Alles, was du je getan hast, ist Training für den nächsten Augenblick.
M. A. F., A tropin
Draußen im Korridor warteten Morlenden und Fellirian und hielten durch das einzige Fenster Ausschau nach der nächsten Untergrundstation; sie sahen ununterbrochen Dunkelheit an sich vorüberziehen, eine verwischte, leere Mauer, nur von dem undeutlichen, flüchtigen Licht erleuchtet, das durch die wenigen Fenster des Zuges nach außen drang. Das Licht reichte nicht aus, um irgendwelche Details erkennen zu können, und die wenigen, die es gab, wurden von der irrsinnigen Geschwindigkeit verwischt, mit der der Zug durch die Tunnels in der Erde gejagt wurde.
Sie waren nicht in der Lage, eine Veränderung in der Höhe des Zugs oder in der Verringerung oder Erhöhung seiner unbekannten Geschwindigkeit zu bemerken. Es zeichnete sich jedoch eine Veränderung ab, denn plötzlich blitzten eine Reihe von hellen Lichtern ohne Warnung vor den Fenstern auf, zu schnell für mehr als einen hastigen Blick. Welche Botschaft es auch immer war, die die Lichter übermittelten, sie war auf jeden Fall nicht verbal, denn die Muster bildeten keine Buchstaben, die Fellirian erkennen konnte. Kurz nach den Lichtern bemerkten sie, wie der Zug langsamer wurde, und zur gleichen Zeit verriet ihnen ein leichter Druck, daß die Fahrt nach oben ging. Der Zug wurde noch langsamer, nun ganz unverkennbar, und dann entfernten sich die nahen Wände von den Fenstern, wurden zu der leeren schwarzen Wand der Finsternis und dann zu einem offeneren Raum, der von Leuchtkörpern, die in gleichmäßigen Abständen an der Decke befestigt waren, düster erhellt wurde. Die Station hatte eine niedrige Decke, und die Leuchtkörper waren schon lange nicht repariert worden; viele von ihnen funktionierten überhaupt nicht. Das Tempo des Zuges verlangsamte sich nun zu einem Schrittempo, und sie konnten ein großes, verdrecktes Schild erkennen, das auf die Betonwand der Untergrundbahn gemalt war und „CPXO10“ verkündete. Dann hielt die Untergrundbahn an.
Wie Fellirian vorausgesagt hatte, herrschte in dem ganzen Zug ein erhebliches Kommen und Gehen, eigentlich mehr als vorher in der Bezirkszentrale. Die Aktivität vermittelte einen Eindruck von Geschäftigkeit und lockeren Konventionen, aber dieser frühere Eindruck korrigierte sich nach einem Augenblick auf eine nähere Prüfung hin; die Prozedur war formal, absichtlich unterbrochen und sehr stark formalisiert. Reisende, die mit dem Zug abfahren wollten, gingen zu den gleitenden Türen und schoben ihre Fahrkarten in einen passenden Schlitz daneben, um dann darauf zu warten, daß die Türen aufgingen. Als sie dies taten, hasteten sie über die Türschwelle, und die Türen schlossen sich schnell wieder hinter ihnen, und zwar mit genug Wucht, um jemanden, der in seinen Bewegungen nicht schnell genug war und zögerte, zu verletzen. So schoben sie sich also mit ruckartigen, ungelenken Bewegungen durch, taten das aber dennoch mit der Geübtheit von Menschen, die solche Bewegungen bei ähnlichen Türen oft, wohl täglich, vollzogen.
Fellirian paßte genau auf, bis der größte Teil des Verkehrs im Untergrundbahnhof erstorben war. Auf dem Bahnsteig waren noch einzelne Personen zu sehen, aber sie schienen es entweder nicht eilig zu haben oder tief in ihre eigenen Angelegenheiten versunken zu sein. Sie waren an dem Zug oder irgendeinem der Passagiere völlig uninteressiert. Auf ein Zeichen von Fellirian hin nahmen alle Mitglieder der Gruppe ihre Positionen ein: Alle außer Morlenden und Fellirian verbargen sich sorgfältig in dem Abteil. Sie verhielten sich alle still und holten tief Luft. Morlenden klopfte laut an die Tür des Abteils der Agenten. Merkwürdigerweise dauerte es einige Zeit, bis sie Antwort gaben; ihre beiden Wachen waren entweder eingeschlafen oder dösten.
Der ältere Agent, höchstwahrscheinlich der Vorgesetzte, erschien mit einem Ausdruck an der Tür, der sich zu neun Zehnteln aus Ärger über die Belästigung und zu einem Zehntel aus Verdacht zusammensetzte. „Ja, was gibt es für ein Problem?“
Morlenden hoffte, daß er sich anhörte, als sei er in Panik. Er rief hastig: „Das Mädchen! Sie ist weg! Wir waren mit unserem Ritual fertig und sind eingeschlafen – alles schien in Ordnung zu sein. Als wir aber von der Bewegung des Zuges an der Haltestelle aufwachten, haben wir bemerkt, daß sie weg ist! Fellirian meinte, sie hätte gehört, wie die Tür zu unserem Abteil geschlossen wurde, aber wir waren gerade aufgewacht und waren unserer Sache nicht sicher. Es hätte auch ein anderes Geräusch sein können.“
„Weg? Wo zum Teufel konnte sie denn hingehen?“ Der Ärger glitt über in Besorgnis, und die Besorgnis rutschte in nackte Panik ab. „Weg?“ wiederholte er idiotisch, als würde sie auf magische Weise wieder erscheinen und beweisen, daß er unrecht hatte. „Weg? Das ist unmöglich! Dann müßte jemand … Scheiße! Das haben sie tatsächlich gemacht! Na, weit kann sie allein nicht gekommen sein und jemand anders, der sie getragen hat, auch nicht.“ Er drehte sich zu dem Abteil um und sagte zu seinem Partner: „Bill! Hallo, aufwachen!“ Ein Stöhnen belohnte seine Anstrengungen. Er blieb hartnäckig: „Los, du Penner! Das Mädchen ist weg, und was das bedeutet, weißt du ja. Geh los und überprüfe alles. Fang mit ihrem Abteil an, und dann kommt der Rest des Zugs. Sie ist vielleicht noch nicht ausgestiegen.“
Der zweite Agent erschien, träge infolge des unterbrochenen Schlafs. Und Morlenden und Fellirian beobachteten das Paar sehr genau, während sie ihre Pläne reifen ließen.
Der Ältere befahl: „Geh du in ihr Abteil, ich halte den Zug auf. Schnell, weit können sie noch nicht sein, das Mädchen und wer ihr auch immer geholfen hat. Sie braucht Hilfe. Sieh dich nach mindesten zwei Personen um, wahrscheinlicher sind drei!“
Jetzt wendete er sich Morlenden zu. „Da waren doch drei von euch außer dem Mädchen – ihr beide und der Junge. Wo ist er jetzt?“
Morlenden sank in sich zusammen, verkleinerte seine kleine Statur noch weiter, da er hoffte, so peinlich berührt zu wirken. Er sagte langsam, als hasse er es oder fürchte sich, es zuzugeben: „Also, genau weiß ich es auch nicht. Wir haben auch ihn nicht finden können. Ich dachte, er sei vielleicht den Gang hinuntergegangen, weil er die Toilette suchte, aber in diesem Teil des Zuges ist er nicht, und ich …“
Der ranghöhere Agent sah plötzlich sehr häßlich aus. Über sein ohnehin schon bedrohlich wirkendes Gesicht blitzte Verzweiflung.
Fellirian fügte noch hinzu: „Sie waren früher ein Liebespaar. Er war ein wenig instabil.“
Der Agent unterbrach sie. „Wohin würden sie gehen?“
„Ich weiß es nicht. Keiner von uns kennt den Komplex zehn auch nur im geringsten, und daß die beiden ihn nicht kennen, weiß ich positiv.“
Jetzt erschien der zweite Agent wieder im vorderen Bereich des Abteils, nestelte an seiner Kleidung herum, unterdrückte ein Gähnen und wirkte noch sehr schlaftrunken. Der ranghöhere Agent eilte zu der Ausgangstür, holte aus einer Brieftasche in seinem Mantel eine rote Karte und hob sie in den Schlitz. Die Türen öffneten sich und blieben offen, während er in sich hineinmurmelte: „Verdammt noch mal! Meinen letzten Überbrücker muß ich für diese verdammte Jagd ausgeben, und man bekommt sie jeden Tag schwerer. Seine Seele muß man den knickrigen Schweinen verkaufen, wenn man nur einen einzigen davon ergattern will.“
In der Zwischenzeit hatte der jüngere Agent die Tür zu dem anderen Abteil aufgestoßen und hineingeschaut, eigentlich recht sorgfältig, wenn man die kurze Zeit bedachte, die er darauf verwandte. Er sah jedoch nichts. Er wandte sich seinem Vorgesetzten zu, der noch in der Tür stand, und sagte: „Hier ist niemand.“
„In Ordnung. Bleib hier und paß auf den Waggon auf.“ Er sah Morlenden und Fellirian drohend an und ragte dabei über ihnen. „Und ihr beide bleibt auch. Ich schaue mich draußen um, nur um sicherzugehen. In Zehn kommen sie nicht weit, soviel ist sicher!“
Er drehte sich abrupt um und rannte durch die offene Tür hinaus. Der zweite Agent sah einen Moment lang unruhig und unsicher zu, als würde ihm etwas entgehen, während er hier stand, etwas, das ihm nicht einfallen wollte, das er hätte bemerken sollen, es aber nicht getan hatte. Fellirian durchbrach die Spannung und machte mit ihren Händen nervöse kleine Bewegungen, in der Hoffnung, damit den Anschein von Nervosität zu erwecken und Angst zu zeigen, um ihn zu überzeugen. Der jüngere Agent sah von einem zum anderen, schaute Morlenden an, dann Fellirian, dann wieder Morlenden, der nervös die Station vor dem Waggon beobachtete, und wieder zögernd zurück in das Abteil. Wieder in das Abteil. Er drehte sich plötzlich für einen weiteren Blick um, ging zurück und dieses Mal in das Abteil hinein, das die Ler gerade verlassen hatten. Sie hörten, wie er etwas zu sagen begann, aber was er auch sagen wollte, er brachte es nicht zum Ende. „Aha, da ist ein Hau…!“ Plötzlich herrschte Stille, der leicht raschelnde Geräusche folgten, und kurz darauf erschienen die vier anderen: Kaldherman, Cannialin, Schaeszendur, Krisshantem. Kris kam als letzter, und er schloß beim Hinausgehen sorgfältig die Abteiltür, behielt aber den Schlüssel in der Hand. Er sagte: „Wieviel Zeit noch?“
„Keine Zeit mehr!“ zischte sie. „Schnell jetzt! In die Station!“
Sie gingen nacheinander in den Bahnhof hinaus, betraten ruhig und gesetzt die Betonhöhle. Geräusche hallten von den Betonwänden wider und verloren sich in der düsteren Entfernung. Diese Station war rauchiger als die der Bezirkszentrale. Sie kämpften gegen den Impuls an, loszurennen und gingen scheinbar fast desinteressiert zu einem leeren Unterstand an der Wand, der halb im Schatten lag und dessen eigene Beleuchtung außer Betrieb war. Sie konnten sich nicht alle darin verstecken, aber sie verbargen sich, so gut sie konnten, und standen ganz still, genau wie Kris es ihnen gezeigt hatte, still und schweigsam wie Steine. Und fast bevor sie Zeit gehabt hatten, ihre Positionen einzunehmen, kam der ältere Agent zurück, hastig die verdreckte Treppe herabrennend, und ließ eine Spur von lauten Fußtritten zurück, die sie alle mit ihren Ohren verfolgen konnten. Er trug kleine Metallbeschläge unter seinen Schuhen. Er erschien schwer schnaufend, noch immer in einer schnellen Gangart, murmelte weiter vor sich hin und bestieg den Zug, ohne nach links oder rechts zu schauen, klappte die Brieftasche mit den Fahrkarten auf und schob eine grüne Karte in den Schlitz an der Tür. Die Tür schloß sich, und fast sofort setzte sich der Zug in Bewegung, zuerst leise und langsam, aber dabei in ständiger Beschleunigung. Sie konnten ihn deutlich durch die sich vorbeibewegenden Fenster sehen, wie er ohne nachzusehen in sein eigenes Abteil hineinging und die Tür zuschlug, daß sich die Plastikfenster nach außen wölbten. Der Zug begann, in der Dunkelheit des Tunnels zu verschwinden, der am äußersten Ende des Bahnsteigs begann. Sie standen in dem Unterstand völlig still. Als der Teil des Zugs, in dem sie sich aufgehalten hatten, sich der Tunneleinfahrt weit unten am Bahnsteigende zu nähern begann, beobachteten sie durch ein anderes Fenster, wie plötzlich eine Gestalt aus dem Abteil herausstürzte und verzweifelt den Gang hinauf- und hinabsah. Sie verschwand, ging offensichtlich in ihr Abteil. Als der Agent am Fenster vorbeikam, sah er hinaus und ließ seine geübten Augen über den Bahnsteig schweifen; es war ein geschulter Blick, und doch war dieser Blick nur darauf geschult, Bewegung gegen einen ruhenden Hintergrund, der einen Kontrast bildete, auszumachen. Was menschliche Objekte anbetraf, so bildete die fleckige graue Betonwand einen ausgezeichneten Hintergrund, um nervöse, ruckartige Bewegungen von Menschen auszumachen, die dunkle Kleidung trugen. Das waren genau die Bewegungen, die man den Menschen mit Absicht anerzogen hatte, und dunkle Kleidung war die einzige Kleidung, die zu bekommen war. Die Ler aber waren ruhig und bewegungslos, obwohl sie offen sichtbar dastanden; ihre Winterüberhemden und Umhänge jedoch waren grau, und so waren sie für den Agenten praktisch unsichtbar, und das wären sie auch gewesen, wenn der Zug still am Bahnsteig gestanden hätte. Er hatte sie nicht gesehen, und aus seiner Panik war deutlich ersichtlich, daß er natürlich auch an der Oberfläche von Komplex zehn nichts gefunden hatte.
