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Der Lehrer unterweist den Schüler, ebenso der Meister den Anfänger. Das Entscheidende bei beiden, dem Lehrer wie dem Meister, liegt darin, wieviel der Lehrende vom Schüler lernt. Weiter können wir sagen, daß dies um so offensichtlicher wird, je größer der Abstand bei einer solchen Beziehung ist, so daß der Lehrer bei einem sehr kleinen Kind beim Unterrichtsablauf tatsächlich mehr lernt als das Kind.

Die Spieltexte

 

Das Monogleis des Reservats war ihr einziges Zugeständnis an die Moderne; denn auf dem übrigen von dem Grenzzaun umgebenen Gebiet bestanden die einzigen Fortbewegungsmöglichkeiten darin, zu laufen, ein Pony zu reiten oder einen Wagen zu fahren, der entweder von Ochsen oder den großen, kräftigen Pferden gezogen wurde, die die Ler so liebten. Die Schiene erstreckte sich in einer schiefen Acht über den größten Teil des Reservats; die nördliche Schleife neigte sich deutlich in die nordwestliche Biegung hinüber, und die südliche Schleife verbreiterte sich nach Südosten zu. Es gab zwei Züge, die im Abstand von zwölf Stunden in die gleiche Richtung fuhren und von denen jeder die gesamte Strecke mehr oder weniger im Laufe eines Tages einmal umrundete.

An den Tagen, an denen Fellirian im Institut arbeitete, mußte sie fast den ganzen vorhergehenden Tag für die Anreise aufwenden und die Nacht über in der Institutsherberge, die von der Shuren-Webe betrieben wurde, verbringen. Dann, am folgenden Tag, konnte sie in die Mono steigen, um zurückzufahren. Aber während vorher die Bewegung des Zugs gegen sie gerichtet war, so daß sie ganz rundherum fahren mußte, um in den Südosten zu kommen, in dem das Institut lag, war der Rückweg im Gegenteil kurz und fast direkt, führte genau ins Zentrum des Reservats, in dem der Grundbesitz ihrer Webe lag.

Es war gewöhnlich spät, wenn sie nach einer langen Fahrt, einem langen Tag und obendrein einem langen Fußweg endlich ankam – und das alles in der feuchtkalten Jahreszeit. Aber für sie war das immer noch besser als eine weitere Nacht draußen zu verbringen. Es war gewöhnlich beinahe Mitternacht, wenn sie schließlich nach Hause kam, aber das war schon in Ordnung – gewöhnlich verwahrten sie ihr etwas vom Abendessen, und manche blieben so lange auf, um noch etwas mit ihr zu plaudern. Sie fuhr nicht so furchtbar gern durch die Gegend wie ihr innenverwandter Bruder und Mitgatte Morlenden, der die meiste Feldarbeit der Webe erledigte. Da war die Plackerei, da waren die Besuche, die Zeremonien. Aber Morlenden klagte nie, abgesehen von einigen Nörgeleien, die, wie sie alle wußten, nicht ernst gemeint waren. Ihre Arbeit am Institut war ermüdend; aber sie war ein Fenster nach draußen, eines der wenigen noch erhaltenen, dessen sie sich bewußt war. Ihre Beurteilungen dieses engen Ausblicks waren Teil der Informationen, mit denen die in direkter Linie regierende Webe, die Revens, ständig versorgt wurden. Pellandrey Reven, Innenverwandter und Klandorh … aber die Gefühle und die Gedanken, die sie begleiteten, verflogen wieder.

Beim Einsteigen in die Mono, die von der Gruzen-Webe betrieben wurde, konnte sie selbst im späten Abendlicht noch das bescheidene Denkmal sehen, das das Volk zur Aufklärung für die Besucher errichtet hatte; es wirkte beruhigend auf sie. Es war eine eingelegte Holzschnitzerei mit einem leichten Farbauftrag und sollte eine bildliche Darstellung der Hauptdoktrin sein, des Bildes, das die Ler von sich selbst hatten.

Das Flachrelief des Wahrzeichens, welches einen kreisförmigen Umriß hatte, war in Übereinstimmung mit den vier Himmelsrichtungen in vier Viertel aufgeteilt; in jedem war eine stark symbolische Figur dargestellt. Das obere Viertel zeigte einen Ler-Ältesten mit den langen, doppelten Zöpfen, die typisch für die Klasse waren; er war umgeben von blitzumsäumten Wolken am Himmel und Flammen am unteren Ende. Die Wappenfigur streckte die rechte Hand aus den Wolken heraus und zeigte in die Mitte des Wahrzeichens, während ihre linke erhobene Hand einige der Blitze hielt. Der Gesichtsausdruck wirkte streng, unparteiisch, abstrakt, gefühllos. Sie war, soweit dies die menschlichen Besucher erkennen konnten, was die Geschlechtsmerkmale betraf, absolut neutral.

Die in dem Feld zur rechten Hand dargestellte Gestalt schien eine mit viel Feingefühl und Respekt gezeichnete militärische Figur zu sein. Diese Figur wirkte eher reif denn wie ein Ältester; der einzige Haarzopf, der bis zur Mitte des Rückens herabfiel, verstärkte diesen Eindruck noch. Und während der oder die Älteste im oberen Feld in ein einfaches Pleth, ein Gebrauchsgewand, gehüllt war, war dieser oder diese hier mit einem kiltähnlichen Gewand um Hüften und Oberschenkel dargestellt, wohingegen der Oberkörper mit einer leichten ärmellosen Weste oder Jacke bedeckt war. Der Kilt oder Rock schien aus Leder zu sein, die Weste aus einem groben Gewebe oder vielleicht dem Material, aus dem Kettenpanzer gemacht sind. Auf dem Kopf saß ein leichter Lederhelm mit einem verstärkten Rand rundum. Der Krieger, wie diese Figur genannt wurde, hielt ein kurzes Schwert mit blattförmiger Klinge in der linken, dem Betrachter näher zugewandten Hand. Die Spitze wurde nach unten gehalten und zwar bewußt; sie hing nicht einfach nur herunter. Und mit der rechten Hand zeigte auch diese Figur zur Mitte des Wahrzeichens.

Auf der entgegengesetzten linken Seite schien die dort dargestellte Figur in Alter und Klasse der militärischen auf der rechten zu ähneln, aber sie war mit einem langen, fließenden Gewand bekleidet, an dem sich eine, allerdings zurückgeschlagene, Kapuze befand. Diese Figur nun war dargestellt, wie sie gerade durch ein einfaches, überwölbtes Steintor aus einem Garten heraustrat und einen Korb trug, der mit verschiedenen Obst- und Gemüsesorten gefüllt war. Sie trug den Korb in der rechten, dem Betrachter zugewandten Hand und wies mit der linken zur Mitte hin. Diese Figur deutete in dem gleichen Maße, in dem die Figur zur Rechten Männlichkeit andeutete, etwas Weibliches an. Nur ganz leicht. Man ahnte etwas, aber man war sich nicht ganz sicher.

Die Figur in dem unteren Feld des Viertels schien die bemerkenswerteste von allen zu sein: Anders als die übrigen, die auf direkte und naturalistische Weise koloriert waren, war sie fast ganz in Blautönen gemalt, genau wie die Umgebung in dem Feld. Sie: Es war das Bild eines jungen Mädchens, das in ein hauchdünnes, einfaches Gewand gekleidet war, welches fast alles von dem geschmeidigen Körper darunter verriet; und sie war dargestellt, wie sie sich sehnsüchtig nach oben streckte, mit ausgebreiteten Armen und Händen, ihr junges und hübsches Gesicht ebenfalls nach oben gewandt und von einem Ausdruck der Verzückung erfüllt. Sie war dargestellt, wie sie aus einem Teich emportauchte, um den rundherum Wasserpflanzen in verschwenderischer Fülle wuchsen …

Während sie so die Monostrecke entlangfuhr, sah Fellirian nun durch die Fenster des Wagens, in dem sie sich befand, die tiefe Nacht; und wenig mehr als das. Die Mono legte ihren Weg durch die nächtliche Landschaft des Reservats bedächtig und ohne Hast zurück. Sie blickte genauer durch die Fenster; während sie nicht viel von den Dingen erkennen konnte, die unbeleuchtet vorüberzogen, konnte sie doch die Umrisse der Baumwipfel erkennen, die sich vor dem schwachen Leuchten des Himmels abzeichneten, das immer gegenwärtig war, ganz gleich, in welchem Teil des Reservats man sich zufällig gerade aufhielt. Es gab keine Lichter innerhalb des Reservats, die dieses Leuchten hervorgerufen hätten; vielmehr waren sie überall an den Grenzen, es waren die Zeichen der industriellen Zivilisation, die es auf allen Seiten umgab. Das Leuchten war im Westen und Norden stärker, aber das Schimmern war nie unsichtbar, nicht einmal im Zentrum.

Es gab auf dem gesamten Planeten kaum eine Stelle, weder zu Lande noch zu Wasser, wo es nicht möglich gewesen wäre, in den Nachtstunden im vorhandenen Licht ein Nachrichtengramm des Öffentlichen Nachrichtendienstes zu lesen. Die menschliche Gesellschaft arbeitete in völliger Mißachtung der Ortszeit rund um die Uhr. Dem Kalender nach hatten sie immer noch die alten Wochentage, aber die Zahl der Leute, die sich tatsächlich danach richteten, war sehr klein, beinahe nicht existent. Was den Rest anging, die breite Masse von zwanzig Milliarden, so orientierte man sich nach seinem jeweiligen Schichtzyklus. Es gab vier dieser Schichten, die so miteinander verflochten waren, daß jeder innerhalb einer Schicht nacheinander an fünf Abenden arbeitete, einen Abend frei hatte, fünf Nächte arbeitete, eine Nacht frei hatte und schließlich fünf Tage arbeitete, auf die dann fünf freie Tage folgten. Vier Schichten, von denen jede auf ihre Art charakteristisch war.

Fellirian meditierte weiter, entspannte sich, ließ die Gedanken treiben, wohin sie wollten. Schichtarbeitergesellschaft nannten sie das; ihr Symbol war ein Würfel mit einem starren braunen Auge auf jeder seiner sichtbaren Flächen. Fellirian fand es eigenartig, unnötig. Sie brauchten nicht den ganzen Planeten auf Schichtarbeit umzustellen, um gegen irgendwelche Angreifer gewappnet zu sein, nicht aus Produktionsgründen jedenfalls, denn es kostete genausoviel, einen Vierundzwanzig-Stunden-Betrieb in Gang zu halten, wie sie dadurch gewannen. Aber sie glaubten zu wissen, warum sie das taten. Es schien zwei Hauptgründe dafür zu geben: Der eine war der, daß man durch Schichten den Raum rationeller nützen und sich vor den Panikausbrüchen absichern konnte, die die Überbevölkerung mit sich brachte. Außerdem hatten dadurch die Millionen, die durch willkürliche Veränderungen arbeitslos geworden waren, etwas zu tun, solange sie umgeschult wurden.

