19

 

Die Zeiten, die wir kennen, sind schwanger von der Saat des Wechsels, diesem mächtigen Götzen der Jugend,

der allüberall sucht,

um oft getanen Taten neue Hoffnung zu verleihen;

wir sagen: Die Zukunft birgt unsere uns teuersten Bedürfnisse,

aber die Gegenwart hat für uns die klarste Spur jener, die waren, mit manchmal gequälter Anmut,

den Erbauern unserer Welt, jener, die große Taten vollbrachten.

 

Doch nun – sie kamen und gingen, und was sie vollbrachten,

verblaßt nun direkt vor unseren Augen, und wenn es vergangen ist, so werden wir davon singen, von unserem Goldenen

Zeitalter,

und wir werden vergessen, daß jedes Zeitalter die reinste Jade ist,

während die Zeit, dieses Eiron für die Herzen der Menschen,

uns anlächeln und eine neue Seite aufschlagen wird.

Zeit des Eiron, 1964

 

Es waren vier: Fellirian, Morlenden, Krisshantem und Mevlannen, die jetzt alle gleichermaßen auf dem Nordhang von Grozgor standen, dem Berg des Wahnsinns. So war es, daß sie im letzten klaren Licht des Tages das Ende des schmalen Pfades unter den Bäumen und zwischen den verwitterten Felsen eines trockenen Flußbettes erreicht hatten, und jetzt standen sie wartend und lauschend da. Ihre Anweisungen brachten sie nur bis hierher und nicht weiter. Sie lauschten, um möglicherweise das zu hören, was sie zu hören erwarteten; vielleicht das Geräusch der gedämpften Maschinerie dessen, was im Bauch des Berges verborgen lag. Aber da war nichts; kein Zeichen, keine Erscheinung, keine Spur. Der Berg war stumm. Weit im Westen, nahe dem Horizont, war der Himmel rot, während er weiter oben die Farbe des Winters hatte, ein blasses Aquamarin. Über ihnen war es ein hartes Ultramarin. Der kürzeste Tag, Wintersonnenwende; im Kalender des Neuen Volkes war dies ein Feiertag, und sie wären normalerweise ausnahmslos zu Hause im yos gewesen, hätten gefeiert und gekocht, gesungen und selbstgebrautes Bier getrunken, während sich im großen Backofen auf dem Hof eine schwere Gans gedreht hätte, die mit einem Gemisch aus Brot und Salbei gefüllt gewesen wäre. Die Kinder wären überall dabei gewesen, und Peth hätte ungeachtet des Winters darauf gebrannt wegzukommen, in die Wälder und zu ihrem neuesten Jungen … Der Sonnenwendtag war älter als die Ler.

Sie standen in der Kälte, schlurften nervös herum, und sie froren und fühlten sich unbehaglich. Dies war Grozgor, und die Ältesten der Libellenhütte kamen hierher, um, wie man sagte, ihren „erlahmenden Blick zu erneuern“. Für sie war dies hier ein heiliger Ort. Für alle anderen war es ein Ort unbekannter Verdammungen. Morlenden fragte sich, ob es klug gewesen war, hierherzukommen, gerade jetzt – dabei war es in der Sicherheit ihres yos unkompliziert und leicht erschienen: Sie würden den Berg aufsuchen und um das Urteil des Reven bitten. Nun …

Fellirian fragte Mevlannen schüchtern: „Bist du je dort drinnen gewesen?“

„Oft“, antwortete sie. „Doch liegt dies schon lange zurück. Vieles wird sich seither verändert haben. Man wird zu Ende geführt haben, was damals begonnen wurde.“

Fellirian berührte sanft den Arm des Mädchens. „Still jetzt. Es kommt jemand.“

Sie blickten in die Richtung, in die sich Fellirian gewandt hatte, und dort, im schwachen Licht, stand jemand, wo vorhin niemand gestanden war, eine blasse, reglose Gestalt, an jener Stelle, an der das Flußbett vor dem steilen Ufer endete. Die Gestalt, mit einem einfachen, leichten Überhemd ohne Abzeichen oder Wappen bekleidet, schien die beißend gewordene Kälte zu ignorieren. Sie konnten sehen, daß sie wahrscheinlich Elternstatus hatte, doch konnten sie nicht genug von dem Gesicht unter der tief in die Stirn gezogenen Kapuze ausmachen, um sagen zu können, wer es war.

Die Gestalt kam ein wenig näher, zögernd, und dann sprach sie leise, bedeutungsvoll, als handle es sich um eine Ehrerbietung für diesen Ort. „Ich bin Pellandrey Reven. Was sucht ihr hier?“

Fellirian fühlte sich an den kalten, steinigen Boden wie angewachsen. Sie sagte: „Wir sind gekommen, um Gerechtigkeit zu suchen: Fellirian, die du kennst, und Morlenden von den Derens. Außerdem Krisshantem, der niemanden hat, der für ihn spricht, und Mevlannen Srith Perklaren. Auch diese beiden sind dir bekannt.“

Pellandrey trat näher. „Ja, ich sehe“, sagte er. „Verzeiht mir, daß ich euch nicht erkannte. Aus hellem Licht kam ich hierher.“ Pellandrey war zart gebaut, beinahe dünn, mit feinen, glatten, klassischen Zügen auf dem schmalen, wohlgeformten Gesicht. Still, mit einer inneren Ruhe, wie Morlenden sie nie zuvor gesehen hatte. Pellandrey fügte hinzu: „Geht es euch allen gut?“

„Ja, uns geht es gut“, antwortete Fellirian ruhig.

Pellandrey sagte: „Ihr sprecht von Gerechtigkeit?“

„Ja. Und von einer Botschaft, die Morlenden an Sanjirmil überbringen muß. Hält sie sich an diesem Ort auf?“

Die Antwort wurde behutsam, vorsichtig gegeben: „Sie ist hier.“

Morlenden sagte: „Und wir müssen von den Dingen im Innern des Berges sprechen und von denen zwischen den Mustern eures Spieles.“

„Ist dies der Gegenstand des Urteils?“

„Nein, es gibt noch andere.“

„Also dann. Ich, Pellandrey, bin euer Diener und Führer.“ Er schien zu spüren, wieviel sie wußten, und es schien ihn nicht sonderlich zu beunruhigen. „Aber wollt ihr wirklich hineingehen?“ Er fuhr fort: „Ah, ja, es ist etwas daran … Ihr versteht, daß es nicht erlaubt ist, hier draußen, in der Welt, von dem zu sprechen, was in Grozgor ist? Wenn es zutrifft, daß ihr weise seid und den Glauben bewahrt habt, so dürft ihr eintreten und in die Wahrheit eingeweiht werden. Und wenn nicht, so kann ich euch nicht erlauben zu gehen.“

Morlenden antwortete: „Vieles gibt es, das wir nicht wissen, aber über das, was wir wissen, haben wir zu niemandem gesprochen.“

Es war jetzt dunkel, dunkel genug, daß sie die Züge von Pellandreys Gesicht nicht mehr ausmachen konnten, aber sie vermochten eine Bewegung zu spüren, eine Geste – ein Lächeln? Morlenden glaubte es nicht; so ein Gesicht wie dieses, das mit den Worten ging, würde nicht lächeln … und wenn, dann mochte es ein Lächeln sein, das er nicht zu sehen wünschte.

Der Reven sagte: „Wem wurde es mitgeteilt? Und von wem?“

„Das meiste von Mevlannen“, erwiderte Morlenden. „Vieles sind Schlüsse, aus dem gewonnen, was mir von den anderen gesagt wurde. Nur mit Fellirian habe ich über diese Dinge gesprochen; es gibt wenige Geheimnisse zwischen uns. Nur das, was jeder von uns während des vayyon tat, bleibt privat. Krisshantem weiß nichts, abgesehen von dem, was er selbst herausgefunden hat. Und sonst weiß niemand etwas.“

„Nur das vayyon, eh? Das ist etwas Gutes. Es ist das einzige Geheimnis, das ein Innenverwandter haben sollte. Und dieses andere, es ist fast dasselbe, etwas, das man über alles stellen sollte. So muß es sein; ihr werdet einen weiteren Sonnenaufgang erleben.“ Jeder von ihnen spürte ein Zurückweichen, das Schwinden eines eisigen Blickes. Pellandrey wandte sich von ihnen ab und sagte: „Folgt mir.“ Er setzte Gehorsam ohne Kommentar voraus. Als der Hohe Reven, der Richter des Volkes, hatte er nur ein Gebot: das Volk zu schützen. Er vollendete die Bewegung und ging los, ohne sich nach ihnen umzusehen oder sie gar noch zu bemerken. Die vier folgten ihm.