Der Zug glitt weiter, von Magnetfeldern getragen, erhöhte gleitend seine Geschwindigkeit, und plötzlich verschwand der letzte Wagen in dem klaffenden Maul der Tunnelöffnung. Der Tunnel gähnte leer. Eine Schwingtür mit Ventilen schloß sich lautlos vor dem Tunneleingang. Über dem Tor brannte noch kurz ein gelbrotes Licht, wurde dann grün und ging aus.
Morlenden, der noch keine Bewegung wagte, sagte aus dem Mundwinkel zu Fellirian: „Wie du schon sagtest, ein guter Trick. Ja, der hat mir gefallen. Wieviel Zeit bleibt uns jetzt?“
„Mehr. Vielleicht eine Stunde. Mit ein bißchen Glück, das heißt, wenn jemand anders Fehler macht, noch mehr. Diese Agenten bekommen jetzt normalerweise pro Einsatz nur noch ein Überbrückerticket. Sie haben dieses Privileg mißbraucht und müssen jetzt den Empfang per Unterschrift quittieren; darum hat es vor ein paar Jahren einen Riesenlärm gegeben. Der Zug aber muß bis zur nächsten Haltestelle weiterfahren, wenn er sich einmal in Bewegung gesetzt hat, und zurückfahren kann er nicht. Er kann sich natürlich über seinen Kommunikator mit anderen in Verbindung setzen, aber bevor er Bericht erstattet, muß er erst einmal herausbekommen, was passiert ist. Was ist übrigens aus dem anderen geworden – ihr habt ihn doch nicht umgebracht, oder?“
Kris antwortete: „Nein, obwohl der Zweitgatte deiner Webe die Stirn gerunzelt hat wie eine Katze, die Soße von einem heißen Prügel ableckt, und die Zweitmutter hat mit ihrem Hühnerschlachtmesser gespielt und gierig dreingeschaut. Nein, er wird schlafen, mit schlechten Träumen, und sich elend fühlen. Und mit der Kommunikation werden sie Schwierigkeiten haben, weil ich nämlich das Gerät eingesteckt habe, von dem du da gesprochen hast. Der zweite Agent hatte es bei sich.“
Fellirian sah Kris ausdruckslos an und sagte nichts. Nach einer Weile meinte sie: „Na ja, ich nehme an, wir werden das Ding irgendwie gebrauchen können. Wir können es abhören, und vielleicht warnt es uns; dann hätten wir einen um so größeren Vorsprung. Behalte es also, obwohl ich eigentlich wünschte, du hättest es nicht mitgenommen. Verstecke es, und was auch immer du tust – und was auch immer es tut –, rühr nichts daran an. Es könnte uns auch verraten …“
Wieder machte sie eine Pause, als überlege sie sich etwas, das leicht zu denken, aber schwer richtig auszudrücken ist. Fellirian war schon immer diplomatisch und höflich gewesen, manchmal zu sehr. Schließlich sagte sie noch: „Und jetzt darf ich dir vielleicht einen Rat geben: Wenn ich mit deiner Begleitung in den tiefen Wald gehen würde, Krisshantem, würde ich deiner Führung folgen und deinen Anweisungen gehorchen, denn das ist ganz und gar deine Welt. Ganz genauso. Und diese Welt, durch die wir jetzt gehen, ist, soweit sie dies überhaupt für einen von uns sein kann, die meine. Und diese Welt ist weit, weit gefährlicher als die Wälder in unserem Reservat und selbst unsere wildesten Gegenden. Für dich ist das hier Beth Mershonnekh, das Haus des Teufels. Wenn wir noch weitere Vorläufer treffen sollten, nimm ihnen nichts ab. Nichts. Dies ist nicht die rechte Zeit für Erklärungen, und ich akzeptiere den Irrtum, der sich aus fehlerhaften Anweisungen ergibt. Jetzt zumindest.“
Kris nickte.
„Jetzt“, sprach sie weiter, „müssen wir los. Geht zügig, als hättet ihr ein Ziel in der Nähe, eine Angelegenheit, um die ihr euch kümmern müßt. Kein Unsinn und kein Traben und kein Laufen. Schaeszendur, verstehst du mich?“
Das Mädchen antwortete wie weit entfernt, passiv: „Ja, schnell genug.“
Dann traten sie unter der Führung von Fellirian aus dem Schutz des Kiosks heraus und stiegen die schmierige, von Abfall übersäte, dürftig beleuchtete Treppe zur Straße vor dem Bahnhof hinauf.
Komplex zehn gehörte zu den höher industrialisierten Orten des Bezirks; welche Produkte es auch immer waren, deren Herstellung hier konzentriert war: Die Produktion wirkte sich positiv auf die Intensität der Straßenbeleuchtung aus und erzeugte eine Menge Schmutz. Im großen und ganzen war es hier weit schmutziger als in der Bezirkszentrale. Es gab noch mehr Unterschiede: Die meisten Gebäude hier waren deutlich für die Industrie vorgesehen und nicht für die Verwaltung, wie das in der Bezirkszentrale der Fall war. Außerdem schien die allgemeine Atmosphäre hier eher auf ein groberes, nützlicheres Ordnungssystem hinzudeuten als in der fast penibel anmutenden Bezirkszentrale. Hier gab es keine Plätze, keine Blumentöpfe an Kreuzungen, keine Straßen, die auf kunstvolle Weise nirgendwohin führten. Hier waren die Straßen breit, gerade und lang, und die Hausnummern folgten einander in sorgfältiger Ordnung, ja, sie trugen sogar manchmal zusätzliche Buchstaben, die auf einen Zusammenhang hinwiesen; 242 wurde von 243 gefolgt, und direkt daneben lag 243 a.
Fellirian, der diese seltsame und zur Zeit scheinbar leere Stadt vom Plan her einigermaßen vertraut war, führte sie auf schnellem Weg durch Straßen und Gassen und Zulieferungswege, wich Abflußkanälen und Gossen aus, die von schwarzem Wasser mit einem schillernden Ölfilm auf der Oberfläche überquollen. Sie sahen nirgends dichteren Verkehr, obwohl es zahlreiche Anzeichen dafür gab, daß die Verkehrswege häufigen und langen Belastungen ausgesetzt waren; die Hauptstraßen waren im allgemeinen frei von Abfall und Schmutz, von den Gebläsen der Luftkissenfahrzeuge weggeblasen und von Tausenden von Rollern, Walzen und schweren Rädern zu einem matten Glanz poliert. Sie sahen nur selten Fahrzeuge irgendeiner Art und Fußgänger noch seltener.
Sie gingen durch leere, von großen, geduckten Gebäuden flankierte Straßen, deren Bestimmung aus ihrer Gestalt nicht zu erkennen war. Sie waren alle mehr oder weniger stark beleuchtet, und als sie an den Häusern vorbeikamen, bemerkten sie weitere Anzeichen von Produktivität: schweres Stampfen oder schabende, klappernde Geräusche. Gerüche von heißem Metall, angeschmortem Kunststoff, brennendem Gummi, Ozon, heißem Fett. Zwischen den größeren Gebäuden waren willkürlich kleinere verteilt, einige Wohneinheiten, Baracken, kleine Lieferanteneingänge, Stände, Buden. Dann und wann ein Laden; seltener Büros. In der feuchten, rauchigen Luft herrschte im Herzen der Stadt ein Gefühl der Verlassenheit und Leere, das in direktem Gegensatz zu der offensichtlichen Geschäftigkeit der Stadt stand. Sie überquerten Kanäle, in die sich Abflußrohre in mattem Strahl ergossen, in denen dunkles Wasser dampfte und deren glanzlose Oberfläche träge wirbelte.
Ihr schneller Schritt führte sie bald durch die industrialisierte Gegend und in andersgeartete Viertel – dieses war Wohnblocks, Kasernen, Unterkünften und Einzelwohnungen vorbehalten –, die nun allmählich durch offene, leerstehenden Grundstücke und kleine Felder unterbrochen wurden. In der Nähe einer solchen Einheit, die offenbar eine Wohneinheit war, kamen sie an einer kleinen Gruppe von Leuten vorbei, die bei einem Verkaufsstand versammelt waren und aus dampfenden Bechern ein heißes Getränk zu sich nahmen. Die Gesichter der Kunden wurden durch das intensive Licht der Standbeleuchtung erhellt, und zwischen ihnen ließ sich ein bestimmtes Gefühl von reservierter Kameradschaft feststellen. Zwei ältere Männer waren in ein ernsthaftes Gespräch mit drei Frauen vertieft, während ein jüngerer Mann etwas abseits von ihnen stand und von Zeit zu Zeit kleine Beiträge zu der Unterhaltung lieferte, die zum größten Teil ignoriert wurden. Er schien meistens über eine Angelegenheit zu brüten, die nur ihm selbst bekannt war, und er steckte seine Nase in den Becher. Die Kunden nahmen wenig oder keine Notiz von den Ler, als sie die Straße überquerten. Morlenden versuchte, sich die Szene vor ihnen in ihrer Gesamtheit vorzustellen; Vermutungen erhoben sich mit Leichtigkeit in seinem Gehirn, aber keine von ihnen besaß einen beeindruckenderen Wahrheitsgehalt. Es war eine statische Szene, aus der Zeit und dem Leben herausgelöst und in einem Augenblick verborgener Bedeutung festgehalten.