Wie die Arbeit des Menschen ständig bruchstückhafter und bedeutungsloser geworden war, so hatten sich die Unternehmen immer mehr ineinander verzahnt und waren immer mehr ins Privatleben eingedrungen. Die Nationen waren eine nach der anderen zusammengewachsen; die Regierungen beschützten nicht ihre Leute, sondern sich selbst. Ein paar Radikale hofften und kämpften für den Tag, an dem die Leute aufwachen würden. Aber wenn sie je aufgewacht waren, so war dies unbemerkt geblieben; die bewußt getroffenen Entscheidungen bedeuteten keine Verbesserungen gegenüber denen, die man im Halbschlaf traf. Natürlich hatte es ganz am Ende der alten Zeit, der Vorschichtszeit, Reibereien, Spannungen, Schlichtungen gegeben. Das waren die Tage der Verhaltenspatrouillen gewesen, Freiwilliger, die nicht Taten überwachten, sondern so Unangreifbares wie Gefühle und Motivationen. Am Ende der ersten Bevölkerungskrise war die Schichtarbeitergesellschaft siegreich aus allem hervorgegangen. Und so wurden öffentliche Gebäude danach zu Mehrzweckgebäuden, wurden ganztägig benutzt, das ganze Jahr über, jeden Tag. Es gab keinen brachliegenden Raum mehr. Jeder Quadratmeter, der nicht der Arbeit diente, beherbergte die winzigen Unterkünfte, die allen zugeteilt wurden. Alles übrige war entweder der Energieerzeugung oder der Landwirtschaft gewidmet.

Aber sie vergaßen entweder willentlich, absichtlich oder zufällig, daß die Gebäude einmal dafür gemacht worden waren, den Menschen zu dienen, auf wie perverse Art auch immer sie zweckentfremdet worden sein mochten, wie selten auch immer sie diesen Zwecken nun dienten. Je logischer und vernünftiger die Art war, in der das Leben geführt wurde, um so unlogischer und verwirrender wurde es; es gab jetzt Leute, die bis an die Grenzen der Aufnahmefähigkeit die Gebäude füllten, gerade wie es Kunden in einer Schlange gab, nur damit der gelangweilte Verkäufer etwas zu tun hatte. Einst waren die Gebäude anregend gewesen; jetzt waren es nur noch vier Wände und ein Dach, waren sie funktionell und wiederverwendbar. Jedes überdauerte im Durchschnitt weniger als die Lebenszeit eines Menschen. Wie mit den Gebäuden, so war es auch mit allem anderen. Wenn ein Viertel der Erdbevölkerung in einer bestimmten Minute arbeitete, so schaute gleichzeitig fast ein zweites Viertel gerade zu tief ins Glas, voll wie Strandhaubitzen. Und wenn es keine Armeen mehr gab, so gab es an ihrer Stelle sehr viele Polizisten, so daß die tatsächliche Anzahl der Bewaffneten prozentmäßig größer war als vorher in den schlimmsten Zeiten des Weltkrieges.

Über den Schichtarbeitern standen die Angehörigen der Hierarchie, von denen die meisten ständig in der Tagesschicht eingesetzt waren, obwohl gewisse andere ihres Ranges andere, genau festgelegte Schichten absolvierten: nachts, abends. Sie setzten sich aus den aufstrebenden Schichtarbeitern zusammen, die bereits ihre Treue bewiesen hatten. Wenige von ihnen hatten keinen programmierten Namen, und noch seltener waren irgendwelche erkennbaren Familienbindungen. Die Organisation war alles.

Sie nannten dieses System Zivilisation und betrachteten es als das beste unter allen möglichen Blickwinkeln; in Anbetracht des Chaos, das es offensichtlich in Schach hielt, war es vielleicht tatsächlich ein ausgezeichneter Kompromiß. Aber für Fellirian war es nichts als tiefste Primitivität. Und die alten Naturtriebe, die unkontrollierten Ängste der Vergangenheit, waren durchaus nicht getilgt, sondern mit einem neuen Sortiment an Farben lediglich übertüncht worden. Überall waren Belastungen und Spannungen, die langsam und heimtückisch wuchsen, mit jedem Tag, jedem Monat, jedem Jahr. Dem mit halsbrecherischer Geschwindigkeit fortschreitenden menschlichen Bevölkerungswachstum war langsam ein qualvoller Einhalt geboten worden, aber der Preis war der totale Verlust alles anderen gewesen. Und das Traurige lag für sie darin, daß die Leute von heute kein besseres Leben kannten, kein Leben in der Wildnis, keine Freiheit, keine offene, sich selbst kontrollierende Ökologie; sie hielten die Ler für kurios und exzentrisch, unpraktisch und abergläubisch …

Der verdunkelte Wagen fuhr weiter durch die Nacht. Sie fühlte endlich, wie nach einem vollen Arbeitstag, an dem sie auf den Beinen gewesen war, an dem sie sich darauf hatte konzentrieren müssen, eine Frage nach der anderen aufzufangen, wie die Anspannung nachließ. Die Bewegung lullte sie ein, und sie fühlte sich zuerst entspannt, dann schläfrig. Sie begann immer wieder, in einen leichten Halbschlaf zu verfallen; es waren noch andere bei ihr im Abteil, die weiter weg saßen, ganz am anderen Ende, und sie schienen völlig in ihre eigenen Angelegenheiten vertieft zu sein oder dösten vielleicht auch nur vor sich hin … sie glaubte, eine der sitzenden Gestalten aufstehen zu sehen, mit surrealistischer Langsamkeit, wie unter Wasser, oder es hätte auch ein Traum sein können, ein Wachtraum. Sie spürte, wie sie einnickte und wie ihre Lider schwer wurden. Setzte sich nicht jetzt jemand auf den Platz neben sie?

„Fellirian?“

Sie wurde sofort wach, und der Nebel verschwand aus ihrem Kopf. Sie drehte sich nach links um und sah die Person an, die sich zu ihr gesetzt hatte. Die Stimme war männlich gewesen, aber die Person trug eine Kapuze. Sie fand dies merkwürdig, denn in dem Abteil war es nicht kalt. Ja, in dem Abteil war es sogar fast zu warm. „Ja“, sagte sie. „Ich bin Fellirian Deren. Und wer ist der, der im überheizten Monoabteil aus einer Pleth-Kapuze heraus zu mir spricht?“

Die tiefe Stimme im Inneren der Kapuze sagte fast unhörbar: „Einer, den du einst gut kanntest.“

Sie beugte sich vor, um in die Kapuze hineinzuspähen, erhaschte einen kurzen Blick auf ein Gesicht, das sie in der Tat gut kannte.

Gut gekannt hatte. Es war einige Zeit her, seit sie miteinander gesprochen hatten. Ihr Mund begann die Silben eines Namens zu formen, aber da legte sich ein Finger über ihren Mund. In der Kapuze war Bewegung, eine Verneinung.

Er beugte sich näher zu ihr und sagte: „Und so war es damals, geradeso wie heute. Um der Liebe willen, die ich für dich und dein Haus gefühlt habe, bin ich hierhergekommen, um dich zu warnen.“

Sie schüttelte ihren Kopf, als würde sie ihm nicht glauben. Er bemerkte es und fuhr fort: „Einer wird zu deinem yos kommen, und er wird um einen Dienst bitten, den ihm nur dein Haus erweisen kann. Du darfst diesen Dienst weder verzögern noch verweigern. Handle wie du willst, aber laß zwischen uns jetzt keinen Zweifel bestehen.“

Sie antwortete, ohne zu zögern: „Es wird sein, wie du gesagt hast. Aber …“

„Stelle keine Fragen. Sie werden mit der Zeit beantwortet werden. Und du wirst nicht alle Antworten befriedigend finden. Ja, sie werden dich sogar zutiefst beunruhigen. Ich wollte nicht, daß es so käme, aber die Ereignisse drängen, und sie gehören zu einer der Mächte. Das Luft-Element liegt schwer auf uns, und nur der Wille wirkt ihm entgegen. Aber hiermit rate ich dir auch, künftig bei allen Dingen, die dich selbst betreffen, vorsichtig zu sein, und ganz besonders bei dem, was du für diese Aufgabe tun wirst, denn es wird Gefahr geben. Aus diesen Gründen trage ich eine Kapuze und bitte dich, meinen Namen nicht laut auszusprechen. Die Mono ist nicht der Ort für ein solches Gespräch; ich habe schon viel gewagt, indem ich so weit hierherkam.“

„Du hättest mich auch woanders treffen können.“

„Nicht so leicht, wie du denkst. Ich werde beobachtet. Auch du, wenn auch noch nicht so sehr. Aber hast du nicht das Gefühl, daß sich im Institut etwas geändert hat, daß sich die Gewichte verschoben haben?“

„Ja. Ja, das hatte ich dieses Mal. Ich fühlte mich irgendwie gestört, aber es war kein sichtbarer Grund dafür zu erkennen. Was ist es?“

„Die Zeiten ändern sich ständig. Es ist nichts, worauf man seinen Finger legen könnte; nur der Grad der Geschicklichkeit, mit der die Reiter auf der Welle der Gegenwart reiten, ist unterschiedlich. Wir begeben uns jetzt in andere Gewässer, und die Wellen ändern sich.

Ein Zufall, vielleicht größere Arglist, als wir vorhersahen, und vielleicht noch etwas mehr – diese Dinge haben einen Sturm zu einer kritischen Zeit hervorgerufen, zu der wir ihn nicht gebrauchen können. Und jetzt kommen Fragen auf, werden Sensoren aktiv, alte Gedanken noch einmal gedacht.“ Er machte eine Bewegung nach draußen, zu dem jenseits der Baumgipfel sichtbaren himmlischen Leuchten hin. „Siehst du, sie regen sich wieder. Etwas Schlimmes ist geschehen. Es wird sicher nicht wieder so werden, wie es war, aber wir können soviel in Erfahrung bringen, wie notwendig ist, um zu erkennen, wieviel uns widerfahren ist.“

„Was ist geschehen?“

„Ich will nicht davon sprechen; wenn ich erzähle, was ich weiß, und hinzufüge, was ich vermute, so beschreibe ich etwas, wovon hier nicht offen gesprochen werden soll, selbst nicht zwischen Leuten wie dir und mir. Nicht einmal Andeutungen will ich machen; du weißt jetzt gar nichts: Du wirst die Dinge nach und nach entwirren müssen. Ich will keine vorgefaßten Meinungen. Aber du mußt tun, um was du gebeten wirst, und du mußt vorsichtig sein.“ Die letzten Worte waren so stark betont, daß sie fast wie ein Zischen herauskamen. Fellirian zog sich zurück.