Der Eingang – wenn es wirklich einer war – schien ein einfacher Spalt in der Felswand zu sein, in eine seltsame kleine Nische eingelassen, die irgendwann in der Vergangenheit von den Wassern des Flusses auf ihrem Weg den Berg hinunter aus dem Fels gespült worden war. Es war keine eindeutig erkennbare Öffnung zu irgend etwas aus irgendeinem Winkel Erkennbarem, sondern erschien lediglich als blind endende Vertiefung, deren tiefste Stelle selbst in der Helligkeit des Tages mit Schatten gefüllt war.

Hier blieb Pellandrey stehen und drehte sich wieder zu ihnen um. Er sagte: „Es bleibt keine Zeit für die richtige Unterweisung in der Art der Bewegungen, also macht es so gut wie möglich, euren Lichtern entsprechend. Beobachtet meine Bewegungen und vollführt sie genauso. Sonst besteht Gefahr. Versteht ihr? Laßt Mevlannen zuerst gehen, sie kennt es. An dieser Stelle liegt eine Nahtstelle zwischen zwei Universen, und gewaltige Energien sind im Spiel. Macht es gewissenhaft. Niemand kann es für euch tun.“

Er wandte sich wieder der Felsspalte zu, stand bewegungslos und starrte in die Dunkelheit. Er tat einen tiefen Atemzug und behielt die Luft in seinen Lungen, gleichzeitig hob er seine Arme zur Seite, als müsse er sein Gleichgewicht bewahren, dann brachte er sie nach vorn, als habe er vor, in ein Wasserbecken einzutauchen. Er setzte sich in Bewegung, halb Schritt, halb Tanz, zwei Schritte, dann ein kurzer, leichter Sprung, als setze er anmutig über ein unsichtbares Hindernis hinweg. Unbeirrbar geradeaus bewegte er sich, aber als seine Gestalt mit der Dunkelheit des schattigen Spalts verschmolz, schien es, als sei er irgendwie um eine Ecke gegangen, denn sie konnten ihn nicht mehr sehen und auch seine Anwesenheit nicht mehr fühlen. Es war, als habe es Pellandrey nie gegeben. Kein Laut begleitete dieses Geschehen und nicht das geringste Gefühl, so, als sei überhaupt nichts geschehen. Aber Pellandrey war verschwunden.

Mevlannen trat vor, begab sich an jene Stelle, auf der Pellandrey gestanden war. Einmal sah sie zurück, nickte und sagte sehr leise: „Ja, so geht es.“ Sie vollführte die Bewegungen, machte die beiden Schritte und verschwand, genau wie Pellandrey vor ihr, sobald ihre Gestalt mit dem Einschnitt in der Felswand verschmolz.

Morlenden, Fellirian und Krisshantem sahen sich zaghaft, ungläubig an. Krisshantem zuckte mit den Schultern. „Man muß daran glauben“, sagte er und ging ohne weitere Worte an die Stelle, sah den Fels an und machte die Bewegungen. Und war nicht mehr da.

Fellirian betrachtete die Stelle genau, als traue sie ihren Augen nicht. Sie glitt näher an den Einschnitt heran, versuchte hineinzublicken. Sie sah nichts. Eine Dunkelheit, ein Nichts in einem Schatten. Sie lauschte, neigte ihren Kopf; da war kein Ton zu hören. Statt dessen existierte dort eine dumpfe Leblosigkeit, als würde irgend etwas den Schall absorbieren. Nein. Niemand war da. Es war absurd. Sie schüttelte ihren Kopf, nur einmal, und trat dann an die Stelle, von der die anderen aufgebrochen waren, tat ebenfalls den tiefen Atemzug, vollführte die Bewegungen, die beiden Schritte und den kleinen, geschmeidigen Sprung und gelangte direkt in die Nische, in die man nicht hinein sehen konnte. Stille. Fellirian war nicht mehr da.

Morlenden lauschte. Da war nichts außer dem Schweigen der Felsen, des freien Himmels. Kein Wind säuselte um die kahlen Stämme, die über ihm aufragten. Jetzt ging auch er zu dem Spalt und blickte hinein. Er glaubte, das Ende davon wahrnehmen zu können. Jedenfalls war er nicht tief, keine Höhle. Aber als er versuchte, sich auf das Ende zu konzentrieren, von dem er glaubte, daß es da war, weigerten sich seine Augen, ein Bild zu formen. Zu dunkel, dachte er. Obwohl es sich nicht völlig wie Dunkelheit anfühlte, nicht wie das Fehlen von Licht; es war etwas unterhalb einer Schwelle. Da war noch etwas anderes. Etwas, das er nicht sehen konnte. Er zuckte mit den Schultern, richtete sich auf, schaute sich um, als sei es das letzte Mal: zum Bachbett, dem Berg, dem Himmel, den Bäumen. Dann begab auch er sich an die Stelle, vollführte die Bewegungen – der einbehaltene Atem, die Arme, die Schritte, der Sprung; er erwartete, in der dunklen Höhlung zu landen und sich seinen Zeh anzustoßen, aber als er vom Boden abhob und die Dunkelheit ihn traf, spürte er einen Augenblick gewichtslosen Schwindels, eine Mikrosekunde gestaltlosen, tobenden Chaos und blendender Energie, ein Brausen des organisierten, zerfetzten Schalls in seinen Ohren, eine Helligkeit und ein Zerren an seinem Körper, das sich in seinen Magen hineinwühlte. Und er stand.

Morlenden hatte wie im Reflex seine Augen vor den Lichtern geschlossen. Jetzt öffnete er sie wieder. Er befand sich in einer einfachen, düsteren Kammer, deren Wände offenbar von brauner Farbe waren. Das Licht kam von überall und nirgends. Nirgends gab es eine Öffnung, es war ein vollkommener Würfel. Dicht. Die anderen hatten ihn erwartet. Die Wände warfen keinen Laut zurück; dieses Schweigen war vollkommen, das vollkommenste, das er je gehört hatte. Doch gab es unter der Stille eine unterschwellige Wahrnehmung von Energie, ungeheurer Energien, sorgfältig ausgeglichen und im Zaum gehalten.

Er sagte: „Wo sind wir?“

Pellandreys Antwort kam zögernd, als werde er dazu gezwungen: „Nirgends. Verhaltet euch so still ihr nur könnt und macht keinen Versuch, die Wände zu berühren. Beobachtet mich abermals und macht, was ich mache. Dies ist der schwierige Teil; doch wenn ihr die Transition erfolgreich hinter euch bringt, werdet ihr im Schiff sein. Fühlt den Widerstand und gelangt durch ihn wieder in die Realität. Jetzt paßt auf!“

Pellandrey begab sich in die genaue Mitte der Kammer und stand still. Mit einem Minimum an vorbereitenden Handlungen sprang er plötzlich gerade hoch; ungefähr in der exakten Raummitte des Würfels verschwand er. Schweigend. Morlenden hatte versucht, den Vorgang genauestens zu verfolgen, doch es ging über seinen Verstand; die Gestalt schien zu verschwinden, zu schnell, um es mit den Augen verfolgen zu können, gleichzeitig aber schien sie dort zu verharren, wo sie war.

Jetzt folgte Mevlannen, dann Krisshantem, Fellirian. Alle, einer nach dem anderen, begaben sie sich in die Mitte, sprangen hoch, verschwanden. Morlenden blieb allein zurück. Sorgfältig sah er sich in der kleinen, kahlen Kammer um. Es gab ziemlich wenig zu sehen. Luft war vorhanden, aber sie wirkte abgestanden wie die Luft in einer Höhle. Es gab keinen Schall. Er mußte genau hinhören, um seine eigenen Atemzüge zu hören. Er betrachtete die Wände eingehender; kaum eine Körperlänge entfernt waren sie. Er konnte leicht vortreten und sie berühren. Er näherte sich der ihm am nächsten gelegenen Wand, starrte darauf, versuchte, einen Punkt auszumachen, sich darauf zu konzentrieren. Er konnte es nicht. Was er für eine Oberfläche hielt, war nur die Illusion einer solchen; als er sie direkt anzusehen versuchte, fühlte er sich statt dessen orientierungslos. Er war nicht in der Lage, die Tiefe dessen, was er sah, zu bestimmen. Es gab keinen Bezugspunkt, auf den er sich hätte konzentrieren können. Morlanden strengte sich an, versuchte wieder, eine Ordnung hineinzuzwingen. Am äußersten Extrem seiner Anstrengungen fühlte er, mehr als daß er sie sah, Bewegung, vielleicht die Illusion von Bewegung, ein langsames Brodeln oder Drehen, ungeheuer kraftvoll, eine Braunsche Molekular-Bewegung, die ein hauchzartes Gefühl von den Zufallsbewegungen zugrunde liegender Ordnung verbarg. Er sah auf den Boden hinunter; an den äußeren Rändern seines Blickwinkels erkannte er denselben Effekt wie bei den Wänden, die einheitlich von einem düsteren, kräftigen Braun waren, die nur dann eine Oberfläche besaßen, wenn man sie nicht aus nächster Nähe betrachtete.