Als die Gruppe ein ganzes Stück hinter sich gelassen hatte, fragte Fellirian: „Haben sie uns nicht bemerkt?“
„Nein, nicht in Zehn. Das sind Mitternächtler, die bald zur Arbeit gehn, nehme ich an; sie schlafen noch halb. Wenn sie sich überhaupt etwas bei unserem Anblick gedacht haben, dann wohl nur, daß wir Mitternächtler wie sie sind, die irgendwohin zur Arbeit gehen. Und wenn sie sich überhaupt die Mühe gemacht haben, uns als das zu identifizieren, was wir sind, nämlich als Angehörige des Volkes, würden sie sich darüber doch kaum Gedanken machen. Manche von den Ler aus dem Institut kommen manchmal hierher.“
Etwas weiter zurück war zu hören, wie Krisshantem, der für Schaeszendur den Wachhund spielte, vor sich hinmurmelte: „Eine schreckliche Stadt ist das hier! Schlimmer als die andere. Was sollte unsere Leute hierherführen?“
Fellirian sagte mit dem Kopf über die Schulter nach hinten: „Eine Menge. Zehn ist so eine Art Testgebiet, wo Dinge ausprobiert werden; deshalb sieht es hier so … so behelfsmäßig … so wenig dauerhaft aus.“
„Trotzdem schrecklich“, meinte Kris, der seinen Abscheu nicht verhehlte. „Unter uns würdest du nicht viele finden, die in einem solchen Ort wohnen wollten.“
Fellirian gab ihm recht. „Jetzt nicht mehr, nein. Als es aber auf der Erde nur ein paar Millionen Vorläufer gab, hätten sie bestimmt auch nicht freiwillig hier gewohnt, glaube ich … Und ich bin nicht so sicher, ob wir am Ende einen anderen Stil finden werden, wenn wir auch jetzt sagen, daß wir uns ein anderes Ziel aussuchen werden …“ Für den Augenblick sagte sie nichts mehr.
Morlenden sagte: „Ich will dir ja zubilligen, daß du sie besser kennst als ich, als die meisten von uns, ihre Art und ihre Geschichte. Du arbeitest mit ihnen zusammen. Wir stellen aber Mutmaßungen über eine sehr ferne Zukunft an.“
Sie sah zurück und sagte: „Ja, über eine sehr ferne Zukunft. Und du kennst die Legende so gut wie ich, daß das Volk eines Tages die Erde verlassen und die Meere des Weltraums überqueren wird, um uns irgendwo unsere eigene Welt zu schaffen … Ich mache mir Gedanken über die Zukunft, auch wenn ich sie nicht sehen werde; und wenn wir dort auch im Exil leben, so sind wir doch unsere eigenen Herren, während wir hier nur arme Verwandte sind, abgewiesen und eingeschränkt. Hier allerdings teilen wir zumindest die Chemie mit den anderen Wesen der Erde, wenn wir auch für manche nur als Artefakte gelten. Ich versuche oft, mir die fremden Himmel vorzustellen, die anderen Gerüche, die der Wind mit sich trägt. Werden diese Himmel blau sein? Wie werden wir darauf reagieren? Natürlich nicht wir, Olede.“
Morlenden war damit einverstanden, daß sie sich von ihrer Stimmung treiben ließ, wohin sie wollte, und sagte nichts. Bald würde sie wieder zurückkommen und die praktische Fellirian, Madheliya sein, die sie durch eine fremde, gefährliche Welt führte, wie das dem Oberhaupt der Webe zukam. Eine tiefsinnige Grüblerin, diese Eliya, dachte er. Sie machte sich ständig Gedanken über ernsthafte Angelegenheiten, die, zumindest im Augenblick, offensichtlich unwahrscheinlich, wenn nicht gar unmöglich waren. Ler, die in Industriestädten lebten! Mit einem Raumschiff das Weltall durchqueren und einen anderen Planeten finden! Das war alles Teil einer Legende, richtig, aber er hatte sich noch nie wirklich Gedanken darüber gemacht. Kindergeschichten waren das … Geschichten, die man Kindern unter den Sternen des Sommerhimmels erzählte. Als er jedoch zu dem Mädchen Schaeszendur zurückgeschaut hatte, während Fellirian von Raumschiffen und Flügen und der Zukunft gesprochen hatte, hatte er auf ihrem Gesicht nur für einen Augenblick die Spur, den Abdruck eines Ausdrucks gesehen, den er nicht identifizieren konnte, während er ihn sah. Die Überreste eines seltsamen kleinen Halblächelns, eine tanzende kleine Flamme in ihren dunklen Augen, ein kaum merkliches Zusammenziehen dieses weichen, vollen, geschürzten Munds, süß wie eine reife Dattelpflaume.
Immer weiter gingen sie und weiter, kamen nun an größeren Flächen von bebauten Feldern vorbei, zwischen denen immer seltener Gruppen dieser niedrigen, rätselhaften Flachbauten standen. Die Felder waren leer, die Ernte war eingebracht. Auch die Luft veränderte sich; die Tinkturen und Essenzen der Stadt hingen noch mit unveränderter Schwere auf ihnen, aber nun mischte sich auch ein Hauch von Frische hinein. Sie näherten sich einem Lagerhaus oder dem Magazin einer Fabrik, das leerstand, und gingen daran vorbei. Morlenden sah sich wieder nach Schaeszendur um; sie hatte angefangen, ein wenig hinter ihnen zurückzubleiben.
Sie blieben stehen und warteten, damit sie wieder aufschließen konnte; als das Mädchen sie wieder eingeholt hatte, fragte er sie voller Zuneigung: „Wie fühlst du dich, Schaeszen?“
„Müde“, sagte sie mit dumpfer Stimme. „Ich habe Schmerzen.“
Fellirian ging zu ihr und begann, dem Mädchen sanft, aber fest über Arme und Schultern zu streichen. Sie sagte: „Ich weiß. So weit bist du schon lange nicht mehr gelaufen. Du warst sehr krank.“
„Tatsächlich? War ich im Haus eines Heilers?“
„Du warst krank, und die, die dich gepflegt haben, haben, soweit es ihnen möglich war, das Beste für dich getan. Mach dir jetzt keine Gedanken. Ich will dich nicht zwingen, mehr zu leisten, als du kannst, aber wir müssen so schnell weiterkommen, wie wir nur können. Ich verspreche dir, daß du so lange schlafen kannst, wie du willst, wenn wir nach Hause kommen. Wir werden für dich sorgen. Ruh dich jetzt hier ein bißchen aus. Dann gehen wir ein Stück weiter.“
Das Mädchen sagte leise: „Ich friere auch.“
Fellirian sagte: „Kris, wärme sie auf.“
Krisshantem, der unsicher neben ihnen gestanden hatte, setzte sich am Straßenrand neben Schaeszendur und legte zögernd und schüchtern seinen Arm um ihre Schulter. Sie paßte sich seinen Konturen an, drückte sich an ihn, lächelte und sah den Jungen aus niedergeschlagenen Augen halb erwartungsvoll an. Außerdem lag auf ihrem Gesicht etwas von einem aufflackernden Lächeln, das dem sehr ähnlich war, das Morlenden noch deutlich in dem Bild vor sich sah, das er von Maellenkleth hatte. Krisshantem schaute sie ebenfalls an und lächelte, wenn auch nur dünn, und dann schaute er mit ausdruckslosem Gesicht wieder weg.
Verdammt, dachte Morlenden bei sich. Er ist der erste Mann, den diese Schaeszendur in ihrem wirklichen Leben gesehen hat, außer mir, als ich sie zu Bett gebracht habe, und sie will ihn natürlich für einen kleinen, beiläufigen Blumenkampf haben. Und ihr Körper braucht es. Welch eine Ironie! Oder ist es vielleicht möglich, daß noch etwas von früher, von Maellenkleth übrig ist; konnte sie sich an Blitze von dem erinnern, was sie mit dem dort früher gemacht hat? Er rückte eng an Fellirian heran, saß neben ihr und spürte die vertrauten Umrisse und die Wärme von Seite und Oberschenkel, Gesäß und Schulter, Umrisse, die ihm so vertraut waren, so tief in seinem Bewußtsein verwurzelt, daß er glaubte, er würde ein freiwilliges Vergessen überstehen, ohne diese Erinnerung zu verlieren.
Er flüsterte, so daß das jüngere Paar ihn nicht hören konnte: „Eliya, ist es irgendwie möglich, daß sie sich an ihn noch von früher her erinnert?“
„Ich glaube nicht … Komm, leg du auch den Arm um mich; ich friere auch … so. Ob Schaes sich erinnert? Nein, unmöglich, nach allem, was ich gehört habe. Freiwilliges Vergessen ist endgültig. Und selbst wenn da noch Mnemonen übrig geblieben wären, Bruchstücke, würde der Wiederaufbau die meisten von ihnen zerstören und andere Dinge an ihre Stelle setzen. Ich nehme an, solche Bruchstücke könnten an die Oberfläche des Bewußtseins geschwemmt werden, aber sie hätten für sie keine Bedeutung; sie könnte das Gefühl haben, etwas sei ihr vertraut, wie in manchen Träumen, aber dann wüßte sie nicht, warum. Bedränge sie nicht, das würde sie nur verstören. Das arme Ding, diese Schaeszendur, wurde erst vor zwei Stunden geboren.“
„Ich habe über diese Dinge ungefähr das gleiche wie du gehört, Eliya, aber ich habe sie beobachtet: Da ist irgend etwas.“
„Vielleicht. Denk daran, daß weder du noch ich bisher einen Vergessenden gekannt haben. Du könntest dich in dem täuschen, was du siehst.“
Morlenden fühlte sich plötzlich wie ein störrischer Maulesel, hartnäckig. Er setzte an zu sprechen: „Das stimmt schon, aber trotzdem finde ich …“ Er hatte vorgehabt, in dieser zermürbenden Manier weiterzumachen, die er bei Fellirian in den vielen Tagen, die sie schon zusammen verbracht hatten, oft mit gutem Erfolg angewandt hatte, wurde aber von einem plötzlichen Geräusch aus Krisshantems Gürteltasche unterbrochen.
Der Junge holte hastig die kleine elektronische Einheit heraus, die winzig genug war, um bequem in seine Handfläche zu passen. „Kommunikator“ hatte Fellirian es genannt. Krisshantem starrte dumpf auf dieses Ding, während ein Lautsprecher irgendwo darin ein unheimliches, heulendes Geräusch von sich gab, das nicht besonders laut war, aber einen durchdringenden Ton hatte, einen sich wiederholenden, gleitenden Ton, der auf einer kurzen Bandbreite schnell oszillierend auf und ab rutschte.
Fellirian zuckte heftig zusammen und spannte ihren gesamten Körper an. „Kris, gib es mir!“
Er starrte das heulende Gerät an und reichte es ihr sorgfältig hinüber, als würde es gleich explodieren. Während er dies tat, hörte das Heulen plötzlich auf und wurde von einer müden, gelangweilten Stimme ersetzt, männlich dem Klang nach, die Modanglisch sprach.
„System Grün, Testruf … System Grün, Testruf … Testruf in System Grün …, System Grün … ich wiederhole. Alle Teilnehmer melden sich auf mein Zeichen … Zeichen!“ Ein kleines rotes Licht beleuchtete die Oberseite des Geräts, das Fellirian in der Hand hielt und mit dem vorderen und dem hinteren Daumen so fest umklammerte, daß sich die Knöchel weiß gefärbt hatten.
Sie sah das Gerät hektisch an und versuchte herauszufinden, ob sie den richtigen Knopf zu finden vermochte, um ihn herunterzudrücken. Es war jedoch auf dieser Kommunikationseinheit weder etwas beschriftet noch numeriert. Selbst wenn es ihr gelingen sollte, den richtigen Knopf zu finden – was sollte sie dann sagen, wenn sie überhaupt etwas sagen sollte? Noch einmal sah sie sich das Gerät genau an. Dann legte sie es sorgfältig auf den Boden und stand auf. Das rote Licht begann zu blinken, schaltete sich ein und aus, ein und aus.
Der Sprecher sagte, noch immer mit der gleichen gelangweilten Stimme: „B-fünfzehn, drücken Sie Ihren Anerkennungsknopf.“
Es folgte eine lange Pause. Sie folgten alle Fellirians Beispiel und standen voll gespannter Erwartung da.
Der Sprecher sagte nun: „B-fünfzehn, Prozedur zwei.“ Dieses Mal hatte sich eine gewisse Schärfe in die Stimme eingeschlichen.
