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Im Spiel wird nach einer willkürlichen Festlegung die Gesamtzahl der Operationen, die an jeder Zelle des entsprechenden Gebiets durchgeführt werden, als eine Spielzeit-Einheit betrachtet. Wie wir das erreichen, in einer Reihe, durch Parallelzählung oder durch Erstellung abgestufter Strukturen, ist unwesentlich; es ist dies die Beschränkung, der wir als endliche Wesen unterliegen – in Wirklichkeit aber geschieht es gleichzeitig, augenblicklich, denn das ist die kleinste Einheit, zu der sich die Zeit aufteilen läßt, ein Absolutum … So betrachten wir also in der Spielzeit Bewegung als bewegliche Partikel mit einem unterschiedlichen Grad von Zusammenhalt und Eigenidentität; als Teile unterschiedlicher, wellenförmiger Muster von Präsenz und Abwesenheit; als „unsichtbare Wellen“, die im leeren Raum in einer Zelle schwingen und in den Zielbereichen des sich entwickelnden Musters Reaktionen auslösen. Es gibt keine Bewegung, und es gibt keine Wellen. Punkt. Das ist eine Illusion. Es gibt lediglich die aufeinanderfolgende und wiederkehrende Interaktion zwischen der festgelegten Umgebung und den verbundenen Transitionsregeln und Paradigmen. Es ist notwendig, unsere Wahrnehmung von der Zelleinheit her nach außen zu lenken, um Phänomene einer höheren Ordnung vollständig verstehen zu können und so der Täuschung aus dem Weg zu gehen, die sich leicht einstellen kann, wenn vom Makrokosmos zum Mikrokosmos vorgegangen wird.

Die Spieltexte

 

Ein Angriff mit bösem Vorsatz war, wenn auch selten genug, zumindest unter bestimmten Voraussetzungen verständlich, und Morlenden konnte sich ebenso wie Fellirian noch deutlich an die Zeit erinnern, die eine Spanne verstrichen war, als die Straßenräuber aus der Maskenfabrik für Aufregung sorgten; auch an verschiedene Fehden zwischen Weben sowie an Vendetten von größerer oder geringerer Bedeutung konnten sie sich erinnern. Besonders die Dreiecksvendetta Khlefen-Termazen-Trithen der letzten Generation wäre da zu nennen, obwohl sie in der Gegenwart in Umfang und Form auf geringfügigere Äußerungen von milder Respektlosigkeit reduziert worden war.

Auf jeden Fall lagen sie, die Derens, zur Zeit mit niemanden in Fehde, und es war offensichtlich, daß Raub nicht das Motiv für den Angriff auf Morlenden war. Welche Absicht auch dahinter stand, er war mit einem Pfeil durchgeführt worden, also auf jeden Fall mit einer Waffe, die nur eingesetzt werden konnte, wenn sie die Hand verließ. Aus diesem Grund, und nach eingehender Prüfung des Pfeils selbst, kamen sie alle zu dem Ergebnis, daß der Angreifer ein Mensch gewesen sein mußte. Das aber erhob mehr Fragen, als es Antworten lieferte, denn wer von den Vorläufern konnte es fertigbringen, sich mitten in der Reservation lautlos durch Wald und Gebüsch zu bewegen und dann spurlos zu verschwinden? Und weiter, was noch wichtiger war, welcher Mensch könnte den Wunsch hegen, Morlenden zu verletzen? Nur eine Handvoll Menschen wußten überhaupt, daß er existierte.

Kaldherman, der exzentrischen Ideen zuneigte, hatte dem Verdacht Ausdruck verliehen, daß der Attentäter zu ihnen gehörte, eine Vorstellung mit äußerst beunruhigenden Implikationen. Diese Position bestärkend, äußerte Morlenden, daß Sanjirmil tatsächlich besorgt darüber gewesen sei, ob er möglicherweise Geheimnisse des Spiels enthüllt habe. Er nannte jedoch nicht alle Gründe dafür, da er es nicht über sich brachte, gegen sie eine Anklage zu erheben, und die Übrigen vermochten keinen Grund dafür zu erkennen, daß ein älterer Spieler sie einstellen und ein anderer sie hindern sollte.

Auch Krisshantem wurde verdächtigt, wenn auch aus keinem anderen Grund als dem seiner verblüffenden Lautlosigkeit in den Wäldern. Dazu kam noch sein Status als hifzer, in dem er zu allem in der Lage sein könnte; wenn erst einmal ein Bündel von Traditionen verschwand, wer konnte da sagen, welche anderen noch folgen könnten? Er hatte aber von allen das geringste Motiv und kam dann auch später an, um den Gedanken persönlich aus der Welt zu schaffen, und zwar einen Tag nach Morlenden in der Begleitung eines gewissen Halyandhin, einem der Ältesten der Hulens, der seine Angaben und seinen Aufenthaltsort voll und ganz bestätigte. Und die Frage blieb, wie sie war – ungeklärt. Krisshantem untersuchte die Stelle, von der der Angriff gekommen war, wollte aber nichts darüber sagen, was er dort sah oder ob er überhaupt etwas sah. Als er von Kaldherman dazu bis an die Grenze der Beleidigung bedrängt wurde, gab er widerwillig zu, daß es sich nach seinem Eindruck hier um das Werk eines Menschen mit überlegenen Fähigkeiten als Fährtenleser zu handeln schien, eine Vorstellung, die er als empörend betrachtete. In der Reservation gab es einfach keine Menschen.

 

So kam es, daß die Abordnung mit großen Befürchtungen von dem Deren-yos aufgebrochen und mit der Mono zum Institut gereist war, um dort mit Direktor Vance zu sprechen: Morlenden, Fellirian und Krisshantem. Sie waren es, denen Vance Anweisungen erteilte. Da waren noch weitere zwei, die Vance nicht zu Gesicht bekam und deren Anweisungen von Fellirian kamen: Kaldherman und Cannialin, die zusammen mit ihnen reisen sollten, dabei aber in diskretem Abstand blieben, als hätten sie mit ihnen nichts zu tun.

Die drei Ler, die mit der Untergrundbahn zur Bezirkszentrale aufbrachen, unterschieden sich beträchtlich von den Menschen, die die Untergrundstation zu dieser Tageszeit benutzten. Es war kurz nach der Mittagsstunde, so daß die Station relativ frei von der Ebbe und Flut der wechselnden Schichten war; trotzdem war der Verkehr recht dicht, zufällig die Bahn benutzende Menschen, aus Gründen unterwegs, deren Bedeutung unbekannt war. Von kleinerer Körpergröße und leichter gebaut als die Menschen, waren sie auch an ihrer Kleidung sofort erkennbar; die einfach herabfallenden Überhemden, selbst die dicken für den Winter, unterschieden sich stark von den dick gefalteten, hineingestopften, gebügelten und steifen Stoffen ihrer menschlichen Mitreisenden. Sie hatten ihre Kapuzen abgesetzt; zwei trugen den langen, einzelnen Haarzopf, wie er für den erwachsenen Ler in der Elternphase typisch war, während der dritte den anonymen Pagenschnitt des Heranwachsenden trug. Bei oberflächlicher Betrachtung wirkten sie wie eine Familiengruppe auf einem Ausflug, ein Eindruck, den sie auf Fellirians Vorschlag hin kultivierten, denn je weiter sie sich von der Reservation entfernten, desto weniger Menschen würden sich wirklich an die Webgepflogenheiten der Ler erinnern und würden daher ihre eigenen Bilder auf sie projizieren. Kaldherman und Cannialin hielten Kontakt, aber auch Abstand. Sie schienen nur Provinzler zu sein, die voller Erstaunen fast alles anstarrten, was sie sahen. Zumindest teilweise, für Kaldherman, war das nicht nur gespielt, denn dies war sein erster Ausflug nach draußen. Er war wirklich erstaunt.

In einer Pause, bevor er sich weiterbewegte, stand der Zug in der Station und wartete, gab sanfte mechanische Geräusche von sich, während sich in seiner ganzen Länge Türen öffneten und schlossen, und in der Station selbst bewegten sich Echos auf dem Bahnsteig auf und ab und suchten sich ein stilles Eckchen zwischen den stumpfen Betonfassaden, in denen sie sich aufrollen und sterben konnten. Die Untergrundstation war eine breite Halle von unbestimmbarer Länge – ein rauchiger bläulicher Dunst verschleierte die weit entfernten Enden, wo sich der Tunnel wieder in die Erde senkte. Man konnte spüren, daß die Begrenzungsmauern vorhanden waren, nicht sehr weit entfernt, aber trotzdem vage und schemenhaft; es gab nichts, worauf sich das Auge heften konnte, und die herrschende Düsterkeit, von dürftigen Lampen an der niedrigen Decke beleuchtet, beanspruchte die Kapazität des Auges bis zum äußersten.

Bei der nach oben führenden Treppe stocherte ein Straßenkehrer geistesabwesend mit einem Besen in einem unbedeutenden Haufen Schmutz herum und hustete dabei dann und wann ohne sonderliche Dringlichkeit. Bei dürftig beleuchteten Kiosks an den fleckigen Wänden diskutierten die Fahrgäste offensichtlich die Fahrpreise und die Zusammenstellung der Fahrpläne. Die Fragen waren wie die Antworten zögernd, zurückhaltend, rationalisiert und in einem Ausmaß qualifiziert, wie das kein Ler zu verstehen in der Lage wäre, und vermittelten einen melancholischen Eindruck ständiger Unentschlossenheit. Es war so, als hätten die endlosen Streitereien über Fahrpläne und Preise den Charakter einer unentgeltlichen Unterhaltung für sie angenommen, da sie sonst nirgends hingehen konnten, so daß sie zu einem Ersatz für inhaltsreichere Kommunikation und Beziehungen geworden waren. Über alldem hing ein Geruch, der für den Geruchsinn der Ler äußerst seltsam und merkwürdig war. Er erfüllte die dicke, feuchte Luft: Ozon, Schmieröl und Fett, Metall und Metallverbindungen, Hybride aus Metallokeramik und Plastik, ungewaschene Kleider, Zigarettenrauch, Menschen in verschiedenen Abstufungen von Hygiene.

Während sie auf den Stufen zur Oberfläche hochstiegen, fragte Morlenden Fellirian, ob es den Menschen mit all ihrer gigantischen Technologie nicht vielleicht möglich gewesen wäre, eine Rolltreppe zu installieren und für bessere Beleuchtung zu sorgen, wie sie das angeblich in manchen von den größeren Städten getan hatten.

