Und ebensooft hatte Parleau ebenfalls gehört, daß die Mehrheit der Bezirksvorsitzenden ehemalige Aufsichtsbeamte waren. Nicht die große Mehrheit. Einfach nur die Mehrheit. Plattsman war hochgewachsen und attraktiv, hatte einen dunklen Teint, schwarzes, ungebändigtes Haar und dunkle, schokoladenbraune Augen, die wenig ausdrückten, aber alles beobachteten. Er bewegte sich ohne auffallende Gebärden oder Gehabe, aber mit einer mühelosen Exaktheit, als ob jede Bewegung bei ihm genauso sei, wie er sie hatte haben wollen. Als der bei weitem jüngste des Personals konnte Plattsman leicht eines Tages als Vorsitzender in irgendeine andere Region versetzt werden. Vorsichtig und besonnen, wie er war, wenn eine Angelegenheit drängte, konnte er sich in einen der unnachgiebigsten Zuchtmeister verwandeln. Parleau empfand keine sonderliche Gefahr von Seiten Plattsmans, da er wußte, daß es bis dahin noch Jahre dauern würde; Plattsman war nicht gerufen worden, um ihn zu ersetzen, sondern um zu lernen. Parleau verstand etwas von diesen Dingen und von der Einsamkeit dieses Weges; nach einer Weile war nichts mehr der Mühe wert außer der Arbeit und der Macht. Dennoch empfand er auf diesem Gebiet größte Sympathie für Plattsman und wünschte ihm dauernden Erfolg.

Die drei Besucher warteten an ihren gewohnten Plätzen, bis Parleau ihnen bedeutete, sich zu setzen. Er selbst ließ sich auf seinem eigenen Stuhl nieder. Er gab ihnen ein ungeduldiges Zeichen. „Guten Tag, guten Tag, meine Herren Tagesschichtarbeiter. Wollen wir gleich mit dem anstehenden Problem beginnen?“

Sie nickten und begannen, Aktentaschen und unordentliche Mappen auszupacken. Eykor, so schien es, hatte den kleinsten Stapel, so daß er mit allgemeinem Einverständnis als erster sprechen sollte.

„Der Grund, weshalb wir hier sind, hat mit der Sicherheit zu tun“, begann er, „darum schlage ich vor, daß wir …“

Parleau unterbrach ihn. „Einen Augenblick. Ich habe die Resümees gelesen. Wer hat die Meldung gemacht, und wie weit nach oben ist sie gegangen?“

Plattsman antwortete: „Das war ZenRegCon, Herr Vorsitzender. Der ursprüngliche Bericht, B-siebenundzwanzig, ist von der späten Mitternachtsschicht. Die relevanten Dienstprotokolle habe ich dabei. Das erste über die Gefangennahme war routinemäßig und normal, und so ging die Sache folglich bis ganz nach oben. ConSec. Aber nicht weiter. Soweit ich weiß jedenfalls nicht. Das zweite, das der letzten Nacht, wurde für Anmerkungen oder Nachträge hierbehalten, also noch nicht weitergegeben.“

Parleau holte tief Luft. Einbehalten von diesen gerissenen Aufsichtsbeamten, einfach auf Verdacht hin, bis sie es mit den Akten vergleichen konnten. Und bis es stimmte. Und sie hielten es fest. Sie hätten es auch verschwinden lassen können, und wer hätte schon eindeutig Maßnahmen gegen sie ergreifen können? Die Aufsichtsbeamten waren bekanntermaßen unabhängige Geister; sie deckten ihn also, aber aus welchen Gründen? Darüber würde er später nachdenken müssen.

Plattsman zog mehrere elektrotechnisch bedruckte Blätter hervor und las vor: „Einunddreißig Zehnmonat zwei-drei-vier-fünf Ortszeit … Punkt sechsundvierzig mutmaßlich Terrorismus, Regionales Museum für Technologie und ihre Anwendung. Nachtwächter meldet Zerstörung gewisser Instrumente durch Säure in der Abteilung für Gesteinskunde … Der nächste Eintrag ist … ah ja, Punkt zweiundsechzig. Ein weibliches Subjekt wird ohne Papiere oder annehmbare Erklärung in der Nähe des Museums festgenommen, als es versucht, Fluß Nummer fünf auf einer Methan-Pipeline von den Abfallgruben her zu überqueren. Wird dem Vernehmungsbeamten vorgeführt.“

Er hielt inne und suchte weiter in den Papieren. „Dann geht es hier noch weiter: ‚Subjekt weigerte sich, seine Nummer anzugeben. Abermalige Vorführung.’“

„Und dann hier … der letzte Bericht, eine Fortsetzung der Untersuchung, die wir abgebrochen haben. Es schien etwas falsch daran zu sein. Dieses Mal ist eine Nummer des Falls dabei. Wir wollten ihn uns sowieso noch einmal genau ansehen, aber dann meldet dieser Doktor Venle, daß die Vernehmung eine lebende Ler in eine Sinnentzugskammer gesteckt hat. Während des Aufenthalts dort tritt bei dem Subjekt, das wir jetzt als ‚Punkt sechsundvierzig’ bezeichnen können, etwas bisher noch nicht näher Bestimmtes ein, und bei diesem Punkt sechsundvierzig wurden bei der Bergung keine meßbaren mentalen Prozesse jenseits des Säuglingsalters festgestellt; es hatte eine Art Regression stattgefunden. Eine Sache, die auffiel, war, daß dieser Bericht in Format B erstattet wurde, aber natürlich paßt ein B hier nicht, weil sie als Ler nie einem A unterzogen wurde. Es wurde von der Verfahrenskontrolle ausgestoßen. Als wir unsererseits die Kontrolle durchführten, fanden wir die Verweise. Das ist alles, Herr Vorsitzender.“