Sie zögerte und sagte dann: „Du sprichst in Rätseln.“

„Ich spreche im Moment nur so wie ich kann. Ich fürchte, daß du am Ende wissen wirst, warum ich das tue. Ich hätte dir diese Last gern erspart.“ Die von der Kapuze verhüllte Gestalt beugte sich nun, so als sähe sie von ihr weg, zum vorderen Teil des Wagens hin. „Deine Haltestelle kommt bald; was meinst du zu alledem?“

„Es wird sein, wie du gesagt hast. Wir werden alles tun, wir Derens. Ich frage mich nur, warum es solche Eile gab.“

„Weil der, der euch fragen wird, sich entweder jetzt, da wir miteinander sprechen, eurem yos nähert oder schon dort ist.“ Mit einem halbunterdrückten Lachen, das deutlich auf einen Witz, den nur er selbst kannte, hinwies, fügte er hinzu: „Ich kam, um meinen Einfluß geltend zu machen und mich deiner Antwort zu versichern.“

Fellirian blickte nach vorn und sah flüchtig vertraute Orientierungspunkte vorüberziehen. Sie merkte, wie der Mono die Geschwindigkeit zum Halten heruntersetzte. Sie stand auf, und die verhüllte Gestalt machte Platz, damit sie in den Mittelgang treten konnte. Sie wandte sich ihm zu und sagte: „So wird es also sein, wie du es erbeten hast. Ich wünschte nur, daß wir uns offener hätten treffen können. Wir trennten uns so.“

„Wir werden uns wiedersehen, denke ich. Und wer weiß schon, was die Zukunft bringt? Aber ganz gleich, wie die Vergangenheit war, wir wissen, daß sie heute nur schemenhaft in unserem Geist ist. Angenehm war sie zwar, aber sie soll sich nicht wiederholen. Wir haben andere Leben gelebt. Und schwere Entscheidungen liegen vor mir. Vor dir. Ich will dich damit jetzt nicht beunruhigen; wenn die Zeit reif ist, wirst du sie mit unschuldigem Herzen leichter treffen.“

Der Mono hielt leidlich sanft, aber abrupt genug an, um Fellirian leicht ins Schwanken zu bringen. „Und hier ist deine Haltestelle“, sagte er.

„Du wirst den langen Weg mit mir gehen?“

„Ich kann nicht. Da sind noch andere, die ich an diesem Abend an dieser Strecke aufsuchen muß, und zwar im Norden, wo mein yos liegt.“

Die Wagentüren öffneten sich. Draußen war es so still, daß man das Tropfen des Regenwassers hören konnte. Fellirian sagte ruhig: „Ich habe die Tradition des vayyon bewahrt.“

„So auch ich. Aber mit der Zeit müssen vielleicht alle Geheimnisse über Bord. Aber denk nicht an die Vergangenheit und bereite dich auf eine kämpferische Zukunft vor.“

Sie nickte. „Genauso … es war schön, dich wiederzusehen.“

„Dich auch. Ich vergesse nichts. Und möge es deinem Toorh ebenso ergehen wie dir.“

„Und deinem auch.“ Sie drehte sich um, um aus dem Wagen auszusteigen.

Die Türen gingen auf, und Fellirian konzentrierte sich auf das unmittelbare Jetzt, in dem sie sich befand. Ihr Gedächtnis hatte sie verwirrt, sie aufgestört, verstärkt durch die Stimme des Mannes, der gesprochen hatte. Sie trat aus dem Wagen nach unten in die feuchte Kälte hinaus. Es war jetzt nebelig; der Regen hatte aufgehört, wenn auch erst vor kurzem, denn alles tropfte noch. Es war beinahe laut nach der gedämpften Stille des Abteils, ihre Aufmerksamkeit konzentrierte sich zielstrebig. Es war ein erhöhter Bahnsteig aus Holz, mit Schindeln gedeckt, bezaubernd schlicht. Zu ihrer Linken war die Hütte für die Wartenden, die zum Bahngleis hin offen war; ein verwittertes und fleckiges Schild offenbarte den Namen der Haltestelle: Wolgurdur hieß es in den klaren Lettern des Alphabets der Single-Sprache. Feuersteinberghaltestelle. Die kalte Luft berührte sie, und sie fröstelte und paßte sich neu an nach der Wärme des Abteils. Dann tat sie einen tiefen Atemzug, der ihr den Kopf freimachte, und ging langsam in die Richtung der Treppe, die sich zum Waldboden hinunterwand.

Am oberen Absatz der Treppe wandte sie sich um, weil sie sehen wollte, ob sie noch in das Innere des Abteils hineinsehen konnte. Die Tür war offen, und innen befand sich noch die gleiche Gestalt, das Gesicht verborgen im Schatten der Kapuze. Sie erhob die Stimme und rief ihm in einer klaren, aber immer noch ruhigen Stimme zu: „Keine Angst! Ich werde es für dich tun!“

Die Gestalt erwiderte: „Nein, nicht für mich, sondern für uns alle. Du wirst sehen.“ Dann sah er nach links in die Hütte hinein und wieder auf sie. „Wartet da jemand in der Hütte?“

Fellirian drehte sich um. Sie konnte nicht um die Ecke sehen, darum ging sie bis zur Ecke der Hütte und blickte hinein. Allerdings, da war jemand, der sich gegen die nächtliche Feuchtigkeit warm eingemummt hatte, sich zusammengekauert hatte, anscheinend schlief. Fellirian schüttelte den Kopf und lachte in sich hinein. Hier hatte sie es wohl mit einem nächtlichen Wanderer zu tun, der den ganzen weiten Weg bis Feuersteinberg gekommen war, um auf die Mono zu warten, und dann, müde von der Anstrengung, in der Ecke ein Nickerchen gemacht hatte – und der jetzt weder durch die Ankunft des Zuges noch durch ihr Gespräch quer über den Bahnsteig hinweg wach geworden war. Die Mono wartete. Fellirian ging näher heran und schüttelte den Reisenden, der sich wie ein Heranreifender anfühlte, an der Schulter. Die Person erwachte und blickte mit der Ausdruckslosigkeit desjenigen auf, der plötzlich geweckt wird, und schlug die Kapuze ihres Umhangs zurück.

Fellirian lächelte und lachte dann laut heraus. Dann sagte sie halb zu sich selbst: „Nun, nun, nun! Wen sonst sollte ich schon in der Wartehütte der Monostation treffen, wenn nicht meine eigene Nerh, mein Peth-Kind.“ Sie wandte sich um und winkte, daß der Zug abfahren solle, und wandte sich dann wieder Pethmirvin zu. „Was, um alles in der Welt, machst du hier mitten in der Nacht?“

Während sich Pethmirvin wieder sammelte, setzte sich die Mono in Bewegung. Der Wagen, in dem Fellirian gereist war, fuhr vorbei, wurde langsam schneller. Einen Augenblick später war er verschwunden. Pethmirvin, das älteste außenverwandte Kind der Derens, Fellirians Erstgeborene und ihr heimlicher Liebling, blickte ausdruckslos einen langen Augenblick zu ihrer Vormutter hinauf und dann wieder weg, indem sie die Augen abwandte, zutiefst verlegen darüber, dabei erwischt worden zu sein, wie sie so in dem Schuppen geschlummert hatte. Sie mochte wohl Fellirians Kind und besonderer Liebling sein, aber das Mädchen ähnelte weder ihrer Mutter noch ihrem Vorvater, Morlenden. Peth war von anderer Klasse. Sie war schlank, dünn wie Schilfrohr, ungelenk, gehemmt. Ihr Haar war ein blasses, verwaschenes Hellbraun. Für eine Ler war sie schon groß und von sehr heller Hautfarbe. Aber im Sommer erblühte ihr Haar zu warmem, sattem Gold, und ihre Haut nahm den Ton leicht gebräunten Toasts an. In ihrem Gesicht war etwas, das schwach an Fellirian erinnerte, etwas in den großen, ausdrucksvollen Augen und dem breiten, üppigen Mund; doch da war auch eine Lebendigkeit, etwas, das an Morlenden erinnerte: das lange Gesicht mit seiner angedeuteten Knochigkeit, das ausgeprägte Kinn. Pethmirvin war unbeständig wie Quecksilber: hübsch in dem einen Moment, hausbacken im nächsten.

Das Mädchen versuchte zu sprechen, aber da es noch nicht ganz wach war, kamen die Worte alle wieder herausgepurzelt wie ein schlecht verschnürtes Paket, das plötzlich aufgeht und dann vollkommen auseinanderfällt. Aber irgendwie brachte es alles heraus. „Madheliya, hier. Ich sollte dich hier abholen. Sollte dich hier abholen. Hier bin ich. Wann bist du angekommen?“

„Gerade erst, du kleine Schlafmütze.“

„Ach, das tut mir leid, wirklich.“

Fellirian faßte in die Kapuze und zauste das Mädchen sanft an den Haaren. „Das braucht dir nicht leid zu tun, Peth. Wenn du dir auch bestimmt komisch vorgekommen wärst, wenn du mich verpaßt und die ganze Nacht hier gewartet hättest.“ Fellirian lachte herzlich. „Aber warum hast du denn den ganzen Weg hierher unternommen, und obendrein in dieser Kälte? Um mich nach Hause zu holen? Es ist nicht so, daß ich den Weg nicht wüßte. Und ich habe auch keine Angst im Dunkeln. Und, da mir die Zeit etwas übel mitgespielt hat, habe ich auch keine Liebhaber, die ich unterwegs treffen könnte.“

Pethmirvin stand ein wenig steif auf und streckte sich fröstelnd in der feuchten Nachluft, obwohl sie recht warm angezogen war, als sei sie schon eine ganze Weile draußen gewesen und wisse, daß sie auch draußen bleiben würde. Wenn sie sich streckte, war sie größer als Fellirian.

Fellirian beobachtete sie und dachte bei sich: Fünfzehn, und schon ist sie größer als ich. Auch hübscher, jedenfalls auf ihre Weise. Und dem Schicksal der Außengeborenen ausgeliefert. Ich mache mir Sorgen um das arme Ding; sie hat nicht das Naturell dazu.