Wieder folgte eine Pause. Dann ging das rote Licht aus, um von zwei orangefarbenen Lichtern ersetzt zu werden, die in einem hypnotischen Rhythmus abwechselnd flackerten. Der Sprecher sagte mit entschiedener Stimme: „B-fünfzehn, achtundneunzig Alpha-Alpha, Stop, Ende.“ Darauf folgte ein kurzes Grundrauschen, ein Klicken, und der Lautsprecher verstummte. Die orangefarbenen Lichter gingen weiter abwechselnd an und aus.
Fellirian begann, sich den Schmutz abzuklopfen, und verwischte dann die Erde an der Stelle, an der sie und Morlenden gesessen hatten. „Los, bewegt euch alle. Jetzt müssen wir uns beeilen, laufen, wenn es sein muß. Ich weiß nicht, wie man das Gerät bedient, aber ich kann mir denken, wie es arbeitet: Es schickt ein Signal aus, mit dem sie uns finden können. Ihr müßt deshalb die Spuren eurer Anwesenheit gut verwischen, bevor wir hier weggehen; die bringen Infrarot-Suchgeräte mit, und in diesem kalten Wetter hinterläßt unsere Körperwärme warme Stellen im Boden wie heißes Eisen. Na los, bewegt euch! Wir müssen jetzt hier weg!“
Krisshantem half Schaeszendur mit einigen Schwierigkeiten auf die Füße, und selbst dann stand sie unsicher, schwankend und zitternd da, während der Rest der Gruppe die Erde an dem Rastplatz hin und her bewegte. Als sei ihr plötzlich ein Gedanke gekommen, hob Fellirian das Kommunikationsgerät auf, sah es einen Augenblick ausdruckslos an, drehte sich dann um und warf es in einer flüssigen Bewegung so weit sie konnte in ein benachbartes Feld. Dann machten sie sich wieder auf den Weg; Fellirian vorne, dann Morlenden, der dem Mädchen half, gefolgt von Cannialin und Kaldherman, und Kris bildete wachsam die Nachhut. Sie gingen sofort von der Straße herunter, folgten auf den Zufahrtswegen zu dieser Straße einem unregelmäßigen Zickzackkurs und versuchten dabei immer, einen Schuppen oder einen Busch zwischen sich und der Stelle, an der sie gerastet hatten, zu behalten. Wann immer das ohne allzu große Verzögerung möglich war, führte Fellirian sie durch Gebüsch oder nahe an Schuppen oder Lagerhäusern vorbei. Zunächst legte sie nur einen schnellen Schritt vor, aber nachdem sie sich aufgewärmt und an diesen Schritt gewöhnt hatten, vergrößerte sie die Geschwindigkeit zu einem halben Trab, der etwas schneller als ein schnelles Gehen war.
Morlenden und Krisshantem – dieser am wenigsten – hatten keinerlei Schwierigkeiten, bei dem Tempo mitzuhalten, das Fellirian vorlegte, und die anderen auch wohl kaum, aber es war leicht zu sehen, daß Schaeszendur jetzt sehr schnell ermüdete; sie hatte schon fast alle ihre Reserven aufgebraucht, um es so weit zu schaffen, wie sie bislang gekommen waren. Sie versuchte trotzdem mit aller Kraft, mitzuhalten und das Weiterkommen nicht zu verzögern, und dabei weinte oder beklagte sie sich nicht. Als Morlenden ihr aber von Zeit zu Zeit weiterhalf, konnte er sehen, wie sich ihr Mund bewegte, als spräche sie mit sich selbst. Er konnte weder Worte hören, noch konnte er ausmachen, was sie da sagen wollte, aber er wußte, daß sie aus eigener Kraft nicht mehr weit kommen würde.
Sie näherten sich ihrem unbekannten Ziel schneller, als man das zu Fuß für möglich gehalten hätte. Sie liefen durch Schatten, niedriges Gebüsch, vereinzelte kleine, niedrige Baumgruppen, Haine, Grüppchen von Schuppen; sie befanden sich jetzt in einer Gegend, die fast ausschließlich der Landwirtschaft vorbehalten war, und dann und wann kamen sie zu kleinen Landstücken und Feldern, die noch nicht völlig erschlossen waren oder vielleicht wieder in den Zustand der Wildnis zurückkehrten. Das Leuchten am Himmel, das von den Lichtern von Komplex zehn herrührte, wurde kaum merklich schwächer und näherte sich dem Grad von Helligkeit, wie man ihn aus dem Inneren des Reservats sehen konnte. Mit ihren grauen Winterüberhemden, ihren Umhängen und Kapuzen kamen sie praktisch der Unsichtbarkeit nahe, wenn ihre Bewegung sie nicht verriet.
Jetzt, da sie sich etwas verteilt hatten, schien Krisshantem von Zeit zu Zeit zu verschwinden und dann wieder aufzutauchen, wenn man ihn nicht bewußt und unablässig beobachtete. Morlenden sah sich oft nach dem Jungen um und bewunderte die Leichtigkeit, mit der er sich bewegte, und genauso, wie Kaldherman und Cannialin seinem Beispiel folgten; Krisshantems Bewegungen waren beinahe das genaue Gegenteil von jenen der Menschen, die sie vorher in den Stationen gesehen hatten – diese ruckartigen, angelernten, schwerfälligen Bewegungen, absichtlich so angelegt, um die sich bewegende Person gegen einen Hintergrund abzuheben und sie für einen geschulten Beobachter aufspürbar zu machen, der aufs tiefste mit dem Geheimnis der Beobachtung von Bewegungen vertraut war. Kris hingegen bewegte sich auf eine Art, die man nur transinstinktiv nennen konnte, mit den knochenlosen Windungen, den abgerundeten, eleganten Bewegungen, einer Sinus-Kurve ähnlich, den halb unwillkürlichen Kurven minimaler Energie, den Bewegungen einer katzenhaften Kreatur, die den kleinen Rest natürlicher Wildheit, der noch in ihr steckte, sorgfältig kultiviert hatte. Bei oberflächlichem Hinsehen hätte man nur eine gehende Person gesehen, aber bei dem zweiten Blick würde Kris den Hintergrund nicht unterbrechen, weder durch seine Gestalt noch durch Bewegung. Er war ein Gras im Wind, ein Baum, ein Blatt, ein Ast, ein Vogel. Und Cannialin und Kaldherman ahmten ihn nach und folgten seinem Beispiel.
Nach einem anstrengenden, schnellen Marsch erreichten sie den Rand der bebauten Gebiete und kamen in den Grenzwald, der an dieser Stelle aus jungen Pinien bestand, die mehr oder weniger regelmäßig angebaut waren. Sie alle blieben stehen, als sie das dichte, verfilzte Gehölz, das sich auf leicht ansteigendem Gelände befand, erreicht hatten, und sahen über die Felder in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren. Es war eine beträchtliche Entfernung; sie hatten ihre Sache gut gemacht, wenn man alles mit einbezog. Da, sie alle bemerkten es erst jetzt, jenseits der Felder, ließ sich die Andeutung von Aktivität ausmachen, von der Entfernung und der Dunkelheit verwischt: Bewegung, Unruhe und Lichter. Entferntes Brummen und, noch weiter weg, undefinierbare Klopfgeräusche. Im Augenblick wirkte die Bewegung recht zufällig, ohne Ziel, unkoordiniert, aber sie befand sich nach ihrer Überzeugung trotzdem genau an der Stelle, an der sie für eine Rast angehalten hatten. Morlenden beobachtete sie und verspürte eine merkwürdige Dualität von Emotionen: völlige Dissoziation von der bedeutungslosen Bewegung und Aktivität in weiter Entfernung und zu gleicher Zeit ein Gefühl der Bedrohung, der bestimmte Verdacht, daß die Aktivität unter ihrer chaotischen Oberfläche sehr sinnvoll und hochintelligent war. Ein halblebendiger Großorganismus, dessen gesamtes Bewußtsein und Streben auf ihre Gruppe, seine Beute, gerichtet war. Ja, dort hinten formte sich ein Raubtier.
Fellirian blieb stehen und versammelte die anderen an ihrer Seite, als sie einer nach dem anderen aufschlossen; Morlenden, der Schaeszendur behütete, Cannialin und Kaldherman, Krisshantem als Nachhut. Sie nahmen Schaeszendur in ihre Mitte, schlossen ihre Körper dicht um sie und schützten sie so vor der plötzlichen Kälte ihres Halts in der kühlen Luft. Sie alle atmeten schwer, und Morlenden konnte in dem indirekten Licht der Stadt am Himmel erkennen, daß Fellirians Gesicht von einem dünnen Schweißfilm wie von einer Glasur überzogen war. Ihre Augen waren wach, aber müde und mit schweren Lidern; sie war für dieses Unternehmen nicht besser in Form als er.
Zwischen tiefen Atemzügen sagte sie: „Jetzt können wir davon ausgehen … daß die Agenten … Bericht erstattet haben … und daß sie … das Kommunikationsgerät … gefunden haben. Wahrscheinlich … haben uns in der Stadt … auch einige Zeugen … gesehen.“
Morlenden schlug vor: „Die Gruppe an dem Stand für heiße Getränke.“
„Zum Beispiel. Vielleicht auch andere; wir sind ja offen aufgetreten. Mit dem, was sie wissen oder noch erfahren, können sie leicht schlußfolgern, daß wir hierher, zum Rand des Reservats, unterwegs sind. Und sie bringen auf jeden Fall Suchgeräte mit.“
Krisshantem fragte: „Könnten wir nicht jetzt einen anderen Kurs einschlagen, um sie zu verwirren?“
Fellirian schnappte wieder Luft und antwortete freundlich: „Nein, das würde sich nur zu unserem Nachteil auswirken. Paßt auf: Schaeszendur können wir nicht noch mehr antreiben, und das müßten wir tun, wenn wir jetzt zurückgingen. Außerdem würden wir unsere Anwesenheit in der Welt der Vorläufer verlängern; das ist hier draußen nicht wie in deinen Wäldern, Kris – wenn wir die Gegend hier, nahe am Zaun des Reservats, verlassen, könnten wir nirgends lange überleben. Keiner von uns – ich nicht und auch du nicht –, keiner von uns kennt sich bei ihnen gut genug aus, um mitten zwischen ihnen lange unentdeckt und frei zu bleiben. Nein, nein, das können wir nicht; wir müssen so schnurstracks weitergehen, wie wir nur können, und es bleibt uns nur die Hoffnung, daß sie Schwierigkeiten dabei haben, unsere Spur zu finden.“
Sie wurde plötzlich still und lauschte angespannt. In der Entfernung war eine Veränderung in dem Brummen eingetreten, und das Klopfen hatte sich verstärkt; sie sahen zurück und machten eine Lichtergruppe aus, die sich von den anderen gelöst hatte und sich langsam nach oben bewegte. Sie bewegte sich weiter ohne erkennbares Ziel und scheinbar keinem Zweck gehorchend umher, aber sie konnten auch erkennen, daß sie ihre Bewegungen in den Feldern um ihren Rastplatz vollführte.
Krisshantem bemerkte: „Das zumindest ist kein Mysterium. Das kenne ich: Es ist ein Flugzeug, das nach Spuren sucht.“
Fellirian sagte: „Ja, so muß es sein. Wir werden es bald wissen, ob wir uns noch ein wenig ausruhen können oder ob wir zum letzten Spurt in Richtung Zaun ansetzen müssen.“
Das willkürliche Hin und Her des wandernden Lichts hielt noch eine Zeitlang an, aber offensichtlich vermochte das Flugzeug nicht, innerhalb des von seinen Sensoren erfaßten Gebiets deutliche Spuren zu finden, denn nach einigen Bögen über das Suchgebiet kehrte es zu der Lichtergruppe am Boden zurück, verschmolz mit ihr, und als es das tat, wurde das Brummen leiser und erstarb langsam. Das Gefühl von Aktivität um die Lichtergruppe in der Entfernung hielt an und verstärkte sich noch in der Bewegung.