Wieder zuckte er mit den Schultern. Sie hatten Vertrauen gehabt und die absurden Bewegungen vollführt; er würde es ebenfalls tun. Von der Mitte aus sprang Morlenden hoch, gerade hoch, wobei er seine Knie so wenig wie möglich beugte.

Sein erster Gedanke war, daß mit der Schwerkraft etwas nicht stimmte, denn statt in seinem Hochkommen langsamer zu werden, beschleunigte er irgendwie, und die Kammer verblaßte, und an ihrer Stelle war plötzlich nichts mehr, nicht einmal mehr die Empfindung von irgend etwas. Wo er war, war eine imaginäre Zahl, ein durch nichts zu beeinflussendes, sanftes Programm, ein reiner, abstrakter Vorgang. Empfindungslos hing er irgendwo, sogar von der Rückmeldung seines eigenen Körpers abgetrennt. Er wußte nicht, ob er atmete oder nicht. Er versuchte, sich zu bewegen, konnte jedoch nichts fühlen. Er versuchte, sich vorzustellen, daß er sich bewegte. Er spürte einen Widerstand. Es verlieh ihm ein unheimliches Gefühl in der Tiefe seines Verstandes. Je konkreter seine Vorstellungen wurden, desto konkreter wurde das Fühlen. Allmählich fühlte er eine Öffnung, doch sie schien zu klein zu sein. Er legte die Arme darum, zog. Rasch bewegte er sich über eine Ebene dahin, von Kräften befördert, jedoch nicht in einem Fahrzeug. Sie wurde aus einer unbekannten Quelle erhellt, eine absolut flache Oberfläche, mit formlosen Haufen übersät, die dieselbe bräunliche Farbe aufwiesen wie die Ebene, dieselbe Farbe wie die Kammerwände. Er glitt über die Haufen dahin, aber da waren noch mehr … Es gab eine Andeutung von Form in ihnen, doch er konnte sie nicht richtig erkennen. Er bewegte sich zu einem abstrakten, perspektivischen Horizont, eine Kinderzeichnung, die Vorstellung eines Irren. Er strengte sich an, seine Panik ließ ihn einen Satz machen, er versuchte, sich zu befreien, und die Ebene verschwand.

Raumorientierung und normale Empfindung kehrten zurück. Er befand sich allein in einem kleinen, leeren Raum, aber wenigstens in einem Raum, den er verstehen, berühren konnte: Die Wände waren an sich aus Metall, jedoch größtenteils mit prächtiger, dunkler Holztäfelung, dunklem Holz und handgewebtem Tuch bedeckt, das er als Produkt seines eigenen Volkes wiedererkannte. Diese Luft hatte Geruch, Temperatur. Sie war kühl, beinahe kalt. Ja, sie war frostig. Er zitterte. Gerüche von Maschinen, Material, fernen Leuten. Der Boden war beruhigend fest und befand sich an der richtigen Stelle. Er entfernte sich aus dem Zentrum des Raumes, um die Wände zu berühren, um sich zu vergewissern … Und während er dies tat, materialisierten die anderen in schneller Folge in dem Raum, verdrängten hierbei die Luft mit kleinen Windstößen. Pellandrey kam als letzter an. Als er Morlenden an der Wandung erblickte, nahm sein Gesicht einen Ausdruck amüsierter Verblüffung an. Als Fellirian ankam, hatte sie die Augen fest geschlossen und stand leicht vornüber gebeugt, halb in der Hocke, in einer Ringer-Stellung. Ein Ausdruck von Anstrengung lag auf ihrem Gesicht; es wirkte angestrengt, verzerrt.

Morlenden griff nach Fellirian, berührte ihre Schultern. Sie öffnete ihre Augen, blickte sich rasch um, richtete sich auf. Rings um sie herum gab es das Gefühl von Maschinerie, eine Gegenwart kontrollierter, gefesselter Energie, von vitaler, aufwallender Kraft. Schwache Geräusche drangen jetzt aus den anderen Teilen des Schiffes an ihre Ohren: metallische Klänge, gedämpfte Stimmen, etwas, das wie ganz normales Hämmern klang.

Fellirian fragte: „Wo sind wir?“

„Im Schiff natürlich“, antwortete Pellandrey. „Ihr werdet gemerkt haben, daß Morlenden vor uns ankam, obwohl er die Schleusenkammer als letzter verlassen hat. Das ist ein Effekt, den wir manchmal erleben, wenn wir mit mehr als einem gleichzeitig durch das Tor gehen. Sequenzumkehrung. Wir verstehen das Kontinuum, durch das wir soeben gekommen sind, keinesfalls sehr gut. Das Eintreten war überhaupt kein geplantes Produkt. Wir würden, offen gesagt, die Türklappe eines yos vorziehen. Aber zum Teil ist es so … hmm, passiert. Nachdem wir darauf gestoßen sind, waren wir in der Lage, es geringfügig umzugestalten. Jetzt können wir es sogar ein wenig kontrollieren, können kommen und gehen.“

„Ich sah eine Ebene mit darüber verstreuten seltsamen Klumpen“, sagte Morlenden. „Ich bewegte mich, flog; sie war endlos.“

„Die Ebene? Du hast sie gesehen?“

„Wirklich, und das, was ich sah, gefiel mir nicht.“

Pellandrey schüttelte seinen Kopf. „Wir wissen nicht, wo dieser Ort liegt … Versuche, ihn zu erforschen, ihn näher zu untersuchen, sind meistens fehlgeschlagen. Die meisten erleben ihn überhaupt nicht, und die meisten, die es tun, überleben dies nicht und können nichts darüber berichten. Die Klumpen sind, so glauben wir, die Überreste jener, die im Laufe der Zeit versagt haben. Ich war einmal dort, aber ich werde nicht darüber reden, was ich dort getan habe, auch nicht darüber, was ich erfuhr.“ Hier hielt er inne, als fiele ihm etwas Unangenehmes ein. „Freiwillig werde ich nicht zurückkehren. Doch eine gibt es unter uns, die dies tut.“

Morlenden fragte: „Wer?“ Und im gleichen Augenblick glaubte er die Antwort bereits zu kennen.

„Sanjirmil“, antwortete Pellandrey. Er wollte nichts mehr sagen, nicht von ihr reden. Er fügte hinzu: „Du hattest Glück, denn du hast sie gesehen und es überlebt.“

Er drehte sich um und fegte einen gewöhnlichen Vorhang beiseite, als täte er nichts anderes, als Besucher irgendwo in ein yos zu geleiten, wobei er ihnen winkte, ihm durch einen schwach beleuchteten Korridor zu folgen. „Kommt mit mir“, sagte er. „Wir werden jetzt in das Zentral-Sensorium gehen; dort können wir uns über die von euch gewünschten Angelegenheiten unterhalten.“

Er setzte sich in Bewegung, ging den Korridor entlang, ohne weitere Bemerkungen zu machen. Die vier folgten, ebenso schweigend, betäubt vom Gegensatz zwischen der Unwirklichkeit des Eingangs und der einfachen Gemütlichkeit der inneren Ausstattung. Sie bewegten sich ständig in einem Labyrinth, alle außer Mevlannen. Sie wußte, wo sie war.

Sie erreichten einen Querkorridor, folgten ihm eine steile Schräge hinunter. Andere Korridore stießen zu beiden Seiten heran, führten in andere Sektoren des Schiffes. Aus einem waren die hämmernden Geräusche zu hören, die ihnen bereits vorhin aufgefallen waren. Der Geruch von Sägemehl und Eisen hing in der Luft.

Viele Male wechselten sie die Gänge, manchmal gingen sie auf der Geraden, manchmal über Schrägen hinunter. Manche Durchgänge waren enge Verbindungsflure, andere weite Portale. Kein Abschnitt verlief lange geradeaus, die Korridore schienen sich förmlich dahinzuwinden. Fellirian folgte höflich, aber nach einer langen Zeit konnte sie ihre Neugier nicht mehr länger zurückhalten und fragte: „Und wo sind die Maschinen, der Treibstoff, die Vorratsräume?“

„Gibt es nicht“, antwortete Pellandrey. „Dies ist kein angetriebenes Schiff, kein Schiff mit Treibstoff, sondern die Entsprechung eines Segelschiffes; Treibstoff benötigen wir nur, um das Lebenserhaltungssystem aufrechtzuerhalten, den Synthesizer zu bedienen. Diese Energie kommt von Batterien, die von der um das Schiff herrschenden Strömung gespeist werden.“ Nachträglich fügte er hinzu: „Das Problem liegt nicht darin, daß wir zuwenig, sondern zuviel haben!“

„Was macht ihr damit?“

„Sie muß innerhalb jenes Systems verbraucht werden, aus dem sie abgeleitet wurde; den Überfluß haben wir bisher dazu verwendet, die Umlaufbahn von Pluto, dem äußersten Planeten, zu regulieren. Er ist klein an Masse, wie jeder sich bewegende Planetenkörper, doch für unsere Zwecke genügt es. Versteht, daß wir nichts Radikales damit anstellen. Und das, was wir tun, ist nicht sehr offensichtlich. Mevlannen kann euch das bestätigen, glaube ich.“

Mevlannen stimmte zu. „Ein Jahr lang habe ich beobachtet, verglichen, Berechnungen angestellt; die Veränderung, die wir bewirkt haben, wird nicht einmal in dreißig Jahren registriert werden können.“

Morlenden setzte an zu sprechen, aber der Moment verging, und Pellandrey drehte sich wieder um und führte sie weiter durch das Gewirr der Korridore. An einer weiten Reihe von Abzweigungen, Knotenpunkten und schließlich einer halbdunklen Verknüpfung von fünf Durchgängen schritten sie vorbei. Pellandrey hielt vor einer großen, in die Wandung eingelassenen, metallenen Luke, an deren Rund mehrere T-Griffe mit Gewinde saßen, aber an einem Ort mit Vorhängen und leicht gleitenden Schiebetüren konnte eine derartige Tür nur eine Bedeutung haben: Eintritt verboten! Pellandrey bückte sich und begann, die Griffe methodisch zu lösen, einen nach dem anderen. Als er damit fertig war, drehte er sich zu ihnen um, die Hand an der Luke, erhoben, bereit, sie nach innen zu drücken.

