12

 

Ein Beamter wurde beauftragt, uns in das Sekretariat zu begleiten. Als wir eintraten, hämmerte Wilbur Denton noch immer auf der Schreibmaschine. Er ließ sich auch nicht weiter stören; er blickte nur kurz hoch und klapperte dann unentwegt weiter.

Der Polizist tippte ihm schließlich auf die Schulter: »He, Sie! Sie können Schluß machen. Feierabend.«

Denton hörte auf zu schreiben und sah ihn verständnislos an: »Feierabend? Wie meinen Sie das?«

Der Beamte zeigte ihm seinen Ausweis. »Kriminalpolizei«, erklärte er überflüssigerweise. »Wir haben den Laden hier einstweilen übernommen.«

Denton sah ihn überrascht an, dann warf er uns einen hilfesuchenden Blick zu: »Ach, würde mir bitte jemand ...«

»Dean Crockett ist ermordet worden«, sagte ich rasch.

Unwillig wandte sich der Beamte nach mir um: »Überlassen Sie das mir, ja? Ich sag’ ihm schon, was er wissen muß.«

»Dann tun Sie das endlich«, schlug ich vor, »und lassen Sie dieses Theater.«

Denton war aufgestanden und blickte verwirrt von einem zum anderen. Er sah wie ein begossener Pudel aus. »Wie war das?« fragte er ungläubig.

Nun schaltete sich der Beamte wieder ein: »Hören Sie schlecht? Ihr Chef ist ermordet worden... Was machen Sie hier überhaupt?«

»Ich übertrage Mr. Crocketts Diktat vom Tonband in die Schreibmaschine.«

»Aha... Na, dann machen Sie jetzt mal ‘ne Pause, bis Inspektor Sellers wieder da ist. Er wird die gesamte Abschrift haben wollen, wahrscheinlich auch die Tonbänder... Was ist übrigens drauf auf den Bändern?«

»Ach, allerhand Angaben über Forschungsarbeiten auf Borneo.«

»So, Borneo, hm... na, mal sehen, vielleicht finden wir dabei einen Hinweis. Wann haben Sie übrigens die Bänder bekommen?«

»Heute früh. Mr. Olney gab sie mir vorhin zum Abschreiben.«

Der Beamte fragte Olney: »Und wer hat sie Ihnen gegeben?«

»Mr. Crockett selbst. Er kam gestern abend aus seinem Arbeitszimmer, gab mir die Bänder und ordnete an, daß sie von Denton übertragen werden sollten.«

»Und dann?«

»Dann ging er wieder in sein Zimmer zurück.«

Offenbar fielen dem Beamten keine weiteren Fragen mehr ein. »Na schön«, meinte er nach einer Pause, »dann machen Sie sich’s mal gemütlich hier, meine Dame und meine Herren. Aber ich muß Sie bitten, den Raum nicht zu verlassen.«

Damit ging er zur Tür hinüber und sah zu, wie der Fotograf drüben in Crocketts >Höhle< Aufnahmen von der Leiche machte und ein weiterer Beamter nach frischen Fingerabdrücken suchte. In unregelmäßigen Abständen flammte das Blitzlicht auf und zeichnete die Umrisse unseres Wächters scharf gegen die sonst nur schwach erhellte Türöffnung. Im Augenblick interessierten wir ihn sichtlich weniger als die Vorgänge im Nebenzimmer.

Phyllis Crockett rückte dicht neben mich und legte ihre Hand auf meinen Arm. »Mr. Lam«, flüsterte sie, »ich möchte, daß Sie mich beschützen.«

»Beschützen?« fragte ich. »Wovor denn?«

»Vor einer falschen Mordanklage.«

Melvin Olney schlenderte zur Tür hinüber und versuchte, über die Schulter unseres Wächters hinweg etwas von dem zu erhaschen, was im Nebenraum vor sich ging. Denton saß in einer Ecke und machte den Eindruck, als habe er immer noch nicht begriffen, was geschehen war. Er fuhr sich unablässig mit der Hand durch die Haare, als wolle er sich davon überzeugen, daß er wirklich wach sei und nicht träume.