Fellirian ging leise lächelnd weiter die Stufen zur oberen Welt hinauf und antwortete: „Sie haben hier einen Ausdruck, der das perfekt beschreibt: Sie nennen es Woanders-ismus. Wenn du fragst, warum irgend etwas nicht so ist, wie es sein sollte – soziale Ungleichheit, Schichten von unterschiedlicher Länge, Versagen von mechanischen Teilen, nichtexistente öffentliche Anlagen und ungerechte soziale Hilfen –, nennen dir die Verantwortlichen immer eine Stelle, am besten weit entfernt, an der alles genau richtig ist. Auf deine Frage nach Rolltreppen würdest du von dem lokalen Beamten höchstwahrscheinlich folgende Antwort bekommen: ‚Diese Anlage haben sie gerade diese Woche im Taschkent-Center installiert.’ Und in Taschkent oder in Zinder oder in Coquilhatville folgt auf Beschwerden dort die gleiche Antwort: ‚1m alten Nordamerika haben sie das ganze Zeug und außerdem noch niedrige Steuern.’{39} Es gibt außerdem noch eine Variante der Zeit, nicht nur des Ortes: Entweder hatten sie es, und es ist nur defekt, oder sie bekommen es im nächsten Sommer. Die Heißwasserleitungen reparieren sie im – genau erraten – tiefsten Winter. Nein, Olede, ich fürchte, von der Technologie kommt nur sehr wenig bis auf die Straße. Eigentlich ist es so, daß die hier …“ – und dabei deutete Fellirian mit einer leichten Kopfbewegung auf beliebige Passanten – „… insgesamt weniger davon haben als ihre Vorfahren. So geht es mit allen Dingen aus diesem Bereich, und das ist auch der Grund, warum wir sie mit größerer Vorsicht angehen.“

Sie erreichten den Gipfel der Treppe und traten in die freiere Luft eines Platzes, der von niedrigen, dezent gefärbten Gebäuden umgeben war. Direkt vor dem Treppenaufgang waren auf einem Schild, das an einem Pfahl befestigt war, in der Nähe gelegene wichtige Organisationen verzeichnet, die, wahrscheinlich von Interesse für den ankommenden Reisenden, nach den Hausnummern lokalisierbar waren, die den sie beherbergenden Gebäuden zur Identifizierung verliehen worden waren. Morlenden, der mit Modanglisch nicht so vertraut wie Fellirian war, dachte, daß an dem Schild etwas Merkwürdiges war, etwas, worauf er nicht den Finger legen konnte, bis es ihm klarwurde, daß verschiedene Wörter darauf offensichtlich orthographische Fehler enthielten, oder so schien es zumindest. Ein Wort war zweimal falsch geschrieben und dazu auf zwei verschiedene Arten. Die Irrtümer verliehen dem Schild und damit denen, die es aufgestellt hatten, einen Hauch von Inkompetenz, ein Eindruck, der durch den schäbigen Anstrich noch verstärkt wurde, den das Schild mehrere Male erhalten hatte.

Die Luft in der Stadt wirkte durchscheinend, ein Effekt, der sich aus der Zusammensetzung von leichtem Nebel, dem bedeckten Himmel, Dampf aus unterirdischen Schächten und verschiedenartigem Qualm ergab; auch hier, wie in der Station unter der Erde, herrschte eine ähnliche Unbestimmtheit, eine mangelnde Determinierung der Entfernungen. Ein paar verlorene Bäume standen in Betonkästen, die in unregelmäßigen Abständen am Rande des Fußwegs, der um den Platz führte, verteilt waren, wobei die Bäume jetzt zum größten Teil frei von Blättern waren und das Kondensat der Luft herabtropfen ließen.

Von den Gebäuden, die sie sehen konnten, während sie stehenblieben, um Fellirian die Orientierung zu ermöglichen, schien keines höher als drei oder vier Stockwerke zu sein, und keines verfügte über irgendeinen Hinweis, der sich auf ihre Bewohner oder ihre Funktion bezog; an der Ecke jedes Gebäudes waren allerdings riesige Schilder angebracht, auf denen Zahlen standen, die jedoch mit keiner anderen Zahl, die zu sehen war, in irgendeiner Beziehung zu stehen schienen. Ein Schild verkündete: „3754“. Ein weiteres, direkt daneben, meinte ebenso bestimmt: „2071“. Die Straßen verliefen nach dem Muster eines Rechtecks und hatten normale Ecken in einem Winkel von neunzig Grad, aber es war das Muster eines Irrgartens und nicht das von Durchgangsstraßen; keine der Straßen schien direkt zu einem bestimmten Punkt zu führen. Morlenden machte beiläufig eine vulgäre Bemerkung, wonach es so schien, als legten die Menschen ihre Straßen nach dem Muster der Fliesen in öffentlichen Toiletten im Institut an: Die Linien mit ihren Winkeln von neunzig Grad hatten kein Ziel.

Sie wußten, wohin sie zu gehen hatten – zum Gebäude 8905, wie Vance ihnen gesagt hatte –, aber dieses Gebäude war auf dem Hinweisschild nicht verzeichnet, und von ihrem Standpunkt auf dem Platz aus konnte es auch keiner von ihnen ausmachen. Fellirian, mit den Menschen vertrauter als Morlenden oder Krisshantem, hielt einen Passanten an und fragte ihn, wo sich das Gebäude 8905 befand.

Der Mann antwortete ihr etwas verstohlen und hastete weiter in die Station und die Treppe hinunter. Fellirian kam zu den anderen zurück und sagte: „Der da sagte, daß Acht-neun-null-fünf links von uns liegt und einige Blocks entfernt ist. Von dem Platz aus nach links, nach Drei-sieben-fünf-vier dort drüben nach rechts, über eine Seitenstraße, dann wieder links und die nächste Straße danach wieder links. Links, rechts, überqueren, links und links.“

Kris stieß einen unterdrückten Ausruf aus: „Wahnsinn! Keiner von diesen Blocks ist in irgendeiner Ordnung numeriert. Warum geben sie ihnen denn dann überhaupt Zahlen?“

„Ich weiß“, sagte sie. „Es ist ein grauenhaftes System. Ursprünglich stand einmal eine gute Absicht dahinter, nehme ich an; damals gab es noch eine Ordnung. Als dann aber wiederaufgebaut worden ist und sich alles verändert hat, ist sie durcheinandergekommen. Dann und wann versucht jemand in der Verwaltung, in seinem Distrikt wieder Ordnung zu schaffen, aber wenn eine Hausnummer geändert wird, muß jeder Hinweis und Bezug darauf in allen Akten geändert werden. In allen Plänen. Und die Leute kommen durcheinander. Du solltest einmal versuchen, im öffentlichen Netz, so wie es ist, einen Anruf zu tätigen! Das ist noch viel schlimmer. Durchschnittlich vier oder fünf Anrufe sind notwendig, um eine Verbindung mit der Abteilung eines Amts oder der Person herzustellen, die man erreichen will. Also, ich weiß von einem Fall, in dem ich eine Nummer gewählt habe, und eine Person hat geantwortet. Es war aber nicht der Mann, den ich sprechen wollte, und er gab mir eine andere Nummer. Ich wählte sie, und am anderen Ende klingelte es; der gleiche Mann beantwortete den Anruf auf dem gleichen Apparat und sagte mir, daß der Teilnehmer, den ich sprechen wollte, nicht anwesend sei! Und in den Telefonbüchern stimmt nichts: Ersatzteile stehen in der Sektion ‚Logistik’, aber die Büros für die Logistik-Pläne sind unter ‚Pläne’ verzeichnet. Zuerst dachte ich, das sei nur ich, ich sei daran schuld, weil ich mich über den Schlüssel zu dem Ganzen nicht informiert habe, aber Vance sagte mir, das sei bei allen so; sie tragen alle kleine persönliche Telefonbücher mit sich herum, die sie sich im Verlauf von vielen Jahren zusammengestellt haben, in denen die wirklichen Nummern von Ämtern und Leuten stehen. Manche Leute haben tatsächlich eine geheime Nebenbeschäftigung als professionelle Listenersteller. Andere verkaufen private Telefonbücher zu horrenden Preisen.“

Morlenden schüttelte den Kopf. „Es hat auf jeden Fall den Anschein, als würden diese Nummern den Eindruck von Ordnung erwecken.“

Krisshantem meinte noch: „Es überrascht mich, daß sie auf dieser Basis eine allem Anschein nach funktionierende Gesellschaft haben können.“

Sie antwortete: „Vance hat eine Theorie, der auch ich folge, daß es für dieses Durcheinander einen guten Grund gibt, der auch erklärt, warum die Gesellschaft sich zur Arbeit damit entschließt. Er denkt, daß bürokratische Systeme und Zahlen, die wie diese hier durcheinandergeraten sind, nicht aus Unachtsamkeit resultieren, sondern aus spezifischen, wenn auch nur halbbewußten Versuchen, den Abstand zwischen den Menschen zu vergrößern, weil die Zivilisation sie enger aneinandergedrückt hat, als sie das von Natur aus verkraften können. Sie bauen in all ihre Geschäfte eine Zeitverzögerung ein, da sie, im individuellen Raum beschränkt, sich in der Zeit ausbreiten müssen.“

„Sie haben Frustration gegen Befriedigung eingetauscht, darüber kann kein Zweifel bestehen“, sagte Morlenden abschließend, als sie sich nach links über den Platz in Richtung auf das Gebäude 8905 in Bewegung setzten.

Sie sagte: „Richtig! Diese Frustration aber ist ein Problem für das Bewußtsein: Sie läßt sich rationalisieren, was ihre Wirksamkeit noch verstärkt. Revier- und raumbedingte Aggression aber spielt sich auf einer tieferen Ebene ab, ist den Instinkten näher und daher schwieriger unter Kontrolle zu bringen. Nein, der Tausch von Zeit gegen Raum funktioniert.“

Er lachte. „Und deshalb bauen wir genau das gleiche auf! Schau uns doch an, dich und mich, Eliya; mit all unseren Aufzeichnungen von Geburten und Sterbefällen und Übertragungen auf Ältestenhütten. Weblinien-Diagramme, Webbücher, Zusammenstellung von Namen. Bereiten wir nicht zur Zeit die Basis vor, damit später bei uns das gleiche kommt? Ich meine, wenn wir die Zukunft in miel Jahren besuchen könnten, würden wir Hunderte von kleinen Perderens, Terderens und Zhanderens sehen, wie sie alle eifrig in ihren kleinen Büros schreiben, genau wie hier, und es wird von ihnen verlangt werden, daß sie uns wegen jedem unbedeutenden kleinen Vorkommnis aufsuchen, während wir uns nicht dazu herablassen, zu ihnen zu gehen.“

Fellirian gab ihm keine Antwort, und Krisshantem fügte noch äußerst geheimnisvoll hinzu: „Das ist auch eine Methode, die Zeit zu verlangsamen oder anzuhalten. Alle Ereignisse hinterlassen Wellen, und diese Methoden sind kümmerliche Versuche, diese Wellen zum Stehen zu bringen. Das gibt ihnen die Illusion von Permanenz und Bedeutung, all denen, die sich von der allgemeinen Bewegung fortgespült fühlen. Die Ereignisse selbst aber werden nie über ihre Zeit hinaus verlängert; sie werden nicht einmal berührt, denn mit diesen Dingen geht man ihnen aus dem Weg.“

Diese Bemerkung hinterließ bei Morlenden aus einem unerklärlichen Grund ein unangenehmes Gefühl von düsterer Vorahnung, als gäbe es eine nicht näher bezeichnete Drohung. Krisshantem neigte bisweilen dazu, orakelähnliche Parabeln von sich zu geben, Aussagen, deren wirkliche Bedeutung nicht einmal er selbst auf der bewußten Ebene verstand. Auch Morlenden nicht …

Sie hatten den Platz nun hinter sich gelassen, waren zum ersten Mal abgebogen und gingen jetzt auf einer engen Straße zwischen zwei Gebäuden, die kleiner als die anderen wirkten. Die schmutzigen Pastellfarben oder unverputzte Fronten, die tiefhängenden Wolken, die Andeutung von Winternebel, die allgegenwärtigen Gerüche, Dünste, Farben und Dämpfe vereinigten sich zu einer fremden Struktur, die ihrem Unternehmen eine heimliche, der Erkenntnis sich gerade noch entziehende Melancholie verlieh. Tatsächlich lag in ihrem Unternehmen jedoch Gefahr verborgen, wie sie alle wußten, eine große Gefahr. Aber so nahe diese auch sein mochte, schien sie zugleich dennoch weit entfernt zu sein, winzig, anonym, wie zufälliges oder blindes Schicksal, wenn da überhaupt etwas war. Alles, was übrigblieb, war nicht Erregung, sondern eine merkwürdige Traurigkeit, ein eigenartiges Gefühl, das ihnen in ihrer Erinnerung fremd war, obwohl sie alle im Verlauf ihres Lebens schmerzhafte Umstände kennengelernt hatten. Es jagte sie in Lässigkeit und zur gleichen Zeit in blinde, halsbrecherische Aktionen um ihrer selbst willen. Und die vorbeigehenden Menschen schienen dieses Gefühl zu teilen.