Parleau sagte darauf: „Wir werden das noch weiterverfolgen und zu einem Ende bringen müssen, denn in Kontinental ist eine offene Akte über den Fall. Verstehen Sie? Aber vorsichtig. Nichts hierüber geht nach draußen ohne mein Zeichen.“ Er wandte sich an Eykor. „So. Was ist da drüben passiert?“

„Es ist praktisch genau so, wie es in den Berichten steht, Herr Vorsitzender. Ich war zeitweilig anwesend, weil die Vernehmungsbeamten sagten, daß sie nichts aus ihr herausbekämen. Wir versuchten es, aber es war nichts zu machen. Es war natürlich eine geringfügige Angelegenheit, aber je mehr wir bohrten, um so verschlossener wurde sie. Wir versuchten es nicht mit Drogen oder künstlichen Reizen, aber die totale Isolation schien eine gute Idee zu sein. Zu der Zeit – wir hatten ja keine Ahnung …“

„Und wie alt war sie?“ fragte Klyten.

„Das wollte sie nicht sagen. Wir haben Gewebeproben entnommen, als wir die anderen routinemäßigen Erkennungsverfahren durchführten, aber sie sahen zu jung aus, wenn man menschliche Daten zugrundelegte. Wir hatten keine Ler-Daten und wollten auch nicht danach fragen, verstehen Sie, aber fünfzehn schien mit Sicherheit zu niedrig.“

„Da haben Sie recht“, äußerte Klyten dazu. „Es ist zu niedrig.

Ich würde sagen, eine bessere Schätzung würde bei, na, etwa zwanzig ansetzen. Ja, zwanzig, plus oder minus ein Jahr. Wie lange habt ihr sie in dem Kasten gelassen?“

„Nun, als sie herausgenommen wurde, waren es etwa fünfundzwanzig Tage.“

„Fünfundzwanzig Tage? Ich habe gehört, daß schwere menschliche Fälle nach zehn gebrochen sind!“

„Nun ja, Klyten, das stimmt mehr oder weniger auch, aber wir nahmen eben einfach an, daß sie ähnlich reagieren würde.“

„Nach den Vorgängen zu urteilen eine dürftige Annahme, von der sogar ein Studienberater abgeraten hätte. Oder wußten Sie damals, daß sie die Fähigkeit des freiwilligen Vergessens haben, das heißt sämtliche Daten des Gedächtnisses, die sie seit der Geburt angesammelt haben, über Bord werfen können?“

„Nein, wir … ach, verflucht noch mal, wir haben eben einen Fehler gemacht. Aber wir haben trotzdem genug Beweise, um sie mit der Sache im Museum in Verbindung zu bringen, und ein Terroranschlag ist sowieso ein Kapitalvergehen, also …“

Parleau unterbrach Eykor abermals. „Einen Augenblick. Ein Terroranschlag, sagen Sie? Sie brauchen ein lebendiges Opfer für einen Terroranschlag.“

„Herr Vorsitzender, wir haben die Zerstörung wertvoller Instrumente und Artefakte als eindeutiges Verbrechen gegen die Gesellschaft interpretiert, das dem Volk allgemein Schaden zufügt. Immerhin waren in dem Museum auch diensthabende Personen anwesend.“

Parleau sah einen Moment in den Raum hinein und wandte sich dann wieder Eykor zu. „Eykor, in der Geschichte der Menschheit sind alle möglichen Taten, gute und schlechte, begangen worden und alle aus dem gleichen Grund: für das Wohl des Volkes nämlich. Nun bin ich kein Moralist oder Ethiker, noch bin ich zimperlich, wenn es darum geht, daß eine Sache getan werden muß. Immer kommen lassen! Aber, ganz gleich, was wir hier tun, laßt uns doch bitte dieses ‚für das Volk’ etwas exakter definieren. Das ist schlicht und einfach dummes Zeug, und Sie und ich wissen es beide. Was waren das für wertvolle Instrumente?“

„Irgendwelche alten Geräte, die man in der Geodäsie und bei der Suche nach Erdöl benutzte, um Lagerstätten ausfindig zu machen.“

„Was waren sie genau?“

„Ein stark verkleinerter Detektor für magnetische Abweichungen, der anscheinend ursprünglich in ein Flugzeug eingebaut wurde. Das andere war ein Sensor für das Gravitationsfeld, ebenfalls in Verkleinerung. Deshalb die Säure. Letzteres maß die Stärke des örtlichen Gravitationsfeldes. Der Kustos teilte uns mit, daß beide Instrumente als hochempfindlich und ganz präziser Ergebnisse fähig gelten.“

„Sonderbar, sonderbar“, sagte Parleau. „Was hätte denn bloß ihr Motiv sein können?“

„Wir haben keine Ahnung“, sagte Eykor.