»Das wird Sie voraussichtlich einiges kosten, Mrs. Crockett«, gab ich schließlich zurück, nachdem ich sicher war, daß uns niemand beobachtete.

»Ich habe Geld genug«, sagte sie kurz.

»Glauben. Sie denn, daß es wirklich zu einer Anklage gegen Sie kommen wird? Fürchten Sie, daß es Beweise gegen Sie gibt?«

»Das ist es ja gerade. Ich habe das Gefühl, es intrigiert jemand gegen mich.«

»Wie kommen Sie darauf? Ist das nicht ein bißchen an den Haaren herbeigezogen? «

»Ich fürchte, nein. Ich habe mir die Sache hin und her überlegt, und ich bin ziemlich sicher, daß es so ist.«

»Hm... und wer steckt dahinter? Wer intrigiert?«

»Das sollen Sie ja gerade herausfinden«, sagte sie. »Sehen Sie — ich habe Geld; das ist alles. Sie müssen das übrige liefern: Fähigkeit, Erfahrung, Energie... Sie müssen das Denken übernehmen.«

»Nehmen Sie einen Rechtsanwalt«, riet ich. »Es ist besser, wenn wir mit einem Anwalt Zusammenarbeiten.«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das geht nicht; aus ganz bestimmten Gründen geht das nicht.«

»Was sind das für Gründe?«

»Das würde so aussehen, als sei ich wirklich schuldig.«

In diesem Augenblick sah der Beamte an der Tür über die Schulter und bemerkte Olney, der noch immer hinter ihm stand. »He, was soll denn das?« rüffelte er ihn an. »Setzen Sie sich zu den anderen!«

»Ich darf doch wohl noch Zusehen, oder?« murrte Olney.

»Nee, Mister, das dürfen Sie eben nicht.«

Olney zog sich beleidigt zurück. Ich nahm Phyllis Crockett beiseite. »Warum können Sie keinen Anwalt nehmen?« beharrte ich. »Das war nicht der eigentliche Grund, was Sie mir eben gesagt haben.«

Ich hatte sehr leise gesprochen. Sie antwortete nicht, und ich dachte schon, sie habe die Frage nicht verstanden. Da schüttelte sie langsam den Kopf.

»Sagen Sie es mir«, drängte ich weiter, »ich muß das wissen. Wenn ich Ihnen helfen soll, muß ich wissen, was eigentlich los ist — sehen Sie das denn nicht ein?«

»Das ist eine lange Geschichte«, begann sie schließlich. »Wir waren noch nicht lange verheiratet, da merkte ich, daß mein Mann in unserer Ehe keinen Hinderungsgrund für ein gelegentliches kleines Verhältnis sah... Na, ja, und ich bin manchmal ein bißchen anlehnungsbedürftig und ziemlich impulsiv... ach so, das wissen Sie ja, Donald ...«

Sie sah mich flehend an.

»Stimmt«, versuchte ich ihr über den toten Punkt zu helfen, »ich kann mich dunkel erinnern. Und wie ging es weiter?«

»Ja, wie ging es weiter... Es kommt also vor, daß ich von einem Menschen angezogen werde, daß... Na ja, Dean hatte in dieser Beziehung etwas altmodische Vorstellungen. Wenn er ein Verhältnis hatte, war das nicht weiter tragisch. Aber wenn ich einen anderen Mann nur ansah... Während der letzten drei Monate war unser Zusammenleben eine Hölle.«

»Warum haben Sie sich denn nicht scheiden lassen?«

»Er hatte mich in der Hand — in jeder Hinsicht.«

»Hm... sagen Sie, kennen Sie sein Testament? Ziehen Sie irgendwelchen materiellen Nutzen aus seinem Tod?«

Wieder schüttelte sie den Kopf.