Sie begannen, sich untereinander zu unterhalten, um die Spannung zu lockern, die sich zwischen ihnen aufbaute. Das zugrunde liegende Grau, die grundsätzliche Farbe hinter diesem verhangenen grauen Tag, veränderte und verschob sich, zog sich plötzlich zusammen, lichtete sich dann wieder, nur um sich erneut zusammenzuziehen. Einmal war es gelblich, dann blau und violett, und dann präsentierte es sich wieder mit einem Ton von Rosa. Die Wolkendecke war dünn, und die Wolken zogen über das Stück Himmel, das zwischen den Häusern sichtbar war, bewegten sich über den gesichtslosen und namenlosen Gebäuden dahin und verschoben in ihren undeutlichen, formlosen Schichten das Licht.

Krisshantem war der erste, der offen darüber sprach. „Warum fühlen wir uns so, wie das hier der Fall ist? Ist uns diese Stadt so fremd?“

Dieses Mal blieb ihm Morlenden die Antwort schuldig. Fellirian sah sich einmal um, murmelte sich etwas Unverständliches vor sich hin und sagte dann: „Früher nannten sie das sienon … den Blues, aber diesen Ausdruck kennen nur noch wenige. Sie fühlen ihn trotzdem alle. Es gibt kein Naturgesetz, das besagt, daß Menschen nicht in Städten leben können, und das gilt auch für uns. Es ist nur so, daß diese Art Stadt für sie nicht richtig ist. Oder für uns. Wir fühlen die Verkehrtheit.“

Krisshantem verdaute die Antwort schweigend. Dann fragte er: „Und du bist also sicher, daß wir Maellen hier finden werden, in diesem Bau, in diesem Acht-neun-null-fünf?“

Sie sagte: „Vance war zumindest der Meinung. Er sagte aber auch, daß nach seinem Informanten mit ihr etwas nicht stimmt. Ich bin zu dem Urteil gekommen, daß wir gut daran getan haben, ein paar zusätzliche Tage darauf zu verwenden, das Wiedererwecken und das Neuprogrammieren von Vergessenden zu üben.“

„Jetzt, da wir hier sind“, sagte Kris, „gefällt mir das gar nicht. Wir sollten eine solche Angelegenheit hier nicht einmal diskutieren, von dem Versuch, sie durchzuführen, ganz zu schweigen.“

Morlenden stimmte ihm teilweise zu. „Auch ich würde es vorziehen, es in einer sichereren Umgebung zu versuchen, aber da gibt es noch das Problem, daß wir sie dann zurücktragen müßten … Mir wäre es auch lieber, wenn Kal nicht dabei zusehen würde, wie wir das durchführen; wahrscheinlich wird er es für schwarze Magie der übelsten Sorte halten.“ Dann sagte er noch: „Aber auf der anderen Seite geht es nicht mehr so sehr darum, was wir lieber tun würden, nicht wahr?“

Fellirian lachte tief unten in ihrer Kehle. „Sehr wahr, was du da sagst … aber ich habe einen Trick im Sinn, und wenn der klappt, dann wird sie aus eigener Kraft gehen können.“

Morlenden sprach weiter zu Krisshantem: „Also gut. Du hast uns die Methode beigebracht, Vergessende zurückzuholen; bist du sicher, daß wir von der ursprünglichen Maellenkleth wirklich nichts zurückrufen können?“

Kris schaute sich ziellos um, sah die angeschlagenen, rissigen Fassaden, die blinden Fenster, von denen es wenig genug gab, sah den Film aus Staub und Fett auf ihnen und die Streifen, die der Regen hinterlassen hatte. Er sagte kalt und unpersönlich: „Völlig sicher. Da ist nichts mehr. Na gut, Fragmente sind vielleicht tatsächlich noch vorhanden, und, wenn wir sie einige Monate lang beobachten, können wir in der Richtung vielleicht etwas erwarten, bis die neue Persona sie verdaut und verarbeitet hat. Kleine Zufallsbrocken, Blitze von Mnemon-Teilen, aber die Erinnerung und die alte Persona? Das ist alles verschwunden. Ich habe gehört, daß Vergessende manchmal merkwürdige Dinge von sich geben, Andeutungen von alten Erinnerungen, aber sie wissen selbst nicht, warum sie sie sagen, und nach einiger Zeit hören sie damit auf.“

Während sie weitergingen, streckte Fellirian die Hand aus und berührte den Jungen in einer Geste der Zuneigung, die zur Hälfte aus mütterlicher Beruhigung und zur Hälfte aus Trost für eine Person bestand, die gleichberechtigt geteilt hatte. Krisshantem gehörte ein bißchen beiden Welten an. Sie sagte: „Das ist also in zweifacher Hinsicht grausam, da sie fast sicher eine Vergessende sein wird. Gerade dadurch, daß wir uns damit befassen, sie zurückzuholen, verlierst du sie. Was wir zurückbekommen werden, wird eine Fremde sein.“

Kris gab zurück: „So wird es sein, so muß es sein.“

„Es tut mir leid, ehrlich leid, daß wir dich da hineinziehen mußten. Es gab da schließlich auch noch andere …“

„Das ist keine Sache, die dir leid tun sollte, Fellirian Deren. Ich möchte es nicht anders haben; es wird damit viel von dem zurückgezahlt, was sie mir geschenkt hat. Ihr braucht keine Angst zu haben: Ich werde es richtig machen und euch gut führen. Mit diesem Kummer habe ich mich schon auseinandergesetzt, und um Echos werde ich nicht trauern.“

Nun bogen sie zum letzten Mal nach links ab, blieben stehen und sahen sich unsicher um. Endlich entdeckten sie ein kleines, verdrecktes Schild, das an einem unauffälligen Gebäude befestigt war und auf dem 8905 stand. Nachdem sie einige weitere Augenblicke herumgesucht hatten, fanden sie einen kleinen, unscheinbaren Eingang, durch den sie, nicht ohne ein gewisses ungutes Gefühl, traten, dann waren sie in dem Gebäude. Was war es doch, was Vance ihnen gesagt hatte? Wenn ihr in Acht-neun-null-fünf seid, macht keine Besichtigungstour oder zeigt irgendwelche harmlose Neugier; ignoriert all das, was ihr seht, wenn es euch nicht ausdrücklich gezeigt wird. Acht-neun-null-fünf kann für die zum Klagehaus werden, die zu genau hineinsehen. Innen sah alles ganz harmlos aus. Ein beschäftigter, harmlos aussehender Angestellter saß in der Rezeption hinter einem unordentlichen Schreibtisch, der mit Formularen und Blättern überladen war, und wies sie in ein kleines Vorzimmer, in dem sie auf Plastikstühlen, von denen jemand in ferner Vergangenheit irrtümlicherweise angenommen hatte, sie würden sich der Körperform anpassen, Platz nahmen und warteten.

 

Nach einer Warteperiode von unbekannter Dauer, denn es hatte den Anschein, als sei die Zeit in diesem Gebäude auf eine seltsame Art ausgeschlossen, erschien ein einzelner Mensch, mit einer Bluse und Hosen in sehr dunklem Blau bekleidet, eine Kleidung, die bis auf ein auffälliges wappenähnliches Zeichen links oben an der Brust gänzlich schmucklos war. Der hier hatte eine sehr dunkle Haut und war beeindruckend und würdig, zurückhaltend, aber vital, alles zur gleichen Zeit. Sein Gesicht war unbeweglich, aber sicherlich nicht leer. Als Fellirian ihn sah, machte sie eine unwillkürliche Geste und schob sich nervös das feine braune Haar aus ihrer Stirn zurück. Morlenden hatte diese Geste bei ihr erst sehr selten gesehen, und nur dann, wenn sie jemanden traf, der über bedeutend mehr takh{40} als sie selbst verfügte. Er wurde hellwach. Der hier war es.

Der Mann sprach sie an. „Ich bin Hando Errat. Ich bin dazu eingeteilt worden, Sie zu unterstützen und die Formblätter, die ausgefüllt werden müssen, an Sie auszugeben. Sind Sie die Personen, denen die Aufsicht über das Mädchen übertragen worden ist?“

Fellirian stand auf und antwortete ihm: „Ja. Der Auftrag wurde uns von ihrer Familie übertragen. Wir sind für die Steueraufzeichnungen zuständig, was bei uns dem Beamtentum am nächsten kommt, wie Sie es nennen würden.“ Als sie aufstand, um mit Errat zu sprechen, sah Morlenden, wie groß die Menschen wirklich waren: Er war fast zwei Köpfe größer als Fellirian.

Das bewegungslose Gesicht veränderte seinen Ausdruck nicht, sondern er sprach fast feierlich: „Es gibt da eine kleine Schwierigkeit. Sie war offensichtlich für die Zerstörung einiger wertvoller Instrumente verantwortlich.“

„Das wußten wir nicht“, antwortete sie ihm mir sorgfältiger Neutralität.

„Es wird keine Bestrafung verlangt werden. Der Wert der Gegenstände muß ersetzt werden. Außerdem hat sie seit dieser Zeit Pflege erhalten.“

Fellirian sagte: „Wir haben kein Geld für eine solche Eventualität mitgebracht. Was die Pflegesätze anbetrifft, so bin ich sicher, daß jede Anerkenntniserklärung, die ich unterzeichne, von unseren Auftraggebern voll und ganz anerkannt werden wird. Mein Wort als Oberhaupt der Webe darauf.“

Morlenden fragte: „Was waren das für Instrumente?“

„Gerätschaften von geringer Bedeutung. Ein seltsamer Fall; wir waren nicht in der Lage zu verstehen, warum sie das getan hat. Ich glaube, die Kosten belaufen sich insgesamt auf ungefähr knapp tausend Währungseinheiten“, sagte Errat, und in seinem Gesicht, seiner Haltung und dem Ton seiner tiefen Stimme zeigte sich kaum merklich Enttäuschung. Fellirian durchschaute ihn und entspannte sich, denn sie erkannte, daß er sie gewogen und für unschuldig befunden hatte. Befragungsspezialist der Aufsicht, dachte sie und entzifferte endlich sein Abzeichen. Er war offenbar sorgfältig dafür ausgebildet worden, die kleinsten Einzelheiten zu erkennen und daher in der Lage, auch aus den sorgfältigsten Ausweichmanövern ganze Bände zu lesen. Er machte eine Pause, als sei er damit beschäftigt, Unwägbarkeiten, unsichtbare Größen zu beurteilen.

