II

Entrisch ist ein Ausdruck, den man an und für sich leicht übersetzen kann. Gespenstisch heißt es auf Hochdeutsch. Heißt aber trotzdem nicht dasselbe!

Weil keiner mehr an Gespenster glaubt. Eh kein Wunder! Seit sie auch bei uns das depperte Halloween eingeführt haben, fallen dir ja beim Wort Gespenster sofort die verzogenen Fratzen ein, denen man endlich einmal Saures geben müsste. Na, die sollen sich nur einmal hertrauen zu mir! Da gibt es dann statt einem Sackerl Zuckerl ein Packl Haustetschen!

Gespenster also nur lachhaft. An ein drüben – so die wörtliche Übersetzung von ent – glauben die Leute schon viel eher. Sonst wär ja das Tischerlrücken nicht so beliebt. Im Mühlviertel praktisch Volkssport Nummer zwei. Gleich nach dem Eisstockschießen. Wobei man dazusagen muss, dass das sinnliche Vergnügen Eisstockschießen von den Männern bevorzugt wird, während die Frauen mehr für das übersinnliche Ti­scherlrücken zum Haben sind.

Weil aber die Gucki trotz allem – trotz ihrem betont männlichen Auftreten – eine Frau ist, ist ihr jetzt auf einmal ziemlich entrisch zumute. Hat direkt eine Gansl­haut. Die kann aber auch daher kommen, dass es zwei in der Früh ist. Und um die Zeit ist es an einem 2. Juni im Mühlviertel doch ganz schön frisch. Und in einem verregneten Frühjahr wie diesem sogar arschkalt. Vor allem, wenn du unter der Lederjacke nichts anhast außer einer Fußballdress. Da nutzen auch die brasilianischen Nationalfarben nix. Wird deswegen auch nicht wärmer.

„Ha? Wie? Was? Wo? Warum?“

Gell, ein ganzer Haufen Fragen taucht da auf einmal auf. Aber nur ein bisserl Geduld! Wird ja eh gleich alles erklärt. Nur: Wo fang ich an? Am besten von vorn! Sonst heißt es zum Schluss noch: „Der macht das zufleiß, dass er alles durcheinanderbringt, dass man sich hint und vorn nimmer auskennt und dasteht wie der letzte Depp!“

Fangen wir also mit dem Hunderter an. Wird ja eh ein jeder überrissen haben, dass es sich da nur um eine Geburtstagsfeier handeln kann. Weil die Schützeneder Resi trotz mehrerer Kinderkrankheiten und Weltkriege hundert Jahre alt geworden ist.

Was soll denn in einem Bezirksaltenheim sonst los sein? Normal in so einem Heim nur tote Hose. Da mein ich jetzt aber nicht die Impotenz, sondern: dass halt so gar nix passiert. Heute aber das genaue Gegenteil! Zugehen tut es da wie auf dem Freistädter Volksfest. Da wurlt es nur so vor lauter Leut! Wie wenn man was geschenkt kriegen tät!

Dabei ist das genaue Gegenteil der Fall: Die ganze Prominenz ist mit einem Mordstrumm Geschenkskorb für die Jubilarin angerückt. Bonbonnieren, Manner-Schnitten, Kaffee-Packl, Wein, Bananen, Ananas, aber auch ganze Dosen mit Reisfleisch oder gefüllte Paprika. Wie wenn man im Bezirksaltenheim St. Johann ob der Aist verhungern müsst!

Weil aber weder der Herr Landeshauptmann noch der Herr Soziallandesrat seinen Korb selber tragen kann – ein Politiker tragt ja eh schon die Verantwortung –, steht ein ganzer Haufen Chauffeure planlos im Speisesaal herum und schleppt sich mit Geschenks­körben ab, die alle mit einem goldglänzenden Pappendeckel-Hunderter verziert sind. Das bringt natürlich den Bürgermeister von Blumenthal auf die Idee, dass er seinen Korb auch dem Gemeindesekretär in die Hand drücken könnte. Was aber soll jetzt der Herr Bezirkshauptmann machen? Der seinen Sekretär in Freistadt vergessen hat und seinen Korb selber schleppen muss.