»Wissen Sie das mit Bestimmtheit?«

»Mit Bestimmtheit natürlich nicht. Aber Dean hat mir oft genug klargemacht, daß er im Falle einer Scheidung keinen Pfennig würde zahlen müssen, daß er überdies nie in eine Scheidung einwilligen werde. Dann sagte er auch, daß sein Tod einmal keinerlei finanzielle Bedeutung für mich haben werde... Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, Mr. Lam — abgesehen von diesen Dingen war Dean ein anständiger Kerl, er war nur... er war ein schrecklicher Egoist, und außerdem...«

Sie verstummte plötzlich. Ich wandte mich um und sah, daß Sellers und Giddings zurückgekommen waren.

»Also, dann woll’n wir mal«, begann Sellers. »Ich muß jetzt ein paar Fragen stellen... Ich fange am besten mit Ihnen an, Mrs. Crockett.«

Er hielt ihr eine Plastikschale vor die Nase und fragte: »Haben Sie die Dinger schon mal gesehen?«

Auf der Schale lagen drei von den zu dem Blasrohr gehörigen Bolzen.

»Natürlich«, begann sie, »ich habe...«

Ich stieß sie mit dem Ellenbogen an. Sie reagierte blitzschnell:

»... natürlich habe ich solche Bolzen schon gesehen. Aber ob es ausgerechnet diese drei waren... Man kann sie nicht gut auseinander- halten, nicht wahr?«

Sellers warf mir einen mißtrauischen Blick zu und schlug vor: »Wie wär’s, wenn Sie sich da drüben auf den Stuhl setzen würden, Lam?«

Notgedrungen gehorchte ich, und Sellers wandte sich wieder an Phyllis Crockett: »Jetzt sehen Sie sich die Bolzen einmal ganz genau an, Mrs. Crockett. Lassen Sie sich ruhig Zeit...«

Sie betrachtete die Geschosse eingehend, dann meinte sie: »Ich kann Ihnen beim besten Willen nichts anderes sagen. Sie sehen aus wie die Bolzen, die ich in der Sammlung meines Mannes gesehen habe. Aber ob es wirklich die gleichen sind...« Sie zuckte die Achseln.

»Na, wir werden auch so dahinterkommen«, behauptete Sellers grimmig. »Und die Schale — kennen Sie die?«

»Das ist möglich«, antwortete sie sofort. »Ich habe in meinem Atelier mehrere Plastikschalen, die genauso aussehen. Ich brauche sie zum Pinselwaschen.«

»Schön«, fuhr Sellers fort. »Und jetzt wollen wir mal Nägel mit Koppen machen. Waren Sie gestern nachmittag im Atelier?«

»Ja.«

»Wann sind Sie hinuntergegangen?«

»Ich weiß nicht genau, wieviel Uhr es war — warten Sie mal: es muß so um... ich würde sagen, es muß so gegen halb vier gewesen sein.«

»Sie sind allein ins Atelier gegangen?«

»Ja, ich bin allein gewesen, als ich hinunterging. Aber im Atelier war ich nicht allein... das heißt, da hat schon jemand auf mich gewartet.«

Sellers zog die Brauen hoch: »So? Wer denn?«

»Das Mädchen, das mir Modell steht.«

»Was ist das für ein Mädchen?«

»Sie heißt Sylvia Hadley.«

»Und wie ist sie hineingekommen? Das Atelier steht ja wohl nicht offen, oder?«

»Nein, die Tür ist abgeschlossen. Aber Miß Hadley hat einen Schlüssel.«

»Ach, es gibt mehrere Schlüssel zum Atelier?«

»Ja, natürlich. Hin und wieder brauche ich ein Modell, und ich hab’ nicht gern, wenn die Mädchen unten beim Portier warten müssen, falls ich mich mal verspäte. Deshalb gebe ich dem Modell immer einen Atelierschlüssel — natürlich nur für die Zeit, in der es bei mir beschäftigt ist.«