Dann: „Was werden Sie mit dem Mädchen anfangen? Sie befindet sich zur Zeit in einem Zustand, den ich als inoperabel bezeichnen würde. Man hat mir mitgeteilt, daß er sich aus unbekannten Gründen eingestellt hat.“

Fellirian antwortete: „Das gehört zu unserem Zuständigkeitsbereich. Wir wußten, daß ein solcher Zustand möglich war. Wir beabsichtigen, sie in die Gemeinschaft unseres Volks zurückzubringen, wo Methoden zur Verfügung stehen, sie wiederherzustellen … aber nicht so, wie sie vorher war. Sie kann nie wieder so werden, wie sie vorher war; sie hat ihr gesamtes Gedächtnis verloren.“

„Amnesie?“

„Nein, es ist mehr als das. Es ist verschwunden, das ist alles. Wir werden in ihr eine neue Persönlichkeit aufbauen, die ausreicht, damit sie funktioniert.“

„Verfügen Sie über solche Möglichkeiten?“

„Sie wird neu lernen, wie das Neugeborene tun. Das einzige, was wir tun, ist, daß wir diesen Prozeß etwas beschleunigen. Persönlichkeit und Gedächtnis sind zeitlos, ohne Dimension, eine Wellenfront. Wir werden eine neue Welle in Bewegung setzen.“

„Werden Sie sie neu programmieren?“ Errat war gefährlich scharfsichtig.

„Genau.“

„Wir wußten nicht, daß Ihr Volk dazu in der Lage ist.“

„Das ist auch weder schnell möglich noch leicht – nicht für sie und nicht für die, die das Neue aufbauen.“

„Darf ich fragen, wie Sie das tun?“

„Durch einen Prozeß, der bei den Menschen keine Entsprechung hat und für Sie keinen Sinn ergibt; außerdem würde es natürlich gegen mein Ehrgefühl verstoßen, wenn ich Ihnen etwas enthüllen würde, das eigentlich im Kern eine höchst religiöse Zeremonie ist.“

Es herrschte eine unheimliche Stille, während Errat das verdaute, was Fellirian gesagt hatte. Er spürte, daß das, was dieser kleine, zierliche Neue Mensch da sagte, die Wahrheit war, oder zumindest zum größten Teil. Neuprogrammierung also! Das war eine Neuigkeit! Aber zugleich war es ein Ablenkungsmanöver, denn sonst würden sie diese Fakten nicht so ohne weiteres anbieten. Außerdem war es ein stillschweigendes Eingeständnis: Was auch immer das Mädchen gewesen war, was auch immer es gewußt hatte – es war verschwunden, auch für sie. Sie wollten sie aus religiösen Gründen zurück haben! Kultur! Was für ein Unsinn! Tief drinnen in seiner Sicherheit spürte Errat ein leises Zittern von Unsicherheit. Vielleicht gab es hier eine geschickte Täuschung, aber sie entzog sich knapp seinem Griff; etwas war ein wenig zu weit entfernt. Nun gut, sie hatte gesagt, so würde es sein, aber wenn schon, seine Anweisungen waren ganz klar, wie sein eigener Plan. Überlaß ihnen das Zimmer und schau genau hin, was sie damit machen. Sie sind einfältig, auch wenn sie so tun, als seien sie raffiniert und wüßten Bescheid.

Unter alldem Getue sind sie trotzdem genau das: einfältig. Und eine andere Stimme sagte: Falsch, falsch. Was hatte es damit auf sich?

Und er sagte: „Sicher, natürlich. Ich würde nicht im Traum daran denken, gegen ein Gelübde zu verstoßen. Wir haben solche Dinge ebenso wie Sie. Wir wären allerdings natürlich äußerst dankbar für alle Erkenntnisse, die Sie durch das Institut weitergeben könnten. Haben Sie da Verbindungen? Sie würden ohne Zweifel dort gern solche Gedanken bei einigen von den Problemen zur Anwendung bringen, mit denen wir es hier zu tun haben. Wir haben auf diesem Gebiet ein ganz erhebliches Problem … die Menschen verlegen oder vergessen Dinge, versinken in verantwortungslose Träumereien, beginnen damit, ihre Zeit mit Tagträumen zu verbringen.“

Fellirian schüttelte den Kopf. „Ich weiß das Ziel gebührend zu würdigen, das Sie vor Augen haben, vermag aber nur wenig zu sehen, was wir Ihnen dabei zur Hilfe mit auf den Weg geben können. Was wir tun unterstützt nicht das Gedächtnis oder vergrößert die Reichweite der Aufmerksamkeit oder verleiht denen, deren Verstand nachläßt, neue Energie. Ich werde jedoch ihre Bedürfnisse bei meinen Freunden am Institut zur Sprache bringen; ich bin sicher, daß sie in der Lage sein werden, Ihnen Erkenntnisse anzubieten, die Ihnen von Nutzen sein werden.“ Unentschieden! Errat hatte versucht, Fellirian durch Negative aus der Reserve zu locken; laß sie genug Anwendungsbereiche ausschließen, und er konnte das Gebiet selbst finden und ausfüllen, wenn er es nur ein bißchen schlau anstellte. Sie hatte ihm aber einfach seine eigenen Kategorien zurückgegeben und dann die Unterhaltung beendet.

Errat nickte. Er verstand, was gesagt worden war, aber auch das, was implizit mit zum Ausdruck gekommen war. Er trat etwas zurück und bedeutete ihnen mit einer Handbewegung, ihm zu folgen. „Also gut, kommen Sie mit. Wir können das Mädchen entlassen, wenn Sie für sie bereit sind.“

Sie folgten Errat aus dem Vorzimmer, und Morlenden schaute sich mit Blicken, die von dem eigentlichen Objekt des Blicks abgewendet waren, genau und vorsichtig um, als sie auf äußerst umständlichen Wegen durch das Innere des Gebäudes 8905 gingen; da gab es Gänge mit dürftiger Beleuchtung und zahlreiche abrupte Ecken; kurze, düstere Treppen, Fahrstühle, Durchgänge, Rampen. In seinen Augen war 8905 unheimlich, fremd, ein Bau, der Konzepte verkörperte, die sie kaum kannten und noch weniger pflegten. Seine Fremdheit, das fühlte er instinktiv, besaß eine Komplexität, die sein eigentliches Wesen selbst vor seinen regelmäßigen Besuchern verbarg. Außerdem wurde er den Verdacht, der sich ebenso instinktiv erhob, nicht los, daß der Weg, den sie gingen, nicht die übliche Route durch das Gebäude war, sondern ein Nebenweg, ein Weg für den Hausmeister, oder vielleicht folgten sie auch dem Kontrollgang eines Nachtwächters. Oder vielleicht war es ein geheimer Weg, den nur Eingeweihte kannten. Errat zögerte nicht: Er schien genau zu wissen, wohin er ging. Sie trafen auf ihrem Weg kaum Menschen und jene, die sie trafen, gingen ihren eigenen Geschäften nach und beachteten sie über oberflächliche Blicke hinaus nicht. Und weiter ging es. Manchmal aufwärts, manchmal abwärts. Das Licht von den Milchglasscheiben veränderte sich nicht, ganz gleich, wie die Fenster angeordnet waren, und die Beleuchtung veränderte sich in ihrer Qualität überhaupt nicht. Morlenden wußte, daß sie weiter gelaufen war, als dies durch Abschreiten des Gebäudes von außen möglich gewesen wäre. Dies und dazu das unveränderte Licht überzeugten ihn davon, daß sie, wo auch immer sie waren, nicht mehr in dem Gebäude waren, das sie von außen gesehen hatten. Ein kalter Schauer durchzuckte ihn. Die ganze Gegend hier muß Acht-neun-null-fünf sein, ausgehöhlt wie ein Ameisenhaufen, mit verbundenen Gängen und Überführungen, und jedes einzelne von den Fenstern ist nach außen blind, und seine Beleuchtung steht unter künstlicher Kontrolle. Was von draußen zu sehen ist, das ist nur eine Fassade, die dazu noch in einer Seitenstraße steht.

Er sah verstohlen zu den anderen hinüber, die mit ihm gekommen waren. Fellirian waren die Gebräuche der Vorläufer nicht so fremd, und sie schien hier nur wenig wachsamer als sonst zu sein. Sie würden ihnen offensichtlich das Mädchen übergeben und sie ziehen lassen. Was auch immer sie sonst noch im Sinn hatten, sie hatte das Gefühl, damit könnten sie fertig werden. In ihrem Gesicht jedoch, um ihre großen, ausdrucksvollen Augen herum, an den Winkeln ihres großen, vollen Munds fanden sich kaum merkliche kleine Falten und zuckende Muskeln, die ihre Besorgnis um den Zustand verrieten, in dem sie nach ihrer Erwartung Maellenkleth vorfinden würden. Oder vielmehr jene Person, die einmal Maellenkleth gewesen war. Es nicht mehr war. Sie, die in den Körper erst noch einziehen würde, sie, der sie den Namen Schaeszendur geben wollten, denn wenn der Körper auch der gleiche sein würde, so würde es doch eine andere Persona sein.

Krisshantem auf der anderen Seite war angespannt und mißtrauisch wie ein wildes Tier, das zum ersten Mal den Zoo vor sich sieht. Alle Sinne waren wachsam, jegliche Wahrnehmung befand sich am Gipfel der Empfindsamkeit. Morlenden hatte es gelernt, den Eindrücken des Jungen zu vertrauen, und er erinnerte sich daran, daß er während ihres Wegs zu diesem Haus, diesem Ameisenhügel, nicht so nervös gewesen war, sondern nur übellaunig und gereizt. Er spürte also etwas in Beziehung zu diesem Gebäude 8905. Was war es, das er an diesen kahlen, manchmal rissigen und fleckigen Wänden, den massiven, schweren Türen, den vereinzelten Gestalten, die mit abgewandten Augen an ihnen vorbeigingen, und der Stille gesehen, gespürt oder aus alldem geschlossen hatte? War es nur die Stille? Sie war, wie Morlenden wußte, nicht die Stille der Abwesenheit, sondern der Druck von Nähe, von sorgfältig verborgenen Dingen.

Endlich erreichten sie einen Teil des Hauses, der durch seine bessere Beleuchtung und einen scharfen, schneidenden Geruch in der Luft seine Bestimmung für medizinische Zwecke enthüllte. In dem Komplex von Gerüchen waren auch die Spuren von zahlreichen anderen Substanzen auszumachen, zum größten Teil organischer Art, manche natürlich, andere in höchstem Maße künstlich. Er konnte keine von ihnen identifizieren. Sie gingen durch einen hellbeleuchteten Bereich, der die Quelle des größten Teils der Gerüche zu sein schien, ein Labor, und weiter in einen Gebäudeteil, der aus Krankenzimmern und anderen Räumen bestand. Errat sprach kurz zu einem Pfleger, der scheinbar aus dem Nichts erschienen war, und sie betraten eines der Zimmer. Es enthielt einen Bewohner, der locker an ein Krankenhausbett geschnallt war. Es war Maellenkleth.