Parleau sah zu Klyten hinüber, der die Achseln zuckte. Dann zu Plattsman. Zuerst schüttelte dieser den Kopf, begann aber mit seinen langen Fingern auf die metallene Schreibtischoberfläche zu klopfen. Nach einer Weile sagte er zögernd: „… Die Instrumente dienten dazu, unter der Oberfläche gelegene Ölquellen ausfindig zu machen, sagen Sie?“

Parleau begriff sofort und rief aus: „Um zu verhindern, daß wir irgend etwas entdecken, irgendein Mineral oder Erdöl auf dem Reservatsgebiet!“

Plattsman war aufgestanden. „Vielleicht, Herr Vorsitzender. Aber ich hätte gerne einmal das Terminal Ihres Assistenten benutzt. Ich benötige einen Zugang zu den Archiven.“

„Bitte sehr.“ Plattsman verließ rasch den Raum. Parleau wandte sich an Eykor. „Daran ist nur eines falsch: Öl ist seit mehreren Jahrhunderten nicht mehr in Gebrauch. Es gibt zwar immer noch welches, aber lediglich in kleinen Fundstätten, die nicht ausgebeutet werden. Nicht der Rede wert. Rückstände, Kuriositäten. Außerdem glaube ich ohnehin nicht, daß das Reservatsgebiet jemals für seine Rohölvorkommnisse bekannt gewesen ist.“

„Dazu kann ich nichts sagen, Herr Vorsitzender.“

Klyten fragte: „Hat irgend jemand sich erkundigt, warum unerwähnt blieb, daß es sich bei Punkt sechsundvierzig um eine Heranreifende der Neuen Menschen handelte?“

„Nein“, erwiderte Eykor. „es war unwichtig. Ist. Wir waren an dem Verbrechen selbst interessiert.“

„Unwichtig? Bei Darwins Organen, das ist doch das zentrale Problem und nicht, was sie zerstört hat. Warum sie es zerstört hat. Wenn wir uns darüber Gedanken machen, was sie getan hat, und vergessen, wer sie war oder warum sie dort war, dann zäumen wir das Pferd vom Schwanz her auf. Es geht darum, wer sie ist und was sie ist. Ich stimme dem Arzt, wie hieß er noch gleich, zu. Dies ist ein ernstes Problem. Wir haben es hier mit gewaltigen Unbekannten zu tun, die vielleicht für unser aller Wohlergehen gefährlich sein können. Wir müssen es lösen.“

Eykor, der abermals gerügt und zurechtgewiesen worden war, öffnete den Mund, um Klyten in die Schranken zu weisen, aber in dem Moment kehrte Plattsman zurück.

Parleau fragte: „Nun?“

„Es gibt in der gesamten Region zu beiden Seiten von Fluß Nummer neun weder auf Öl- noch auf Erzvorkommen irgendwelche Hinweise. Weder auf dem Reservat noch in seiner Nähe. Untersuchungen waren weder im Gange, noch wurden sie erwogen. Ich habe mich auch nach dem Gebrauch der Instrumente erkundigt. Der Detektor für magnetische Abweichungen wurde auf verschiedene Arten benutzt, einmal militärisch, um Unterseeboote und Minen auszumachen, und später auch, um eisenhaltige Massen von hoher Dichte, sogenannte Maskone, zu orten. In der Erdschicht vergrabene Meteoriten. Das andere wurde benutzt, um die genaue Gestalt der Erde zu bestimmen, und ebenfalls bei der Suche nach Maskonen. Aber die registrierten Daten zeigen an, daß es auf dem Reservatsgebiet keine solchen Abweichungen gab.“

„Dann sind wir also nicht weiter als vorher. Wenn sie nicht gerade etwas verheimlichen, was sie selbst gefunden haben …“

„Wir sollten da nicht so voreilig sein“, bemerkte Klyten. „Wir sind verhältnismäßig sicher, daß sie außer auf sehr spezifischen und begrenzten Gebieten keine Technologen sind. Was also könnten sie entdecken und verheimlichen, was unsere empfindlichsten Instrumente nicht erkennen konnten? Ich füge gleich hinzu, um meiner eigenen Schlußfolgerung zu widersprechen, daß ihr Gebiet nie genutzt wurde. Deswegen ist es ihnen überhaupt gegeben worden – es schien in dem Gebiet nichts zu sein, was der Mühe wert gewesen wäre.“

Parleau dachte laut nach. „Aber selbst wenn sie Öl hätten, was könnten sie damit anfangen? Wir haben doch bessere und billigere Brennstoffe, und diesen Stoff kriegen wir auf künstlichem Wege genauso. Sie haben keinen Bedarf dafür, und uns könnten sie es nicht geben …“

„Was ist mit Metallen?“ fragte Eykor.

„Da ist die Lage vielleicht besser, aber immer noch fraglich“, antwortete Klyten.

„Aber selbst wenn das so wäre, warum verheimlichen?“ fragte Eykor weiter. „Sie wissen, daß das Reservat souveränes Gebiet ist. Seit gut zweihundert Jahren ist nicht ein einziger Mensch dort eingedrungen, und ich wüßte von keinem Fall …“

„Frühere Regierungen“, bemerkte Plattsman, „hatten zu ihrer Zeit auch Eingeborenenstämme umgesiedelt und unantastbare Reservate eingerichtet. Aber lange Zeit war es so, daß man, sobald irgend etwas von Wert auf einem derartigen Gelände gefunden oder vermutet wurde, immer Mittel und Wege fand, um solche Verträge zu umgehen oder außer acht zu lassen. Die Ler sind sich dieser Tatsachen bewußt, vielleicht besser als wir. Sie brauchten nur ihre eigene Bevölkerungsdichte mit der auf irgendeinem Gebiet außerhalb zu vergleichen. Es leben zum Beispiel mehr Menschen in Tierra Del Fuego als Ler im Reservat. Allein von daher besteht schon ein Druck, und von diesen Gelüsten kaufen sie sich ohnehin nur durch ihre Überschußproduktion frei. Da bedarf es gar keiner Bodenschätze.“