»Diese Sylvia... wie war das... ach ja: Sylvia Hadley... die hatte also einen Schlüssel?«

»Ja. «

»Und sie war bereits im Atelier, als Sie gestern hinunterkamen?«

»Ja, das sagte ich doch gerade.«

»Wissen Sie, wie lange vor Ihnen sie da war?«

»Sie sagte, nur ein paar Minuten.«

»Aber Sie wissen nicht, wie lange — habe ich Sie recht verstanden? Sie wissen nur, was Ihnen die Hadley gesagt hat?«

»So ist es; ich weiß nur, was sie mir sagte.«

»Gut«, sagte Sellers und drehte sich zu mir um. »Jetzt Sie, Lam. Sie waren also gestern nachmittag auch in diesem Atelier?«

»Stimmt.«

»Wann sind Sie dort gewesen?«

»Kurz nach halb fünf— vier Uhr vierzig, schätze ich.«

»Und wie lange haben Sie sich aufgehalten?«

»Ungefähr fünfzehn oder zwanzig Minuten.«

»Würden Sie sagen, daß Sie um vier Uhr fünfundfünfzig wieder gegangen waren... oder meinetwegen auch um fünf Uhr?«

»Sagen wir fünf Uhr fünfzehn — sicherheitshalber. Um die Zeit war ich bestimmt nicht mehr da.«

»Und wann ist Dean Crockett zuletzt lebendig gesehen worden?« Sellers blickte fragend in die Runde.

»Ich weiß, daß er irgendwann zwischen vier und halb sechs noch am Leben war«, antwortete Olney. »Genauer kann ich es leider auch nicht sagen.«

»Und woraus schließen Sie, daß er um diese Zeit noch lebte?«

»Weil ich ihn gesehen habe. Er hat mir doch die Tonbänder gegeben, die Denton abschreiben sollte.«

»Und wo haben Sie ihn gesehen.«

»Hier in diesem Raum.«

»War die Tür zu Crocketts Arbeitsraum offen? Ich meine die erste Tür, die in die kleine Kammer führt.«

»Ja, die stand auf.«

»Und die zweite Tür? Die Tür von der Kammer in den eigentlichen Arbeitsraum?«

Olney kaute nachdenklich an seiner Oberlippe. »Ich weiß nicht recht...«, begann er, »ich glaube mich zu erinnern, daß... nein, lieber nicht.« Er schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, ich will nichts Falsches sagen.«

»Hm... und wann ist Crockett wieder in seinem Allerheiligsten verschwunden?«

»Daran kann ich mich auch nicht mehr genau erinnern. Kurz bevor ich wegging, muß das gewesen sein.«

Sellers verdrehte gequält die Augen und fragte geduldig weiter: »Und wann sind Sie weggegangen?«

»Warten Sie mal... um 17.45 hatte ich eine Verabredung, und die habe ich eingehalten... Also muß ich um diese Zeit schon weggewesen sein — tut mir leid, aber präziser kann ich’s beim besten Willen nicht sagen.«

»Wo waren Sie dann verabredet?«

»Unten in der Halle.«

»Da hatten Sie’s ja nicht weit... und mit wem?«

»Mit einer jungen Dame.«

»Hm... es gibt ziemlich viele junge Damen... Wie heißt sie denn?«

»Sie ist Reporterin bei einer Zeitung.«

»Wie sie heißt, will ich wissen.«

Olney holte tief Luft. »Ich fürchte, Sie mißverstehen die Situation. Ich war mit ihr verabredet, aber sie ist nicht gekommen. Statt dessen kam ein Kollege von ihr, ein gewisser Jack Spencer. Er gehört zur Redaktion von Sun Telegram und schreibt hauptsächlich Sportberichte.«

»Ach so... Warum haben Sie denn das nicht gleich gesagt?«

»Weil ich... ich wollte alles so genau wie möglich erklären. Sehen Sie, als ich in die Halle kam, hatte ich nicht erwartet, Jack Spencer zu treffen, sondern diese Journalistin.«