Auf Morlenden, der sich an das mnemo-holistische Bild erinnerte, das Krisshantem ihm eingeprägt hatte, wirkte das Mädchen kaum verändert, was den Gesamteindruck und die Gestalt anbetraf, obwohl sie ein wenig dünner war als in seiner Erinnerung an das Bild. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht aber war weder der einer lebendigen Heranwachsenden noch der einer Person, die sich in sich zurückgezogen hatte, sondern der einer verlassenen Neugeborenen: ausdruckslos, leer und unkoordiniert. Das war leicht zu erkennen, aber dieser Unterschied sagte alles, selbst wenn man ihn in seiner Einfachheit beinahe übersah. Die Persönlichkeit, die Persona, die undefinierbare, nicht zu umreißende Person, die diesen Körper bewohnt hatte und für seine Handlungen verantwortlich gewesen war, war verschwunden, als sei sie nie dagewesen. Das war genau genommen nicht Maellenkleth, sondern eine leere Schale, die früher einmal auf diesen Namen gehört hatte.

Morlenden hatte noch nie vorher in seinem Leben einen Vergessenden aus der Nähe gesehen; und es war ihm vorher noch nicht in den Sinn gekommen, was ihm nun mit verdoppelter Gewalt vor Augen geführt wurde, daß nämlich in der Tat hier etwas ganz und gar nicht in Ordnung gewesen war, um zu diesem Resultat zu führen. Er kannte das Geheimnis noch nicht, das Maellenkleth mit ihrem Leben gehütet hatte, aber mit dem Wissen, über das er verfügte, war er sich sicher, daß dies kein Unfall gewesen war. Intuition: Das ist nicht zufällig geschehen. Es wurde ausgelöst.

Er beobachtete Krisshantem genau. Dieser Augenblick durfte, mehr als alle anderen, nicht von der Kraft des Wassers beherrscht werden. Die Empfindungen. Kris durfte es keinen Beobachter erkennen lassen, daß er zu ihr auch nur in der geringsten Beziehung stand. Was würde er tun? Der Junge tat nichts. Krisshantem sah das Mädchen genau an, musterte sie kühl, als sei sie nichts als ein weiteres Versuchsobjekt aus den Labors hier, und wandte sich dann wieder Morlenden zu. Der Ausdruck auf dem Gesicht des Jungen sagte Morlenden das, was er sehen wollte: Diese Person ist nicht das Mädchen, das ich gekannt und geliebt habe, mit der ich geschlafen und zahllose Augenblicke in süßer dhainaz geteilt habe, von denen wir gehofft hatten, sie würden nie enden. Ja, früher einmal war sie es, aber diese hier ist eine Fremde. Sie verdient Zuneigung und Respekt, dieses fremde ksensrithman-Mädchen, aber nicht viel mehr als das. Und von Rache reden wir später, wenn wir mehr wissen. Viel mehr. Es war ein Gesichtsausdruck voller Logik und Pflichterfüllung. Nicht mehr – nur daß ganz tief darunter ein Feuer glimmte.

Sowohl Fellirian als auch Morlenden hatten plötzlich das Gefühl, als würden all ihre Pläne in einen faulen Sumpf fallen und sich dort auflösen. Was konnten sie mit ihr anfangen? Sie war hilflos, und es war unmöglich, sie hier zu heilen. Wahnsinn! Sie waren sich über das richtige Vorgehen im unklaren. Sollten sie einfach zu dem Bett hingehen, sie ohne Zeremonie herausheben und sie wie einen Sack Kartoffeln wegschaffen? Wozu war sie in der Lage, wozu nicht?

Errat spürte die ausweglose Situation, in der sie sich befanden, und schlug höflich vor: „Wir haben den Eindruck, daß sie nicht mehr Reaktionen zeigt als eine durchschnittliche Neugeborene, nach unserem menschlichen Standard hier eigentlich sogar weniger. Sie scheint nicht so schnell zu lernen. Am Anfang mußten wir sie fesseln, weil sie sich unkontrolliert herumwarf; später konnte sie sich dann soweit kontrollieren, daß sie abrupte Bewegungen vermied. Jetzt ist sie meistens ruhig. Sie kann sich weder selbst umdrehen noch sich aufsetzen, noch in irgendeiner Weise für sich selbst sorgen. Sie ist in einer äußerst merkwürdigen Kondition. Ist das die spezifische Form einer Ler-Psychose?“

Fellirian antwortete: „Eine Psychose ist es ganz definitiv nicht.“

„Wir mußten sogar Übungen mit ihr machen, aber ich bin sicher, daß ihre Muskulatur in erheblichem Maß atrophiert ist … Was werden Sie mit ihr tun?“

Morlenden gab ihm Auskunft: „Wir werden sie wohl zu uns nach Hause tragen müssen. Wir brauchen dazu etwas, womit wir sie tragen können. Vielleicht eine … Bahre. Entschuldigen Sie bitte, aber mein Modanglisch hat nicht mehr als Schulniveau, und die korrekten Ausdrücke sind mir nicht geläufig.“

Errat antwortete glatt: „Ja. Natürlich. Die bekommen Sie.“ Er drehte sich zu einem Pfleger um, der ein paar Worte mit ihm wechselte und dann verschwand. Errat machte eine ungeduldige Handbewegung. „Ja, ohne Schwierigkeiten. Der Pfleger holt sie Ihnen jetzt sofort. Aber selbst, wenn Sie zu dritt sind, brauchen Sie Hilfe.“

Fellirian sagte: „Wir schaffen es schon.“

Errat schien kaum merklich eindringlicher zu werden. „Das macht gar keine Schwierigkeiten. Es ist sogar so, daß die beiden, die Sie begleiten werden, genau die Männer sind, die bei der Therapie für sie mit ihr gearbeitet haben. Sie haben beide kräftige Arme und einen wachen Verstand.“

„Na gut. Gebrauchen können wir die Hilfe auf jeden Fall“, sagte sie. Während sie sprach, kam Morlenden der Gedanke, daß sie in der Tat sicher sein konnten, daß die beiden Pfleger stark und schlau sein würden. In der Tat. Und eine genauere Bezeichnung für die Rolle, die sie spielen würden, wäre „Agenten“.

Errat ging einen Augenblick lang aus dem Zimmer. Fellirian wollte gerade etwas sagen, aber Kris brachte sie durch eine Handbewegung zum Schweigen. Kurz darauf kam er mit zwei großen, muskulösen Männern in weißen Uniformen zurück, die eine niedrige Bahre auf Rädern vor sich her schoben. Die beiden machten sich sofort an die Arbeit, hoben Maellenkleth an und befreiten sie von den Gurten und Gerätschaften. Sie schienen mit ihrer Arbeit nicht sonderlich vertraut zu sein.

Während die Pfleger ihre Vorbereitungen abschlossen, sagte Errat: „Wir hatten angenommen, daß Sie sie ohne Verzögerung in ihre eigene Umgebung zurückschaffen wollten; Sie sind jetzt schon lange unterwegs. Es sind daher Vorbereitungen getroffen worden; wir haben Ihnen Fahrkarten für heute abend für die Untergrundbahn nach Süden besorgt. Wenn Sie jetzt gehen, können Sie es noch schaffen.“ Nach kurzer Überlegung sagte er noch: „Wir mußten uns mit dem lokalen Zug zufriedengeben, es gibt also mehr Haltestellen, aber zumindest gibt es Einzelabteile.“

Fellirian sah zu, wie die beiden Männer Maellenkleth ungeschickt auf die Bahre hoben und sagte: „Gut. Wir nehmen an.“ Sie beobachtete die beiden Pfleger genau. „Und was ist mit den Formularen, die Sie vorher erwähnt haben, den Schadensersatzansprüchen, den Gebühren?“

Seltsamerweise schien die Frage Errat wenig zu bekümmern. Er sah sich fast besorgt um und sagte hastig: „Das ist gar kein Problem. Wir können die Papierarbeit hier erledigen und den Rest später durch Vance zum Institut schicken. Ja, die Formulare werden durch das Büro des Direktors geschickt. Sie können sie dann in Ruhe unterschreiben.“

Fellirian nickte zustimmend und machte sonst weder eine Bewegung, noch gab sie ein Zeichen, aber Morlenden sah in ihren grauen Augen ein kurzes Aufblitzen, im Gesichtsausdruck eine kurze Veränderung, und dann war es wieder verschwunden. Errat hatte es nicht bemerkt, da er ihr gerade den Rücken zugedreht hatte. Woher sollte Errat wissen, daß er die Formulare an Vance schicken konnte? Er müßte wissen, daß die Verschickung und Übergabe von Papieren die Geißel der Zivilisation waren, und der hier verschickte keine wertvollen Papiere blind. War man ihnen auf dem ganzen Weg von der Reservation hierher gefolgt oder vielleicht sogar schon früher? Wieviel sahen diese Leute?

Nachdem die Pfleger das Mädchen transportfertig gemacht hatten, fingen sie an, es wegzurollen. Sie gaben sich mit ihrer Arbeit sehr viel Mühe, so wenig Übung sie darin auch hatten. Es hatte den Anschein, daß sie verhindern wollten, daß jemand von den Ler sie auch nur berührte.

Sie benutzten tatsächlich beim Verlassen von 8905 einen anderen Eingang als beim Hineingehen. Morlenden sah einmal zurück und dachte, daß die Stelle, an der sie herausgekommen waren, unverwechselbar wie die Verladerampe eines Lagerhauses aussah und nicht wie eine reguläre Tür – und dazu noch wie eine, die nicht allzuoft benutzt wurde. Außerdem machte er sich Gedanken darüber, ob Cannialin und Kaldherman sie in diesem Labyrinth von Ausweichmanövern verlieren würden, aber nachdem sie um einige Ecken gebogen waren, bewegten sie sich wieder auf einer der Hauptstraßen, die von dem Platz abzweigten, in dessen Nähe sich die beiden Derens aufgehalten hatten. Morlenden sah sie, wie sie sich den Anschein gaben, eine Gruppe von Statuen zu bewundern und dabei pausenlos aufmerksam die Zugänge zu dem Platz nach ihnen absuchten. Sie sahen sie, und aus der Entfernung konnte Morlenden erkennen, wie Cannialin Kal etwas ins Ohr flüsterte. Und jetzt gingen sie weg, als wollten sie von der anderen Seite her die Station betreten.

Die Abordnung, die Maellenkleth begleitete, stieg ohne Zwischenfall in die Untergrundbahn ein, obwohl Morlenden, der nun jede Bewegung der angeblichen Pfleger sorgfältig beobachtete, bemerkte, daß sich die beiden größte Mühe gaben, um die Fahrkarten für alle im Besitz zu behalten. Glücklicherweise waren sie gezwungen, sich auf zwei Abteile zu verteilen. Er sah, daß Caldherman und Cannialin ebenfalls den Zug bestiegen und in das Abteil direkt vor ihnen gingen. Als sie erst einmal in dem Zug waren, hatte Fellirian kaum Schwierigkeiten, die beiden Pfleger davon zu überzeugen, daß Maellenkleth in ihrem eigenen Abteil bei ihren Leuten besser aufgehoben war. Es hatte den Anschein, daß die Pfleger – oder Agenten – das Gefühl hatten, der Zug sei sicherer. Wovor? Wohin konnten sie in dem ewigen Wechsel von Stadtzentren und industriellen Vorstädten gehen, aus denen die Menschenwelt bestand? Die Flucht lag in weiter Entfernung, bis sie an der Haltestelle des Instituts waren. Aber waren sie hier wirklich sicher vor Störungen? Morlenden dachte, daß Fellirian ihren Plan, falls sie einen gefaßt hatte, besser schnell in die Wirklichkeit umsetzte. Soweit war alles glattgegangen. Bei weitem zu glatt. So leicht sollte es nicht sein. Sonst hätte er auch allein kommen können. Und jetzt?