Pethmirvin fuhr fort: „Kadh’olede{12} müßte jetzt im yos sein; er war noch nicht wieder da, als ich wegging, aber er wurde jeden Moment erwartet. Einer von den Morens hatte ihn in einer Kneipe bei der alten Hvar-Fähre gesehen. Sie haben mich hergeschickt, um dir zu sagen, daß du dich beeilen und nicht unterwegs bei den Morens Tee trinken oder Berlargir und Darbendrath{13} besuchen sollst, weil wir Gäste haben, wichtige Gäste, und sie werden nicht sprechen, bevor nicht alle Derens der Elternphase anwesend sind.“

Fellirian hatte nur halb zugehört. Morlenden in einer Kneipe! Natürlich hatten sie ihn in einer Kneipe gesehen! Solche Geschichten bekam sie nun schon seit Jahren erzählt. Aber die Worte über die wichtigen Gäste weckten wieder ihre volle Aufmerksamkeit, da sie sich wieder daran erinnerte, was jener eine in der Mono gesagt hatte. Sie unterbrach Pethmirvin: „Kel’ka Arnef? Wer denn?“

Pethmirvin antwortete: „Eine Älteste, die Perwathwiy Srith in Begleitung einer didh-Srith, ein bißchen älter als ich. Sanjirmil Srith Terklaren.“

Fellirian lehnte sich zurück. „Die Perwathwiy, tatsächlich! In unserem yos. Ich möchte wissen, was sie zu uns geführt hat.“

„Madheliya, weder sie noch Sanjirmil wollten darüber reden. Und du weißt, wie die Ältesten sind; wollen keinen Fuß ins yos setzen. Aber diese Sanjirmil wohl. Kam einfach herein und hat sich an meinem Abendessen bedient, jawohl.“

„Peth, du weißt, wie sich der gute Gastgeber verhält. Wir müssen mit dem Fremden teilen, was wir haben. Sanjirmil erwartet, daß sie etwas zum Abendessen bekommt. Und was die Perwathwiy angeht, so erwarte ich von ihr die ganze Härte der Selbstdisziplin.“

„Kennst du sie?“

„Nur dem Namen nach. Nicht persönlich. Sie war selbst eine Terklaren, einst die erstgeborene Innenverwandte und Klandormath … vor vielen Jahren natürlich; sie ist die Vormutter von Sanjirmils Vormutter. Wenn jede gleich einem Tag ist, dann ist diese gleich perh meth sen-dis{14} Jahren.“

„Ja, das ist sie. Sie ist vollkommen grau. Sie hat draußen im Regen gestanden, bis Kaldherman hinausging und die Hütte öffnete.“ Pethmirvin kicherte. „Er sagte – so, daß Sanjirmil es nicht hören konnte –, daß die alte Tante von ihm aus ruhig die ganze Nacht im Regen stehenbleiben könne, wenn sie schon nicht hereinkommen wolle.“

„Pethmirvin Srith Deren!“

„Das hat er gesagt, Madheliya, nicht ich! Aber Cannialin hat ihm gesagt, daß die alte Frau einen Fluch auf ihn legen würde, wenn er ihr nicht irgendeinen Schutz anböte. Und daß sie, Cannialin, ihr wahrscheinlich noch dabei helfen würde.“

„Peth, du weißt, daß ein Ältester kein yos betreten darf; das gehört zu den Grundlegenden Schiedssprüchen. Wenn die innenverwandten Kinder die förmliche Verwebung und die Initiation hinter sich haben, dann verläßt man das yos für immer. Nicht nur den eigenen, sondern den von jedermann!“

„Ich weiß. Aber viele tun es doch, ganz heimlich. Und außerdem war es kalt und regnerisch.“

„Vollkommen gleichgültig. Sie würde trotzdem dort stehen. Aber erfreulich, was Ayali betrifft. So, mein verschlafenes kleines Mädchen; dann komm. Wenn wir hier im Monohaus stehenbleiben und die Nacht verschwatzen, kommen wir bestimmt nicht nach Hause.“ Fellirian legte ihren Arm um die schmalen Schultern des jüngeren Mädchens und drückte sie kurz an sich; und so gingen sie dann zusammen die ausgetretene, ungestrichene Treppe hinunter, die naß war von dem Regen, der aufgehört hatte. Sie sagten nichts mehr, sondern machten sich unter den kahlen, tropfenden Bäumen direkt auf den Weg nach Norden, der in die Hauptprovinzen führte. Als sie so den Heimweg antraten, dachte Fellirian darüber nach, daß sie unter den meisten Umständen ärgerlich geworden wäre, hätte sie Peth noch so spät in der Nacht draußen angetroffen; in dieser Nacht jedoch fühlte sie sich durch die Gegenwart des Mädchens beruhigt. Vielleicht war es nur die Kälte und die Feuchtigkeit.

Oder es waren, wahrscheinlicher, unangenehme Vorahnungen, die durch die dunkle Antwort, die sie in der Mono erhalten hatte, verstärkt worden waren. Es konnte gar kein Zweifel bestehen: Die Zukunft war verwirrend und ungewiß geworden, und es war beträchtlich leichter, solch einer ungewissen Zukunft ins Gesicht zu sehen, wenn die Zukunft eine Zeitlang neben einem herging.

Und ihre Gedanken verharrten. Dann ist also die Perwathwiy Srith die, von der er sprach; sie will uns also um etwas bitten. Perwathwiy und die Toorh ihrer eigenen Toorh, Sanjirmil. Ihr Verstand lief auf Hochtouren, suchte nach Einzelheiten: Perwathwiy war Hetman der Libellenhütte, jener Ältestenkommune, die für die Spielerweben reserviert war. Und Sanjirmil? Fellirian kannte das Mädchen nicht direkt. Sie erinnerte sich an Bilder aus Webfamilienbüchern und Urkunden, an Geburten, Sterbefälle, Webzeremonien. Da: Endlich hatte sie es. Sanjirmil Srith Terklaren. Älteste Toorh und künftige Klandorh der zweiten Spielerwebe. Alter: eins und zweimal vierzehn, beinahe reif. Gab es da irgendeine Verbindung? Und gab es irgendeine Verbindung zu den Ereignissen im Institut? Sie konnte keine erkennen. Aber das war nicht gerade ein Trost, denn sie konnte keinen Grund dafür sehen, warum die Perwathwiy zu ihrem yos kommen sollte, und weshalb das, worum sie bitten würde, schon im voraus gewährt werden sollte. Fellirian fröstelte, und dies nicht nur wegen der Kälte.

Der Pfad wurde bald enger, als sie aus dem Tal herausstiegen, durch das die Mono fuhr; wäre es trocken gewesen, wäre er für beide breit genug gewesen, um nebeneinander herzugehen, aber bei dem Regen war der ausgetretene Pfad an den Rändern zu rutschig, so daß sie schweigend, mit Pethmirvin und ihren langbeinigen Schritten als Anführerin, im Gänsemarsch gingen. Anscheinend nahm das Mädchen ihren Auftrag ernst, denn sie vergeudete keine Zeit und schlug ein gleichmäßiges Tempo an. Fellirian, die gewöhnt war, viele Meilen zu wandern, stellte fest, daß sie beim Gehen außer Atem geriet.

Der Pfad schlängelte sich sanft nach oben, hier und da mäandergleich folgte er Wegen durch den alten Wald, die lange vor Fellirian angelegt worden waren; ja, selbst bevor sich die Ler zusammengetan und hierhergezogen waren. Wildpfade, die Pfade von Menschen, die hier vor langer Zeit gelebt hatten, Spuren alter Holzfällerwege. Ihr Pfad kreuzte andere, manche breiter, manche genauso breit, andere kaum sichtbar, bloße plattgetretene Stellen, die sich zu beiden Seiten verliefen. Der Pfad, dem sie folgten, führte nördlich von der Monostrecke weg in das Herz des Reservats hinein, zum Wolguron, zu den Feuersteinbergen. Der Name war eine Fehlbezeichnung, denn die Kette bestand aus niedrigen Hügeln von keiner sonderlichen Höhe, die sich in keiner Weise auszeichneten, wenn man einmal davon absah, daß sie höher und steiler waren als das weite Land, das sie umgab. Aber es war eine alte Bergkette, und sie war einst hoch und prächtig gewesen, wenn sie auch keiner je so gesehen hatte; nun war sie das zernagte, zermürbte, verrunzelte Überbleibsel der vor Äonen entstandenen Falten und Knitter, als zwei große Kontinente zusammenstießen, Nordamerika und Afrika. Es war oft an ihr genagt worden. Manche sagten, daß die Bergkette nie hoch und groß gewesen sei; aber für die Ler, die jetzt in ihrem Schatten lebten, war das kein großes Problem. Die Feuersteinberge blieben. Sie dauerten an.

Der Regen hatte aufgehört, aber unter den vielen kahlen Novemberästen tropfte noch immer das eisige Wasser, und die Bäche und Flüsse waren eifrig mit dem jüngst gefallenen Wasser beschäftigt. Die Nacht war erfüllt von den Geräuschen des Wassers, dem Tröpfeln, Glucksen, den brausenden, verschwommenen Geräuschen tiefer in den Wäldern. Es hörte sich angenehm an und verdrängte die fernen Geräusche, die zu hören waren, wenn die Wälder schwiegen: das gedämpfte Dröhnen der Zivilisation jenseits der Lichter. Sie stellten fest, während sie so gingen, daß sie den Weg selbst bei der wolkenverhangenen Dunkelheit und der Schwäche des Ler-Auges bei Nacht{15} gut genug sehen konnten, und zwar gerade wegen dieses himmlischen Leuchtens. Aber sie besaßen noch etwas anderes, denn für den, der seinen Augen Zeit läßt, sich an sie zu gewöhnen, ist die Nacht nie völlig schwarz.

Von Zeit zu Zeit merkten sie, daß sie entweder nahe an einem einsamen, tief in den Bäumen gelegenen yos oder an einer kleinen Ältestengemeinde vorbeikamen. Sie beide kannten den Weg nur zu gut, ein großer Teil dieser Wegkenntnis war das, was sie als ungebetene Erinnerung bezeichneten. Aber es gab noch andere Anzeichen: geräuchertes Holz, die Gerüche von gefälltem Holz; der Geruch eines Bauernhofs, von Ställen, Misthaufen. Jemand wohnte in der Nähe. In dieser Gegend gab es wenige Ältestengemeinden, und von denen, die es hier gab, waren alle klein, kaum größer als Familienwebgruppen. Die Mitglieder solcher Gemeinden fühlten sich mehr wie eine Webe als wie eine Kommune, in der die Identität der einzelnen Webmitglieder rasch unterging. Ja, Fellirians eigener Vorvater und die eigene Vormutter lebten in einer solchen Gemeinde; sie sah sie jetzt selten, versuchte aber, von Zeit zu Zeit auf dem Rückweg vom Institut bei ihnen vorbeizuschauen. Von diesen Besuchen, die sich durch Fellirians gesprächigen Vorvater Berlargir bis zum frühen Morgen ausdehnten, kam der Satz „Berlargir besuchen gehen“, was bedeutete, daß man für eine unbestimmte Zeit fort sein würde.