Mevlannen sagte: „Wenn Sanjirmil jetzt dort drinnen ist, kann ich nicht hineingehen.“

Pellandrey fragte: „Und warum nicht?“

„Wir sind Feinde; vor langer Zeit haben wir ein Abkommen getroffen. Ich dachte nicht, daß es jemals wieder zu einer Begegnung kommen könnte, deshalb willigte ich ein. Draußen im Wald, allein, nur sie und ich, würde ich das Risiko eingehen, doch hier, im Zentrum ihrer Macht, fürchte ich mich. Ich kann nicht eintreten; sie wird mich angreifen, sobald sie mich sieht.“

„Ganz recht. Sie ist da. Aber du kamst eines Urteils wegen, deshalb mußt du eintreten, sonst hören und entscheiden wir hier, auf dieser Stelle. Zu urteilen ist etwas sehr Ernstes. Möchtest du, daß wir die Angelegenheit wie Verschwörer, wie Gassenschleicher, hinter einem Lagerhaus regeln?“

Morlenden sagte: „Ich bitte darum, daß es hier sein möge, wenn Mevlannen dies wünscht. Auf jeden Fall bin ich ihr Beistand – ich spreche für sie.“

Pellandrey schien angestrengt zu überlegen, zuckte mit den Schultern. „Nun gut. Sprecht.“

Morlenden verschwendete keine Zeit mit Formalitäten und sagte: „Du kennst die Geschichte der Perklarens, deshalb brauchen wir sie nicht anzuführen; ebenso weißt du, woher Krisshantem stammt, und du kennst seinen Werdegang, denn du spielst eine Rolle darin. So oder so. Diese beiden sind im angemessenen Alter, beide nennen ein wertvolles Wissen ihr eigen, das nicht verlorengehen darf. Ich erbitte, sie hier und jetzt zu shartoorh zu erklären und zu bestimmen, daß sie sich bei Reife zu einer eigenen Webe verweben dürfen.“

Pellandrey richtete einen kalten, festen Blick auf Morlenden. „Du weißt bereits zuviel, Morlenden Deren. Und welch eine Rolle werden sie übernehmen? Was werden sie tun?“

Morlenden drängte weiter, wandte sich keinen Millimeter von dem ab, weswegen er gekommen war. „Ich gebe zu, daß es meine ursprüngliche Absicht war, die Stoßrichtung des Kurses wieder aufleben zu lassen, den Maellenkleth verfolgte, aber jetzt sehe ich ein, daß so etwas eine Torheit wäre. Deshalb bitte ich darum, daß sie Skazen genannt werden, Meister der Lehre, jene, die wissen, und jene, die sich erinnern. Zu lange haben wir diese Funktion Ältesten überlassen, die auf nichts antworten werden.“

Pellandrey wandte sich leicht ab, vermied es, sie mit seinen ausdruckslosen Augen anzusehen. Er schien in weite Fernen zu blicken, während er Unwägbarkeiten abwog. Nach einer Weile sagte er: „Dies wird eine Menge Konsequenzen nach sich ziehen. Ich sehe es, ich weiß es; kleine Wellen in der Zeit, durch die Jahrhunderte; es wird die üblichen Einwände geben.“

„Gegen eben diese bemühe ich mich hier, Pellandrey Reven. Diese beiden haben verdient, worum ich bitte.“

„Ich weiß, ich weiß; genau wie Maellenkleth. Während ich sie lenkte und meine Ziele mit ihr verfolgte, zählte ich mir selbst die Argumente auf, die verhinderten, das zu tun, um was sie mich am Ende bat. Und wäre es zu einer Dirklaren-Webe gekommen … Ich weiß nicht. Wir können nicht viel Zeit auf das verwenden, was gewesen wäre.“

„Sehr gut. So wird dieses Gesuch nach eigenem Gewicht beurteilt.“

Der Reven blickte nun beide, Mevlannen und Krisshantem, eindringlich an. „Ihr beide seid einander bekannt?“ fragte er. „Und ihr stimmt dieser Sache zu?“ Beide nickten sie ihr Einverständnis und rückten instinktiv näher zusammen.

„Und wessen Idee war es? Verkündet es mir jetzt!“

Morlenden sagte: „Meine Idee war es, und sie ist mir erst kürzlich gekommen.“

„Es wird einen Preis haben. Werdet ihr beide einverstanden sein, ihn zu bezahlen?“

Wieder nickten sie. Pellandrey sagte: „Das Ritual ist den Umständen nicht angemessen. Deshalb übe ich dieses Recht aus, das mir durch Erbfolge gegeben ist. So sei dem Begehren des Morlenden Deren stattgegeben; möge es keiner der hier Anwesenden vergessen, bis an das Ende der Zeiten …“

Mevlannen und Krisshantem sahen sich mit glänzenden Gesichtern an. Pellandrey fügte mit harter Stimme hinzu: „Vergeßt den Preis nicht über dem Frohlocken der Neu-Liebenden, die ihr geworden seid, wie ich sehe.“

Sie wandten sich ihm wieder zu.

„Und mein Preis lautet wie folgt: Mevlannen, für den Frieden des Volkes erlege ich dir ein Verbot auf: Du und alle deine Nachkommen hiernach werdet vom Spiel ausgeschlossen sein, vom Äußeren wie vom Inneren Spiel. Krisshantem, du und alle deine Nachkommen hiernach werdet euren Wohnsitz im Herzen der am dichtesten bevölkerten Wohnsiedlung unter uns nehmen. Wenn wir Städte bauen, so sollt ihr dorthin gehen. Und schließlich schwöre ich eine Tradition auf euch beide herab, gegen die nicht verstoßen werden darf. Es war die Gepflogenheit der Vergangenheit, daß shartoorh einander nicht oder zumindest so wenig wie möglich kennen. Deshalb sollt ihr von nun an getrennt leben, bis eure Fruchtbarkeit beginnt. Das bedeutet, daß einer von euch das yos der Derens verlassen muß. Jetzt kennt ihr das Gewicht. Entscheidet.“

Mevlannen sprach zuerst: „Ich werde jene sein, die geht.“

„Sehr gut … Ihr solltet die Matrix an Maellenkleth übergeben. Wer hat sie?“

„Morlenden Deren bringt die Matrix zu Sanjirmil.“

„So sei es. Ihr beide werdet euch zum Gemeinschaftsraum begeben. Steht nie wieder vor dieser Tür.“

Sie verweilten noch einen Augenblick, als versuchten sie, an etwas zu denken, das sie hätten sagen sollen, doch sie blieben stumm; und schließlich drehten sie sich um und schritten – Mevlannen voran – davon. Das Halbdunkel eines schräg ansteigenden Korridors nahm sie auf.

Wieder kehrte das Geräusch des Schiffes zu ihnen zurück. Eine seltsame Stille, in bestimmten Abständen von fernen, schwachen Geräuschen fortgesetzten Bauens unterbrochen; schwache, unverständliche Stimmen, Hämmern. Pellandrey wartete, bis er sicher war, daß Mevlannen und Krisshantem außer Hörweite waren. Dann drehte er sich wieder der massiven Luke zu, wobei er zu den anderen sagte: „Dies ist das Wichtigste überhaupt. Wahrscheinlich würdet ihr es Kontrollzentrum oder Brücke oder – wenn man an die Segelschiffe von einst denkt – Achterdeck nennen. Hinter dieser Luke ist das Innere Spiel. Folgt mir.“

Er bückte sich und trat über die hohe Schwelle hinein; Morlenden und Fellirian folgten. Pellandrey schloß die Luke hinter ihnen und verriegelte sie.