Morlenden und Krisshantem gingen in das Abteil mit dem Mädchen, während Fellirian noch einen Augenblick lang draußen blieb und mit einem der Pfleger vertraulich sprach, und zwar mit dem, der anscheinend der Anführer war. Kurz darauf gesellte sie sich ihnen zu und schloß die Tür des Abteils hinter sich.

Sie forderte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen auf, blieb kurz still und begann dann, in Multisprache zu sprechen. Sie gebrauchte dabei den Einer-zu-vielen-Sprechmodus, aber mit unterdrückten Seitenkanälen. Morlenden war beeindruckt; er hatte nicht gewußt, daß sie dazu fähig war.

Für jeden Menschen, der zuhörte, hätte es sich wie unsinnige Musik ohne Worte angehört, die eine seltsame, klingende Reinheit im Tonfall hatte. Fellirian hatte den Agenten gesagt, sie würden nun an dem Mädchen ein Ritual ausüben, und man würde sie dabei singen hören. Für die Ohren der Ler jedoch lag darin keinerlei Musik, und wie bei den meisten Formen von Multisprache war es sogar so, daß es keinerlei Bewußtsein von Geräusch oder Gehör gab. Es waren nur Ideen, auf das Einfachste reduziert und irgendwie direkt in das Gehirn geflüstert.

Sie sagte: „Spion … zwei … sie … nun … hier … reden … vorbei … Eliya … sagen … Himmel … suchen … nach … ihr&sosprechen … nichtlesen … sie a &! mach … es … jetzt … schnell … ja??“

Und Krisshantem antwortete im gleichen Modus. „Zweihier … wissen … Teile … && … genauso … jetzt … Stop+ zwei … hier … ergeben … Basis … Linie&drei … Macht … sie&verlieren … sie(!)(!).“

Sie sangen scheinbar weiter, sendeten aber nichts mehr und bewegten sich sehr schnell, während sie Maellenkleth sorgfältig zwischen Morlenden und Fellirian auf den Boden stellten. Sie war wach, aber passiv und wehrte sich nicht. Sie legten sie so hin, wie Krisshantem es ihnen sagte, und brachten sich dann selbst in Stellung, indem sie eine einstudierte, rigide Position einnahmen, die Beine unter sich verschränkten und sich auf ihre nach oben gedrehten Fersen setzten. Krisshantem nahm seine Position am Kopfende des Mädchens in der gleichen Stellung ein. Der Prozeß begann.

Nun fingen Morlenden und Fellirian den Gesang an, veränderten sofort den Modus und verschoben ihn noch weiter ins Submelodische, genau wie Krisshantem sie angewiesen hatte. Jetzt bemerkte Morlenden, wie seine Sicht schwächer wurde und verblaßte, wie der neue Modus von ihm Besitz ergriff und sein Sehzentrum verdunkelte, um es für einen anderen Zweck vorzubereiten.

„Denk daran“, hatte Krisshantem sie mit der Strenge der Heranwachsenden ermahnt, „ihr beiden müßt die Basislinie bilden. Die Persona ist vierdimensional, und der Schaffende wird die wiederhergestellte Persona auf dieser Linie errichten. Ihr müßt diese Linie ganz eben und ruhig halten; das ist der schwerste Teil der ganzen Angelegenheit – die Beruhigung der Bezugslinie. Wenn ich voll in das Wiederaufbaumuster hineinkomme, falls ich so weit komme und Reste der alten Persona in ihrem Bewußtsein mir keinen Widerstand leisten, kann ich kleine Verzerrungen kompensieren, aber wenn ich in die Verfolger-Sub-Routine verwickelt werde, verliere ich das Wachstumsmuster, und dann laufen wir vielleicht alle Gefahr, in das Programm des Vergessens hineingesaugt zu werden, das in ihr noch gespeichert ist. Denkt daran, daß es niemand abgeschaltet hat. Das ist in ihrem Bewußtsein noch immer die zentrale Anweisung. Das ist auch der Grund, warum sie mit ihr nichts anfangen konnten. Den größten Teil davon, was sie lernt, löscht sie sofort wieder aus. Und wenn wir im Netz sind, kann sie das auch mit uns tun. Ihr dürft das nie vergessen: Es ist gefährlich für uns. Denkt außerdem daran, daß ich hier kein Experte bin. Ich habe es bisher noch nie mit einer lebenden Person getan; ich habe nur von Mael Anweisungen erhalten. Deshalb müßt ihr die Linie um jeden Preis ruhig halten!“

Die Theorie sah so aus, hatte er ihnen erklärt, daß die Persona ein vierdimensionaler Körper war, ein Tessarakt im Raum, und daß die Elemente Feuer, Erde, Luft und Wasser sich veränderten und um sich selbst drehten und so einen (in dreidimensionaler Projektion) kreuzförmigen Körper bildeten, der aus gleich langen Linien und rechten Winkeln bestand. Die Aufgabe von Morlenden und Fellirian war es, die Bezugslinie herzustellen, die Orientierung in den Raum brachte, und ihre Länge bestimmte, wieviel hineingehen würde. Eine solche Linie gab es in einzigartiger Position für jeden, wenn man sie nur finden konnte; hier errichteten sie eine aus dem Nichts. Im Fall von Maellenkleth konnten sie innerhalb gewisser Grenzen jede Linie auswählen, die sie wollten, denn sie fingen ganz neu an.

Der Schaffende hielt das wachsende Subjekt fest im Aufbaumuster, programmierte das Subjekt nonverbal neu, indem er Konzepte direkt in die entsprechenden Teile des Hirns einfügte. Machte er es richtig, so kam eine zurückgebliebene, aber funktionstüchtige Schaeszendur heraus. Machte er es falsch, stand ihnen allen ein ganzer Katastrophen-Katalog ins Haus. Eine Möglichkeit für sie bestand darin, sie zu töten. Eine andere aber war die, daß aus ihr eine gefährliche Wahnsinnige wurde, deren Raserei ihre Möglichkeiten, sie physisch oder multispezifisch zu überwältigen, überstieg.

Die Deren-Innenverwandten griffen auf der Suche nach Ruhe und Stärke tief in sich hinein, in dem Versuch, die Bezugslinie aufzubauen und sie genau an einer Stelle, in einer bestimmten Position im Raum zu halten. Kris hatte ihnen eine Orientierung vorgeschlagen, die in der Nähe dessen lag, was sie einst gewesen war, weil sie sich dann weniger wahrscheinlich gegen sie wehren würde. Ja, er hatte ihnen helfen können, denn sie hatten sich gegenseitig ihre Linien gezeigt. Schließlich waren sie dhofters gewesen, nicht wahr?

Zunächst bestand ihre Anstrengung nur in einem Gesang, aber es dauerte nicht lange, bis Morlenden vor seinem geistigen Auge eine sodiumgelbe Linie sah, die im Netz der Multisprache hell, hart und durchbohrend dünn entstand, sich dann in der Länge änderte und auf eine gummiartige, instabile, desorientierte Art hin und her bewegte, dann langsamer wurde, fester, sich in der Länge stabilisierte, nach dem rechten Winkel der Orientierung tastete, sich langsam beruhigte, aber noch immer so instabil wie die beiden entgegengesetzten Pole eines Magneten war, sich glatt dem Zugriff entzog und einen anderen Ort suchte. Und dann wurde sie glasklar und scharf fokussiert, und jede Unbestimmtheit verschwand. Es gab nichts außer ihr, ein Universum von tiefschwarzer Nacht. Nacht und Dunkelheit und die harte, brennende gelbe Linie. Morlenden sah es und versuchte, durch die Vision hindurchzusehen und etwas von dem Schlafwagen zu erkennen, eine Sicht nach draußen zu bekommen. Es hatte keinen Sinn; er war völlig blind und sah nur die Vision, die von der Multisprache ins Leben gerufen wurde. Er wußte, daß auch Fellirian jetzt vollständig blind sein mußte, ganz und gar darin versunken.

Die Linie verfestigte sich und wurde nun sanft von einer dritten Macht im Netz berührt und angestoßen. Krisshantem. Sie trieb langsam, bewegte sich noch immer auf der Suche nach Orientierung und wurde immer fester. Er ließ sie Morlenden und Fellirian einen Moment so halten, um ein Gefühl dafür zu bekommen, gab seinem Gesang das richtige Maß, drang ein und übernahm immer stärker die Kontrolle. Es war schwer, sehr schwer, die Linie zu halten. Von irgendwoher sehr weit weg hörte er ein subvokales Stöhnen von jener, die Maellenkleth gewesen war und Schaeszendur werden sollte. Die Linie wanderte mit seiner Aufmerksamkeit, und er kehrte zu ihr zurück, verstärkte die Energie und nagelte sie fest. Am anderen Ende konnte er die Rückkopplung von Fellirian spüren, die ebenso fest zugriff und die instabile gelbe Linie in den Griff bekam. Er erinnerte sich daran, tief Luft zu holen, konzentrierte sich, und …

Jetzt erschien ein dritter Punkt in der pelzigen Dunkelheit aus dem Nichts, und die Linie war ein Viereck, das allein und leer im Raum hing, aber noch immer merkwürdig und starr orientiert. Einen Augenblick lang schwankte es etwas unsicher. Die Derens setzten mehr Druck, mehr innere Kraft ein. Es beruhigte sich. Morlenden konnte Krisshantem jetzt nicht als Person spüren, sondern nur als eine intensive Kraft, die irgendwo hinter den Kulissen ihre Visionen und ihre Arbeit manipulierte. So war es. Er konnte sich nicht vorstellen, was Kris jetzt sah. Das gleiche wie sie? Und jetzt verblaßte auch Fellirian als Person und wurde zum Anker am anderen Ende der Linie und hielt sie im Raum fest. Maellenkleth-Schaeszendur konnte er überhaupt nicht spüren: Sie war nur in dem Körper. Er war sie, und sie schufen sie gerade. Es waren aber vier in dieser Einheit, die von dreien kontrolliert wurde. Sie hielten den Gesang, hielten das Viereck mit ihrem Willen umklammert, und …

Jetzt zitterte der Körper exzentrisch, erzeugte seltsame kleine Störungen, machte eine Pause und sprang in drei Dimensionen, wurde ein leerer Würfel aus Stäben, fing an, gegen sie zu kämpfen, Widerstand zu leisten, einen eigenen Willen kennenzulernen. Er schien zu seiner alten viereckigen Gestalt zurückkehren zu wollen, aber Krisshantem wollte dies nicht zulassen, aber in einem plötzlichen Augenblick von Schwäche hatte er zurückgewonnen und …

Jetzt gewann er plötzlich die Gestalt eines Tessarakts, und sie sahen ihn nicht mehr als eine Projektion in drei Dimensionen, sondern als eine kreuzförmige Gestalt mit einem zusätzlichen kubischen Arm vorn und hinten, aber es blieb keine Zeit, sie zu betrachten; der Tessarakt, der bisher nur aus Umrissen bestanden hatte, wurde massiv, in einem Augenblick, ohne daß es einen Übergang gegeben hätte, undurchsichtig, massiv, greifbar hing er in dem leeren Raum ihres Bewußtseins, und die gesamte Oberfläche war von einem lebenden, schillernden Mosaik von winzigen, sich verändernden schwarzen und gelben Vierecken bedeckt, von flackernden, sich verändernden Zellen; Muster flogen über die jetzt feste Oberfläche in ihrem Bewußtsein, Muster, die sich bewegten und tanzten wie die Reflexion des Lichts einer Flamme auf einer Mauer, mehr noch, das Gelb brannte, und die insektenfarbigen Muster erinnerten nur zu deutlich an die grellen Bilder, die man während eines Migräneanfalls sieht. Ja, genauso, und es ging immer weiter, und die tieferen Rhythmen huschten über die Oberflächen wie das Spiel von Blitzen im Sommer. Morlenden grunzte vor Anstrengung. Er konnte spüren, wie sich auch Fellirian am hinteren Ende der jetzt versenkten Linie abmühte. Und jetzt gab es da etwas, das ihnen aktiven Widerstand leistete, etwas von kriechender Gestalt in ihrem Bewußtsein. Sie mußten alle ihre Kraft zusammennehmen, um sie ruhigzuhalten, denn nun galt die gesamte Aufmerksamkeit von Krisshantem der Kontrolle der wilden Muster, die über die Oberfläche des Tessarakts huschten.