Er stellt ihn unvorsichtigerweise auf einem Tisch ab. Und während er sich jetzt auch an der hitzigen politischen Debatte beteiligt (Wer darf als Erster gratulieren?), wird sein protziger Geschenkskorb auch schon von einer ganzen Horde von Heimbewohnern geplündert. Aber ratzeputz! In kürzester Zeit ist bis auf ein Glasl Orangenmarmelade und ein Packl Teebeutel alles in den weiten Taschen bunter Morgenmäntel verschwunden.

„Was aber macht da in diesem Affenzirkus unsere Gucki?“, wird man sich fragen.

Sie macht ihre Arbeit. Fragt die erstbeste Altenpflegerin nach der Schützeneder Resi.

„Resi missen haben Ruhe! Missen machen scheen fir obere Herren von die Politik!“, erklärt die resolut. Anscheinend gibt es bei uns in der Altenpflege wirklich nur mehr Tschechinnen und Slowakinnen. Doch kaum hat die Gucki dieser üppigen, gachblonden Schönheit zehn Euro gerieben, wird sie auch schon problemlos ins Pflegebad gelotst, wo die Jubilarin gerade auf Politiker-tauglich hergerichtet wird: frische Windeln, frisches Nachthemd, frischer Morgenmantel. Mit der geistigen Frische ist es leider nicht so weit her. Die Gucki kriegt nur die üblichen abgedroschenen Antworten auf ihre Fragen. Die allerdings auch ziemlich abgedroschen sind – wenn du mich fragst.

„Du, Resi! Wie viel Kinder und wie viel Enkerl?“

„Elf Kinder, sechsundvierzig Enkerl, hundertdreizehn Urenkerl und ein Ururenkerl!“, kommt es auch schon wie aus der Pistole geschossen heraus. Das hat sie wirklich gut gelernt, die Resi!

Nächste Standardfrage: „Wie wird man hundert Jahre alt?“

Nächste Standardantwort: „Viel arbeiten und beten!“

Muss sich die Gucki was Gescheiteres einfallen lassen. Sonst schlafen den Lesern der Mühlviertler Nachrichten noch die Füße ein. „Was war dein schönstes Erlebnis in den ganzen hundert Jahren?“

Da fangen der Resi ihre Augen in dem verhutzelten Mumiengesicht doch glatt an zu leuchten. Und auch die Antwort ist diesmal ziemlich originell. Nur: Ob die Gucki das schreiben kann in der Zeitung?

„Wie der Adi kemmen is!“, strahlt die Resi.

„Dein Mann hat Adi geheißen?“

„Aber na! Der Mann war der Pepi. Der Adi war der Führer!“

„Ah-so. Ah-ja“, weiß die Gucki nicht recht weiter. „Interessierst du dich heute auch noch für Politik?“

„Freilich! Der Fescheste ist der Jörg!“

„Aber der ist doch schon tot?“

„Wirklich? Der Adi ist tot, der Jörg ist tot – da kommen dann wieder die Russen!“

„Dankschön, Resi!“

Die Gucki gibt auf. Bevor sie sich jetzt wieder ein paar Horrorgeschichten über die russischen Besatzungssoldaten im Mühlviertel hineindrucken lässt, quetscht sie lieber den Soziallandesrat ein bisserl aus. Stichwort: Pflegenotstand!

Ist aber leichter gesagt als getan. Im Speisesaal herrschen mittlerweile tumultartige Zustände. Etliche Heimbewohner können vom Pflegepersonal nur mit Müh und Not davon abgehalten werden, auch die anderen Geschenkskörbe zu plündern, und müssen mithilfe mehrerer Großpackungen Valium ruhiggestellt werden. Gott sei Dank wird aber jetzt die Jubilarin im Rollstuhl hereingekarrt – und die Feier kann losgehen.

Der Herr Landeshauptmann hat den größten Geschenkskorb und darf daher als Erster reden. Wirklich feierlich und ergreifend schildert er den mühseligen, wenn nicht sogar armseligen Lebensweg der Jubilarin. Wird aber auf einmal jäh aus seiner landes­väterlichen Stimmung herausgerissen.