»Na schön, und dann? Was haben Sie dann getan?«

»Dann bin ich mit Spencer zum Essen gegangen. Nachher haben wir noch ein paar Gläser getrunken — ich würde sagen, wir waren bis halb elf ungefähr zusammen.«

»Mit anderen Worten, Sie haben ein Alibi für die Zeit von 17.45 bis 22.30.«

»Ja, das stimmt.«

»Gut. Und nachher? Nach 22.30?«

»Dann bin ich langsam nach Hause gegangen.«

»Geradewegs nach Hause?«

»Nicht direkt, nein.«

»Sehr ergiebig sind Sie nicht, wissen Sie«, meinte Sellers. Olney zuckte die Achseln und schwieg. Daraufhin wandte sich der Beamte an Denton: »Was ist denn mit Ihnen? Wo waren Sie denn gestern?«

»Gestern? Da war ich nicht ganz auf dem Posten. Ich bin zu Hause geblieben.«

»So... Wohnen Sie allein?«

»Ja, Sir.«

»War gestern sonst irgend jemand hier?« fragte Sellers.

»Ja«, antwortete Olney. »Lionel Palmer.«

»Palmer? Wer ist denn das?«

»Das ist der Fotograf, der immer an Mr. Crocketts Expeditionen teilgenommen hat.«

»Wo kann man diesen Palmer erreichen?«

»Wo er wohnt, weiß ich auch nicht. Er hat ein Studio in der East Rush Street... Nummer 92, glaube ich.«

Sellers machte sich eine Notiz. Dann sah er hoch: »Weiter —was wollte Palmer hier?«

»Er wollte eine Auskunft von Mr. Crockett. Es drehte sich um irgendwelche Bilder, und...«

»Um was für Bilder?« unterbrach Sellers.

»Ich glaube, da fragen Sie besser Palmer selbst«, meinte Olney. »Ich weiß es nicht genau — das heißt, es ging wohl darum, daß Mr. Lam einige Aufnahmen von Palmer haben wollte, und der erkundigte sich nun erst bei Mr. Crockett, ob ihm das auch recht sei.«

»Mr. Lam? Meinen Sie Donald Lam hier?«

Olney nickte.

»Wozu brauchte denn Lam die Bilder?«

»Ich glaube, das hängt irgendwie mit seinen Nachforschungen nach den gestohlenen Gegenständen zusammen... Fragen Sie ihn doch selbst; ich weiß das alles nur aus zweiter Hand.«

Sellers sah mich an und grinste. »Sie kommen wahrhaftig ganz schön ‘rum«, meinte er dann. Ich erwiderte nichts. Er wandte sich wieder an Olney: »Na, und was hat Crockett gesagt?«

»Er hat Palmer ausgelacht. >Sie sind übervorsichtig<, hat er gesagt. >Lam arbeitet für mich, und wenn er Abzüge braucht, dann machen Sie ihm eben welchem«

»Das war alles?«

»Ja... das heißt, nein: Palmer Wollte dann noch wissen, was für einen Auftrag Lam eigentlich habe, und Crockett erklärte ihm, daß Lam hinter dem Blasrohr und dem Jade-Buddha her sei, die während der Party gestohlen worden sind. Darüber regte sich Palmer dann furchtbar auf. Er hat Mr. Crockett am Jackettaufschlag gepackt und ihn angeschrien, er verbitte sich das, er habe die Sachen nicht gestohlen, und wenn Crockett ihn verdächtige und ihm einen Detektiv auf den Hals schicke, dann wolle er wenigstens Bescheid wissen.«

»Offenbar einer von der temperamentvollen Sorte«, stellte Sellers fest. »Und was geschah dann?«

»Crockett haßt es, ich meine, er hat es gehaßt... aber ich kann mir noch nicht recht vorstellen, daß er jetzt tot ist.«

»Weiter, weiter«, drängte Sellers. »Wir haben jetzt keine Zeit für grammatikalische Feinheiten und sonstige Gefühle. Wir brauchen Fakten. Ich will wissen, wie Crockett reagierte.«