Eykor zuckte mit den Achseln. „Das weiß ich auch. Und ich für mein Teil würde die Wahrscheinlichkeit von Bodenschätzen sehr gering ansetzen. Aber es gibt noch andere Möglichkeiten; etwas, was sie versteckt haben, etwas von ihnen selbst Gemachtes oder Gebautes. Das erste, woran ich da denken würde, wäre irgendeine Waffe.“

Parleau rief daraufhin aus: „Mit dem Formulieren von Wahrscheinlichkeiten bin ich jetzt wohl dran, und diese Wahrscheinlichkeit ist in der Tat gering. Wenn sie eine Waffe zu verstecken hätten, die ihnen auf irgendeine Weise nützen könnte, warum haben sie sie dann nicht schon eingesetzt?“

Klyten schüttelte aufgeregt den Kopf. „Nein, nein, nein. Alles, was sie irgendwie einsetzen könnten, müßte stark sein oder eine Breitenwirkung haben, womit schon von Anfang an ihre höchsten Glaubenssätze verletzt wären. Und es müßte ein Artefakt sein, wahrscheinlich ein recht großes. Es müßten Beförderungssysteme in Betracht gezogen werden, Ziele, Verwendungszwecke, Schußweiten.“

„Einen Augenblick“, sagte Parleau nachdenklich. „Wohlbemerkt, ich glaube an sich nicht, daß es das ist, aber … Eykor, haben Sie irgendwelche weiteren Kontrollen zu diesem Punkt sechsundvierzig durchgeführt? Gibt es eine Akte über sie?“

„Nein, das haben wir nicht. Sie schien so stümperhaft …“

Plattsman fragte: „Können wir jetzt noch eine anlegen? Ich meine keine komplette Überprüfung durch den Komparator. Das wird uns einen schnellen Überblick über den Kontinent geben. Die Vergleichsstücke, wenn es überhaupt welche gibt, sollten in Kürze da sein.“

„Ich habe nichts dagegen.“

Plattsman verschwand und kam kurz darauf zurück. „Ich meinte die Holo-Aufzeichnungen, die sie von ihr im Sicherheitsarchiv gemacht haben. Der Komparator wird sämtliche aktuellen Aufzeichnungen der überwachten Streß-Stellen überprüfen.“

Parleau fragte Eykor in skeptischem Ton: „Sind Sie sicher, daß Sie in diesem Falle überhaupt irgendwelche Beweise gesammelt haben?“

„Herr Vorsitzender, wir hatten gerade damit begonnen, als dieser letzte Vorfall eintrat. Wir mußten diskret vorgehen, wegen der Empfindlichkeit der Materie. Es gibt noch einen anderen Aspekt bei dieser Sache, und wir möchten die beiden gern miteinander verbinden. Von unserer Reihe von Erkundungsflügen her …“

„Erkundungsflüge? Sind die nicht verboten?“

„Wir benutzten Segelflugzeuge, die quer über das Reservat flogen. Von Batterien angetrieben, lenken sich von selbst. Wenn sie nachts bei den richtigen Wetterverhältnissen geflogen werden, merkt man überhaupt nicht, daß sie da sind. Sie könnten sie nicht mal sehen, wenn sie ein Radargerät hätten.“

„Fahren Sie fort.“

„Es ist ein altes Programm. Ich habe es nicht eingeführt. Und wer wollte sich beschweren, wenn sie es nicht sehen können, nicht wissen, daß es existiert? Jedenfalls nehmen wir an, daß sie es nie gesehen haben, denn Beschwerden hat es keine gegeben.“

„Eine dürftige Annahme“, sagte Parleau. „Das eine folgt nicht unbedingt aus dem anderen.“

„Wollen Sie, daß es gestoppt wird?“

„Gestoppt …? Nein. Sie fahren natürlich damit fort, aber überwachen Sie es ganz genau. Ich stelle fest, daß viele von uns mit den Neuen Menschen, gelinde gesagt, wenig vertraut sind.“

„Natürlich, und außerdem können wir …“ Und an dieser Stelle ergoß sich Eykor in einen ausführlichen Bericht über verzögernde, hemmende, verwirrende und ärgerliche Praktiken mitsamt Beispielen derselben, welche die Bezirksregierung noch Gelegenheit haben könnte anzuwenden. Er redete noch eine ganze Weile weiter, bis er durch ein Zeichen vom vorderen Büro gebremst wurde. Plattsman entschuldigte sich und ging.

Die Gruppe wartete gespannt. Plattsman blieb länger weg, als sie gedacht hatten, und sie alle fingen an, nervös zu werden. Dann kam er aufgeregt zurück.

„Unglaublich, absolut unglaublich. Wie wir das übersehen konnten, ist mir absolut rätselhaft – noch so eine ‚Annahme’, in meiner Abteilung genau wie nebenan. Gründlichkeit ist doch durch nichts zu ersetzen, habe ich recht?“

Parleau sagte: „Also heraus damit.“

„Die in Frage kommende Vergleichsliste war zu groß und mußte eingeengt werden, so daß ich sie mit den Chemosensoren vergleichen mußte. Dadurch habe ich diese Liste bekommen.“ Und Plattsman las vor: „Orlando, New Orleans, Huntsville; fünf verschiedene Stellen an der Südküste; drei weitere im Gebiet Oak Ridge; einmal Dayton; und zweimal die Westküste, einmal in Sur und einmal in Bayarea. Ich habe die Bilder angefordert. Und das allein im vergangenen Jahr!“

Klyten sprach als erster. „Dorthin kann sie nicht überall durch Klettern auf Methan-Pipelines hingekommen sein!“