„Ja, spinnst du jetzt eh schon, du alter Depp, du verkalkter?“, unterbricht ihn die Resi. „Ich bin doch die Schützeneder Resi – und net die andere!“

Hat ihm doch glatt sein Sekretär das falsche Manuskript in die Hand gedrückt. Der Geburtstag von der anderen Hundertjährigen, einer gewissen Leisch Maria, ist ja erst übermorgen. Und außerdem im Bezirksaltenheim Rohrbach. Überreicht er der Resi halt schnell den Geschenkskorb. Damit sie die Pappen hält.

Tut sie aber nicht: „Und wo ist der Eierlikör, du Falott, du? Der war versprochen! Lauter Gsindl, die Politiker! Zuerst alles Mögliche versprechen – und dann nicht halten!“

Mit diesen Worten sackt die Resi im Rollstuhl zusammen. Da nutzt es jetzt nichts mehr, dass sich der Bürgermeister von Blumenthal mit einer Flasche Eierlikör den Weg durch die Menge bahnt, da nutzt es auch nichts mehr, dass der Defibrillator von der Wand gerissen wird und drei Pflegerinnen ein wirklich sehenswertes Wiederbelebungs-Ballett hinlegen – die Resi ist akkurat an ihrem hundertsten Geburtstag einem Herzinfarkt erlegen.

Kann sich die Gucki natürlich alle zehn Finger abschlecken. Aber nicht wegen dem Buffet, das jetzt in dem ganzen Durcheinander von den Heimbewohnern gestürmt wird, sondern wegen der Story, die ihr wie durch ein Wunder in die Hände gefallen ist. Wenn das kein gefundenes Fressen ist? Landeshauptmann killt Hundertjährige kann sie zwar nicht schreiben, aber Herztod aus Kränkung ist als Schlagzeile auch nicht schlecht.

Also sofort in der Druckerei anrufen und den Druck stoppen! Dann im Renntempo in die Redaktion und die Seiten eins bis drei neu schreiben! Und natürlich zur Feier des Tages ein Bier! Weil es ihr wieder einmal gelungen ist, wenigstens eine Geschichte zusammenzukratzen, die gelesen wird, bevor die Mühlviertler Nachrichten beim Altpapier-Container landen.

Dazu muss man jetzt wissen, dass die Mühlviertler Nachrichten schon seit längerer Zeit am absteigenden Ast sind. Vor etlichen Jahren war das wirklich einmal eine Lokalzeitung, die im ganzen Mühlviertel gern gelesen worden ist. Weil einem das Hemd schließlich näher ist als der Rock. Sprich: Eine ordentliche Wirtshausrauferei in der Nachbarschaft ist immer noch interessanter als irgend so ein Sechs-Tage-Krieg, der halt doch ziemlich weit weg ist.

Dann sind die Mühlviertler Nachrichten aber im Lauf der Zeit zu einer Art Vereinsnachrichten verkommen. Weil es halt billiger kommt, wenn du dir – sagen wir einmal – von der Freiwilligen Feuerwehr St. Anton ein Foto mit Text schicken lasst, wo der Kommandant einen verdienten Kameraden zum Hauptbrandmeister ernennt, als wie wenn du selber recherchierst. Und dann noch eine Geschichte vom Verschönerungsverein Blumenthal über das neue Marterl und eine vom Musikverein St. Moritz über den neuen Kapellmeister – und da hast du dann auch schon fast eine ganze Zeitung beisammen.

Drum bestehen ja die Mühlviertler Nachrichten seit einem Jahr nur mehr aus der Gucki und aus der Renate. Haben sie die Hatzl Helga, die Redaktionsleiterin, einfach gekündigt. Nach neunundzwanzig Jahren! Weil für eine Gratiszeitung, die eh nur mehr aus Vereinsnachrichten und aus Werbung besteht, brauchst du wirklich keine Redaktionsleiterin.

Kann die Helga jetzt nimmer sagen: „Ich bin seit neunundzwanzig Jahren mit den Mühlviertler Nachrichten verheiratet – und das glücklich!“ Sagt jetzt: „Ich bin seit einem Jahr von den Mühlviertler Nachrichten geschieden – und das überglücklich!“ Das glaubt ihr die Gucki sogar aufs Wort. Weil die Helga seit einem Jahr mit dem Dragan verheiratet ist, der ein gutgehendes Puff in Freistadt hat. Und dann haben die zwei auch noch den kleinen Ivo. Ist das vielleicht ein entzückender Pudel! Herz, was willst du mehr?