Morlenden und Fellirian standen eine Zeitlang völlig unbeweglich, während sie versuchten, das, was sie sahen, mit irgend etwas in Verbindung zu bringen, das ihnen vertraut war. Augenblicklich stellten sie fest, daß sie sich in einem kreisrunden Raum befanden, dessen niedere, kuppelartige Decke einen Durchmesser von etwa zweihundert Fuß hatte. Der Boden war ein umgekehrter, ebener Kegelstumpf, der sich zu einer Mittelvertiefung hin neigte. Sie standen auf einem breiten Sims, der rund um den Raum verlief.

Morlenden sah dies alles, doch er konnte das, was er sah, nicht zu einem sinnvollen Ganzen zusammenfügen. Es war zu fremdartig. Nichts in diesem Raum wies auch nur annähernd eine Ähnlichkeit mit etwas auf, das er schon einmal gesehen hatte.

Während Morlenden nicht gewußt hatte, was er erwarten sollte, war Fellirians Problem, daß sie zuviel wußte. Mehr an die menschliche Art gewohnt, Dinge anzugehen, erwartete sie, daß ein Kontrollraum Skalen, Bildschirme, Instrumententafeln, Lichter, Meßanzeigen, Fenster, Bullaugen, Hebel, Knöpfe enthielt. In diesem Licht betrachtet, war es ein nüchterner, kahler und rätselhafter Raum.

Über der Plattform gab es nur die Deckenkuppel, eine Spiel-Darstellung, hergestellt aus einem trüben, durchscheinenden Material, das nichts von dem auf dem Boden herrschenden Licht reflektierte. Und in unregelmäßigen Abständen waren in den schrägen Wänden des Kegels, der sich zu der zentralen Vertiefung hin neigte, kleine Vertiefungen festzustellen, jede einzelne mit einem bequemen Sessel ausgestattet. Neben jedem Sessel erhoben sich kleine Tafeln, die ein paar Kontrollichter enthielten, ein paar leere Behältnisse, eine Tastenleiste. In das Boden-Material eingelassene Stufen führten von den Sesseln zum Boden der Vertiefung. Dort lag die eigentliche Kontrolle; dort gab es vier identische Konsolen, davor Sessel, nach hinten gekippt, so daß die Operatoren jederzeit zur Decke hochsehen konnten. Genaugenommen waren diese Sessel luxuriöse Wiegen, beidseitig von zusammengedrängten Tastatur-Reihen umgeben, den Kontrolltastaturen des Äußeren Spiels sehr ähnlich, nur, daß es hier viel mehr davon gab, riesige, geschwungene Tastaturstreifen-Blöcke und Tafeln, die mit winzigen Knöpfen übersät waren, in Armesweite beiden Seiten der Sessel zugeordnet, nicht davor, nicht dahinter.

Oben war die Kuppel schwach beleuchtet; nur der Mittelteil schien aktiviert zu sein, etwa ein Fünftel der gesamten Fläche. Die einzige andere Beleuchtung in dem Raum stellten die kleinen Lampen über jeder Tastatur-Reihe und jeder Tafel in dem schmalen Streifen zwischen Kuppeldecke und konischer Vertiefung dar. Die Nischen waren ausnahmslos leer; die Bedienungsstände jedoch waren besetzt. Die Operatoren schienen sich nicht übermäßig anzustrengen.

Jene vier, die sich in der Vertiefung aufhielten, schienen dem Aussehen nach in ihrer späten Jugend zu sein. Sie hatten sich in ihren Bedienungswiegen zurückgelehnt, ihre Hände glitten unablässig über die Reihen von Klaviaturkontrollen, nicht eilig, sondern gleichbleibend und bedächtig, mal berührten sie hier eine Taste, mal dort, glitten weiter, verhielten, bewegten sich erneut weiter; und keinen Augenblick lang nahmen sie ihre Blicke von der Decke, stets behielten sie die lebende, wechselnde, sich ständig verändernde Darstellung über ihren Köpfen im Auge. Gleichzeitig, obwohl sie ernsthaft bei ihrer Arbeit waren, herrschte eine lässige Atmosphäre, eine wachsame Lässigkeit, als sei ihre Tätigkeit leicht und lange geübt. Jeder trug ein leichtes, feines Gestell über seinem Kopf, das winzige Ohrhörer an die Ohren und ein Mikrofon vor die Lippen hielt. Und wenn die Besucher auf der Etage über ihnen sehr genau hinsahen, so konnten sie von Zeit zu Zeit sehen, wie sich ihre Lippen unwahrscheinlich leicht bewegten; und wenn einer von ihnen sprach, folgten die anderen einer bestimmten Stelle der über ihnen befindlichen Darstellung. Dann veränderten sich der Bewegungsrhythmus ihrer Hände und der Maßstab, und irgendwie veränderte sich auch etwas in der Darstellung. Weder Morlenden noch Fellirian konnten feststellen, welche Veränderungen stattfanden – das Innere Spiel verlief einfach zu schnell. Morlenden stellte fest, daß ihm die grobe Unterweisung in das Äußere Spiel überhaupt nicht von Nutzen war.

Einer der Ler in der Vertiefung nickte, sprach in das Mikrofon.

Die anderen nickten ebenfalls, und ein Moment der Wachsamkeit schien vorbei zu sein.

Morlenden flüsterte Fellirian zu: „Dort drüben liegt Sanjirmil. Rechts; im Hintergrund. Ich würde sie überall erkennen: Ihr Haar hat einen matten blauen Schimmer, den nicht einmal dieses Zwielicht verwischen kann.“

„Tatsächlich. Und jene bei ihr müssen die Mitglieder ihrer Webe sein.“

Pellandrey, der ihnen zugehört hatte, stimmte zu. „Ja. Die zukünftigen Terklarens. Tundarstven, ihr Toorh, zu ihrer Linken; vor ihr Sunderlai und Leffandel, Srith und Tlanh. Beide waren Thes.“

Sanjirmils Toorh trug ein graues, handgewebtes Überhemd, schlicht und einfach, mit einem leichten wollenen Umhang, um sich vor der kalten Luft innerhalb des Schiffes zu schützen. Sunderlai, ein rundliches, sanft wirkendes Mädchen mit einem kindlichen Gesicht, trug einen Umhang in blassen Blaufarben, Schatten im grauen Schnee. Leffandel trug leuchtendere Farben, dazu einen braunen Umhang. Sanjirmil trug Schwarz; ihr Überhemd zeigte die Farbe der Nacht, hier und da von kurzen, senkrechten Strichen aus reinem Weiß durchbrochen. Ihr Umhang war aus glanzlosem, schwarzem Leder gefertigt und innen mit dunklem Grau gesäumt.

Leise sagte Pellandrey: „Du sprachst von einem Urteil, Morlenden; Jetzt sage, was du sagen mußt.“

„Vor weniger als einem Monat“, begann er, „trat die Perwathwiy Srith an uns heran, bot uns Gold und bat uns, Maellenkleth zu finden und unterwegs zu bestimmen, was aus ihr werden sollte. Dies haben wir getan, soweit wir dazu in der Lage waren.“ Und er begann zu erzählen, was er mühselig zusammengefügt hatte, die ganze Geschichte, wie es Feindschaft und Rivalität zwischen Maellenkleth und Sanjirmil gegeben hatte, wie das jüngere Mädchen, durch die anstürmende Gewalt der Umstände ihrer Bürgerrechte beraubt, von jener einen Sache vertrieben wurde, die sie besser machte als alle anderen, und wie Sanjirmil, höchstens eine miserable Spielerin, aufgrund derselben Umstände das Innere Spiel geerbt hatte. Er erzählte von Maellenkleths Plan, die Rivalin herauszufordern und davon, wie eine bereits schlechte Beziehung in Feindschaft abgeglitten war und wie Sanjirmil Maellenkleth absichtlich mit einer Wahnsinnsmission beauftragt hatte, obwohl sie gewußt haben mußte, daß man sie fangen würde. Er erzählte Pellandrey, wie Maellenkleth starb und was sie ihm kurz vor ihrem Tode mitgeteilt hatte. Und er sprach von anderen Dingen, von verhüllten Drohungen, von einem Pfeil, von einem Wesen aus dem Wald, das ihn verfolgt hatte. Und schließlich sagte er: „Und jetzt bin ich hierhergekommen, um in Anbetracht all dessen, was ich gesagt habe, ein Urteil gegen sie zu erwirken. Ich werde für die Wahrheit dessen, was ich behauptet habe, einstehen.“

Pellandrey sah lange Zeit zur Kuppeldecke empor und schwieg. Seine Hände umfaßten das Geländer so fest, als müsse er sein Gewicht dagegen lehnen, um es abzustützen.