»Er stieß ihn vor die Brust.«

»Fest?«

»Ziemlich fest. Palmer flog zurück. »Probieren Sie das nicht noch einmal, brüllte Crockett, »fassen Sie mich nicht an, Sie!<«

»Und? Mann, lassen Sie sich doch nicht jeden Brocken einzeln aus der Nase ziehen!«

»Dann ignorierte er Palmer vollkommen. Er erinnerte mich nochmals daran, daß er Denton heute früh unbedingt brauche, weil die Tonbänder abgeschrieben werden müßten... ja, und Palmer beachtete er gar nicht mehr, wie gesagt.«

»Und Palmer?«

»Palmer ging in das andere Zimmer hinüber.«

»Wie benahm er sich denn? War er zornig? Oder beleidigt?«

»Beides, würde ich sagen. Ich bin aber nicht sicher. Ich habe nie so recht gewußt, wie ich mit Palmer dran bin. Ich weiß nur, daß er sich dauernd über irgend etwas aufregt. Schrecklich impulsiv, der Bursche.«

»Aber als Sie weggingen, da hatte er die Wohnung verlassen, oder?«

»Nein, da war er noch hier. Er saß im Sekretariat. Aber Mr. Crockett hatte sich wieder zurückgezogen und eingeschlossen.«

»Sie selbst sind um 17.45 weggegangen, sagten Sie, glaube ich?«

»Kurz vor 17.45, ja. Um 17.45 war ich schon in der Halle unten — eher sogar ein paar Minuten früher... Auf alle Fälle war Mr. Crockett schon wieder in seinen Privaträumen, ehe ich ging... Wissen Sie, die zeitliche Reihenfolge geht mir ein wenig durcheinander. Ich weiß zwar ungefähr, wann ich gekommen und weggegangen bin und daß ich über eine Stunde hier war, alles in allem. Ich habe alles mögliche getan während dieser Zeit — Telefongespräche geführt und mich um tausenderlei Dinge gekümmert, was weiß ich alles; ich bringe aber die zeitliche Folge nicht mehr zusammen.«

Mit einem Ruck drehte sich Sellers plötzlich um und schoß eine Frage an Phyllis Crockett ab: »Wie lange sind Sie im Atelier geblieben?« wollte er wissen. »Nehmen wir an, Lam hat sich um 17 Uhr verabschiedet — wie lange waren Sie dann noch unten?«

»Noch eine Stunde etwa.«

»Also ungefähr bis 18 Uhr. Und als Sie das Atelier verließen, ist da das Modell auch gegangen?«

»Ja, gleichzeitig mit mir.«

»Was haben Sie dann gemacht?«

»Ich bin mit dem Lift hinaufgefahren und war hier in der Wohnung.«

»Haben Sie hier gegessen, oder sind Sie ausgegangen?«

»Nein, ich habe mir hier eine Kleinigkeit gerichtet.«

»War sonst noch jemand da?«

»Nein, ich war allein... das heißt, mein Mann war natürlich auch da, aber er hatte sich doch in seinem Arbeitszimmer eingeschlossen. Das ist dann immer so gut, wie wenn man allein ist.«

»Aber wenn Sie gewollt hätten, dann hätten Sie zu ihm gehen können, nicht wahr? Ich meine, es gab doch noch einen zweiten Schlüssel?«

»Ja. Ich habe auch heute früh damit aufgeschlossen.«

»Sie wußten also, wo dieser Extraschlüssel aufbewahrt wurde?«

»Ja natürlich, er lag immer im Safe.«

»Und Sie hatten die Kombination für das Schloß?«

»Selbstverständlich.«

»Wer hatte sie noch? Sie, Ihr Mann —sonst noch jemand?«

»Nein, meines Wissens nicht.«

»Hm... und Sie waren also ganz allein — ich meine, von Ihrem praktisch unerreichbaren Mann einmal abgesehen?«