Der Pfad führte nahe an einer der Ältestengemeinden vorbei, allerdings nicht der Gemeinde der früheren Derens, nahe genug, daß sie den Hof hätten sehen können, wäre es Tag gewesen. An diesem Abend konnten sie die tiefer unten in einer Senke gelegenen Gebäude nicht erkennen, aber vor dem Eingang konnten sie das geisterhafte Blau einer Öllampe flackern sehen, einer kleinen, von innen durch eine einzige winzige Kerze erleuchteten Papierlampe. Es war das Zeichen der Trauer für die Toten.

Sie kamen an keiner anderen Behausung mehr vorbei. Die Ler bauten ihre Wohnungen, in welcher Phase sie auch standen, nicht in der Nähe von Pfaden oder Straßen, sondern immer am Ende von Pfaden, die in einer Sackgasse und bei fließendem Wasser endeten. So war es Brauch, genauso wie es auch immer nur einen Eingang in ein yos gab. Sie sahen keine weiteren Lichter. Es war spät, nahe Mitternacht, und alle Leute, die an diesem Bach lebten, an Thendirmons Flüßchen, waren längst in den Schlaf gesunken. Die Ler gingen früh zu Bett.

„Eine regnerische Nacht“, pflegten sie zu sagen, „da läßt es sich gut unter dem runden Dach schlafen und träumen, wenn die Regentropfen von den Zweigen herunterfallen.“ Und im Herbst fielen auch die Eicheln, die ein plötzlicher Windstoß losgerissen hatte, und es klang hohl, wenn sie aufprallten. Fellirian ertappte sich bei diesen Gedanken, während sie und ihre nerhsrith still wie die Geister durch die dunklen, feuchten Wälder gingen. Und wenn sie schließlich angekommen wären? In den Raum mit dem Kamin eintreten, essen und sich ein wenig unterhalten, und dann in den gemeinschaftlichen Schlafraum, wo man seine Kleider auszog und seinen kalten, müden Leib unter eine warme, daunengefüllte Steppdecke schmiegte, nahe bei jemand anderem und der Art Wärme, die nur ein Körper geben kann, den man lange und gut kennt. Ja. Sie erinnerte sich: Damals, als sie alle in ihrer fruchtbaren Periode gestanden hatten, für sie selbst und für Morlenden war es die zweite gewesen, für Cannialin und Kaldherman die erste, und als sie sich mit ihren beiden neuen Mitgatten gepaart hatten; in der Nacht hatten sie einen dünnen, bedruckten Vorhang in die Mitte ihrer gemeinsamen Schlafkoje gehängt und diese dadurch aufgeteilt. Nicht aus Prüderie, nicht aus Eifersucht, sondern aus Höflichkeit und um der ungestörten Ruhe willen. Eine seltene Ruhe. Sie alle hatten sich ganz selbstverständlich während der Reifezeit aktiv sexuell betätigt und kaum etwas voreinander verborgen. Aber so wollte man es ja auch. In der Fruchtbarkeitsperiode war es anders; zwanghaft, triebhaft, fast eine Art verzweifelten Wahnsinns. Die Heftigkeit des Begehrens war etwas völlig anderes. Dann wollte man Abgeschiedenheit, Einsamkeit. Es war, als ob Kinder, die Krieg gespielt haben, sich plötzlich in die irrsinnige Gewalt, den Aufruhr und die Panik des wirklichen Krieges mit seinen ganzen Schrecken versetzt sähen. Spiel und Spaß waren vorbei; die Lage wurde ernst. Daher der Vorhang. Jetzt war er wieder weg, weggepackt für die nächste Generation. Fruchtbarkeit und Begierde waren gekommen und gegangen. Nicht aber die gegenseitige Wertschätzung. „Nur eine Webe nach der Fruchtbarkeitsperiode“, lautete das Sprichwort, und es stimmte tatsächlich.

Sie ließ ihre Erinnerung tiefer graben, während sie weitergingen. Vor sehr langer Zeit hatten Morlenden-Olede – bei dem Fellirian-Eliya sich nicht erinnern konnte, ihn irgendwann einmal nicht gekannt zu haben – selbst vermutet, daß Fellirian ihm nach Pethmirvins Geburt zur zweiten Verwebung das Mädchen Cannialin bringen würde, die Thes, die jüngere Außenverwandte der Morens, der nächsten Webe unten am Flüßchen. Ihr Alter war genau richtig, sie waren fünf Jahre auseinander, und die Morens und die Derens tauschten immer, da die Regeln es erlaubten, die jüngeren Außenverwandten aus. Ihre eigene Kaentarier Srith war auf diese Weise schon zu den Morens gegangen. Das war nicht überraschend gekommen, und so war es jahrelang gegangen. Aber Fellirian hatte keine Ahnung, wen Morlenden ihr zur zweiten Verwebung bringen würde. Sie war auf eine Überraschung gefaßt gewesen, aber nicht auf eine solche, wie sie ihr schließlich zuteil geworden war; nie hatte sie das Bild jenes Tages der vordersten Reihe ihres Gedächtnisses entschlüpfen lassen.

… Sie hatte schon die ersten Regungen der wiederkehrenden Fruchtbarkeit verspürt, und dieser Aspekt bei ihr selbst hatte Morlenden und Cannialin gewisse Reaktionen entlockt, obwohl zu jener Zeit das Mädchen der Morens noch nicht zu ihnen gezogen war. Aber es war ein später Frühlingstag gewesen, mit schweren, nassen, tiefhängenden schwarzen Wolken, die ein Unwetter ankündigten, und sie hatte den Garten umgegraben und dabei die ganze Zeit mit Peth gespielt. Und Morlenden war den Weg vom yos heraufgekommen, mit einem Fremden im Schlepptau, und Fellirian, die wegen des Staubs und des Schweißes ganz streifig aussah und höchst verlegen war, sah ihren künftigen Mitgatten zum ersten Mal. Ihr erster Eindruck war der eines wilden Rauhbeins mit einem harten, strengen Gesicht, rostroten Haaren, die mehr als nur andeutungsweise kraus waren, und einem fast stolzierenden Gang. Ohne Zweifel ein Bootsmann von den Terrassen des Yadhflusses.

Nun hatte Fellirian zu jener Zeit gerade damit begonnen, regelmäßig zum Institut zu gehen, obwohl sie bereits, seit sie etwa zwanzig war, vereinzelte Besuche dort abgestattet hatte. Und als ein Ergebnis ihrer Reisen hatte sie sich romantische Ideale zu eigen gemacht, die leicht im Widerspruch zu den üblichen sachlichen Ler-Visionen standen. So hatte sie sich in ihren Träumen gewünscht, daß Morlenden ihr einen Dichter, einen Träumer, einen liebenswürdigen Charmeur bringen würde. Bekommen hatte sie, zu Morlendens offensichtlich größtem Vergnügen, etwas wie einen Holzfäller und Steinstapler; an seinen Gliedern waren die Muskelstränge des Ringers deutlich zu sehen. Sie erfuhr später, daß er in der Tat die Ortsmeisterschaft auf genau diesem Gebiet errungen hatte. Aber seine Wohnung lag weit im Nordwesten, und sie kannte ihn nicht. Außerdem fand sie später heraus, daß er in seiner eigenen Webe ein Nerh und nur zu gewöhnt war, seine eigenen Vorstellungen unter seinen Altersgenossen durchzusetzen. Und um dem Unrecht noch eine Beleidigung hinzuzufügen, war er bereits im vollen Fruchtbarkeitsstadium. Als sie einander vorgestellt wurden und Fellirian die rituellen Antworten gab, konnte sie bereits spüren, wie ihr Körper auf seine überbetonte Männlichkeit reagierte. Tief in seiner Zeit, wie man zu sagen pflegte.

Später hatte sie Morlenden beschimpft wie noch nie zuvor und war dann tränenüberströmt und zutiefst verbittert in den Wald gelaufen. Aber Olede war ihr nachgegangen, geduldig wie er immer war, und hatte ihr nach einer Weile erklärt, daß seine Wahl – die sie genausowenig zurückweisen konnte wie er die ihre, außer aus genau spezifizierten Gründen, auf die fast niemand zurückgriff, – als besonderes und feines Geschenk gemeint war, als höchster Beweis der Achtung, mit der er seine innen verwandte Schwester betrachtete, wie sie noch sehen würde, wenn sie nur wollte. So war es dann auch. Allein in den Wäldern hatte sie bei einem stillen Teich angehalten und lange darin sich selbst betrachtet und mehr gesehen als Umriß und Form eines Gesichts; und sie hatte begonnen zu verstehen. Und wie gewöhnlich hatte Morlenden-Olede recht gehabt. Die Anzeichen waren da; denn Kaldherman, sie nannte ihn jetzt Adema, war in der Tat ein besonderes Geschenk; denn er war in Wirklichkeit so zärtlich und hingebungsvoll gewesen, wie seine scheinbare Grobheit sie zuerst abgestoßen hatte. Fellirian wußte auch, daß sie selbst keine ausgefallene Schönheit war wie zum Beispiel die herzlose Kokette Cannialin; sie war statt dessen einfach, direkt, unauffällig und geradeheraus. Aber auf Kaldherman hatte sie ein strahlendes Licht geworfen, sie, Fellirian die Weise, die furchtlos unter den Menschen wandelte, in ihren riesigen Städten, auf ihren gesellschaftlichen Ebenen, zu denen es bei den Ler keine Entsprechung gab. Er schien sich selbst für einen der vom Glück am meisten begünstigten außenverwandten Tlanhmanon zu halten; er hatte sich mit einer Webe verwoben, die Fellirian enthielt, einen Preis, der sich in Worten nicht ausdrücken ließ, und obendrein den gewandten Morlenden und die exotische Cannialin. Und durch Pethmirvin, ein damals fünfjähriges Kind, sah es auch bereits so aus, als könne er von allen vieren am besten mit Kindern umgehen.

Und so war es die ganzen Jahre gewesen, dachte sie, als sie wieder in die Gegenwart zurückkehrte. Fellirian merkte ganz plötzlich, daß sie mit offenen Augen geträumt hatte und daß sie gut vorangekommen waren, während ihr Geist woanders gewesen war; stetig waren sie durch den nächtlichen, regennassen Wald gestapft. Für einen Moment fühlte sie sich verstört, schwindlig, verloren. Sie blickte sich um nach etwas Vertrautem; sie spürte, daß sie fast zu Hause waren. Ja. Sie waren schon an der Abzweigung vorbei, die zum yos der Morens führte, waren schon fast an der angelangt, die zu ihrem eigenen hinführte, weit den steilen, mit Wurzeln überdeckten Pfad hinunter. Sie kamen an eine Wegbiegung, und Pethmirvin machte vor lauter Vorfreude größere Schritte.