Frisst die Gucki direkt ein bisserl der Neid. Jetzt wird sie in vierzehn Tagen 38 (in Worten: achtunddreißig!) – und noch immer weit und breit kein Mann in Sicht! Wobei der Gucki ein Mann eigentlich weniger abgeht als wie ein Kind.

Meingott, ist die herzig, die kleine Gucki! Das ist das Kind von der Sybille. Der Jugendfreundin und Schulfreundin und immer noch besten Freundin von der Gucki. Hat ihre Tochter Gudrun getauft. Ist die Gucki natürlich die Taufgodn. Und spielt gemeinsam mit dem Turrini auch öfter den Babysitter, wenn die Sybille ihren Karli ins Kino oder ins Theater schleppt.

Na, die hat sich vielleicht verändert, die Sybille! Hat als Kind praktisch nur Doktor gespielt, dann ab der Pubertät praktisch nur mehr Männer im Schädel gehabt und schließlich während ihrem Studium die halbe männliche Belegschaft der Medizinischen Fakultät der Universität Wien vernascht – und jetzt ist sie auf einmal die allerbravste Ehefrau und schaut außer ihren Karli keinen Mann mehr an.

Dafür schaut sich die Gucki heute Abend gleich haufenweis Männer an. Weil Dienstag ist. Ist gleich: Tarockieren in der Meierhansl-Hütte. Mit ihren Nachbarbuben. Nur sind das halt alle miteinander keine Männer zum Kinderkriegen. Der Fuzzi ist militanter Kfz-Mechaniker und pfuscht Tag und Nacht an irgendeinem Motor herum, der Maxi sucht panisch eine tüchtige Bäuerin für seine Nebenerwerbslandwirtschaft, und der Gerri hat nur die Jagd und den damit untrennbar verbundenen Alkohol im Schädel.

Aber alle drei schauen jetzt wirklich schön blöd, wie die Gucki in ihrer brasilianischen Fußballdress in der Meierhansl-Hütte auftrixt. Noch blöder hätten sie natürlich geschaut, wenn die Gucki auch noch mit dem Fahrrad gekommen wäre. Nur: Das mit dem Radl-Kaufen ist sich an dem Tag beim besten Willen nicht mehr ausgegangen.

Was aber sagen die Nachbarbuben zum Aufzug von der Gucki? Eigentlich ziemlich sexy. Nur: Kein Einziger macht eine Bemerkung über der Gucki ihre elendslangen Haxen. Weil sich alle halt doch mehr für Fußballer-Haxen interessieren als wie für die schönsten Beine der schönsten Frau. Drum wird jetzt auch gleich Fußball-gefachsimpelt, was das Zeug hält.

Und außerdem: Gewettet werden muss ja auch. Auf der Stelle! Da heißt es immer: Die Engländer wetten am allermeisten. Dabei gibt es kein einziges Land auf der Welt, wo so viel gewettet wird wie im Mühlviertel. Wegen einem jeden Schas wird da gewettet! Hauptsache, der Wetteinsatz stimmt. Gewettet wird bei uns grundsätzlich um ein Fünfundzwanzig-Liter-Fassl Bier. Das trinken dann der Sieger und der Verlierer miteinander aus. Ich hab sogar den Verdacht, dass es eigentlich wurscht ist, wer gewinnt. Ein Fassl Bier gibt es ja auf jeden Fall!

Zuerst wettet die Gucki mit dem Maxi und dem Gerri, dass Brasilien Weltmeister wird. Alle zwei setzen auf Deutschland. Kann aber auch passieren, dass weder Brasilien noch Deutschland Weltmeister wird. Dann gibt es leider auch kein Bier. Da ist die Wette mit dem Fuzzi wesentlich gescheiter. Weil es bei der auf jeden Fall was zum Trinken gibt. Sie wetten, wie das erste Spiel von Brasilien ausgeht. Die Gucki natürlich auf einen Sieg von Brasilien, der Fuzzi dagegen. Hat wirklich eine Schneid, der Fuzzi. Das muss man ihm lassen. Weil der erste Gegner von Brasilien Nordkorea heißt. Da ist auch ein Unentschieden nur dann drinnen, wenn sich alle elf Brasilianer in der ersten Halbzeit den Haxen brechen. Aber so oder so – das Fünfundzwanzig-Liter-Fassl wird am Dienstag, den 15. Juni, in der Meierhansl-Hütte angeschlagen. Da spielt Brasilien gegen Nordkorea. Schaut man sich natürlich im Fernseher an. Wird halt ein bisserl später tarockiert. Und der Verlierer zahlt dann das Fassl.