»Ja.«

»Ihr Mann ist nicht etwa zwischendurch einmal kurz herausgekommen?«

»Nein. Ich habe Ihnen doch schon gesagt, daß ich ihn gestern überhaupt nicht gesehen habe.«

»Ja richtig... Also, Sie waren den ganzen Abend lang hier, und Sie waren allein... Was haben Sie denn die ganze Zeit so getan?«

»Erst habe ich mir ein Fernsehprogramm angesehen, dann bin ich ins Bett gegangen — halt, nein! Vorher habe ich noch ein paar Seiten gelesen.«

»Apropos Bett — verzeihen Sie die Frage: Schliefen Sie normalerweise im gleichen Zimmer? Ich meine, wenn Ihr Mann nicht in seinen Arbeitsräumen verschwunden war?«

»Ja. Wir haben Doppelbetten.«

»Sind die Betten heute morgen gemacht worden?«

»Aber natürlich. Wir haben ein Tagesmädchen, das macht sie jeden Morgen.«

Sellers versank in Nachdenken. Endlich meinte er: »Tja, ich denke, ich muß doch mal mit diesem Palmer sprechen... Sagen Sie, der hat Ihnen doch nicht zufällig auch Modell gestanden?«

»Nein.«

»Aber Sie kennen ihn, ja?«

»Natürlich. Er hat mich ein paar hundertmal fotografiert; er hatte auch dauernd mit meinem Mann zu tun.«

»Hat er etwa auch einen Schlüssel zu Ihrem Atelier gehabt?«

Sie setzte zu einer Antwort an, zögerte aber auf einmal. Sellers bemerkte ihre Unsicherheit und stieß sofort nach: »Na —hat er einen?«

»Ja. Im Augenblick hat er einen.«

»Hat er ihn gestern schon gehabt?«

»Ja.«

»Wozu braucht er ihn denn?«

»Ach, er sollte nur Aufnahmen von einigen meiner Bilder machen.«

»Gemälde fotografieren? Warum das?«

»Du meine Güte, warum... Man kann schließlich ein Ölbild schlecht in die Handtasche stecken, nicht wahr? Und hier und da will man mal jemand zeigen, was man so gemalt hat in der letzten Zeit... Für diesen Zweck habe ich mir von Palmer Farbaufnahmen machen lassen, die ich bequem mitnehmen kann.«

»Das ist also nicht das erstemal?«

»O nein... er hat alle meine Bilder fotografiert, über zwei Dutzend. Natürlich nicht alle auf einmal. Ich bestelle ihn immer, wenn ich etwas Neues gemalt habe. Ja, und jetzt stehen gerade wieder zwei neue Sachen unten, die sollte er auch aufnehmen — gestern sollte er es tun. So war es jedenfalls vereinbart.«

»Um welche Zeit hatten Sie ihn denn bestellt?«

»Wir hatten keine feste Zeit ausgemacht. Neulich abends traf ich ihn auf dieser Party. Da hab’ ich ihm einen Schlüssel gegeben und ihm gesagt, er solle gestern kommen, wenn es ihm gerade passen würde,; nur solle er vorher vom Portier aus anrufen, hab’ ich gesagt — ich wollte nicht, daß er hereinplatzt, wenn ich gerade bei der Arbeit bin.«

»Wußte er denn, um welche Bilder es sich handelte?«

»Ja, ich habe sie ihm beschrieben. Ich habe sie auch für ihn extra auf zwei Staffeleien zurechtgestellt.«

»Aber Sie wissen nicht, ob er tatsächlich da war und die Aufnahmen gemacht hat?«

»Nein.«

»Na, auf alle Fälle kommen wir allmählich voran«, stellte Sellers fest. »Übrigens, das hier ist sozusagen nur ein einleitendes Gespräch — Sie werden alle noch gründlich verhört werden.«

Auf einmal räusperte sich Denton und sagte: »Wenn ich recht verstehe, sind Sie an den Atelierschlüsseln interessiert. Ich habe welche in meinem Schreibtisch.«

Sellers fuhr herum: »Was haben Sie?«

»Schlüssel, zum Atelier; im Schreibtisch ...« Denton war etwas verdattert, weil er offensichtlich nicht mit einer derart heftigen Reaktion gerechnet hatte.