Fellirian beobachtete die Aktivität genau, und als das Flugzeug gelandet war, schien sie von dem, was sie gesehen hatte, nicht gerade in eine optimistischere Stimmung versetzt worden zu sein. Sie seufzte tief und sagte: „Für dieses Mal, beim ersten Wurf, haben sie uns verpaßt. Nach dem Geräusch und der Bewegung zu urteilen, ist es ein Luftkissenfahrzeug, eine Plattform auf Düsen … Aber sie kennen die allgemeine Richtung, die wir einschlagen müssen, und so werden sie es weiter versuchen. Und wenn sie erst einmal unsere Spur gefunden haben, lassen sie Einsatztruppen an Seilen herunterklettern … Wir sollten besser sehen, daß wir weiterkommen. Unser Vorsprung vor ihnen ist nicht groß.“
Fellirian wandte sich nun von der Gruppe ab und in die Richtung, die sie jetzt einschlagen mußten; sie sah nur Pinien, eng beieinander stehend, eine Steigung, die Andeutung von Hochwald weiter oben und einen dunkleren Himmel ohne Lichter darin. Es war eigentlich nicht weit, was die Entfernung anbetraf: nicht weiter als die Entfernung zu ihrem Rastplatz. Das Flugzeug war jedoch jetzt ganz in der Nähe; beim Auffinden einer Spur hätten sie die Soldaten innerhalb von Minuten am Hals, und sie waren jetzt alle nicht mehr in bester Form.
Krisshantem legte Fellirian seine Hand auf den Arm. „Warte. Ich habe eine Idee; du sagst, daß ich mich in der Stadt nicht auskenne, und das stimmt auch … aber kennen sie sich nicht ebensowenig in einem offenen Gelände aus? Und du sagst, daß sie den Spuren nach der Körperwärme folgen? Würde dann nicht ein helleres Licht ihre Aufmerksamkeit eher erregen als ein gedämpftes?“
Sie hatten keine Leuchtkugeln mit, und für Feuer war es zu naß … Fellirians Gedanken machten einen Sprung nach vorn. „Krisshantem, ich verbiete …“
„Laß uns jetzt nicht von Verboten und Genehmigungen sprechen. Wenn ich blind und taub wäre, könnte ich solchen Verfolgern wie denen dort ausweichen; ich habe die Veränderung der Wolken beobachtet, die Farbe des Himmels gemessen, das Grün des Winterhimmels registriert. Ich habe bei Tag die Bewegung der Schatten verfolgt. Und sie werden sehen, wo ich gewesen bin, sie werden Echos hören, aber wenn sie hinsehen, werde ich nicht mehr da sein.“
Das Brummen im Hintergrund verstärkte sich wieder, als wolle es das Argument von Kris unterstützen. Auch er horchte hin und sprach dann weiter: „Jetzt hört mir zu. Ihr geht los – du, Morlenden und Schaeszendur, während Kaldherman und Cannialin mit mir kommen. Wenn ihr den Zaun erreicht, seid ihr in der Nähe meines alten Territoriums, und da hole ich euch wieder ein, keine Angst. Ihr kommt allerdings mit dieser Situation besser zurecht, als ich das von den meisten Leuten angenommen hätte, die nicht im Wald wohnen, und so könnte es sein, daß ihr einen etwas größeren Vorsprung gewinnt … aber ihr könnt mich nicht verlieren. Ich werde immer wissen, wo ihr seid. Und wir werden ihnen ein hübsches Jagderlebnis bescheren.“
Fellirian stand still und sagte nichts. Morlenden dachte darüber nach und überlegte. So würde es sein müssen. Sie konnten jetzt nicht mehr darauf hoffen, Schaeszendur sicher über den Zaun zu schaffen, zurück in die Sicherheit des Reservats, wenn nicht jemand die Soldaten ablenkte, die sich gerade gegen sie formierten, und sie für den Augenblick von ihnen wegführte. Er ging zu dem Mädchen und stieß es sanft an, um ihm zu verstehen zu geben, daß die Rast zu Ende war. Sie bewegte sich schwerfällig, als würde sie sich unter Wasser aufhalten, und wandte ihr Gesicht Morlenden mit dem leeren Blick der Erschöpfung zu.
Morlenden sagte: „Schaeszen kann nicht mehr weiterrennen. Ich werde sie tragen müssen. Ich stimme Kris’ Vorschlag zu.“ Direkt neben ihm nahm Kaldhermans Gesicht einen grimmigen Ausdruck an, und er nickte zustimmend. Cannialin sah nach oben zu dem leuchtenden Himmel und verzog ihren Mund zu einem unheimlichen, glückseligen Lächeln.
Morlenden dachte: Genau das gleiche abstrakte Lächeln habe ich auf ihrem Gesicht gesehen, als sie ein Huhn geschlachtet und dessen Kehle mit ihrem langen Messer durchgeschnitten hat …
Widerwillig gab Fellirian ihre Zustimmung. „Ja, ich verstehe. Also gut, Mor, ich finde den besten Weg für dich; folge meinen Geräuschen, und ich helfe dir am Zaun.“ Sie horchte in die Richtung des Geräusches. Dann drehte sie sich für einen letzten Blick auf den Wald um, sah dann wieder nach unten, überlegend, unentschlossen … und rannte dann in das stachlige Unterholz hinein und schaffte sich resolut einen Weg. Morlenden lief hinter ihr her und half dabei dem Mädchen, indem er es halb stützte, halb trug. Kris und die anderen blieben, wo sie waren, und starrten ihnen nach.
Als sie im dichten, stachligen Unterholz verschwunden waren, rief Kris ihnen nach: „Macht nicht so einen Krach, ihr Ackergäule! Sie hören euch sonst noch trotz des Motorengeräusches.“
Tief im Gebüsch blieb Morlenden stehen und sah sich um. Durch eine schmale Lücke konnte er erkennen, wie der Junge seine Pelzstiefel auszog, und Kal und Cannialin machten es ihm nach: damit sie auf dem kalten Boden heiße Fußspuren hinterlassen würden, während er, Fellirian und Schaeszen weniger deutliche Spuren hinterließen. Weiter zurück, hinter ihnen allen, bewegte sich eine Gruppe von Lichtern zwar nicht direkt auf sie zu, aber doch in ihre Nähe. Dann gingen die Lichter aus, aber das Brummen und Klopfen veränderte sich nicht. Nach einem Augenblick meinte Morlenden am Rand seines Wahrnehmungsfeldes einen dunkleren Fleck erkennen zu können, der sich vage im Umriß gegen den Hintergrund des Himmels abhob. Er drehte sich um und sah den Hügel hinauf: Dort war der Himmel dunkler, und es gab keine Geräusche außer jene von Fellirian, die sich durch das Gebüsch kämpfte und dabei soviel Krach wie möglich machte. In dieser Richtung gab es keine sich bewegenden Konturen am Himmel.
Jetzt machte er sich selbst auf den Weg und half dem Mädchen dabei, so gut er konnte, unterstützte es zum Teil, da es aus eigener Kraft kaum noch gehen konnte. Er entdeckte, daß er Fellirian folgen konnte, die vorn vor und zurück ging und für sie den leichtesten Weg suchte. Er sah sie kaum einmal, aber er konnte fast ebenso leicht ihren Geräuschen folgen, wenn er sorgfältig hinhörte. Und hinter ihnen wurde das Brummen lauter. Morlenden sah über seine Schulter zurück und sah wieder den dunklen Fleck, der sich gegen den Himmel bewegte, jetzt zwar deutlicher, aber noch immer nicht klar genug, um genau zu sehen, von welcher Form er war. Er hatte nun den größten Teil der Entfernung bis zum Waldrand zurückgelegt, schien aber ein wenig südlich von seiner jetzigen Position abzutreiben. Es gab kein Anzeichen dafür, daß jene, die das Flugzeug steuerten, tatsächlich schon etwas gesehen hatten – noch nicht. Morlenden vergrößerte seine Geschwindigkeit und begab sich tiefer in den Wald hinein.
Schaeszendur schluchzte, und Morlenden spürte, wie ihr gesamtes Gewicht gegen seinen Arm sank; es war ihr unmöglich geworden, auch nur noch einen Schritt weiterzugehen, trotz der Unterstützung. Sie hatte das Ende ihrer physischen Kraft erreicht. Morlenden beugte sich nach vorn und ließ sie sich mit ihrem vollen Gewicht über die Schulter fallen. Sie war leichter, als er es erwartet hätte … Maellenkleth war gut gebaut gewesen, schön und stark, aber diese Schaeszendur bestand nur aus Schaum und Blasen, und ihr Fleisch war weich und schwammig. Sie hatte zwar noch grundsätzlich den gleichen Körperbau, aber sie hatte sehr abgenommen … und er kam trotz ihres Gewichts besser voran, weil er sie jetzt nicht mehr halb hinter sich her zu zerren brauchte.
Er drehte sich nicht um, um nach dem Flugzeug zu sehen; er lauschte. Er hörte, wie das Brummen und Klopfen des Motors abrupt den Tonfall änderte. Er versuchte, es zu ignorieren, konnte es aber nicht; Morlenden schwang die Last des Mädchens auf seiner Schulter ungeschickt herum und drehte sich langsam um, um nachzusehen. Der dunkle Fleck am Himmel war südlich nun fast direkt neben ihnen, und er fiel herab, wie sich ein Herbstblatt herabsenken würde, aber ohne die plötzlichen Wendungen und Schlenker des Blatts. In tieferer Position hielt er an, als sei er gegen eine Wand von Federn gestoßen, die Motoren heulten mächtig auf und senkten dann wieder ihre Tonhöhe. Das Flugzeug schwebte, blieb nun völlig still in der Luft stehen, und die Lichter gingen wieder an. Mit ihnen gingen noch andere Lichter an, Suchscheinwerfer, die auf den Boden gerichtet waren. In ihrem Schein konnte er erkennen, wie Strickleitern aus dem Flugzeug fielen und sich abrollten und wie sofort Gestalten an ihnen herabkletterten, von denen viele große Lasten auf dem Rücken trugen. Morlenden mühte sich mit seiner Last ab, stolperte in die Richtung weiter, in der er Fellirian vermutete, und versuchte, sich schneller und leiser zu bewegen. Und hinter sich hörte er jetzt Stimmen, ganz leise, von den Bäumen und der Luft gedämpft, geisterhaft, körperlos. Das Luftkissenfahrzeug ließ den Motor aufheulen, stieg scharf in die Höhe und drehte sich dabei, um sich ein wenig in Richtung der Stadt zurückzuziehen. Er blieb stehen und horchte nach Fellirian. Er konnte sie über dem Klopfen seines Herzens und dem Lärm des Flugzeugmotors nicht hören. Morlenden lauschte noch einmal sorgfältig, alle seine Sinne waren angespannt und aufmerksam. Das Motorengeräusch wurde leiser. Sonst … nichts.
Auch die Stimmen wurden leiser und verstummten. Er begann nun, einen Hauch von Angst zu spüren … als er den Hügel hinauf einen Weg verfolgte, der ihm als der beste erschien, erwartete er halb und halb, ein scharfes, herrisches Kommando zu hören. Oder vielleicht einen scharfen Schmerz. Eine Gänsehaut überlief ihn. Wo zum Teufel war Fellirian?
Es gab kein konkretes Anzeichen dafür, daß er verfolgt wurde. Um ihn herum schien alles ruhig zu sein. Morlenden ging weiter und bemerkte, daß die Steigung ein wenig sanfter wurde und daß die Bäume größer, reifer waren; er wußte instinktiv, daß er in der Nähe des Zauns war, konnte ihn aber noch nicht sehen.