Sie kamen an die Stelle, wo der Pfad sich an den Rändern einer leichten Erhebung teilte; von hier aus konnte man am Tage einen flüchtigen Blick auf das gesamte Anwesen werfen, auf das yos an dem kleinen Fluß unter einem federartigen Baldachin aus Zweigen, die Schuppen und Nebengebäude, den Garten, die Verschläge und Gehege für die Tiere, die sorgfältig angelegten Mauern. Jetzt war es Nacht, und vor ihnen waren nur die Andeutungen von Formen, ein paar undeutliche Lichter in den durchsichtigen Fenstern des yos. Die Erinnerung füllte aus, was das Auge nicht eigentlich sah, und sie empfanden eine Erlösung, ein Glücksgefühl; sie waren daheim.

Fellirian blieb für einen Moment am Fuße der Treppe stehen, die zum Eingang hinaufführte – der Teil des yos mit dem Kaminraum ragte über ihnen auf wie das riesige Heck eines merkwürdigen Schiffes, die elliptische Form war durch die Perspektive verzerrt –, um dann jedoch nicht die schmale hölzerne Treppe emporzusteigen, sondern statt dessen zögernd auf den Waschtrog zu ihrer Rechten, mehr in der Nähe des kleinen Flusses, zuzugehen. Sie blickte lange in das dunkle Wasser, das aus einer dicken Tonröhre, die mit dem Flüßchen verbunden war, glucksend in den Trog hineinfloß, und spürte im Geiste bereits das Stechen des Wassers auf der Haut.

Pethmirvin trat ebenfalls nicht ein, sondern blieb wartend am Fuße der Treppe stehen. Fellirian drehte sich um, ohne das Mädchen anzusehen, und sagte: „Peth, Liebes, du brauchst nicht auf mich zu warten; geh nur schon rein, und sage den andern, daß wir endlich da sind.“

Das Mädchen zögerte und räusperte sich. „Kann ich jetzt nicht, Madheliya. Ich muß die feierliche Waschung ebenfalls vornehmen, so sehr ich mir auch wünschte, daß ich es nicht müßte.“ Schon schien in Pethmirvins Stimme das Klappern ihrer Zähne mitzuschwingen.

Für einen langen Augenblick standen sie schweigend im Dunkeln und sahen sich an. Sie kannten beide die Rituale und überlieferten Bräuche und befolgten sie, ohne groß zu zögern. Fellirian legte manchmal besonderen Nachdruck auf die Konvention, da sie glaubte, Vorbild sein zu müssen. Morlenden machte sooft wie möglich einen Bogen um den Trog, obwohl er sehr eigen war und sich manchmal stundenlang hinter dem yos in einer riesigen Waschwanne rekelte, während Pentandrun und Kevlendos rannten, um immer wieder heißes Wasser von der Feuerstelle zu holen. Aber die Waschsitte existierte nun einmal, selbst im Winter, wenn es eine wagemutige Tat war, sich dem Wasser zu überantworten. Fellirian wußte, daß sie sich mit dem kalten Flußwasser würde begießen müssen, bevor sie anständigerweise ihr eigenes Haus betreten konnte; sie war ja draußen gewesen. Der Grund lag hier nicht in der Reinlichkeit, denn für ein Bad reichte jede Entschuldigung aus; nein, hier handelte es sich um das Ritual, um Magie. Fellirian war dem Fremdartigen ausgesetzt gewesen, fremdartigen Werten, und die Waschung beschwor die reinigenden Kräfte des nassen Elements, die Schlacke von draußen zu entfernen. Die Pollen des Fremden.

Was nun Pethmirvin betraf, hätte sie die obligatorische Waschung aus allen möglichen Gründen auf sich laden können; aber Fellirian erinnerte sich an ihre eigene Reifezeit und an die Male, an denen sie selbst vor genau diesem Trog und zitternd vor Angst wegen des kalten Wassers gestanden hatte. Sie glaubte den Grund zu kennen, obwohl sie wegen der Jahreszeit und dem Zeitpunkt des Vorkommnisses leicht überrascht war. In der Nacht und im Winter?

Fellirian wandte sich mit gespieltem Ernst an Pethmirvin. „Ner-h’Emivi, hast du etwa zufällig einen dhainman{16} auf dem Weg zur Mono getroffen?“

Das Mädchen antwortete scheu und blickte dabei zu Boden. „In der Hütte an der Monostrecke, Madheliya. Farlendur Tlanh Da-len. Er begleitete mich, als ich hinunterging, um dich abzuholen.“ Einen Augenblick lang sah Pethmirvin auf und Fellirian fest in die Augen. Dann sah sie wieder scheu zu Boden.

Fellirian schlug die Kapuze ihres Umhanges zurück, und nachdem sie das Oberteil ihres Obergewands geöffnet hatte, holte sie den langen einzelnen Haarzopf nach vorn und fing an, ihn sorgsam aufzuflechten. Sie lächelte Peth an.

„Ganz gut für die didhosi. Trotzdem, ich sehe, daß du wenigstens den Brauch kennst; eine Waschung vor dem yos für jeden Blumenkampf außerhalb. Paß nur auf, Peth-Emivi{17}, daß du vom vielen Waschen keine Kiemen bekommst!“

Pethmirvin kicherte und verbarg das Gesicht, in dem sie nun heftig errötete. „Wirklich ganz gut. Aber du mußt zuerst gehen. Du bist die Klandorh und die Madh. Du hast das Recht der Älteren, und außerdem bist du draußen gewesen.“

„Und für dich das Wasser anwärmen? Ganz gewiß nicht! Ich verzichte auf meine Vorrechte: Rein in den Trog mit dir! Und da fällt mir gerade ein, hast du dich bei deiner Balgerei wenigstens amüsiert? Dies war nie meine Jahreszeit, wenn ich mich auch an wärmeren Tagen nie zurückgehalten habe …“

Peth wechselte von einem Bein aufs andere, wobei sie atemlos sagte: „O ja, es war nur zu kalt, und wir mußten …“

Fellirian unterbrach, was der Anfang einer langen Geschichte zu werden versprach, deren Zweck darin bestand, das Hineinsteigen in den Trog zu verzögern. „Lassen wir ruhig die Einzelheiten beiseite. Wenn du schon die ganzen Umstände erzählen mußt, dann erzähle sie deiner toorhsrith Pentandrun. Sie scheint mir eine Spätentwicklerin zu sein. Und jetzt – ab in den Trog!“

„Ach, Madh.“

„Nichts da ‚ach Madh’. Du kannst ins Bett gehen und schlafen. Ich werde aufbleiben müssen und mit der Perwathwiy schwatzen. Los, beeile dich! Das Warten macht das Wasser auch nicht wärmer.“

Pethmirvin zog ihren äußeren Umhang zögernd aus, stieg aus ihren Stiefeln und zuckte zusammen, als ihr bloßer Fuß den naßkalten hölzernen Treppenabsatz berührte. Sie holte tief Luft und entledigte sich rasch des Überhemdes, des Unterhemdes und alles übrigen, indem sie alles über den Kopf zog, wodurch das wie bei den anderen Heranreifenden kurzgeschnittene Haar zerzaust wurde, und ging entschlossen auf den Trog zu, nachdem sie ihren ganzen Mut zusammengenommen hatte. Das Wasser in dem Waschtrog war nichts weniger als eisig. Fellirian betrachtete den nackten, hellen Körper vor ihr. Pethmirvin war schlank, anmutig wie ein junger Baum, geschmeidig wie ein junges Eichhörnchen. Sie hatte den richtigen Namen: „Die Gerte, die sich im Winde wiegt“ war seine Bedeutung, unter dem Aspekt des Elements Wasser. Fellirian gefiel die Anmut des jungen Mädchens, ihr gefielen ihre kleinen Brüste, kaum größer als Knospen, ihre feinen, blassen Rippen, der flache Bauch, die schmalen, starken Schenkel. Ihre Haut war wegen der Kälte mit einer Gänsehaut überzogen.

Ohne weitere Vorwarnung sprang Pethmirvin plötzlich in den Waschtrog und begann wild umherzuplanschen, wobei das Wasser überallhin spritzte. Unterhalb des Lärms, den sie machte, konnte Fellirian das rasche, pfeifende Atmen des Mädchens hören. Während Peth herumplanschte und eine Menge Wasser über den Trogrand schwappen ließ, begann Fellirian, sich ihrer eigenen Kleider zu entledigen; des äußeren Umhangs, des Überhemds, des Unterhemds für den Winter. Und dann stand sie nackt da und spürte nun wirklich das Stechen der Kälte, blickte an ihrem eigenen bloßen Körper herab, der beinahe so blaß und mager wie der von Peth, aber kompakter, gedrungener und mit den reiferen Formen eines längeren Lebens, zumal durch das Gebären von Kindern, ausgestattet war. Drei, und nicht weniger. Pethmirvin, Kevlendos, Stheflannai. Nicht schlecht, dachte sie. Und so habe ich meine Figur immer noch weitgehend behalten. Nicht daß ich dadurch irgendeinen Nutzen hätte, so wie einst, außer daß ich weiß, daß in meinem Körper noch immer eine Menge Ausdauer steckt, ein langes Leben. Aber einst traf ich mich des Nachts mit einem Liebhaber, genau wie sie jetzt und Pentandrun bald. Einst, im Frühling meines Lebens, vor zwanzig Jahren und mehr, da jagten mich die Jungen durch den Wald und riefen „Fellir“ hinter mir her, wie sie ihr nun „Pethmir“ nachrufen. Peth hörte auf zu planschen und um sich zu schlagen, rannte keuchend aus dem Trog und hob hastig ihre Kleider auf, während sie rannte.

Die aus der Erinnerung aufgeschreckte Fellirian sagte: „Sag ihnen, daß ich gleich komme …“ Sie hielt inne. Pethmirvin war schon die Stufen hinaufgelaufen und im yos verschwunden.

 

Fellirian schüttelte resigniert den Kopf. Peth konnte sich diese Eile erlauben, denn was sie da wegspült, ist nichts als ein bißchen Spaß im geheimen. Das Wasser erinnert sie wieder daran, daß Spaß gleich Spaß ist, ein bißchen Spannung, aber daß sie heute abend diesen Farlendur vor der Tür lassen mußte. Das Geheimnis des Fremden. Unsere Bindungen in der Webe sind enger als Blut und Vererbungslehre. Aber was ich von mir abwasche, ist etwas Komplizierteres, eine quälende Sorge wegen etwas, von dem ich immerhin nur den geringsten Teil gesehen habe. Daß Vance, wo wir uns so lange kennen und so lange zusammen waren, es zulassen konnte, daß er und wir, ich mit ihm, auf Band aufgenommen, untersucht, beobachtet und, nun, bespitzelt werden, ohne zu protestieren, ohne ein Wort der Warnung! Ja, ich weiß. Er glaubte es zu verbergen, während seine Körpersprache doch die Wahrheit herausschrie. Aber was für eine Obszönität. Ein Übergriff auf das Bewußtsein ist nicht anders als ein Übergriff auf die Wohnung, den Körper. Fellirian holte tief Luft, ließ sie in einem langen, beherrschten Seufzer heraus, lauschte auf das Glucksen des Wassers im Waschtrog, ließ zu, daß das zufällige Geräusch, der wohltuende Klang ihren Geist von allem reinigte, von allem außer dem Jetzt, der Gegenwart, die so dünn wie ein Rasiermesser war, die Schwelle zwischen zwei Ewigkeiten.