Phyllis Crockett beeilte sich, die Sache aufzuklären: »Wenn ich mir ein Modell bestelle, habe ich nicht immer einen Extraschlüssel bei mir, den ich ihr gleich dalassen kann, verstehen Sie? Und in diesem Fall schicke ich das Mädchen dann zu Mr. Denton und sage ihm vorher Bescheid.«

»So ist das... Wie viele Schlüssel haben Sie denn, Mr. Denton?«

»Zwei.«

»Ach, lassen Sie doch mal sehen...«

Denton ging zu seinem Schreibtisch, zog eine Schublade auf und erklärte: »Ich hebe sie immer in einem kleinen Briefmarkenkästchen auf...« Er hielt jetzt dieses Kästchen in der Hand und hob den Deckel. »Ach ...«, sagte er dann und machte ein erstauntes Gesicht.

Sellers trat zu ihm und sah in das Kästchen. »Das ist aber nur ein Schlüssel«, stellte er fest.

»Ja ...«, gab Denton bereitwillig zu, »wie komisch ...«

»Sie sind sicher, daß es sonst immer zwei waren?«

»Ja, ganz sicher.«

»Wann haben Sie zuletzt nachgesehen?«

»Das war... ja, vorgestern war das.«

»So, vorgestern... Schließen Sie Ihren Schreibtisch ab?«

»Nein — wozu?«

»Zum Beispiel, damit keine Schlüssel verschwinden... Sagen Sie mal, sind Sie ganz sicher, daß Sie diesen Schlüssel nicht irgend jemand gegeben haben?«

»Nein, Sir — ich meine, ich hab’ ihn bestimmt niemand gegeben.«

»Also gut«, faßte Sellers zusammen, »es dürfte außer Zweifel stehen, daß Crockett mit einem Giftbolzen aus diesem Blasrohr getötet worden ist, und zwar von dem Atelier aus — oder vielmehr von dem Fenster des dazugehörigen Badezimmers aus, um es genau zu sagen. Der Mörder hat quer durch den Lichthof geschossen — äh — gepustet... Also Sie wissen schon, was ich meine.«

Dann wandte er sich an Inspektor Giddings: »Nehmen Sie ein paar Männer und klingeln Sie alle Leute ‘raus, die hier im Hause wohnen. Fragen Sie sie, ob sie irgend etwas bemerkt haben — daß jemand ein Blasrohr zum Fenster hinausgeschoben hat oder so. Stellen Sie gegebenenfalls fest, um wieviel Uhr das war. Und ob das Gesicht der Person zu erkennen war, die das Blasrohr hielt... So, das wär’s einstweilen, denke ich. Ich will Sie alle nicht länger aufhalten. Tun Sie mir bloß den einen Gefallen und bleiben Sie von der Tür weg, hinter der die Leiche liegt — es ist vielleicht am besten, wenn Sie in ein anderes Zimmer gehen. Es wird hier ohnehin gleich zugehen wie in einem Bienenkorb. Es werden Rudel von Polizeibeamten ‘rein- und ‘rauslaufen, und dann werden Zeitungsleute kommen... Übrigens, Zeitungsleute: Sie können von mir aus den Reportern erzählen, was Sie wollen. Die Polizei hat einstweilen nichts dagegen, wenn die Sache in die Presse kommt.«

»Das mit dem fehlenden Schlüssel, darf ich das auch sagen?« wollte Denton wissen.

»Von mir aus können Sie erzählen, was Sie wollen und wem Sie wollen«, wiederholte Sellers. »Und Sie können jetzt auch tun, was Sie wollen. Ich für meine Person habe zu arbeiten.«