Hinter sich, jetzt weit den leichten Abhang hinunter, hörte Morlenden ein seltsames, halb gedämpftes Geräusch, mehr ein verlängertes Puffen oder Sausen als der Knall einer Schußwaffe. Er hatte so etwas noch nie gehört. Nachdem dieses Geräusch erstorben war, hörte er auch Rufe, Geschrei, heisere Beschimpfungen, auch sie von der Entfernung und den dazwischen befindlichen Bäumen verzerrt. Kris, Kal, Ayali … Er hörte weitere Geräusche, in weiter Entfernung ein Krachen und Reißen im Gebüsch, weitere Rufe, die, wie es schien, alle in Modanglisch erfolgten. Wie viele? Drei? Vier? Er hatte fünf oder sechs Männer aus dem Luftkissenfahrzeug klettern sehen. Nach dem Lärm, den sie machten, schien es sich jedoch eher um eine kleine Armee zu handeln. Trotzdem beruhigte ihn der andauernde Lärm; sie wären nicht so laut, wenn sie jemanden von den anderen dreien gefangen hätten. Nein, wahrscheinlich ärgerte Kris sie und lenkte sie auf sich. Das würde Kris ähnlich sehen; und dann würde er einfach zwischen den Bäumen verschwinden. Die Geräusche, das Krachen und das Geschrei bewegten sich weiter weg nach Süden und wurden leiser.
Morlenden spürte nun das volle Gewicht seiner Erschöpfung und hielt mit schwimmendem Kopf an. Er beugte sich nach vorn und legte Schaeszendur so sanft er konnte auf den Boden und bettete ihren Kopf auf einen Haufen Piniennadeln, die er hastig zusammengescharrt hatte. Er kniete neben ihr nieder und untersuchte sie genau; sie schien bei Bewußtsein zu sein, machte aber keinen Versuch zu sprechen. Ihre Augen blieben offen, trugen aber einen glasigen, abwesenden Ausdruck. Morlenden sah sich um. Er erkannte nichts als Dunkelheit, das allgegenwärtige Leuchten am Himmel, die Umrisse der Bäume, die mit schwarzen Stämmen emporragten. Der Wald war hier so dicht wie der in der Reservation. Er riet eine Richtung, denn dort standen die Bäume etwas dünner, und er hatte das Gefühl, daß sich dort etwas öffnete. Aus dieser Richtung hörte er ein leises Rascheln in dem Teppich aus gefallenen Nadeln am Boden und bemerkte die Andeutung einer Bewegung, eine dunkle Gestalt, die zu einem grauen Winterüberwurf wurde; es war Fellirian. Sie kam halb rennend auf ihn zu.
Fellirian sah ihn und das Mädchen auf dem Boden und rief ihm zu: „Es ist jetzt nicht mehr weit, nur noch bis dort drüben, woher ich gekommen bin. In der Nähe des Zauns ist es offener. Kannst du es schaffen?“
Morlenden war noch immer außer Atem. „Ich muß wohl. Ich glaube, die anderen haben sie nach Süden abgelenkt. Es ist wieder ruhig. Aber es gibt zu viele Unwägbarkeiten. Sie wissen, daß es mehr als einen von uns gibt, und vielleicht kommen sie auf den Trick. Und hier oben sind wir besser auszumachen.“ Er sah nach oben und nickte in Richtung auf das Motorengeräusch, das nun nie ganz verstummte.
Fellirian kam zu ihnen, kniete sich neben dem Mädchen hin, hielt ihr die Augen offen und sah sie sich genau an. Dann schaute sie in die gleiche Richtung, in die er eben gezeigt hatte und nickte. Der Dampf ihres Atems hing wie ein Kranz um ihr Gesicht und die überhängende Kapuze ihres Überwurfs. Sie sagte: „Ich helfe dir mit ihr. Los.“
Sie hoben das Mädchen gemeinsam zwischen sich und gingen wieder los, stützten und schleiften Schaeszen halb zwischen sich, wichen Baumstümpfen aus, stolperten über heruntergefallene Äste in ihrem Weg und gaben den Versuch völlig auf, sich heimlich und leise zu bewegen. Sie kamen über eine niedrige Kuppe, eine Bodenwelle, und blieben stehen. Direkt vor sich konnte Morlenden einen altmodischen Maschendrahtzaun erkennen, der ungefähr doppelt so hoch wie er selbst war. Sie stolperten in einer letzten Anstrengung darauf zu, erreichten den Zaun und blieben stehen, um sich gegen das Geflecht aus kaltem Metall zu lehnen. Manche der Glieder trugen eine dünne Eisschicht.
Fellirian fragte: „Wie schaffen wir sie da hinüber? Ich hatte damit gerechnet, daß sie selbst hinüberklettern würde. Jetzt fällt mir nichts mehr ein; ich glaube nicht, daß sie aus eigener Kraft klettern kann.“
„Ich weiß es nicht. Laß sie sich noch ein wenig ausruhen – und laß mich überlegen.“ Sie legten das Mädchen liebevoll so hin, daß es sich gegen den Zaun lehnte, und Morlenden kniete halb neben ihm und stützte es. Fellirian stand mit leicht gespreizten Beinen keuchend über ihnen beiden. Plötzlich drehte sie ihren Kopf nach hinten in die Richtung, aus der sie gerade den Hügel hinaufgekommen waren.
Sie sagte eindringlich und leise: „Olede! Da sind Stimmen, die in Modanglisch sprechen! Sie kommen!“
„Psst! Ich höre sie. Dort sind auch Lichter – siehst du sie? Jetzt muß es sein, nicht wahr, Eliya? Hilf mir hier mit ihr.“
Morlenden lehnte sich nun über Schaeszendur und schüttelte sie rauh und heftig. „Schaeszendur!“ Es kam keine Antwort. Sie sah sie an, rührte sich aber sonst nicht. Ihre Augen waren stumpf und leblos. Er schüttelte sie wieder. „Schaeszendur! Maellenkleth!“ Etwas Glanz erschien in ihren Augen. „Aezedu! Aelekle! Wach auf Hör mir zu!“ Das Mädchen schien jetzt auf ihn zu hören. „Kannst du dich an mir festhalten, wenn ich dich trage?“
„Ja.“ Die Stimme war flach und unakzentuiert, aber sie war klar und fest.
„Dann mußt du folgendes tun: Halte dich an mir fest, ganz gleich, was passiert. Nur noch eine Anstrengung, und du bist in Sicherheit. Nimm deine ganze Kraft zusammen und halt dich an mir fest! Wir müssen über einen Zaun klettern!“
Die gleiche ruhige, entfernte, gemessene Stimme antwortete ihm: „Ja, ich verstehe, ich muß mich an dir festhalten. Ich werde das tun.“
Er stand auf und half dem Mädchen auf die Füße, während Fellirian sie unterstützte. Sie stand zwar auf sehr wackligen Füßen, aber sie stand allein. Auch ihre Augen waren klar, schienen aber irgendwie ihre Umgebung nicht wahrzunehmen. Morlenden wandte sich dem Zaun zu, stellte sich in Position, griff nach, fühlte die kalten Metallfäden und suchte versuchsweise mit seinen Zehen nach einem Halt zwischen den Metallmaschen. Fellirian half dem Mädchen auf Morlendens Rücken, legte ihm ihre Arme um den Hals, verschränkte ihre Hände für einen festen Halt, so daß sie ihre Position halten konnte, wie immer Morlenden sich auch beim Klettern über den Zaun bewegte.
Sie flüsterte Schaeszendur-Maellenkleth ins Ohr: „So ist es brav.
Ja, genauso, halt dich fest, was auch geschieht; halte dich an Morlenden fest.“
Dann zu Morlenden: „Wir müssen uns beeilen, Olede, die Lichter sind jetzt ganz nahe. Ich werde versuchen, sie von dir abzulenken.“ Sie entzog ihm plötzlich ihre Anwesenheit.
Es war richtig. Er konnte deutlich die Geräusche in dem Gebüsch unten im Wald hören, nun gar nicht mehr weit weg. Er holte tief Luft, spannte seine Muskeln. Noch ein Hindernis, und wir sind drüben. Sie werden es nicht wagen, uns auf der anderen Seite des Zauns anzurühren. Er holte noch einmal tief Luft, packte das kalte Metall fester und stieß sich ab. Er konnte nicht nach oben sehen, ohne die Position des Mädchens zu verrücken. Er machte den ersten Schritt nach oben, spürte das volle Gewicht des Mädchens, das sich auf seinen Rücken senkte, sich über seine Arme auf seine Hände verteilte und seine Finger auf den Draht drückte.
Hinter sich hörte er Fußtritte auf dem Boden und heftiges Scharren links von ihm aus der Richtung, in die Fellirian weggegangen war. Dann kamen aus dieser Richtung noch weitere Geräusche, aber aus größerer Entfernung. Und direkt hinter ihm war plötzlich ein lautes Rascheln im Gebüsch, Fußtritte stampften auf dem harten Boden, und ein aktinisches Licht warf seinen grellen Schein über seine Hände auf den Zaun.
Er hörte eine Stimme, die in Modanglisch brüllte: „Da sind sie, zwei von ihnen, auf dem Zaun!“
Eine zweite Stimme rief heiser: „Ihr da! Ihr da, halt! Runter da, aber sofort!“
Morlenden schüttelte als Geste für sich selbst leicht den Kopf und kletterte einen weiteren Schritt nach oben. Hinter ihm gab es wieder Bewegung, Scharren, heisere Ausrufe, Beschimpfungen, Flüche, und als jemand ein unverständliches Wort rief, hörte er ganz nahe das gleiche seltsame Geräusch, das er schon zuvor gehört hatte. Ein Sausen, ein Zischen, sehr nahe, besonders laut. Er spürte, wie sich der gesamte geschmeidige Körper des Mädchens scharf verkrampfte, hörte, wie es, wie in großer Anstrengung, ein kurzes Stöhnen von sich gab. Ihr Griff um seinen Hals verstärkte sich konvulsivisch, so daß sie ihm die Luft abdrückte. Sie hustete feucht, und der feste Griff um seinen Hals lockerte sich. Gleich würde sie ihn loslassen und herunterfallen; Morlenden ließ den Zaun los und glitt herunter, und als er den festen Boden unter den Füßen spürte und sich herunterbeugte, um ihren Fall zu dämpfen, verlor ihr Körper jede Spannung und glitt von ihm herunter, um in fast der gleichen Stellung gegen den Zaun zu fallen, in der sie sich vor nur wenigen Augenblicken noch ausgeruht hatte. Morlenden drehte sich um.
Er spürte, wie eine schwarze, verzehrende Wut in ihm hochstieg, seinen Blick verzerrte und seine Wahrnehmungen veränderte. Er fühlte sich größer, spürte, wie die Zeit langsamer verstrich und wuchs zu etwas Fremdem, zum entfesselten Bösen, ballte krampfhaft die Fäuste und atmete tief und gleichmäßig ein. Morlenden drehte sich um und zog sein Fischmesser aus dem Gürtel. Er sah vor sich ein verschwommenes Bild von Aktionen.
Sie waren alle da – Fellirian, Krisshantem, Cannialin, Kaldherman – und bewegten sich in einem Kreis um eine kleine Gruppe von fünf Menschen, von denen einer sich mit einem sperrigen länglichen Gerät abmühte, das in seinen Umrissen einem Gewehr ähnelte, aber eigentlich kein Gewehr im traditionellen Sinne war. Die übrigen vier schienen ihn zu beschützen. Es hatte den Anschein, als bemerke keiner von ihnen Morlenden, so genau beobachteten sie die Gestalten, die sich in pfeilschnellen, tanzenden Figuren von außen ihrer Gruppe näherten. Morlenden packte das lange, dünne Messer in seiner Hand fester und schritt wie ein unverwundbarer Schlafwandler aus. Sie sahen ihn nicht, den Unsichtbaren, und er würde sich unter sie mischen wie der Engel des Todes. Er fühlte sich wie Kris, mehr noch, er war unverwundbar und unsichtbar, verzaubert. Die anderen zogen sich leicht zurück und öffneten für ihn eine Lücke für den Mann mit dem Gewehr. Dieser eine mit dem dicken, seltsamen Gewehr stand offen vor ihm und mühte sich noch immer mit einer Einstellung ab; vielleicht hatte die Waffe eine Ladehemmung oder war defekt. Morlenden ging ruhig und lautlos auf ihn zu und hatte ihn fast erreicht, bevor der Mann ihn bemerkte. Der Mann sah erschrocken auf und hob seine Waffe, und als er dies tat, trat Morlenden locker hinter die Mündung der Waffe und stieß ihm ruhig, noch immer ruhig, sein Messer in die Brust. Er spürte einen Widerstand, und an der Wunde quoll Blut hervor. Er stieß noch fester zu und sah dabei direkt in die Augen des entsetzten Mannes – mit der Intimität eines Liebhabers. Die Waffe fiel dem Mann aus der Hand, und er sah Morlenden vorwurfsvoll und ungläubig an, als könne ihm so etwas gar nicht passieren, ihm, dem Träger der Waffe. Und eine tiefere Dunkelheit als die Nacht senkte sich über seinen Blick, als er auf den kalten Boden sank.