Voraussichtlich der Fuzzi. Vor drei Wochen hat eh die Gucki gezahlt. Da hat der Fuzzi mit ihr gewettet, dass er an einem Tag zu Fuß von St. Anton nach Linz geht. Immerhin fünfundfünfzig Kilometer. Hätt es eh fast nicht derpackt. Weil er trotz ein paar Mal Einkehren (in Gutau, in Selker, dreimal in Pregarten und einmal in Unterweitersdorf) schon zu Mittag in Gallneukirchen war. Wo er dann fast versumpft wär. Weil es in Gallneukirchen so an die zehn Wirtshäuser gibt. Und in die hat er ja auch unbedingt einkehren müssen. In alle. Hat er dann von Gallneukirchen bis nach Linz rennen müssen. Hat es nur knapp geschafft, dass er um sechs bei der Dreifaltigkeitssäule am Linzer Hauptplatz war. Aber auch nur, weil er das letzte Stückerl mit der Straßenbahn gefahren ist. Haupt­sache, die Gucki ist ihm nicht draufgekommen!

Nachdem man endlich genug gefachsimpelt und gewettet hat, richtet man mit ziemlicher Verspätung doch noch übers Tarockieren. Sobald aber jeder einmal seine Karten in der Hand hat, sind auch schon alle Wetten und alle Fußball-Weltmeisterschaften vergessen. Und alles andere auch! Beim Tarockieren tauchst du in eine andere Welt ein – bist sozusagen ent, wo Zeit und Raum keine Rolle mehr spielen. Die wirkliche Welt aber hört auf zu existieren.

Jessas, jetzt hätt ich doch fast vergessen, dass ich ja eigentlich erzählen wollt, wie der Gucki auf einmal so entrisch zumute war! Das war nämlich so: Ist in der Meierhansl-Hütte tarockiert worden, dass die Fetzen nur so geflogen sind. Und auf einmal war es auch schon halber zwei. Obwohl sie grad erst angefangen haben. Weil beim Tarockieren die Zeit nicht vergeht, sondern verrennt. Weil die Zeit eigentlich gar nimmer existiert, wenn du Tarockkarten in der Hand hast. Ich bin mir sicher, dass der Einstein auf seine Relativitätstheorie beim Tarockieren draufgekommen sein muss. Weil da Zeit und Raum relativ sind. Eigentlich sogar wurscht!

Trotzdem müssen unsere Tarockierer jetzt schön langsam ans Aufhören denken. Weil der Gerri Frühschicht hat. Und da muss er in zwei Stunden wieder aufstehen. Trotzdem ist es heute noch lang nicht vorbei mit der Gaudi. Weil ja der Maxi Bauer ist. Weiß er natürlich, dass der Johnny heute eine Sau abgestochen hat.

Der Johnny ist einer, der normalerweise auch immer in der Meierhansl-Hütte mit dabei ist. Nur heute nicht. Weil er wie die meisten Bauern bei uns nebenbei in der VOEST hackelt. Und Nachtschicht hat. Die Mizzi – das ist dem Johnny seine Frau – der Johnny ist ja der Einzige von den Nachbarbuben, der eine Frau hat – die Mizzi aber ist auch nicht daheim. Mit den Ortsbäuerinnen zwei Tage nach Mariazell. Wallfahrten.

„Da wird sie fest beten, die Mizzi, dass der Johnny nicht gar so viel tarockiert und nicht gar so viel sauft!“, meint der Fuzzi. Und erzählt gleich einen blöden Witz, in dem es darum geht, dass es den verheirateten Männern so furchtbar schlecht geht.