Parleau sagte: „Nein, allerdings nicht. Sie hat sich frei unter uns bewegt, aber zu welchem Zweck? Ich wußte gar nicht, daß sie das können.“

Eykor sagte: „Es wurde eben angenommen, daß sie es nicht könnten …“

Plattsman lachte: „Und jetzt wird es interessant. Keine Terroristin, sondern eine Spionin. Eine richtige Spionin! Das haben wir seit Jahrhunderten nicht mehr gehabt!“

Und Parleau ergänzte: „Ja, sehr lustig; und obendrein eine, die ihr Leben aufs Spiel setzt, um Instrumente zu zerstören, und die Kasten und totales Vergessen in Kauf nimmt, um zu verheimlichen, warum. Plattsman! Sagen Sie Ihren Leuten, sie sollen nach anderen Instrumenten dieser Art suchen, die noch betriebsbereit sind. Und setzen Sie die Überprüfung des Komparatorennetzes fort. Ich will genau wissen, wo sie wann gewesen ist. Bleiben Sie dem Institut fern, bis ich Ihnen etwas anderes sage – wahrscheinlich hat sie ein Dutzend Fallstricke zum Stolpern hinterlassen. Prüfen Sie ihre Identität diskret, läuft unter offene Quelle einstweilen. Wir müssen mehr wissen. Sie auch, Eykor. Und hatten Sie nicht etwas über Erkundungsflüge gesagt …?“

„Ja, das habe ich, und das paßt ausgezeichnet hier herein. Wir haben es anscheinend mit einem Aktionsmuster zu tun, das sich der Analyse widersetzt, fast als ob man ihm mit Absicht den Schein des Zufälligen gegeben hätte, aber wir können von seiner Ausdehnung her unsere Schlüsse ziehen. Wir haben folgende Vermutungen – daß es irgendwo auf dem Reservat ein Geheimnis gibt, das anscheinend den meisten Einwohnern unbekannt ist, und daß die Spieltheorie auf einen baldigen endgültigen Bruch mit früheren Mustern hindeutet.“

„Wie bald?“

„In fünf bis zehn Jahren.“

„Dann sind wir nicht besser als ein Eingeweidebeschauer im alten Rom. Soviel würde mir mein gesunder Menschenverstand auch sagen.“

Plattsman schaltete sich ein: „Herr Vorsitzender, ich bitte um Verzeihung, aber was wir machen, ist genau dies: das Beschauen von Eingeweiden. Wir haben nur Terminalausdrucke an die Stelle der ursprünglichen blutigen Innereien gesetzt, aber ansonsten ist es genau das gleiche – wir raten ein bißchen, stehlen ein bißchen, ein bißchen Glück brauchen wir auch, und wir müssen die Ereignisse der Gegenwart verflucht gut beobachten.“

Parleau lächelte. „Und das, Eykor, war also der Grund, warum Ihre Leute so scharf darauf waren, etwas aus ihr herauszubekommen?“

„Das ist richtig, Herr Vorsitzender. Wir brauchten einen Schlüssel, ein Werkzeug, um an das größere Problem heranzukommen. Sie bot uns die ideale Gelegenheit. Bedauerlicherweise haben wir nichts aus ihr direkt herausbekommen.“

„Aber die zweite Gelegenheit, Mann! Jetzt können wir es doch!“

Klyten sagte sanft: „Vielleicht auch nicht. Ich muß Sie darauf hinweisen, daß sie so etwas nicht tun würde – wenn es wirklich sie ist und nicht der Fehler einer übereifrigen Maschine oder irgendeines nachlässigen Programmierers –, nicht von sich aus. Sie sind ein Gemeinschaftsvolk und handeln grundsätzlich gemeinsam. Die wenigen, die allein leben, werden seßhaft, bleiben auf einen Ort fixiert.“

Eykor rief aus: „Das habe ich mir doch gleich gedacht! Eine Verschwörung!“

„Ja“, fuhr Klyten fort, „und am liebsten haben sie die ganz komplizierten. Da gibt es viele Möglichkeiten, und nicht die geringste von ihnen ist die, daß sie sie uns möglicherweise vor die Nase gesetzt haben, um uns davon abzuhalten, einen größeren Braten zu riechen, wie man so schön sagt. Ich glaube nicht, daß sie sie aus freien Stücken opfern würden, das ist nicht ihre Art, und ihre Festnahme kann ein Zufall gewesen sein. Oder sie war dafür bestimmt, gewisse Ereignisse zu beschleunigen. Ich vermute solche Formen der Manipulation schon seit langem – Kontrolle durch negative Aversion. Wir haben offensichtliche Formen dieser Art bei einigen unserer weniger entwickelten Kindererziehungsmethoden, aber als Form des Managements läßt sie sich erheblich verfeinern. In der bekannten Studie von Klei werden Gründe für die Vermutung aufgezeigt, daß sie selbst den immanenten Rassismus, der plötzlich mit ihrem Umzug ins Reservat und mit ihrer Konsolidierung endete, gefördert und geschürt haben.“

„Ah ja“, sagte Eykor. „Hätten sie sich aus eigenem Antrieb zusammengeschlossen, hätte dies starkes Mißtrauen erregt, selbst in einer gefühlsmäßig grundsätzlich neutralen Umgebung, aber mit etwas verstärkter Rassenangst und mit den geeigneten Reizen … aber das wäre schon eine soziale Kontrolle in sehr großem Umfang. Haben sie diese Kontrolle, und, wenn ja, wie breit ist die Fehlermarge?“