Die anderen sahen nun, daß ihr Waffenmeister gefallen war, und bedrohten die fünf Ler mit Pistolen, während einer von ihnen in Panik an einem kleinen Gerät herumnestelte, das dem Kommunikationsgerät ähnlich sah, das Krisshantem dem Agenten abgenommen hatte. Sie schienen sich nun sicher zu fühlen und wurden langsamer, da sie sicher waren, daß keiner aus der Gruppe, die ihnen gegenüberstand, eine Waffe benutzen würde, die seine Hand verließ. Man hatte sie informiert. Bevor er sein Gerät jedoch so einstellen konnte, wie er das wollte, bedrohte ihn Fellirian, die ihr eigenes Messer gezogen hatte, und auch bevor irgend jemand von den anderen Zeit dazu gehabt hatte, eine Waffe auf sie zu richten. Der Mann tanzte nach hinten, hielt sein Gerät hoch außer Reichweite, während die anderen versuchten, in Schußposition zu kommen. Einer von ihnen fiel sofort mit durchschnittener Kehle zu Boden, da er auf Kris getroffen war, der dort war, wo er nicht hätte sein sollen. Morlenden zog sein Messer über die Hand, die das Kommunikationsgerät hielt, hörte, wie unter Wasser, einen lauten Schrei, und das Gerät lag auf der Erde. Er trat darauf und zerbrach seinen empfindlichen Inhalt zu einem formlosen Metallhaufen, der nun rauchte und Funken von sich gab, weil seine Batterie sich kurzschloß. Cannialin, die in ihren Augen den wahnsinnigen Blick eines Berserkers trug, erledigte den Träger des Geräts, während dieser versuchte, Morlenden auszuweichen und zur gleichen Zeit Fellirian im Auge zu behalten, die stetig auf ihn zukam und schreckliche Worte in einer Sprache ausstieß, die er nicht verstand. Der letzte erkannte seine aussichtslose Lage und versuchte wegzulaufen, aber er traf auf Kaldherman und Krisshantem, und so war sein Weg, selbst auf der Flucht, nur von kurzer Dauer.
Im Wald herrschte nun Stille, die nur von schwerem Keuchen und dem entfernten Brummen und Klopfen des Luftkissenfahrzeugs unterbrochen wurde, das in weiter Entfernung auf und ab flog. Morlenden fühlte seinen Zorn verrauchen und sah, was sie getan hatten, und sah, daß es auch die anderen sahen. Sie sagten kein Wort, sondern gingen stumpf auf dem Schlachtfeld umher, stumm und verblüfft. Morlenden konnte wieder klar sehen und schaute zu Fellirian hinüber, auf deren Gesicht er Tränenströme erkannte, obwohl sich ihr Ausdruck nicht verändert hatte. Sie alle wußten, daß sie hier etwas gerächt hatten, daß sie mit nicht mehr als den Messern in ihrer Hand bewaffnete Männer besiegt hatten. Etwas in ihnen aber war zerbrochen und würde nie mehr wie früher sein. Auf dem Boden war Blut, das noch nie vorher auf solche Art vergossen worden war.
Krisshantem war der erste, der seine Stimme wiederfand. Er sagte langsam: „Nach einiger Zeit ist es ihnen langsam klargeworden, was wir machten. Sie hatten einen Schuß auf uns abgegeben, aber ohne Erfolg. Während sie dahin schossen, wo sie mich vermuteten, haben Kal und Cannialin einen von ihnen erwischt. Die anderen haben uns jedoch dabei gesehen, und sie wußten, daß wir nicht die sind, die sie suchten. Also haben sie sich umgedreht und sich zurückgezogen. Sie haben eure Spur mit dieser Waffe gefunden und sind ihr gefolgt. Sie ließen sich nicht ablenken. Wir haben versucht, sie abzufangen, aber da waren sie schon zwischen uns und sind schnell gelaufen. Es war zwecklos, zwecklos, wir konnten es nicht verhindern …“
Die Zeit fand zu ihrem normalen Fluß zurück. Morlenden fragte wie aus weiter Ferne: „Eliya, womit haben sie das Mädchen erschossen?“
Ihre Stimme war flach, zu stark kontrolliert. „Ein widerliches Ding, ein Lenkdrahtgewehr. Es verschießt eine kleine Rakete mit einem Sprengkopf, der mit Widerhaken versehen ist. Die Rakete ist über einen Draht mit dem Gewehr selbst verbunden, das den Flug mit einem Computer verfolgt und lenkt. Man muß nur noch das Ziel im Visier halten. Das benutzen sie gern bei Flüchtlingen … Versteht ihr? Wer von einem solchen Ding getroffen wird, kann nicht mehr entkommen, selbst wenn er nicht tödlich verletzt ist.“
Morlenden sagte trocken: „Jetzt verstehe ich das Waffenverbot besser …“
„Ja“, sagte Fellirian. „Genauso geht es uns allen, die wir hier waren. Eine Waffe, die die Hand verläßt, vergrößert den Benutzer zu sehr, so sehr, daß oft der ursprüngliche Wille, der die Waffe gelenkt hat, verlorengeht, ausgeweitet wird, verdünnt wird. Er wird verwaschen. Und das ist der Grund, warum uns vieles Angst macht, das mit Technologie zu tun hat, warum wir uns so sehr abmühen, unsere Unschuld zu bewahren; auch andere Dinge vergrößern auf die gleiche Art, und wir sind noch nicht weise genug, um zu wissen, ob wir das vergrößerte Bild von uns selbst wirklich sehen wollen … bis wir eine bessere Kontrolle über uns selbst haben. Wir sind noch lange nicht beherrscht genug. Wäre es nur bei ihnen auch so.“
Morlenden sagte: „Unschuld … ich fühle mich nicht unschuldig. Da ist Blut.“
Cannialin unterbrach sie: „Schscht! Hört mal!“
Auf ihren Befehl hin wurden alle fünf, die dort in einem Kreis standen und sich anschauten, still und hörten hin. Schaeszendur. Das Mädchen war noch nicht tot. In der Stille nach dem Kampf konnten sie sie von dem Zaun her hören, wo sie hingefallen war. Sie war jetzt noch durch den Schock vor dem Schmerz geschützt, der sonst gekommen wäre, und plapperte sinnlos vor sich hin. Sie sprach, aber das meiste davon war Geplapper, Unsinn, noch nicht einmal Worte. Die tödliche Verwundung, die sie erhalten hatte, die Erschöpfung, die instabile, neu eingepflanzte Persona, all das kam jetzt zusammen. Sie hörten der leisen, heiseren, kindlich hohen Stimme zu. Nur Geplapper. Morlenden spürte einen riesigen dumpfen Schmerz in seiner Brust. Sie wandten sich von der Stelle ab, an der sie gemordet hatten, wo sie heißblütig mit den Menschen, den Vorläufern, gekämpft hatten, und gingen langsam zu dem Zaun und damit zu ihr.
Sie knieten alle nahe bei ihr nieder. Sie lag noch halb gegen den Zaun gelehnt, wie sie sie zurückgelassen hatten. Morlenden nahm ihren Kopf auf den Schoß, spürte das weiche, dunkle Haar, die warme Haut am Nacken. Er wischte ihren Mund ab; in einem Winkel hatte ein Blutstropfen gestanden. Und er wischte ihr das jugendliche Haar aus der Stirn, aus ihren Augen. Sie runzelte für einen Moment seltsam die Stirn.
Ihre Augen waren offen gewesen, hatten sich aber ziellos und irgendwie unabhängig voneinander bewegt. Sie sah nichts außer einer künstlichen Szene in ihrem Inneren, die Krisshantem in sie eingepflanzt hatte … eine Erinnerung. Ohne Warnung aber verschwand der Ausdruck von Schock und Verwirrung von ihrem Gesicht und verwandelte sich schnell und radikal in etwas anderes. Die Konturen ihres Gesichts begannen, sich zu verschieben, als gehorchten sie Anweisungen von einem anderen Satz Muskeln, einer anderen Persönlichkeit. Die kindliche Rundheit verringerte sich und verschwand und wurde von einem härteren Ausdruck um das Kinn ersetzt, der erwachsener wirkte, und die Augenpartie wurde angespannter und konzentrierter. Die Augen wurden klar, nahmen die Umwelt auf, wurden erst ruhig und dann angespannt. Sie sah sie alle genau an, ohne die Augen zu bewegen, sah von Gesicht zu Gesicht, und als sie zu Kris kam, blieb ihr Blick besonders lange an ihm hängen. Morlenden erkannte den Ausdruck in den Augen sofort: Es war der Blick von jemandem, der Fremde sah und nicht wußte, wie sie hergekommen waren. Nur Kris war ihr bekannt. Er wußte es. Maellenkleth kannte von ihnen nur Kris, während Schaeszendur sie alle gleichermaßen gekannt hatte. Das war Maellenkleth – wie das möglich war, das wußte er nicht, aber es war unbestreitbar Maellenkleth.
Sie holte tief Luft und zerbrach dabei etwas in sich. Sie hörten ein Rasseln in ihrem Hals. Sie packte Morlenden, der ihr am nächsten saß, mit einem tüchtigen, erschreckend starken Griff und zog ihn an sich, so daß sein Gesicht nahe an ihrem war. Alle Sinne Morlendes waren wach, zu äußerster Wachsamkeit gespannt, auf der Hut: Er spürte alles von ihr und wußte, wie wenig Zeit ihr noch blieb. Sie hatte nur noch Sekunden zu leben. Er roch Schweiß, den Geruch der Angst, den Dunst von Adrenalin, Blut, rauchig, salzig und über alldem den süßen Duft eines jungen Mädchens.
Und er hörte ihre rauhe Stimme in seinem Ohr, gebrochen vom Schock und dem Schneiden des in sie hineinstoßenden Schmerzkeils. Es war nicht die einfache Kinderstimme, die er vorher gehört hatte, als sie noch Schaeszendur gewesen war; sie war anders. Sie war vielleicht verwundet und heiser und lag im Sterben, aber es war auch die Stimme einer fast Erwachsenen, voller Wissen und Verlangen und einer unglaublichen Willenskraft für eine Person, die unter dem Zeichen des Elements Wasser geboren war. Der Griff wurde fester. Und die Stimme krächzte: „Mevlannen … Mevlannen … zu Sanjirmil.“
„Was?“ fragte er.