Schließlich wandte er sich Morlenden und Fellirian zu und sagte: „Wir wissen bereits vom Aufsehen um die Instrumente. Sanjirmil selbst war es, die uns so viel darüber nach ihrem und der Perwathwiy Besuch in eurem yos erzählt hat. Das konnten wir selbst bestätigen, und deshalb schmiedeten wir angemessene Pläne. Ich nehme an, daß sie dies von uns erwartet hat.“

„Dann stimmst du mir darin zu, daß ich dieses Urteil haben muß?“

Müde sah Pellandrey dorthin, wo Sanjirmil lag und das Innere Spiel, das Zan, kontrollierte. „Im Prinzip stimme ich zu, pflichte ich bei; vollkommen. Aber in dieser Angelegenheit habe ich keine Handlungsfreiheit, und so kann ich kein Urteil fällen.“

„Warum nicht?“

„Weil ich selbst bei alledem nicht ganz ohne Schuld bin; und da du Sanjirmil angeklagt hast, muß du auch mich anklagen, denn vieles hiervon wäre zu verhindern gewesen, hätte verhindert werden können. Es ist eine sehr lange Geschichte; werdet ihr eine Weile bleiben, um sie zu hören?“

„Das werden wir“, antworteten sie.

„Sehr gut. In eurer Erzählung habt ihr gesagt, was euch Mevlannen erzählte und was ihr euch zusammengereimt habt. So werdet ihr euch erinnern, daß sich das Schiff vor fünfzehn, vor vierzehn und einem Jahr aktivierte? Sehr gut. Was ihr nicht wißt und bis jetzt nicht erfahren habt, ist das, was an jenem Tag passierte. Jetzt werde ich es euch erzählen, und ihr werdet verstehen.

Zu jener Zeit war das Schiff noch nicht aktiv, und so unterhielten wir hier nur eine Wache, keine fliegende Besatzung. Aber es gab gewisse Stunden an jenem Tag, in denen wir die bereits fertige Anlage für die Ausbildung von Novizen benutzten. Daß sie vollständig war, hätte uns warnen müssen, tat es jedoch nicht. Wir hielten unsere Augen zu dicht an den alten Plan. Und deshalb saß an jenem Tag eine Schülerin vor den Kontrollen, und zwei Ältere gaben ihr zusätzliche Anweisungen; sie brauchte jede Art von Hilfe, die sie bekommen konnte, denn sie war beileibe keine gute Spielerin, und genaugenommen zweifelten wir sogar daran, sie jemals bis zur Novizinnenstufe anheben zu können. Aber sie war eine Kämpferin, und sie beharrte dort, wo andere aufgegeben und ihre eigentliche Rolle akzeptiert hätten. Wo andere in der zurückliegenden Geschichte der Spiele aufgegeben hatten. Also gab es eine zusätzliche Sitzung. Perwathwiy und Trethyankov ließen sie den Alleinflug simulieren, eine der Notfallprozeduren. Sie hatte gerade die Kontrollen übernommen, war noch nicht einmal richtig bereit, ihre Kontrolltätigkeit auszuüben, als die Aktivierung einsetzte! Es gab keine Warnung, kein Symptom, nichts. Noch vor einer Minute schien keine der Arbeitstafeln mit irgend etwas verbunden zu sein, in der nächsten waren alle lebendig. Und das arme Mädchen dachte, es sei eine Übung, die sich die Perwathwiy ausgedacht habe, und war entschlossen, nicht zu versagen, obwohl sie wußte, daß sie versagen würde. Sie konnte es nie begreifen. Also übernahm sie das Kommando und schickte Perwathwiy und Threthyankov auf ihre Plätze. Aber sie wußten es schon. Das Schiff begann, sich zu bewegen. Durch eine gigantische Willensanstrengung schafften es die Älteren, sie in die richtige Richtung steuern zu lassen. Dann starb Threthyankov. Schock. Überanstrengung. Furcht. Wer weiß? Sodann brach die Perwathwiy unter der Anstrengung zusammen, war völlig ohnmächtig. Das Mädchen flog weiter, jetzt viel zu beschäftigt, um es überhaupt zu bemerken. Sie wußte, daß sie auf sich allein gestellt war, endlich im echten Flug; sie wußte, daß sie es nicht schaffen konnte, aber sie mußte es schaffen, denn es war niemand mehr da, den sie zu Hilfe rufen konnte. Es blieb ihr nur, bis zum nächsten Wachwechsel durchzuhalten, in der Hoffnung, daß zufällig ein Spieler an der Sensor-Kontrolle vorbeikommen und sie ablösen würde. Sie hatte keine Hoffnung … Aber sie hatte Nerven und einen starken Willen zu überleben, zu siegen, den Leuten zu beweisen, daß sie es konnte, wenn man sie brauchte. Und so schaffte sie es. Allein. Threthyankov wurde hiervon natürlich nicht wieder lebendig. Die Perwathwiy kam schließlich wieder zu Bewußtsein, wurde jedoch jedesmal aufs neue niedergeschmettert, immer wieder. Der vereinte Ansturm der lebenden Darstellung und der Stimme der Schülerin, die inzwischen machtvoll die Kommando-Multisprache beherrschte …

Und so ging es weiter. Wir wußten, was geschehen war, denn als sich das Schiff aktivierte, schottete es sich ab. Jene, die sich in seinem Inneren aufhielten, mußten darin bleiben. Unter diesen Umständen dauerte es einen ganzen Tag, bis jemand daran dachte, hier herein zu sehen. Sie wurden sofort umgeworfen, genau wie die Perwathwiy. Sie hatte eine Wand um sich herum aufgebaut, und niemand konnte hier hereinkommen, um sie abzulösen. Endlich gelang es mit einer Kombination von Ohrhörern und der eisernen Disziplin einer Notfallmannschaft, die Kontrollen zu übernehmen, sie wegzubringen und mit dem richtigen Flug zu beginnen.

Sie mußte körperlich mit großer Gewalt überwältigt werden, und nachdem dies geschafft war, brach sie ebenfalls zusammen. Drei Tage lang war sie allein geflogen, hatte sie allein eine Aufgabe bewältigt, die normalerweise vier Leute erforderte, ohne Essen, ohne Trinken. Sie tobte, war hysterisch und ziemlich verrückt. Vollkommen wahnsinnig. Ein Jahr lang lag sie da wie tot. Die Perwathwiy brauchte fast ebenso lange, um sich zu erholen. Wir kümmerten uns um das Mädchen, denn wir standen alle tief in seiner Schuld; sie hatte das Unmögliche getan. Aber wir konnten sie nicht heilen. Noch immer stand die Mauer. Nicht einmal eine Reihe von Sprechern vermochte sie zu durchbrechen. Sie war unzugänglich. Und nach einer langen Zeit, einem Jahr, kam sie heraus, von selbst, scheinbar normal, und bewies ein großes, wenngleich ungeschicktes Können beim Spiel. Dieses Können gefiel niemandem von uns. Und so brachten wir sie vorsichtig in diesen Raum zurück, mit kurzen Schritten, um sie nach und nach wieder fliegen zu lassen, mit einer Mannschaft von Älteren, die sehr sorgfältig ausgesucht worden waren. Während dieser Zeit versuchten wir auch hin und wieder durch Multisprache in ihren Verstand einzudringen, um zu sehen, ob sie tatsächlich wieder normal war. Aber sie ließ es nie zu. Tatsächlich sind manche, die es versuchten, von diesem Versuch nicht mehr zurückgekehrt.“

Morlenden schüttelte sich. „Das Mädchen war natürlich Sanjirmil …“

„Genau. Und wir taten alle falsch daran, sie wieder hier in dieses Schiff, auf diesen Platz zu lassen, denn so wurden wir alle von ihr abhängig. Dies hier ist etwas, für das man draußen, abseits vom Wege, keinen Ersatz bekommt. Nicht einmal unter Theoretikern. Und folglich hatte auch ich unrecht, denn ich ließ es geschehen. Als Maellenkleth zu uns kam, versuchte ich Sanjirmil entsprechend zu beeinflussen, in meine Richtung zu beugen, indem ich damit drohte, daß Maellenkleth zurückkehren würde. Ja, natürlich war es Sanjirmil, die sie in Gefangenschaft, in den Wahnsinn, in den Tod trieb. Ich habe sie sogar im Verdacht, daß sie nichts davon dem Zufall überließ. Das tut sie ohnehin nie.“

Fellirian sagte: „Aber damit kannst du sie doch nicht ungestraft durchkommen lassen!“

„Nicht ich bin es, der sie – wie auch immer – durchkommen läßt“, erwiderte Pellandrey. „Natürlich hat sie ihre Position gefestigt, und was den Flug betrifft, so ist sie der alleinige Meister, nicht ich. Meine privilegierte Stellung wurde sehr geschwächt. Und selbst wenn ich die Macht hätte zu tun, was du von mir verlangst, so würde ich es wahrscheinlich nicht tun, denn sie ist jetzt nicht mehr zu ersetzen. Und noch immer gibt es niemanden, der ihr überlegen ist, der ihr befehlen könnte. Sie hat eine Abwehr dagegen errichtet. Es gibt wenige, die es auch nur körperlich mit ihr aufnehmen könnten, und niemanden, der beides gleichzeitig tun und sie unschädlich machen könnte … Ihr habt nur unsere schlimmsten Befürchtungen weitestgehend bestätigt.“