Klyten hatte ihre volle Aufmerksamkeit. Er fuhr fort: „Das ist eben die Sache, der wir noch nicht ganz auf den Grund gekommen sind. Immerhin besitzen wir selbst, wie der Aufsichtsbeamte Plattsman zweifellos zugeben wird, einige recht ausgefeilte Methoden, aber es gibt Operationen, von denen wir uns lieber fernhalten. So sehr, daß wir nicht einmal genug Daten haben, um sagen zu können, wie groß ihre Kontrolle ist. Wir können aber mit Erleichterung feststellen, daß derartige Vorgänge nach der Konsolidierung ausgestorben zu sein scheinen. Ich weiß, daß dies ziemlich weit wegführt, aber es deckt die Vorstellung, daß wir so etwas in den Kreis der Möglichkeiten einbeziehen müssen.“

Parleau blieb immer noch schweigsam und dachte angestrengt nach, während er anderen das Reden überließ. Aber er wußte, daß Klytens Argument berechtigt war und daß sie vor mehr Alternativen standen als der erstbesten, die ihnen eingefallen war. Man konnte nie wissen. Sie brauchten mehr Daten, größere Vorsicht. Er hatte während seiner ganzen Karriere immer an Nonsensfaktoren geglaubt, und er spürte mit dem Instinkt des Karrieremachers, daß sie sie jetzt brauchten – daß sie sogar ganz gewaltige brauchten. Von ihnen bei einer Unachtsamkeit erwischt zu werden, wäre bedauerlich, aber nicht lebensgefährlich. Sich auf eine falsche Interpretation zu verlassen und dann den falschen Weg einzuschlagen und unerwünschte Ereignisse heraufzubeschwören … unvorstellbar. Hier stand mehr auf dem Spiel als seine eigene Verdienstakte in Kontinental.

Er sagte: „Klyten, liegt ein Teil unserer Schwierigkeit in diesem Falle daran, wie wir sie sehen? Oder sollte ich besser fragen: daran, wie wir reagieren?“

„Ich glaube, ja. Die ganze Kultur ist enorm darum bemüht, ihren augenscheinlichen freiwilligen Primitivismus rational zu erklären … ich glaube, daß sich viele von ihnen selbst nicht dieser Zwiespältigkeit bewußt sind. Ich meine, wenn man sich einige von den Ergebnissen des Instituts ansieht, dann erkennt man, daß da offensichtlich ein scharfer, gebildeter Geist am Werk ist, und dann gehen die Besitzer eben dieses scharfen Geistes hin und hacken siebzehn- oder achtzehnhundert Stunden lang Holz oder holen Wasser aus einem Fluß. Wir erkennen auch noch bei anderen Dingen, daß sie eigentlich ganz und gar nicht primitiv sind … ihre Häuser lassen auf eine Kombination von chemotechnischen und geodätischen Kenntnissen schließen, was ein Gebiet ist, auf dem man uns so weit voraus ist, daß wir nicht einmal, wenn wir eine Materialprobe vor uns hätten, beschreiben könnten, wie dieses Material zusammenhält und funktioniert. Dieser Zweig einer Fachtechnologie ist das Monopol einer einzigen Webe, die über einem Holzkohlenfeuer kocht und in einem ungeheizten Bach badet. Wenn es sich hierbei um die wilderen Gebiete von Neu-Guinea oder Borneo handelte, könnte ich jetzt von raschem Wandel und ungenügender Assimilation sprechen, aber das ist nicht der Fall: Sie wenden sich von der auf den persönlichen Komfort ausgerichteten Technologie ab und bringen es fertig, äußerst komplizierte Alternativlösungen zu im wesentlichen gleichen Wissensgebieten zu meistern.“

Plattsman sagte: „An sich nicht unbedingt verdächtig. Viele von unseren Leuten würden es genauso machen, wenn sie ein Reservat zum Leben hätten und eine niedrige Bevölkerungsdichte, um sich so etwas leisten zu können.“

Klyten folgerte in aller Freundlichkeit: „Nur zu wahr, denke ich. Trotzdem müssen wir alle Möglichkeiten in Betracht ziehen und im Lichte anderer bekannter Tatsachen prüfen.“

Parleau fragte: „Wie prozedieren wir dann hier am besten? Die Untersuchung fortsetzen und versuchen, einen Vektor flußabwärts zu bekommen?“ Die Tatsache, daß er sich der Sprache der Aufsichtsbeamten und ihrer liebsten Disziplin bediente, ließ ein leises Lächeln über Plattsmans Gesicht huschen.

Plattsman hatte die Antwort parat: „Ja, gewiß. Wir haben nicht einmal genug Daten, um das Problem zu erkennen, geschweige denn Arbeiten zu den genannten Alternativen, um es zu lösen.“

„Eykor, wenn wir uns auf eine bestimmte Handlungsweise festlegen würden, welche Möglichkeiten hätten wir da?“

„Da wäre einmal das gestufte Reaktionssystem. Ich würde denken, daß dabei Opkon{25} zwei-zwölf an dem Problem weiterarbeiten und für Flexibilität sorgen sollte. Als letzte Möglichkeit für den Fall, daß sie sich als unkooperativ und unerschütterlich erweisen sollten, könnten wir den Reservatskomplex besetzen, ihn annektieren und die Bewohner etwa in den Bezirk Sonora umsiedeln. Vielleicht nach Niederkalifornien, ins Innere der Mojave-Gegend. Und wir könnten die fruchtbaren Bevölkerungsteile isolieren.“

„Wie weit würde das gehen?“

„So weit, wie nötig ist, um dies ganz klarzumachen. Ich nehme an, wenn Zwei-zwölf in Kraft gesetzt würde, würde es soweit kommen.“