Der Prozeß ging weiter, scheinbar endlos, gnadenlos, und sie vermochten keine offensichtliche Veränderung an den Mustern zu erkennen. Sie konnten nicht sagen, wie lange es dauerte, denn sie hatten kein subjektives Zeitgefühl mehr, wenn diese Zeit als räumliche Dimension integriert worden war. Morlenden hatte den Eindruck, daß es immer weiterging, immer weiter, und daß er die Grenzen der Widerstandskraft, die zu haben er geglaubt hatte, schon lange überschritten hatte; Tage, Wochen, eine ganze Spanne der Anstrengung des nackten Willens, des Feuergeists, Panrus gewidmet. Er hatte Schmerzen an merkwürdigen Stellen an seinem Körper, Stellen, die in seinem geistigen Auge mit keiner bekannten Stelle auf seinem vertrauten physischen Körper übereinstimmten.

Dann trat ein Wechsel ein. Das Muster an der Oberfläche des Tessarakts wurde langsamer, langsamer, noch langsamer und veränderte sich zu einer regelmäßigen Bewegung, ganz ähnlich dem rhythmischen Schlag von Wellen an einem flachen Strand, ruhig, reflexhaft, stetig. Die Gestalt gab auch etwas von ihrem energischen Aufbäumen auf und war jetzt leichter zu halten. Vom Rande des Universums her stellte sich wieder ein Zeitgefühl ein und drängte sich in ihr Bewußtsein, und sie waren in der Lage, wie aus einer riesigen Entfernung wieder Alltagsgeräusche zu hören. Aus der alltäglichen Welt, nicht aus der realen Welt. Dies hier war die reale Welt, und sie schufen sie. Die Welt des Alltags schien nun entmutigend, enttäuschend zu sein; die subjektive Umwelt der Reprogrammierung durch Multisprache war schließlich verführerisch und suchtbildend. Sie war nackte Macht. Und an den hereindrängenden Ecken hörten sie die Stimme von Krisshantem, der normale Worte sagte und sie in den Strom der Multisprache einfließen ließ, als könne er das gegenwärtige Muster beibehalten, wenn er ihm dann und wann einen kleinen Stoß gab.

Die Stimme sagte heiser: „Das Schlimmste ist vorbei, der längste Teil … Motorische Koordination und Kontrolle über den Körper … alles an Ort und Stelle, kalibriert und getestet … Als nächstes kommen Sprachfähigkeit und Pseudogedächtnis, die Repersona, Schaeszendur. Anders … jetzt wird sie gegen uns kämpfen …, ihr müßt jetzt festhalten wie nie zuvor … Jetzt, jetzt, jetzt“, und …

Jetzt verschwand die Stimme, ausgeblasen wie die Flamme einer Kerze, als hätte es sie nie gegeben, könnte es sie nie geben. Die kleinen zellularen Einheiten schienen kleine Zufallsbewegungen zu vollführen, für kurze Augenblicke den Zusammenhalt zu verlieren, aber in den größeren zellularen Einheiten schien sich ein neuer Zusammenhalt aufzubauen, hochzusteigen, wie die Flut hereinzubrechen, wie ein aufziehendes Gewitter, ein Sturm, machtvoll und unausweichlich. Das Gefühl von Wellen statt des feurigen Lichts wurde sehr deutlich, und Morlenden schmeckte in seinem Mund einen Geschmack wie von Messing, von Metall und roch einen unbekannten, würzigen, fauligen Geruch. Es war nun viel schwerer festzuhalten. Da war nun deutlich eine weitere Kraft, die gegen sie ankämpfte, etwas, dessen Standort sie nicht bestimmen konnten, das aber von tief drinnen (?) zu kommen schien, aus der projizierten Gestalt in ihrem Bewußtsein. Es versuchte zu entkommen, sich aus ihrem Griff zu winden, die Gestalt des Tessarakts zu verzerren. Morlenden griff tief in sich hinein, auf der Suche nach Reserven, von denen er nicht sicher wußte, ob er sie hatte; und dort fand er etwas, was es ihm gestattete festzuhalten, ein wenig fester noch, ein wenig länger noch zuzugreifen. Der Widerstand der Gestalt aber wurde ebenfalls stärker. Und doch war er jetzt nicht mehr so stetig; er schwoll an und wieder ab, kämpfte gegen sie, zog sich dann wieder zurück und fing manchmal auf eine merkwürdige Weise den Sinn und den Rhythmus von dem auf, was sie taten, und hastete unvermittelt vor ihnen her, nahm das, was sie wollten, beinahe vorweg und half ihnen beinahe.

Ja, es war schwieriger als der erste Teil, aber es dauerte nicht so lange. Sie konnten bereits eine Abschwächung des Widerstands spüren, und als der Widerstand nachließ, wurde die Gestalt passiv, unterwürfig und wartete auf sie. Es war nun viel leichter, sie zu halten, bedurfte fast keiner Anstrengung mehr; und mit der Lockerung der gemeinsamen Spannung begann Morlenden nun zum ersten Mal, die Erschöpfung zu spüren, die viel tiefer als die bloße Müdigkeit reichte, die er vorher empfunden hatte. Er war ausgelaugt; die Entspannung der Gestalt gab ihm ein Gefühl, als würde er in warmem Sirup versinken. Und mehr noch ließ der Widerstand nach, und jetzt spürten sie zum ersten Mal deutlich die wirkliche Anwesenheit einer vierten Person in dem Netz der Multisprache, die sie alle verband. Diese vierte Person war warm, ansprechend, freundlich wie ein kleines Kind, zwar nicht übermäßig geistvoll, aber angenehm und ohne jegliche Kraft. Sie … er wollte sie gerade willkommen heißen, und …

Jetzt verschwand der Tessarakt in ihrem Bewußtsein ohne Warnung oder Ankündigung, und mit ihm verschwand die allgegenwärtige Nacht: Sie saßen auf dem Fußboden eines Abteils der Untergrundbahn, das von Lampen an der Decke beleuchtet wurde, die zu hell schienen, und sie waren in die alte, schäbige Welt der Realität zurückgekehrt, ja, so schäbig und subtil wie sie nun einmal war. Und in ihrer Mitte richtete sich ein Mädchen namens Schaeszendur auf, stützte sich auf einen Arm und sah sich mit einem verwirrten, verständnislosen Ausdruck ziellos und leer um, die weichen Lippen geschürzt.

Morlenden sah das Mädchen, die Jetzt-Schaeszendur, lange an und verglich ihr Erscheinungsbild mit seiner Erinnerung an die Damals-Maellenkleth, die er nie vergessen würde, ganz gleich, was mit ihm geschah. Es war kein Zweifel möglich; es gab einen merklichen Unterschied. Diese Schaeszendur war so hübsch wie die alte Maellenkleth, vielleicht sogar hübscher, aber es fehlte etwas. Ihr fehlten die Energie, der Ehrgeiz und die überragende Intelligenz der alten Persönlichkeit; sie war jetzt entspannt, unterwürfig und passiv. Dies war nur ein sanftes, zurückgebliebenes Wesen, das nur gefallen wollte und Sorgen und Schmerzen aus dem Weg zu gehen wünschte. Sie war funktionstüchtig, konnte für sich selbst sorgen. Und wenn sich Leute liebevoll um sie kümmerten, Leute, die wußten, worum es ging, würde sie mit der Zeit fast wieder eine vollwertige Person werden. Die Maellenkleth aber, die die Spieler des Spiels herausgefordert hatte und mit ihnen mehr als dreihundert Jahre Tradition, die würde sie niemals werden.

Morlenden versuchte, die Position zu verändern, in der er sich befand, aber seine Muskeln wollten ihm nicht gehorchen, und er fiel mehr oder weniger auf die Seite, nur von einem Arm gestützt. Da er näher an Krisshantem herangerutscht war, spürte der Junge die Bewegung und wandte sich um. Kris sprach langsam, als erzähle er einen Traum, als versuche er, genau die Stimmung wieder heraufzubeschwören, die er gehabt hatte. „Habt ihr sie zum Schluß gespürt, wie sie zuerst gegen uns gekämpft und uns dann geholfen hat? Es war noch eine Menge von dem Original in ihr, nachdem sie ihr Bewußtsein ausgelöscht hatte; außerdem haben sich viele mnemonische Fragmente nicht vollständig aufgelöst. Sie hat gegen uns gekämpft, aber sie wollte auch gereinigt zurückkommen … das hast du dir nicht eingebildet, denn sie war wirklich mit uns in dem Netz. Unbewußt war sie da. Früher, als sie noch Maellenkleth und vollständig war, hat sie, wenn wir zusammen waren, immer die ganze Zeit, während wir dhainaz gemacht haben, mit mir Multisprache gesprochen, ganz gleich, wie lange wir gebraucht haben. Das ist so, als würde man mental projizieren … mental das projizieren, was unsere Körper mit Fleisch und Blut machten. Davon waren in dieser Schaeszendur noch Echos.“

Morlenden versuchte zu sprechen, aber seine Stimme kam als Krächzen heraus. „Ist … ist alles mit dir in Ordnung?“

„Ja. Sie ist komplett. Es hat besser geklappt, als ich das angenommen hatte, sogar besser, als die, die mich unterrichtet hat, es angenommen hatte. Diese Schaeszendur ist aber trotzdem eine Fremde … Und ich kenne jetzt das Geheimnis: Der Schaffende muß erreichen, daß die neue Persona den starken Wunsch verspürt herauszukommen. Das wäre nur vernünftig; aber auch die Haltenden müssen es fast ebensosehr wollen. Meine Motive sind deutlich genug, aber wie steht es mit deiner Innenverwandten und dir? Wie kommt es, daß du, dem Maellenkleth von früher eine Fremde ist, es ebensosehr wie ich willst?“