„Niemand will sich seine Hände schmutzig machen, nicht wahr?“ stieß Morlenden hitzig hervor. „Dann werde ich es also tun. Ich werde jetzt dort hinuntergehen und mit ihr abrechnen!“

Pellandrey sagte: „Ich möchte wirklich gern, daß du das tust, aber du weißt nicht, was dich erwartet. Andere haben genau das getan, was du im Begriff bist zu tun. Sie sind jetzt nicht mehr unter uns, verstehst du? Du hast die bernsteinbraune Ebene gesehen. Du hast gesehen, was darüber verstreut lag. Das passiert mit jenen, die es versuchten: Sie werden in den Vorhof der Hölle geschleudert. Tief in ihrem Verstand durchlebt Sanjirmil immer wieder jene drei Tage, in denen sie allein gegen das lebendige, fortlaufende Muster des Universums stand. Und gewann. Aber der Preis war ihr Verstand, und anders als alle anderen wird sie eine Heilung nicht zulassen. Täte sie es doch, so würde sie zu ihrem alten Ich zurückkehren, und der Stolz, der sie überleben ließ, ist hierfür zu gewaltig. Glaube mir. Ich kenne diese Dinge. Ich bin Multisprachen-Meister vierzehnten Grades und wirklich sehr stark. Ich habe es versucht. Kommando-Multisprache mit dem geschicktesten Ansturm, den ich aufzubieten vermochte. Meine Anstrengungen bewirkten nur, daß ich wie ein Blatt im Wind hinausgewirbelt wurde. Und dort blieb ich für lange Zeit, so schien es mir wenigstens. Dort zog ich in der Stille eines toten Ortes dahin, an einem Ort außerhalb von Raum und Zeit, und verteidigte mich noch immer gegen einen Feind, der nicht einmal interessiert genug war zu erscheinen. Schließlich wurde mir erlaubt zurückzukehren. Danach wußte ich, woran wir waren.“

„Ich habe diesen Ort gesehen“, sagte Morlenden. „Warum könnt ihr nicht einfach die Spielkontrollen benutzen, während sie keinen Dienst hat, und ihn blockieren oder entfernen?“

„Weil er der Kontrolle des Spiels nicht untersteht, weder im Raum noch in der Zeit. Wenn man dorthin geht, kann man, wenn überhaupt, herauskommen, noch bevor man hineingeht. Oder vielleicht im gleichen Augenblick. Oder vielleicht Jahrhunderte später. Analytisch gesehen und streng genommen ist es kein im Universum gelegener Ort; es ist ein von jenem Teil ihres Verstandes, der nie schläft und niemals zu spielen aufhört, erschaffener Ort. Kurzum, ein Ort, der unter ihrer absoluten Kontrolle steht. Du hast die visuelle Bezugsmatrix in deinem Gedächtnis; gib sie ihr und hüte dich, sie anzugreifen. Ich habe dich vor den Folgen gewarnt.“

„Mir scheint, daß ihr euch in ein höchst unangenehmes Dilemma gebracht habt“, sagte Fellirian. „Des Giftes wegen, das in ihr ist, könnt ihr sie nicht behalten, und beseitigen könnt ihr sie auch nicht, weil sie die Huszan geworden ist, die Herrin des Spiels. Doch wenn ihr hierauf beharrt, so wird sie euch zweifellos in Richtungen führen, die von den ursprünglichen Zielen dieses Unternehmens wegführen. Sie wird ein Instrument des Lebens nehmen und zu einem Instrument des Todes, der Unterwerfung machen. Ich sah viel von der Vorläufer-Welt außerhalb des Reservats; ich halte nicht viel von der Art, wie sie sie führen. Aber noch weniger würde ich davon halten, wenn Sanjirmil in ihrem gegenwärtigen Zustand zur Herrscherin von allem gemacht würde.“

„Gegenwärtig bleibt sie dem ursprünglichen Programm treu. Ein Teil von ihr ist noch bei uns. Diesen Teil benutzen wir, um den Rest von ihr zu lenken. Aber dies alles hat unsere Aufgabe unermeßlich kompliziert. Zum Beispiel gibt es da die Sache der Startzeit. Als wir von den Instrumenten erfuhren und den Aktivitäten, sie zu ersetzen, wußten wir, daß wir die Dinge beschleunigen mußten.“

Morlenden warf ein: „Und sie hat mir erzählt, es bleibe keine Zeit zu warten, als ich sagte, wir hätten den Rest unseres Lebens Zeit.“

„Genau. Damals kannten wir die Ursache des Ereignisses nicht, aber unsere Reaktion auf seine Folgen war deutlich genug: Der Start mußte vorverlegt werden, sonst würde die Konfrontation hier stattfinden. Wie die Dinge nun liegen, werden wir es gerade noch rechtzeitig schaffen, und dafür haben wir einen schrecklichen Preis gezahlt …“

Er wurde durch das Geräusch der sich öffnenden Luke unterbrochen. Das schwere Schott schwang nach innen, und vier Älteste, geführt von Perwathwiy, traten über die Schwelle in das Kontrollzentrum. Pellandrey drehte sich zu ihr und sagte: „Es ist so, wie wir befürchtet haben. Ich habe ihnen gerade erzählt, daß der Starttag vorverlegt wird.“

Perwathwiy antwortete: „Ja, genau das. Wir werden alle dafür bezahlen, was wir haben geschehen lassen. Wir haben Maellenkleth einem schlechten Zweck geopfert, und das wird uns Kummer einbringen. Aber es geht weit über uns hinaus und reicht in die künftige Welt der Menschen hinein.“

Fellirian fragte: „Warum denn das?“

„Als der Plan, die Erde zu verlassen, erdacht wurde, diskutierte man auch darüber, ob wir versuchen sollten, den Menschen – gewaltsam oder langwierig, über Jahre hinweg, so daß sie schließlich meinen könnten, sie seien die Herren ihres Geschicks – einen Weg aufzuzwingen, der sie vor sich selbst retten würde … Man entschied sich für letzteres, schließlich verdanken wir ihnen unsere Existenz. Dieser Plan, der vorsah, ihre Welt unter Kontrolle zu bringen und auf eine vernünftige Stufe abzusenken, sollte ungefähr zur gleichen Zeit wie das Schiff vollendet sein. Denn einmal aktiviert, baut sich das Schiff selbst weiter auf, und für die geschätzte Bevölkerung, die wir sodann haben würden, würden wir so oder so viel Platz brauchen. Dann wären wir aufgebrochen und hätten auch unsere Schuld bezahlt gehabt.“

Fellirian sagte: „Du sagtest ‚hätten’…?“

„Genau das. Es wäre so gewesen. Es soll nun nicht sein. Wir mußten die Sache abbrechen, um das Überleben des Volkes und der von uns gehegten Werte zu sichern.“

„Aber dieser Plan müßte doch fast fertig sein!“ sagte Fellirian. „Bestimmt werden sie aus dem schon fertiggestellten Teil Nutzen ziehen!“

„Nein. Es ist nicht möglich. Es war ein holistischer Plan, der einzige, den wir anwenden konnten; sie konnten nichts davon merken, solange er nicht vollendet war. Vollkommen vollendet, der letzte Schritt vollzogen, in genauer Reihenfolge. Indem wir ihn abbrachen, so wie es nun geschehen ist, haben wir die Katastrophe nur aufgeschoben, nicht verhindert. Zuerst wird nichts falsch erscheinen. Zehn Jahre, fünfzig, hundert. Oder mehr. Aber das Gewebe wird sich aufzuwickeln beginnen, weil der Saum des Gewandes nicht fertiggestellt wurde. Zuerst nur ein wenig, dann mehr, schließlich eine ganze Menge.“

Morlenden sagte: „Das Ergebnis?“

„Zehntausend Jahre Barbarei. Jene, die uns danach in den Raum folgen werden, zu einer Zeit, in der die Zivilisation wieder auflebt, werden wenig über diese Jahre wissen, wenn überhaupt. Sie werden die Ruinen sehen, sie jedoch nicht verstehen.“

Morlenden sagte zögernd: „Srith Perwathwiy, ich bedaure die Nachricht, die ich gebracht habe.“

„Ich wußte es die ganze Zeit über … Ich und die anderen, wir wünschten nur, daß es sich als anders herausstellen würde … Jetzt bist du eingeweiht, genau wie wir. Und du bist mit keinem besseren Heilmittel gekommen als jene, die wir schon ausprobiert und die versagt haben. Und so verlasse ich euch jetzt, um die Terklarens von ihrer Schicht abzulösen. Wie ich höre, bringst du die Matrix von Mevlannen. Geh und gib sie an Sanjirmil weiter, damit wir um so schneller unterwegs sind.“ Und sie wandte sich von ihnen ab und schritt über den Sims, bis sie einen Treppengang in die Vertiefung hinab erreichte und diesen hinter sich brachte. Die anderen folgten ihr im schwachen Dämmerlicht, wie Phantome bei einem Phantomauftrag. Älteste in Überhemden, ihre Kapuzen wie die von Mönchsgewändern über die Köpfe gestreift … Mit Bewegungen, die Gewohnheit verrieten, aber auch mit einem leichten Zögern. Sie waren in einer eisernen Kette von Ereignissen gefangen und gezwungen, blindlings einer Spur zu folgen, obwohl sie eben diese Spur zu etwas Unvorstellbarem führen konnte. Verderben, nicht erkennbare Veränderung.