„Das würde es“, ergänzte Klyten. „Wie man weiß, nehmen sie auch eine Bevölkerungsabnahme in Kauf, um offensichtlich Behinderte zu isolieren. Aber dagegen gibt es ernsthafte ethische Einwände. Wir haben es hier im Grunde mit Unbekannten zu tun. Natürlich wären sie längst offen feindselig geworden, wenn wir Zwei-zwölf dem Buchstaben nach durchführen würden.“

Parleau sagte: „Machen Sie sich darüber keine Gedanken. Noch sind wir nicht bei Zwei-zwölf, und was mich angeht, so meine ich, daß es wohl nicht in Anwendung kommen wird.“

Eykor stimmte vollkommen zu. „Die Untersuchung muß fortgeführt werden.“

Plattsman bot an: „Wir von der Aufsichtsbehörde können Sie voll und ganz unterstützen.“

Parleau fragte nun: „Wird sie von jemandem abgeholt? Oder sollen wir den Punkt als erledigt betrachten?“

Klyten antwortete sofort: „Nein. Nehmen Sie ruhig einmal an, daß sie von jemandem abgeholt wird.“ Er versuchte, die wissenden Blicke, die Eykor allen Anwesenden zuwarf, zu übersehen. „Es wird schon einer wissen wollen, was aus dem Liebling geworden ist, und schließlich werden sie nachsehen kommen. Selbst jetzt, da sie nichts mehr aus ihr herausbekommen werden, ist sie es immer noch wert, geschont zu werden, denn mit viel Liebe und Geduld läßt sich auf das, was noch übrig ist, eine neue Persönlichkeit überragen. Das Endresultat ähnelt sehr einem schweren Fall von Retardation, aber es funktioniert.“

„Sehr gut! Wir werden uns damit noch gründlicher befassen. Lassen Sie alles über mich laufen, und halten Sie Denver fürs erste da raus. Das wär’s.“

Parleau hielt eine Minute lang inne, wobei er sich insgeheim seinen eigenen Gedanken und Ahnungen hingab. Es sagte: „Und, Eykor, schicken Sie mir ein Exemplar von Zwei-zwölf herauf. Ich möchte mir das mal ansehen, nur zur Information, Sie verstehen.“

Eykor nickte. „Noch etwas, Herr Vorsitzender?“

„Ja. Finden Sie in Zusammenarbeit mit der Aufsichtsbehörde heraus, wer das Mädchen ist. Oder, wie Klyten es vielleicht ausdrücken würde, wer es war.“

Parleau stand auf und bedeutete den anderen, daß, zumindest für eine gewisse Zeit, ein Lösungsprozeß in Gang gekommen war. Das war schon etwas; aber er mußte dennoch zugeben, daß es noch viel zu viele ungeklärte Faktoren in der Angelegenheit gab. Er hatte die Frage nach der Schicklichkeit von Eykors Vorgehen bewußt ausgelassen und statt dessen den Ausdruck seines Mißfallens gänzlich einigen zufälligen Bemerkungen überlassen. Er wollte sehen, wie weit Eykor gehen würde und in welche Richtung.

Die Teilnehmer an dieser Konferenz brachen ohne weitere Umstände auf. Parleau sah zu, wie sie gingen, und versuchte, seine Gedanken wieder auf die anderen anstehenden Angelegenheiten zu konzentrieren, auf all die unzähligen Dinge, um die er sich zu kümmern hatte. Dieser längst überfällige Brief an den Bezirk Appalachien zum Beispiel, in dem er seine Zustimmung ausdrückte. Er hatte gehofft, daß sie nach dem letzten Angebot eine Weile ruhig bleiben würden, aber anscheinend war der Brief noch nicht bis ganz nach oben gedrungen. Er seufzte. Einfach unmöglich. Er fuhr sich mit der Hand durch die sich lichtenden Haarstoppeln, eine Bewegung der Ungeduld, ein Überbleibsel jener Tage, als er noch ein unterer Verwaltungsangestellter im Bezirk Sonora gewesen war. Er wollte sich gerade wieder auf seinen Platz hinter dem Schreibtisch setzen, als die Tür zum Büro aufging. Es war Plattsman.

Parleau blickte neugierig auf. „Ja?“

„Herr Vorsitzender, ich bin gerade unterwegs zu Eykor mit einer neuen und interessanten Sache. Ich dachte, daß sie es sich vielleicht auch gern ansehen würden. Es ist nur ein Verdacht, aber …“

Parleau sah den jüngeren Mann genau an. Er konnte nicht ganz sicher sein, aber der Aufsichtsbeamte wirkte ein wenig beunruhigt, besorgt. „Ja, ich bin durchaus interessiert. Bitte sehr.“

Plattsman trat an die Schreibtischkante und zog aus einer Aktenmappe ein Bündel Fotodrucke heraus. Einen legte er beiseite, und die anderen behielt er vorsichtig in der Hand und bedeutete Parleau, selbst einen Blick darauf zu werfen. Parleau beugte sich tiefer hinunter.