 

Eine letzte ungestüme Welle kräuselte die friedliche Oberfläche ihres Gedankens. Wir führen in mancher Hinsicht ein idyllisches, gemächlich voranschreitendes Leben, frei von Druck. Ich, die ich die Außenseite sehe, kenne diese Dinge, die ich den anderen nicht sagen kann. Wir haben zu lange geschwiegen, haben uns zu viele Sommer lang einer Versuchung, einem Druck widersetzt. Ich spüre eine Verschiebung der Gewichte, andere Kräfte. Wir sind heute kein Volk, das sich gleich ihnen behende vorwärtsbewegt; ja, indem wir das Primitive suchten, haben wir es mit seiner ganzen Zerbrechlichkeit erreicht; und die Welt verändert sich ständig. Ich habe Angst.

Als sie schließlich drinnen die Stille bemerkte, als sie die Ruhe in sich selbst hörte, wiederholte sie bei sich die Anrufung des Wassers; ihre Lippen bewegten sich schweigend, fast unsichtbar. Dann war es soweit. Sie stieg ruhig in das Wasser, spürte die beißende Kälte an Beinen und Füßen, dann an den Schenkeln, als sie sich hinkniete, und dann seine ganze Wucht, als sie langsam und bedächtig eintauchte und mit dem Gesicht nach unten und vollkommen vom Wasser bedeckt zu liegen kam. Eine schlimme Furcht, eine quälende Sorge, eine rücksichtslose Wut; nimm alles, Trogwasser, trage alles zum Meer. Es war von Anfang an schmerzhaft, ein Angriff auf den gesamten Körper, mit voller Wucht, eine Explosion aller Sinne, die ihren Geist ausradierte. Sie hatte das Gefühl, gleich in Panik zu geraten. Sie widerstand diesem Gefühl und lag ruhig da, dachte an nichts und ließ sich von den starken Zähnen der Kälte packen, von den klammen Kiefern fest umklammern. Als sie es nicht mehr aushalten konnte, stellte sie sich langsam und vorsichtig auf die Füße, stand endlich, atmete aus, nachdem sie so lange den Atem angehalten hatte. Dann rieb sie sich schnell mit den Händen ab, wobei sie den in der Nähe an einem Haken hängenden Rückenschrubber benutzte, um an ihren Rücken heranzukommen. Die Luft fühlte sich nun warm an.

Sie hatte das Waschritual beendet. Doch trotz der starrenden Kälte zwang Fellirian sich zu langsamen, gemessenen, überlegten Bewegungen. Es kommt nie etwas Gutes dabei heraus, wenn man eine Sache zu hastig macht, und bei Ritualen schon gar nicht. Ich muß abwarten, bis sich das Wasser wieder beruhigt hat, bevor ich es verlasse. Das ist der Respekt, der ihm gebührt. Sie wartete ab, wrang sich die Haare aus und stieg aus dem Trog. Dann hob sie ihre Kleider auf, nahm ihre Stiefel und auch die von Pethmirvin, denn Peth hatte in ihrer Eile, ins yos und ins Warme zu kommen, ihre Stiefel vergessen. Dieser kleine Wirrkopf, dachte Fellirian warm. Erst als sie vollkommen fertig war, sah sie zum Wasser zurück. Es war wieder ruhig, gekräuselt nur durch das frische Wasser aus der Röhre, die in ihm mündete. Fellirian, die eine heftige Gänsehaut überfiel, drehte sich um und stieg mit gemessenen Schritten die Treppe zum Eingang hinauf.

Sie schob den schweren äußeren Wintervorhang zur Seite und trat innen über die Schwelle. Als sie ihre alten Kleider ablegte, sah sie in dem gedämpften Licht, das durch den inneren Vorhang schimmerte, daß jemand den Kif, den sie im Herbst am liebsten trug, einen losen Überwurf mit weiten Ärmeln, herausgelegt hatte. In dem Licht konnte sie das Muster erkennen, ein einfarbiges Braun mit einem feinen Muster aus Kirschblättern. Nachdem sie ihre Haare mit einem weichen Tuch umwickelt hatte, hob sie den Kif auf, steckte die Arme durch die Ärmel, schlang ihn sich um den Körper und genoß die Berührung der Haut mit dem weichen Innenfutter, das sie bereits wärmte. Dann noch die breite Schärpe, die alles zusammenhalten sollte, und sie schob den inneren Vorhang beiseite und trat ein.

Am Kamin warteten die anderen auf sie, Morlenden, Cannialin, Kaldherman. Nicht die Kinder; sie waren alle schon zu Bett gegangen, sogar Sanjirmil. Fellirian hatte plötzlich das Gefühl, als sei sie Jahre fort gewesen statt der zwei Tage, die es in Wirklichkeit gewesen waren, und sie sah sie lange an und den Kamin, als wolle sie sich abermals seiner vertrauten Gestalt vergewissern. Sie sah die weiten Rundungen, die Wölbung der Decke, an der die Abzugsöffnung um den Rand herum vom Rauch von Generationen von Derens geschwärzt war. Zu ihrer Linken war der eigentliche Kamin und der Tisch und zur anderen Hand eine gepolsterte Sitzbank rund um diesen Teil des Raums. Im Hintergrund führten drei mit Vorhängen versehene niedrige Gänge in andere Teile, der linke zum Schlafteil der Erwachsenen, der mittlere zu den Arbeitsräumen und zum Archiv, der rechte zum Schlafraum der Kinder. Hinter der Sitzbank angebrachte Wandteppiche schilderten die Salz-Pilgerfahrt und einzelne Etappen auf dem Wege. Jedes yos außer den allerärmsten stellte auf diese Weise irgendein symbolisches Erinnerungsstück an etwas Großes, das die Webe vollbracht hatte, aus. Ihres war alt und leicht verblichen. Aber es gehörte ihnen, und das hier war ihr Heim. Es roch nach geräuchertem Holz, sauberen, vertrauten Körpern, Zwiebeln.

Sie hatten ein Feuer auf der erhöhten Feuerstelle brennen lassen, und es befand sich immer noch ein vor sich hin dampfender Topf mit Geschmortem darauf. In der Nähe stand die immer gegenwärtige Teekanne. Fellirian ging zu ihrem Platz{18} und setzte sich. Morlenden füllte einen Teller mit dem Geschmorten. Kaldherman schnitt etwas Brot von einem Laib ab, und Cannialin trat hinter sie und begann ihr die Haare zu flechten.

Fellirian, die erst jetzt gewahr wurde, wie hungrig sie war, begann sofort zu essen, wobei sie über den Löffel mit dem heißen Geschmorten blies, damit es sich abkühlte. Kaldherman legte den Brotlaib wieder auf das Brett, setzte sich wieder auf seinen Platz und lehnte sich mit einer ausladenden Bewegung zurück.

„Du brauchst dich nicht so zu beeilen, Eliya. Wir haben alle zu Bett gebracht: die starsrith im Schuppen und den kleinen Fuchs bei den anderen Kindern.“

„Dann wollte die Perwathwiy doch nicht reden? Peth sagte, daß sie gekommen sei, um noch an diesem Abend über etwas zu sprechen.“ Fellirian sagte dies zwischen zwei Bissen.

Die hinter ihr stehende Cannialin antwortete; die weiche, angenehm kehlige Stimme klang ihr ins Ohr: „O nein. Sie wollte wohl reden, aber wir haben sie überzeugt, daß es besser sei, bis zum Tagesanbruch zu warten. Wir konnten ja nicht wissen, wann unsere Klandorh zurückkommen würde, und sie bestand darauf, daß du dabei sein solltest. Ich gebe zu, daß wir ihre Bequemlichkeit als Argument anführten, wenn es auch hauptsächlich für uns bequemer ist. Aber da sie ja auf den Tagesanbruch warten mußte, konnte sie mit der Offenbarung ihres Geheimnisses auch so lange warten.“

„Hat sie irgend etwas angedeutet, was sie wollte?“ Fellirian hielt inne und hätte fast noch etwas gesagt, besann sich dann aber eines anderen. „Ich kann mir gar nicht vorstellen, was sie von so weit her des Nachts zu uns führt.“

„Und das auch noch im Regen“, sagte Kaldherman. „Aber sie hat nichts verlauten lassen. Obwohl sie es eilig hat, und eine Älteste, die es eilig hat, ist schon etwas Ungewöhnliches – besonders aus dem Libellen-Zlos.“

„Ja, in der Tat.“ Fellirian wandte sich an Morlenden. „Wann bist du zurückgekommen, Olede?“

„Nicht sehr lange vor dir.“

„Bist du müde?“

„Müde ist gar kein Ausdruck. Es ist schon etwas lästig, wenn man, so wie ich gestern abend, eine Web-Feier mitmachen muß und dann am nächsten Morgen nicht in der allerbesten Laune aufwacht.“

Fellirian lachte in sich hinein. „Geschieht dir recht. Schließlich solltest du bei solchen Feiern amtieren und nicht teilnehmen.“

„Ach, wer kann schon einem Wirt etwas abschlagen, der zu tief ins Glas geschaut hat?“ Morlenden lächelte zurück. Morlenden war von etwas schwererem Körperbau als Fellirian, ja als sie alle, und sein Haar war ein klein wenig dunkler und begann allmählich leichte Anzeichen von Grau aufzuweisen. Sein Gesicht war schärfer geschnitten, großflächig, voller klar abgrenzender Linien. Es war ein strenges Gesicht bei bestimmtem Licht, aber größtenteils war es auch ein Gesicht, das unter der Oberfläche von Gelassenheit, Selbstvertrauen und allgemein guter Laune beseelt war. „Nun“, fuhr er fort, „es hätte schon sehr schön sein können, wenn man einmal von einer Tatsache absieht, die aufs heftigste von allen Beteiligten abgestritten wurde, nämlich daß die Toorh schon völlig reif waren und offensichtlich mit niemandem außer sich selbst etwas anfangen konnten. Man hatte sie ganz und gar in Weiß gekleidet, wo ich, ein Fremder, auf Anhieb sagen konnte, daß sie es seit mindestens einem Monat miteinander trieben. Ich glaube, das Mädchen war schon schwanger mit dem Nerh. Und natürlich waren die Getränke das übelste Zeug, was ihr euch vorstellen könnt. Selbstgebrannt! Pfirsichweinbrand nannten sie das auch noch. Man hätte das Ganze auch einfach Mist nennen können. Es war, wie ich merkte, Maisschnaps, den sie nicht einmal anständig gekühlt hatten, mit ein paar Pfirsichsteinen unten im Krug – oder ich will ein Mensch sein!“

An dieser Stelle warf Kaldherman ein: „Daran ist doch nichts Schlimmes. Sind doch einfach gute, ehrliche Leute. Warum so vornehm tun?“

Morlenden sah Kaldherman schief von der Seite an. „Selbst in deiner Gegend da oben geht man nicht so weit. Aber das hier war wirklich abgelegen. Und du weißt, wie das ist in den entferntesten Gebieten; zuviel Land-wirt-schaft.“ Er zog das letzte Wort obszön in die Länge, wobei er ein dazu passendes lüsternes Gesicht machte, das einen Bauerntrampel andeuten sollte, dem vor Erstaunen über die ländlichen Possen von Kuh und Bulle der Mund offensteht.