Morlenden gab müde zurück: „Ich hatte bisher noch keinen Vergessenden gekannt. Wenn wir dies als Fremde getan hätten, die sich nur zu diesem Zweck trafen, und es mit jemandem zu tun gehabt hätten, der für uns ein ganz und gar ein Niemand gewesen wäre, dann hätte alles vielleicht ganz anders ausgesehen. Ich … ich hatte nur das Gefühl, daß sie diese Wiederherstellung nötig hatte, um die Gerechtigkeit wiederherzustellen, daß sie es nicht verdient hatte, das Schicksal eines Vergessenden zu ertragen, was auch immer sie getan hatte. Ich habe mich daran gewöhnt, sie gern zu haben und sie wichtig zu finden, wie wir das bei jedem tun sollten, nehme ich an … Fellirian hat mir gesagt, daß es bei ihr genauso war, als sie unten im Institut Erinnerungen und Reflexionen und Echos verfolgte. Und keiner von uns wollte jemanden schlecht behandelt sehen, ganz gleich von wem.“

Jetzt spürte Morlenden, wie die Kontrolle über seine Gliedmaßen zurückkehrte; noch immer etwas benommen, stand er mühsam auf, ging zu dem Mädchen und half ihr auf die Füße. Sie stand unsicher da und blinzelte in dem harten künstlichen Licht. Morlenden hoffte, daß die Pseudoerinnerungen, die Kris ihr in das Bewußtsein projiziert hatte, angenehm waren, Erinnerungen an kühle Nächte und warme Herdfeuer, an Freundlichkeit und Körperfreude und an Liebesbeziehungen, die nicht phasenungleich mit ihren Wünschen zu Ende gegangen waren. Er nahm sie bei der Hand und führte sie behutsam zu einem der Betten in dem Schlafwagen, und sie kam ohne Fragen und voller Vertrauen mit ihm und akzeptierte ihn ohne jeden Zweifel. Die Tage der Fruchtbarkeit, die Jahreszeiten plötzlich erigierten Verlangens, die plötzlichen Emotionen, die sintflutartigen Wünsche, dies alles war für Morlenden natürlich vorbei. Aber die Umarmungen der Mädchen, die er gekannt hatte, hatte er nicht vergessen, genausowenig wie ihre leisen Geräusche in seinem Ohr, die unaussprechlichen Worte, die sie einander gesagt hatten, die schlanken, starken Körper; auch die verschiedenen Kitzel, die Vorfreude, die Befriedigung und, ja, die Unzufriedenheit, von der er auch sein Teil gehabt hatte. Trotzdem spürte er etwas wie ein Echo von dem, was gewesen war, aber nicht mehr existierte, als er das Mädchen Schaeszendur zu dem schmalen Bett führte, ihr den weiten, schützenden Overall auszog und sie hinlegte. Und Schaeszendur, die Maellenkleth gewesen war, war schlank, anmutig muskulös, ohne eckig oder sehnig zu erscheinen, ihre Haut war von einer reichen, sanften Olivenfarbe mit dunkleren Schatten an den Konturen und Übergängen, an den Muskeln an ihrem Hals, der Innenseite ihrer Ellbogen; Honig und Oliven und Sandelholz. Ähnlich wie Sanjirmil vielleicht, aber reicher, mit weiterem Spektrum und mehr Abstufungen der Kontraste. Morlenden lächelte ihr zu, da er nicht wußte, was er sonst tun konnte, hoffte, es würde sie beruhigen, deckte sie zu und küßte sie keusch auf die Stirn, als sei sie ein sehr kleines Kind, was sie natürlich jetzt auch war, was immer der herrliche, schlanke Körper auch laut rufen mochte. Und wie ein Kind schlief sie sofort ein, ohne Anstrengung, ohne unruhige Bewegungen, ohne Spiele, Tagträume, Herumwälzen und Suchen nach der richtigen Position für den Eintritt in die dunkle Welt. Ihre Augenlider fielen einfach herab, und sie atmete tief, den rosigen Mund ganz leicht geöffnet …

Er ging zu Fellirian zurück, die sich nicht gerührt hatte. Sie saß noch immer auf dem Boden, den Kopf gesenkt, und atmete mit tiefen, langen Seufzern. Morlenden kniete sich hinter sie und begann, die Muskeln ihres Rückens, Halses und ihrer Schulter zu massieren. Er spürte, wie ein Zittern über den schlanken, anmutigen Körper lief, den er so gut kannte, besser als irgend jemand anders, besser fast als sich selbst. Mit Zeichen der Erleichterung und Entspannung sank sie nach vorn zu Boden und lag stöhnend mit dem Gesicht nach unten da.

Nach einer Weile drehte sie ihr Gesicht zur Seite und sagte: „Das einmal im Leben reicht mir. Ich habe ein Gefühl, als sei ich verprügelt worden.“

Morlenden legte sich neben sie und drehte ihr sein Gesicht zu. „Ich auch.“

„Das ist für meinen Geschmack einer Geburt zu ähnlich. Das ist nicht fair, daß ich das durchmachen mußte: Meine Zeit ist schon lange herum. Vorbei. Auch wenn das alles nur im Geist war und nicht im Körper.“

„Es ist eine Geburt, das läßt sich nicht abstreiten.“

„Nur mit dem Unterschied, daß hier alles auf einmal passiert und man nicht anderthalb Jahre hat, um sich darauf vorzubereiten{41} … Welchen Eindruck hast du von ihr? Du hast sie zu Bett gebracht.“

„Gemischt, Eliya. In mancher Beziehung ist sie wie ein sehr kleines Kind, in anderer Beziehung wie eine Heranreifende, aber eine, bei der merkwürdige Stücke fehlen.“

Dann sprachen sie nicht mehr. Sie lagen lange nebeneinander, in einem Stadium halbwegs zwischen Wachen und Schlafen, genug bei Bewußtsein, um das tiefe, regelmäßige Atmen des Mädchens zu hören und auch, um das leise, aber nicht abzustreitende Schnarchen von Krisshantem zu hören. Sie spürten die Bewegung des Fahrzeugs, das sie mit unbekannter Geschwindigkeit durch das Innere der Erde trug, weit weg vom Himmel, und die Untergrundbahn paßte sich magnetisch den kleinen Unregelmäßigkeiten auf der Strecke an mit einer Bewegung, die seltsam lebendig und tierähnlich war, vorsichtigem Gehen ähnlicher als allem anderen.

Nach einer Weile rückte Fellirian näher an Morlenden heran und flüsterte ihm zu: „Ich spreche äußerst ungern davon, aber ich denke, wir sollten aus dieser Maschine aussteigen, bevor wir zu der Haltestelle am Institut kommen.“

„Warum denn? Errat schien offensichtlich völlig uninteressiert an Mael …“

Schien, genau. Ich bin sicher, daß wir auf verschiedene Weise beobachtet worden sind, seit wir Vances Büro verlassen haben; das ist bei ihnen üblich, aber sie machen es schlampig, und daher zweifle ich daran, daß wir etwas verraten haben. Die Züge überwachen sie nicht, weil sie glauben, daß es für sie sicher genug ist, wenn sie die Eingänge kontrollieren. Ich habe jedoch eine Planung in der Art gespürt, wie sie uns das Mädchen zugeworfen haben; sie erwarten von uns bestimmte Manöver. Es ist meine Absicht, diese Voraussagen zu verwirren und zu trüben. Da gibt es aber ein Problem.“

Morlenden fragte: „Und das wäre?“

„Die Fahrkarten, die sie gebrauchen, sind immer magnetisch für ein bestimmtes Ziel kodiert. Die Zahlen sind in das Material integriert; man kann sie nicht sehen. Falls wir also versuchen sollten, selbständig an einer anderen Haltestelle auszusteigen, lösen wir einen Alarm aus, und dann finden sie uns mit Sicherheit.“

„Dann werden wir sie also nicht los?“

„Na ja, da gibt es vielleicht einen Weg …, ja. Die, die bei uns sind, diese Agenten … Sie müßten etwas haben, womit sie die Registrierung des Bestimmungsortes überbrücken können.“

„Wenn sie wirklich Agenten sind.“

„Sie sind schon Agenten. Das kannst du mir glauben.“

„Weißt du, wie sie die Registrierung überbrücken?“

„Ja, ich erinnere mich daran. Ich habe einmal gehört, wie Vance darüber gesprochen hat, vor langer Zeit, mit jemand anderem. Ich war noch sehr jung. Bevor wir uns verwebt haben.“

„Es muß sie also jemand dazu bringen, die automatisch verriegelten Türen aufzumachen.“

„Ja, genau. Und die letzte Haltestelle vor dem Institut ist sehr belebt. Nicht für uns, aber für sie. Eine große Industriestadt. Ich weiß, daß der Lokalzug dort anhalten wird, keine Angst.“

„Aber sie werden doch dann bald herausbekommen, daß wir nicht da sind, wo wir sein sollten.“

„Laß sie doch. Wir brauchen nur einen kleinen Vorsprung. Ich kenne den Weg. Wir können in das Reservat hineinkommen, indem wir in der nordöstlichen Provinz über den Zaun klettern. Wir haben dann einen schweren Marsch vor uns, vielleicht müssen wir sogar rennen, und das nach dem, was wir gerade durchgemacht haben. Schaeszendur ist zudem noch ganz ohne Übung, aber wir kommen nicht darum herum. Ich weiß noch sicherer, daß wir nie wieder hineinkommen, wenn wir bei den beiden Primaten dort bleiben. Das war bisher alles zu leicht. Außerdem möchte ich nicht, daß sie das sehen, was wir für sie getan haben, selbst wenn ich darauf bestanden habe, daß wir während der Fahrt aufbauen. Wir könnten sie nicht die ganze Strecke tragen. Außerdem hätte sie zumindest einfache Anweisungen verstehen müssen.“

„Eliya, hast du das alles schon die ganze Zeit geplant?“

„Nicht ganz … Es ist mir eigentlich erst richtig klargeworden, nachdem wir sie wieder aufgebaut hatten. Aber schon als wir sie von diesem Errat bekommen haben … die ganze Situation riecht nach einer Falle, um noch mehr Opfer einzufangen, einige, die vielleicht sprechen würden, als Ersatz für eine, die nicht spricht.“

„Glaubst du, sie hat das selbst getan?“

„Absolut. Sie haben nicht die Möglichkeit, das auszulösen. Sie wurde mit etwas konfrontiert, mit dem sie nicht fertig werden konnte, und da hat sie sichergestellt, daß das Geheimnis des Inneren Spiels nicht über ihre Lippen kommt. Und daß zwischen diesen Instrumenten und einem lebenden Spieler keine Verbindung hergestellt wird.“

„Das ist deine Meinung. Aber wir beide, du und ich, wissen eigentlich noch sehr wenig.“

„Das wissen die aber nicht. Und Verdachtsmomente haben wir auch.“

„Wieviel Zeit bleibt uns noch, um uns vorzubereiten?“

„Nicht viel, mein Liebling. Als wir dort hinten tief drinnen waren, habe ich das Zeitgefühl verloren, und danach … Augenblick mal.“ Fellirian stand sehr leise auf, öffnete die Tür des Abteils, sah hinaus, richtete sich das Überhemd und ging hinaus.

Aber sie kam zurück und glitt so leise in das Abteil, wie sie es verlassen hatte. Sie beugte sich zu Morlenden herab und flüsterte ihm leise zu: „Uns bleibt nicht soviel Zeit, wie ich gedacht hatte. Wir müssen Kris und Maellenkleth-Schaeszendur aufwecken und sie vorbereiten. Während ich das erledige, gehst du in das nächste Abteil und holst Kaldherman und Cannialin; führe sie leise her, ganz leise. Sei ein einziges Mal ein Schleicher, ein Heimlichtuer. Genau wie ich. Es wird dir gefallen, Mor.“