Indem er auf den einzelnen Druck wies, sagte Plattsman: „Sehen Sie sich diesen Druck an: Das ist das jüngste Bild des Mädchens in unseren Akten.“ Er hielt inne, damit sich das Bild im Gehirn des Vorsitzenden festsetzen konnte. „Jetzt dieses hier“, sagte er und legte ein weiteres von dem Stapel dazu, „es wurde aufgenommen, bevor sie in den Kasten kam. Die übliche Überwachung durch den Spiegel. Können Sie sie erkennen?“

Parleau nickte. „Ja. Der Unterschied ist doch größer, als ich gedacht hätte.“

„Richtig. Das ist offensichtlich eine Folge ihrer Regression. Nach diesen allein zu urteilen würde ich meinen, daß sie, was immer mit ihr passiert ist, alles verloren hat, selbst die kleinsten Eigenheiten, die letztlich eine Persönlichkeit zu dem machen, was sie ist. Aber wesentlich ist, daß Sie, der Sie kein ausgebildeter Beobachter sind, sie immer noch erkennen können. Jetzt lassen Sie mich Ihnen diese zeigen.“ Während er dies sagte, breitete Plattsman die restlichen Blätter auf der matten Schreibtischplatte aus. Er trat zurück.

Parleau sah erst auf die Blätter, dann Plattsman an. Plattsman wies auf die Blätter. Parleau sah noch einmal hin.

Und noch einmal. Er sah typische Bilder aus der punktuellen Überwachung einer größeren Menge, stark vergrößert, um einzelne Personen besonders hervorzuheben, wobei diese Bilder an den Rändern durch die Vergrößerung etwas verschwommen waren. Zuerst sah er nicht das, worauf Plattsman ihn offensichtlich hinweisen wollte. Er sah Bilder von einem Mädchen, meistens modisch gekleidet, seltener in der Ler-Kleidung, dem Überhemd, mit kurzem Haar, dunkler Haut, wenn auch nicht so dunkel wie die Plattsmans, einem aufmerksamen Gesichtsausdruck, der alles mögliche bedeuten konnte … auf manchen der Bilder konnte er makellose, starke Gliedmaßen erkennen, deren Formen sich den Kleidern aufdrückten. Er sah noch einmal hin. Er hatte beinahe aufgegeben, als etwas sein geistiges Auge fesselte. Und noch einmal. Und dann sah Parleau, was Plattsmans Aufmerksamkeit erregt hatte. Der Vorsitzende traf eine Wahl, griff nach zweien von den Blättern, hob sie hoch und legte sie zur Seite.

Er wandte sich an den Aufsichtsbeamten und sagte: „Auf diesen beiden ist nicht unser Mädchen, Punkt sechsundvierzig.“

„Nein, Herr Vorsitzender, das ist es nicht. Sie und ich, wir haben ein höheres Unterscheidungsvermögen als die Maschine, wie entwickelt sie auch sein mag. Besonders, wenn es um Gesichter geht. Gesichter sind komplexer als Netzhautmuster oder Fingerabdrücke, aber wir sind durch unser eigenes Erbe der natürlichen Programmierung besser auf sie eingestellt. Sie haben recht. Es sind noch ein paar andere da, die zur Debatte stehen. Wir sind schon bei der Analyse der näheren Umstände.“

„Sie sind doch nicht zurückgekommen, um mir mitzuteilen, daß ihre Maschine sich geirrt hat.“

„Nun, was wir von den vorliegenden Daten vorläufig ableiten können – Sensoren, Tageszeit und ähnliches – ist, daß das zweite Mädchen, dessen Gesicht wir nicht so gut erkennen können, auf irgendeine Weise mit dem ersten, Punkt sechsundvierzig, in Beziehung stand. Gleicher Ort, praktisch gleiche Zeit, und die zweite wird vom Sensor grundsätzlich nach der ersten erfaßt.“

„Hat die eine die andere beschattet?“

„Sieht so aus, obwohl der Grund ein Rätsel ist. Außerdem wissen wir durch die Chemonitoren, daß es beides Ler sind, weiblich, mehr oder weniger gleichaltrig, und daß der Grad der Belastung bei der zweiten immer niedriger ist als bei der ersten. Ferner höre ich von der Physiologie, wiederum vorläufig, daß die Art der Belastung bei beiden unterschiedlich ist. Die erste, Punkt sechsundvierzig, hat immer eine starke Angstkomponente dabei. Sie kann zusammen mit anderen emotionalen Mengen auftreten oder in reiner Form, aber die eine oder andere Art von Angst ist immer dabei.“

„Die zweite?“

„Die zweite gleicht in ihren Gefühlen nichts, was wir in Analogie mit dem Menschen erklären könnten. Aber ganz gleich, welchen Geisteszustand sie bei ihr erkennen lassen, er tritt immer rein auf, absolut allein.“

„Ich habe etwas darüber gehört, wie sie solche Suchgeräte einsetzen. Irgend etwas über gemischte und reine Mengen … helfen Sie meinem nachlassenden Gedächtnis doch auf die Sprünge.“

„Eine reine Chemspur beim Menschen weist fast grundsätzlich auf eine seelische Störung hin, gewöhnlich auf einen Psychopathen; ich nehme an, daß das Ler-System ähnlich genug ist, daß wir die gleiche Schlußfolgerung ziehen können. Ich lasse das gerade nachprüfen.“

„Aber stellen Sie sich das doch mal vor! Zwei! Wo ist die Verbindung?“

„Wir kümmern uns schon darum, Herr Vorsitzender. Aber es sieht bestimmt nicht wie eine leichte Angelegenheit aus.“

„Nun denn, geben Sie diese Sachen unbedingt an Eykor weiter. Dadurch wird es ihm zwar nicht bessergehen, aber er braucht sie ja ohnehin.“

Plattsman nickte, sammelte die Blätter wieder ein und ging. Und Parleau setzte sich wieder und blickte starr auf einen leeren, zufälligen Punkt an der gegenüberliegenden Wand. Er nahm seine gewohnheitsmäßige Arbeit noch lange nicht auf.