Fellirian lachte und schwenkte ihren leeren Teller. „Wo war das?“

„Bei Beshmazen.“

„Du bist den ganzen Weg von dort gelaufen?“

„O ja, den ganzen Weg vom anderen Ufer des Hvar. Hat mir ganz schön den Kopf freigemacht.“

„Und dann bist du noch aufgeblieben, obwohl du genau wußtest, daß die Perwathwiy bis morgen warten würde?“

Alle nickten zustimmend.

Da sagte Fellirian: „Nun, ich danke euch allen.“ Sie drehte die Teetasse um und leerte sie auf diese Weise. „Jetzt könnt ihr alle mit mir in den Schlafraum kommen und mich wärmen, damit ich gleich einschlafe. Mir ist sehr kalt!“

Fellirian erhob sich von der Feuerstelle, stellte ihren Teller zu den anderen in den Einweichkübel am Feuer und ging direkt zum Schlafraum, schob den Vorhang beiseite und kletterte hinein. Morlenden und Cannialin folgten ihr, wohingegen Kaldherman noch einen Augenblick zurückblieb, um das Herdfeuer zu drosseln und die Lampen zu löschen. Einer nach dem anderen kletterten sie alle in den Erwachsenenschlafraum, der etwas höher lag als das übrige yos und über eine kurze Leiter erreicht wurde. Im Inneren zogen sie vorsichtig ihre Kifs und Überhemden aus, falteten sie zusammen und legten sie auf Bretter, die entlang der kreisrunden Wand des Raums angebracht waren. Sie machten hier Lichter an; es war ein kleinerer Raum als der Hauptraum mit der Feuerstelle, und sie alle kannten jeden Zentimeter davon, vor allem Morlenden und Fellirian. Sie griff nach oben nach einem Brett, weil sie wußte, daß dort etwas Bestimmtes lag: eine große, doppelte Steppdecke, welche sie herunterholte und mit Morlendens Hilfe ausbreitete und deren Kanten sie zusammenknöpfte. Als sie damit fertig waren, breiteten sie sie aus, einfach so, und schlüpften hinein, schmiegten sich eng aneinander, damit es warm wurde, spürten die vertrauten Ausbuchtungen, Ecken und Umrisse des anderen, während sie sich so aneinanderschmiegten, nahmen winzige Veränderungen in ihrer Lage vor, bis es genau richtig war, gerade wie sie es den größten Teil ihres Lebens über in den Winternächten gemacht hatten. Quer durch das Abteil konnten sie hören, wie Cannialin und Kaldherman genau das gleiche taten, mit der Steppdecke raschelten, sich richtig hinlegten, die bequemste und wärmste Stellung suchten; denn wenn auch das Material, aus dem das yos üblicherweise erbaut wurde, gut isolierte, war es doch innen ungeheizt, wenn man von der Wärme des Kamins absah, die der Kälte die Schärfe nahm.

Fellirian schmiegte sich enger an Morlenden; sie war immer noch restlos durchgefroren, mehr als sie geglaubt hatte, von dem langen Weg von der Monostrecke hierher und durch das Wasserritual ebenso. Sie fühlte den neben ihr liegenden Körper; die Haut war kühl, aber darunter war es warm. Sie streckte sich, wobei sie jeden einzelnen Muskel anspannte und wieder lockerte, und sie spürte, wie sich Morlenden neben ihr zusammenrollte. Quer durch den Schlafraum flüsterte Cannialin in ihrer ruhigen und zurückhaltenden Stimme ein „Gute Nacht“ in die Dunkelheit, und dann war Stille, nur durch ein gelegentliches Tropfen auf das Dach unterbrochen und dann durch tiefes, gleichmäßiges Atmen. Kaldherman fiel wie ein Tier sofort in Schlaf.

Als sie sicher war, daß die anderen schliefen, gab sie ihrem innenverwandten Bruder einen leichten Stoß in die Seite. Morlenden tat das gleiche. Sie flüsterte kaum hörbar unter den Decken: „Hast du irgendeine Ahnung, was los ist? Warum die Perwathwiy und Sanjirmil gekommen sind?“

„Ich weiß nicht mehr als du, Eliya. Sie haben mir nichts gesagt, außer daß es eine Sache ist, die die Webe angeht – daß wir alle sie anhören und beurteilen und zustimmen müssen. Sanjirmil hat nichts gesagt. Als ich heimkam, war sie jedenfalls zu sehr mit Peths Abendessen beschäftigt, um etwas sagen zu können.“

„Wirklich?“

„Allerdings. Aber Peth ging es deswegen nicht schlecht, glaube ich. Sie wollte sowieso ausgehen – wahrscheinlich hat draußen im Gebüsch irgendein junger Hirsch auf sie gewartet.“

„Sie hat in der Tat einen gehabt.“

„Hätte ich eigentlich wissen sollen: Das hat sie von ihrer Vormutter. Du hast das oft gemacht.“

„Erzähle mir bloß nicht, was ich gemacht habe! Du pflegtest sie sogar nach Hause mitzubringen, du Hahn. Wo du all diese schmutzigen Dinger immer aufgetrieben hast, werde ich wohl nie erfahren. Hast du das ganze Reservat nach den ärmsten Mädchen abgesucht?“

„Ja, denn wie ich oft genug gesagt habe: Die Reichen geben im Überfluß, aber die Minderbemittelten sind immer in Eile.“

„Die Eile war es also? Es war bestimmt nie die Eile, die uns andere die halbe Nacht kein Auge zutun ließ wegen eurem Geflüster und Gekicher unter dem Fenster. Und das, nachdem ich fast den ganzen Abend damit zugebracht hatte, die Bücher in Ordnung zu bringen, damit wenigstens einer von uns es richtig machen sollte nach der Verwebung.“

„Ach, Fel, du bist schon immer um dein eigenes Wohl zu besorgt gewesen.“

„Besorgt oder nicht besorgt, was hältst du denn nun davon, daß die Perwathwiy im Regen von Garkaeszlos bis hierher kommt?“

„Es gefällt mir nicht. So wenig wie die Tatsache, daß sie nicht reden wollte. Das kann nichts Gutes bedeuten, oder?“

„Ich sehe nicht, wie es etwas Gutes bedeuten könnte.“

„Und du bist ebenfalls angespannt. Ist noch etwas? Du bist zu lange im Wasser geblieben, als daß alles normal sein könnte, selbst für eine Fanatikerin, wie du es bist. War es so schlimm da drüben bei den Hauthpir{19}?“

„Nein, das nicht. Nicht schlimmer als sonst. Mehr oder weniger das gleiche, und die gleichen müden, alten Provocs in der Menge. Aber mir ist etwas aufgefallen, wofür ich eine ganze Weile zu dumm war, um es zu bemerken. Ich bin wirklich nicht sicher, wie lange es nun schon dauert, aber Vance hat mich während der Vorträge abhören lassen und auch noch, nachdem die Besucher gegangen waren, als wir wie üblich noch etwas zusammensaßen und miteinander plauderten. Er war nicht aufdringlich, nur ein bißchen dominierender und neugieriger als üblich. Zuerst dachte ich, er sei eben diesmal so – er ist etwas sprunghaft in seinem Verhalten. Aber als ich es begriff, war mir alles klar. Ich sage dir, etwas ist im Gange, irgend etwas wird geschehen, irgend etwas Schlimmes. Vielleicht ist es schon geschehen. Aber ich weiß nicht, wem oder warum.“

„Vielleicht ist es schon geschehen.“

„Nein. Und wenn, dann nicht das, wonach wir forschen müssen.“

„Das sieht Vance nicht ähnlich. Er ist doch ein alter Freund.“

„Das war er immer. Er war immer ein guter Kanal für uns – in beiden Richtungen. Hält das Schlimmste von uns ab und läßt uns freiere Hand, als wir dies bei einem anderen vielleicht je gehabt hätten. Und ich kenne ihn recht gut, oder jedenfalls dachte ich das … Er würde so etwas nicht ohne guten Grund tun.“

„Vielleicht. Aber wir kennen diese Gründe nicht, selbst wenn wir einmal voraussetzen, daß du recht hast mit dem, was du sagst.“

„Mor, ich glaube, es gibt einen Zusammenhang zwischen diesem Besuch hier und der Veränderung am Institut.“

„Heute nacht können wir nichts mehr machen. Falls du nicht zum Schuppen gehen und die Perwathwiy wecken willst.“

„Nein. Ich will schlafen. Ach, übrigens, hat Sanjirmil überhaupt irgend etwas gesagt?“

Morlenden schwieg eine Weile. Fellirian konnte nur seinen regelmäßigen Atem hören. Sie stieß ihn in die Seite. „Morlenden?“

„Hm? Sanjirmil? Nein, sie hat nichts gesagt. Überhaupt nichts. Sie war schon hier, als ich kam, aber sie hat ihre Pläne für sich behalten. Ein paar Scherze, reine Höflichkeit … nein, nichts.“

„Wenn du den Wechsel nicht schon genauso lange hinter dir hättest wie ich, würde ich dich für recht verwirrt halten.“

„Verwirrt? Ähem. Kaum. Obwohl du zugeben mußt, daß Sanjirmil bestimmt eine stärkere erotische Ausstrahlung besitzt als ein Durchschnittsmädchen.“

„Bah. Eine Primitive, das ist alles.“

„Ja, ja …“ Er dachte nach. „Und eine Verschwendung obendrein, denn wie man hier und da so hört, ist sie so etwas wie eine Zelotin, eine Zan-Fanatikerin.“

„Diese Spieler sind alle so merkwürdig, weißt du das? Nun denn, meinetwegen. Sollen sie bei ihrem Zan-Spiel bleiben, ganz wie sie wollen. Gute Nacht.“

„Wünsche ich dir auch, Eliya. Bis zum morgigen Tage.“