Sie erreichten die Sohle der Vertiefung, gesellten sich zu den Piloten an ihren Tastaturen. Da gab es keine Zeremonie, keine Kameradschaft; Perwathwiy trat an die Hauptkonsole und sprach kurz mit Sanjirmil. Während sie dann das Kopfgestell von ihr übernahm, glitt sie in die Lehn-Wiege, die ihr von Sanjirmil überlassen wurde, beide ohne überflüssige Bewegungen. Es sah leicht aus. Aber in Morlendens Gedanken war das Wissen, wie viele Jahre in diese Bewegungen eingeflossen waren.

Stehend und geduldig wartete Sanjirmil jetzt ab, den Kopf zurückgeworfen, starrte sie noch immer aufmerksam auf den kleinen aktiven Ausschnitt der Spiel-Darstellung auf der Kuppeldecke oben, dem Spielfeld, wenn man so wollte. Perwathwiy leitete vom Sessel der Meisterin aus die Übernahme der übrigen Piloten, achtete sorgfältig auf alles, während sie einer nach dem anderen die Plätze tauschten. Jeder glitt auf seinen Platz und übernahm die Bewegungen seines Vorgängers, die Augen auf die Decke gerichtet. Die Abgelösten entfernten sich von ihren Wiegen, halbblind nach den in ihnen verbrachten Stunden. Keiner sah hoch. Und als die neue Mannschaft ihre Arbeit aufgenommen, die Kontrolle innehatte, zuckten Perwathwiys knochigen, mit faltiger Haut überzogenen Hände über die Meister-Tastatur zu ihren beiden Seiten, und an der Decke über ihren Köpfen erschien die komplette Wiedergabe.

Ein gedämpftes weißes Licht durchflutete augenblicklich den gesamten Raum, und die Decke wurde lebendig, die ganze Oberfläche, bis hinunter zur Mauerkrönung an der senkrechten Wand, die an den Beobachtungssims grenzte, und die Kuppeldecke war vom flackernden, wallenden, wechselnden, endlos wiederkehrenden Muster eines komplizierten und großformatigen Spiels überzogen, das in vollem Gange war, sich jedoch so schnell bewegte, daß ihm ein ungeübtes Auge nicht länger als einen kurzen Augenblick folgen konnte. Diese Anordnung verwandte winzige Zellen des Dreiecks-Mosaiks, begrenzt von feinen, schwarzen Linien, so fein wie Spinnweben. Die Aktivität war dicht und belebt: Bewegungsströme durchflossen sie, Formen erschienen, schmolzen aus anderen zusammen, lösten sich dann wieder auf. Andere behielten ihre Existenz und ihre Position, veränderten jedoch ständig ihre Form. Für Fellirian war es ein überwältigendes Fenster zur Hölle und ins Chaos, des Ur-Chaos, das allen Erscheinungen der äußeren Welt von Bäumen und Felsen und Steinen und Wesen, Gebäuden und Macht und abstrakten Argumenten zugrunde liegt. Hier war es in graphischer, visueller Form dargestellt, so wie die Dinge waren, und für das Auge hatte dies alles überhaupt keine Bedeutung, und noch unvorstellbarer war der Gedanke, diesen mächtigen Strom über ihren Köpfen zu kontrollieren und zu beeinflussen: Es war Wahnsinn, länger als eine Sekunde lang hinzusehen.

Fellirian senkte ihren Kopf, atmete heftig, und ihr Atem kam in harten Schluchzern, die ihren Körper heftig schüttelten. Nach einer Weile sagte sie einfach: „Mein Verstand ist zu klein dafür.“

Morlenden hatte darauf gestarrt, ehrfurchtergriffen, benommen, mit vor Erstaunen offenstehendem Mund, denn nichts, was er während seiner partiellen Unterrichtung im Spiel gesehen hatte, hatte ihn hierauf vorbereitet. Schließlich senkte auch er seinen Kopf, und auf seinem Gesicht lag ein verwirrter Ausdruck.

Pellandrey sagte: „Das ist die Anordnung, von der Mevlannen gesprochen hat, Raum-drei; feine Detailarbeit innerhalb eines Planetensystems. Ich weiß, daß ihr keine Spieler seid, deshalb werde ich nicht versuchen, euch auf Himmelskörper im Sonnensystem auf dem Spielfeld hinzuweisen. Diese Darstellung des Spielfeldes ist insgesamt Teil des Schichtwechsels; die kleinere Teileinheit genügt, um das Schiff in Parkposition zu halten, aber alle acht Stunden müssen wir die größere Übersicht gewinnen, um die Dinge im Auge zu behalten.“

„Ich verstehe nicht, wie du mir in diesem Wirrwarr einen speziellen Körper zeigen könntest“, sagte Morlanden. „Es sieht alles gleich aus, überall die gleiche Dichte.“

„So sieht es immer aus. Das große Spiel, mit dem wir uns in das Universum einschalten, sieht überall gleich aus. Quelle und Abfluß und Strom; es sind verschiedene Arten, verschiedene Muster anstelle von verschiedenen Dichten, die in dem Makrokosmos, in dem du und ich und wir alle leben, bestimmen, was aus einem Objekt wird … Hier ein Planet und dort der unsichtbare Energiefluß einer fernen Galaxis.“

„Wie weit kann man mit diesen verschiedenen Darstellungssystemen sehen?“

„Es gibt keine Grenzen außer der, die wir uns selbst setzen – die endlichen Grenzen unserer selbst, der unvollendeten Kreaturen, die wir wie alle übrigen sind. Je größer die Wiedergabefläche, das Spielfeld, desto mehr kann man damit anfangen. Der kleine Ausschnitt genügt, um das Schiff festzuhalten; wir brauchen die volle Fläche, um es aus dem Planetensystem hinauszubewegen. Und natürlich gibt es Grenzen, die auch ein geübter Verstand nicht überwindet, es wird zu dicht. Raum-drei ist nur gut für etwa, sagen wir, ein Parsec. Im tiefen Raum mit Geschwindigkeiten, die ein ganzzahliges Vielfaches von c ausmachen, verwenden wir höherrangige Mosaike; Raum-vier, die mehreren Fünfer, die drei Sechser. Letztere benutzen wir für die allerfernste Betrachtung.“

Fellirian gewann die Kontrolle über sich zurück; sie schaute noch einmal zu der Deckendarstellung hinauf, dann davon fort. Die Perwathwiy in der Vertiefung, die fühlte, daß sie so viel gesehen hatten, wie sie zu dieser Zeit verstehen konnten, führte das Wiedergabeprogramm unvermittelt auf den verringerten Ausschnitt zurück, den sie anfangs gesehen hatten, als sie diesen Raum betraten. Das Licht des Kontrollraumes fiel in die vorher herrschende Düsternis zurück.

Fellirian sagte: „Und was ist mit der Zeitverzögerung? Wenn ihr in die Ferne schaut, blickt ihr dann auch in die weite Vergangenheit, wie man es mit den Teleskopen macht?“

„Nein. Das Spiel hat überall dieselbe Zeit; alles, was wir sehen, und alles, was wir geschehen sehen, geschieht im entsprechenden Moment. Das, was hier dargestellt wird, ist ein absolutes Universum, kein relativistisches; so stehen die Dinge in exakt diesem Augenblick. Egal, wie weit wir darin vorgedrungen sind.“

„Und was ist mit uns?“ sagte sie. „Was sollen wir tun, wenn Mor mit der Übertragung der Matrix auf Sanjirmil fertig ist?“

„Wir hatten alle gehofft, daß ihr euch bis zum Morgen hier im Schiff von eurer Reise ausruhen würdet. Dann haben wir eine Entscheidung zu treffen.“

„Ist die Zeit hier drinnen wirklich anders?“

„Manchmal … Aber meistens sagt man dies nur so. Bleibt heute nacht hier, morgen haben wir noch Zeit genug.“

„Haben wir das, Pellandrey?“

Er zögerte. „Zeit genug“, sagte er schwerfällig, „für das, was wir alle tun müssen, so schmerzlich es auch sein mag. Ich würde euch gern ausgeruht sehen, wenn es soweit ist.“