Das krächzende Flüstern wiederholte noch einmal: „… Matrix … von Mev … von Elane … hol die Matrix von Mev-Elane … bring sie zu Sanjirmil …“
„Welche Matrix und wofür?“
„Hol die Matrix von Mevlannen …“ Und dann verlor sich die Stimme wieder in eine Reihe von unsinnigen Wörtern, trieb wieder in die kindliche Betonung der vergessenden Schaeszendur. War es wirklich so? Das Gesicht veränderte sich nicht, obwohl sich der Griff jetzt lockerte. Die Stimme erstarb. Sie atmete zwar noch, aber es war offensichtlich, daß sie nur noch ein paar Augenblicke zu leben hatte. Kris trat nach vorn, und es war, als sähe sie ihn zum ersten Mal. Morlenden spürte, wie die Hand, die ein Stück seines Hemdes festhielt, sich fest zusammenkrampfte, fast so, als versuche das Mädchen, aufzustehen. Dann sah er, wie sich ihre Lippen bewegten, wie sie versuchten, Worte zu bilden, und sie fand ihre Stimme, ihre Augen wurden völlig klar, und sie sprach, und …
Jetzt packte ein immenser Wille plötzlich ihr Bewußtsein und packte so fest, so intensiv zu, daß es schmerzte. Sie verloren alle fünf sofort die Fähigkeit, die Welt um sich mit ihren Sinnen aufzunehmen. Das war Maellenkleth, Maellenkleth die Meisterspielerin, und sie schickte ihnen ein Bild in Multisprache. In visueller Impuls-Überbrückung, die so machtvoll war, daß sie sich nicht rühren konnten oder in der Lage gewesen wären, ihr Bewußtsein dagegen zu blockieren. Sie alle sahen das gleiche, und es würde sich ihrem Bewußtsein für immer einprägen. Es war keine Botschaft, keine Anweisung und kein Befehl, sondern ein Bild. Ein Bild von Maellenkleth, wie sie noch keiner von ihnen gesehen hatte, mit vor Entzücken leuchtendem Gesicht, ein wenig vom Beschauer abgewandt, die Arme vom Körper weggestreckt. Sie war vom Umriß eines Tessarakts umgeben, der, in feinen, blauen Linien gezogen, sie umringte, einschloß, beschützte. Es war deutlich, daß sie hier, in dieser Vision, ihre wirkliche Bestimmung gefunden hatte. Sie schwebte in dem durchsichtigen Tessarakt im Raum und trug die rituelle Robe des Hohen Perklaren-Spielers im Spiel, im Inneren Spiel, und auf der Vorderseite ihrer Robe waren auf einem Leinenstreifen vertikal nach unten komplizierte und geheimnisvolle Muster und Embleme des Spiels gestickt und ebenso an dem Saum ihrer Robe dicht über ihren hübschen, zierlichen Füßen und auf Bordüren auf den weiten Ärmeln des Kleidungsstücks. Hinter ihr, fast in der Richtung, in die ihr Gesicht gedreht war, als sähe sie über ihre Schultern, war ein Hintergrund von Mustern eines Spiels nach oben auf eine runde Decke und auf Teile einer Wand wie ein riesiges vielfarbiges Diagramm eines Spiels projiziert, das mitten im Verlauf angehalten worden war.
Sie spürten, wie der Wille nachließ, verblaßte und das Bild mit ihm, sich nicht veränderte, sondern den Farbkontrast verlor, düsterer wurde, Pastelltöne annahm, zu leeren Umrissen wurde, blasser wurde, blasser, grau wurde, immer dunkler und dann erlosch. Ihre Sehnerven fingen wieder an, die Bilder eines nächtlichen Walds zu übermitteln und diese und die des Zauns an ihre Sehzentren zu schicken. Morlenden, dessen Hand noch immer an dem schlanken Hals ruhte, fühlte, wie sie kalt wurde. Das Leben hatte diesen Körper verlassen.
Fellirian schluckte nervös. „Was hat sie gesendet?“
Kris antwortete: „Etwas über eine Matrix, die Mevlannen hat. Sie soll zu Sanjirmil gebracht werden … Sie ist jetzt tot.“
„Ich weiß“, sagte Morlenden. „Hast du das schon einmal vorher gesehen, daß sie ein solches Bild geschickt hat?“ Er wußte, daß sie irgendwie ein Bild von sich über einen Hintergrund des Inneren Spiels gelegt hatte. Und er wußte auch, daß keiner von den anderen Derens das schon vorher gesehen hatte.
Krisshantem antwortete: „Nein, so etwas noch nie. Ich konnte die Anlage eines Spiels erkennen, aber es hatte eine seltsame, fremde Form. War dies das Innere Spiel?“
„Ja. Aber ich weiß nicht, welche Bedeutung es hat.“
Der Junge sagte: „So etwas habe ich sie noch nie vorher tun sehen. Es war mir nicht klar, daß sie so überbrücken konnte, obwohl sie mir die Überbrückung beigebracht hat.“ Das Muster auf dem Bild hat sie mir einmal gezeigt, aber es war einfach und flach, nicht so wie dieser geschwungene Deckenschirm. „ Das ist etwas ganz Besonderes, das weiß ich, etwas sehr Geheimes.“ Er setzte sich auf seine Fersen zurück und schüttelte den Kopf. „Das am Ende, das war die alte Maellen, die alte Maellen, und noch etwas mehr. Sie hat uns die Wahrheit geschickt, ohne herumzuspielen und etwas zu verstecken, obwohl sie nicht mehr die Zeit dazu hatte, uns zu erklären, was es bedeutet. Ich weiß es nicht. Aber es muß etwas sehr Machtvolles gewesen sein, wenn es das freiwillige Vergessen und den Wiederaufbau überstanden hat; sie hat mit aller Kraft an etwas geglaubt.“
Fellirian sagte langsam: „Die Wahrheit ist das, was wir glauben; und wir werden natürlich zu dem, was wir von uns selbst glauben. Grenzenlose Dinge. Nur die geringeren sind beweisbar. Sie hat uns das geschickt, was sie vor sich selbst war.“
Morlenden fragte: „Weißt du, was sie gemeint hat?“
„Nein.“
„Wir müssen also das tun, was sie von uns verlangt hat?“
„Ich zittere noch immer unter dieser Kraft; selbstverständlich müssen wir das – an diesem Punkt bleibt uns keine Wahl, als die Sache bis zum Ende zu verfolgen. Das ist auch der Grund, warum sie uns am Ende das Bild geschickt hat, ganz am Ende. Sie hat damit gesagt: ‚Tut das für mich, das ist das, wofür ich gelebt habe.’ Wenn sie das durch alles, was sie hat aushalten müssen, erhalten hat, dann muß dies die Essenz ihres Lebens gewesen sein, etwas, womit sie Tag für Tag gelebt hat, was auf der Zellenebene in sie hineingebrannt war, selbst außerhalb der Reichweite des freiwilligen Vergessens. Das war es, was ihrem Leben Bedeutung verliehen hat.“
Kris fügte dem noch hinzu: „Das war wirklich sie, soviel weiß ich. Es gab vieles, was sie mir nicht erzählt hat, aber ich konnte spüren, daß wir nahe daran waren; und sie hat mich so weit mitgenommen, wie sie konnte. Und wenn du der Sache nicht nachgehst, Morlenden, dann tue ich es.“
„Du kannst ganz beruhigt sein, Krisshantem. Ich nehme das auf mich. Ich glaube auch nicht, daß ich dafür bis zum Ende der Welt gehen muß, denn Mevlannen läßt sich finden.“
Fellirian meinte: „Und schnell gehen muß es, Olede. Sie war voller Dringlichkeit, es ist etwas, das schnell erledigt werden muß. Außerdem sollten wir es machen, ohne Perwathwiy oder Sanjirmil zu informieren. Es wird schwierig und gefährlich sein, ein Risiko, diese Reise quer über den ganzen Kontinent. Sie werden nach dem, was heute nacht hier passiert ist, wachsam und vorsichtig sein. Ein paar Tricks kenne ich aber noch, und wenn sie alle im Alarmzustand sind, gibt es vielleicht auch ein Riesendurcheinander, so daß es reicht, um hindurchzuschlüpfen …“ Sie machte nun eine kurze Pause und dachte nach. „Und wir sollten diesem armen Körper hier, der soviel hat ertragen müssen, die Ehrerbietung erweisen. Ja, das sollten wir tun, denn sie werden kommen und nach ihren Einsatztruppen suchen.“
Als Fellirian aufstand, sagte Kris: „Sie hat mir einmal gesagt, daß sie das, was sie draußen tat, gern getan hat, das Spiel im Schatten, die Täuschungsmanöver, das Geschick, bei vielen Aufträgen ungesehen durchzukommen; daß es zugleich aber einen tieferen Grund gäbe, der wichtiger als jede persönliche Ab- oder Zuneigung sei und den wir alle noch zu ihren Lebzeiten erfahren würden. Sie dachte, das sei noch vor der Fruchtbarkeit, und das ist auch der Grund, warum sie sich so angestrengt hat, mir die Grundsätze des Spiels beizubringen und Unterstützung für ihren Vorschlag zu bekommen, uns zu shartoorh Dirklarens erklären zu lassen. Ich weiß nicht, warum, aber ich kenne die Bedeutung ihrer Worte: Das war für uns. Für das Volk.“
Auch Morlenden stand auf und sagte: „Dann war es vielleicht den Preis wert, denn sie hat dafür mit zwei Leben bezahlt: Nicht viele würden soweit gehen, nur eines zu riskieren.“
Kaldherman war im Verlauf des gesamten Abenteuers still gewesen. Jetzt sprach er. „Ich habe selbst ein ungelöstes Rätsel, ihr Denker und Grübler und Philosophen; ich möchte gerne wissen, wie es kommt, daß wir fünf, mit nicht mehr als Messern versehen, bewaffnete und ausgebildete Vorläufer überwältigt haben?“
Auch Cannialin sagte: „Ganz richtig. Wo sind sie denn, die gnadenlosen Menschen mit den wilden Augen, denen man nachsagt, daß sie hemmungslos schießen und niederbrennen? Die hier waren gern bereit, einem in den Rücken zu schießen, aber als es Narben auf der Brust zu erwerben gab, sind sie herumgesprungen wie Gänse im Schlachthof. Ich will mich hier nicht als Feigling hinstellen, aber ich hatte mich bisher nicht für so furchterregend gehalten. Kaider vielleicht: Der hatte einen Blick in den Augen, von dem ein Hund Würmer bekommen hätte – aber ich?“
Fellirian sagte: „Ayali, du weißt nicht, wie sonderbar du mit einem Messer in der Hand aussiehst … ich habe manchmal zu Hause selbst Angst vor dir, wenn du einem Huhn die Kehle durchschneidest. Ich kann dazu nur sagen, daß sie wahrscheinlich Widerstand nicht gewohnt sind und einen Angriff noch viel weniger; aber das erhebt in meinem Kopf viele Fragen, und eine Antwort, die Fragen aufwirft, nützt nicht viel, oder?“
Morlenden sagte: „Du meinst, sie brauchen nur zu drohen und nicht wirklich etwas tun?“
„Es scheint so. Sie reagieren alle schnell genug. Das habe ich schon mit eigenen Augen gesehen: Die Opfer laufen immer weg und werden zusammengetrieben. Niemand leistet Widerstand.“
„Und was ist, wenn es doch jemand tut?“
„Undenkbar.“
„Wissen sie denn, auf welches Fundament sie da gebaut haben – daß ein Dutzend entschlossener Leute den ganzen Planeten übernehmen könnte?“
Niemand beantwortete Morlendens Frage. Sie standen nun alle um Maellenkleth herum und beugten sich herunter, um sie aufzuheben. Im Hintergrund konnten sie noch immer das Brummen und Klopfen des Luftkissenfahrzeugs hören, das jetzt etwas näher kam. Morlenden war immer noch wie betäubt und fühlte sich schwindlig, als sei er noch nicht ganz bei sich. Es war schon unvorstellbar gewesen, daß ein unbekannter Attentäter auf ihn geschossen hatte; aber ein Verhalten, wie er es hier, in dieser Nacht, gezeigt hatte: Das war ein Gedanke, der noch fremder war. Und doch hatte er es getan, und als er wieder daran dachte, hatte er das sichere Gefühl, daß es richtig und angemessen gewesen war. Rache und Selbsterhaltung. Und etwas, eine unbekannte Größe in der unsichtbaren Unterwelt, hatte sich verschoben, verändert, und nun wurde er von der Hauptströmung eines fremden Flusses mitgetragen und floß auf ein unbekanntes Ziel zu.
Er sagte, halb zu sich selbst, von den anderen ebenfalls unbemerkt, während er das Mädchen zu Kaldherman und Krisshantem hochhob, die auf den Zaun geklettert waren: „Beobachten? Durcheinander? Ja, so wird es bei ihnen sein … und vielleicht beobachten sie nicht halb so genau, wie sie das annehmen. Diese hier war unerkannt zwischen ihnen. Also, ich …“
Und sie machten sich an die schmerzhafte Prozedur, Maellens Körper über den Zaun zu heben. Sie gehörte dem Element Wasser an, und sie mußten sie dem Wasser zurückgeben; sie würden sie weit tragen müssen.