Den spar ich mir aber eh, den Witz. Sonst heißt es womöglich noch: Ich bin frauenfeindlich! Und außerdem geht es da jetzt nicht um Witze, sondern um ein altehrwürdiges Brauchtum: ums Sauschädel-Stehlen nämlich!

Muss ich vielleicht für die Nicht-Mühlviertler ein bisserl erklären. Wenn du eine Sau abstichst, musst du sie zwei, drei Tage hängen lassen, bevor das Fleisch zum Essen ist. Im Kühlraum, wenn du einen hast, oder im Keller. Wo es halt halbwegs kühl ist. Wenn du dann aber ein Pech hast, wird dir der Schädel von der Sau in der Nacht gestohlen. Weil deine Nachbarn und Freunde ja den Hausbrauch kennen und genau wissen, bei welcher Stalltür oder bei welchem Stadltor sie hineinkönnen.

Aber mit dem Stehlen allein ist es noch nicht getan. Zum Schaden – der ist gering, ein Sauschädel ist ja nicht viel wert – kommt ja auch noch der Spott. In Form von einer Gerichtsverhandlung. Da wirft dir dann einer – der, der den Richter spielt – vor, dass du ein schlamperter Hund bist, weil du den Hof nicht ordentlich abgesperrt hast. Dann kannst du zur Strafe auch noch das Essen zahlen, das aus dem Sauschädel fabriziert wird. Meistens ein faschierter Braten mit Kraut und Erdäpfel – wenn es wer genau wissen will. Weil sich die ganze Gerichtsverhandlung natürlich in einem Wirtshaus abspielt. Die Sauschädel-Diebe kommen allerdings auch ordentlich dran. Die müssen nämlich das Trinken zahlen. Und getrunken wird da natürlich nicht zu wenig! Kurzum: eine Mords-Hetz, so ein Sauschädel-Essen!

Sind die Gucki und der Fuzzi natürlich Feuer und Flamme, wie der Maxi jetzt vorschlagt, dass sie dem Johnny seinem Hof einen Besuch abstatten. Leichter Nieselregen hin, arschkalte Nacht her: So ungemütlich die nächtliche Aktion auch ist – die Vorfreude auf das blöde Gesicht vom Johnny, wenn sie ihm das mit dem Sauschädel am nächsten Dienstag unter die Nase reiben, wiegt das locker auf.

Und da sind wir auch schon in Winkl. Hausnummer 1. Dem Johnny sein Hof. Wirklich, ein Stadltor ist nicht zugesperrt. Tappen die drei ziemlich blind durchs Haus. Jeder nur mit einem Feuerzeug. Weil der Maxi zwar eine Plastikwanne für den Sauschädel mithat, die Taschenlampe aber daheim vergessen. Ist der Gucki – wie gesagt – entrisch zumute. Wie wenn sie eine Vorahnung gehabt hätt.

Hätte sie doch den Turrini mitgenommen! Der hätt die Sau in null Komma nix gehabt. Mit seiner feinen Nase. Und wohler wär ihr auch gewesen. Anscheinend hat sie jetzt die Tür zum Keller gefunden. Mehr ertastet als sonst was. Weil sehen tut sie ja praktisch nix. Erst nach ein paar Mal Rütteln am schmiedeeisernen Türgriff springt das massive Schloss auf. Erbärmlich knarrt die schwere Tür in den Angeln. Mit ihrem Zippo in der ausgestreckten Hand tastet sich die Gucki mit angehaltenem Atem die Stufen hinunter. Dass da herinnen Blut verpritschelt worden ist, das schmeckt ein jeder. Zu dem braucht man kein Hund sein. Patscht die Gucki in ihren Sandalen über den nassen Steinboden. Hoffentlich ist das nur Wasser!

Ihr kommt es vor wie eine ganze Ewigkeit, wie sie da so in der glitschigen Finsternis dahinschlurft. Und als sie dann endlich was sieht, wär ihr bald das Zippo aus der Hand gefallen. Da ist er, der Schädel! Nur halt leider nicht der Sauschädel, sondern der von der Altenpflegerin. Die, mit der sie vor zwölf Stunden noch geredet hat. Und der schaut die Gucki vorwurfsvoll an. Wie wenn er sagen möcht: „Zehn Euro sind schon ein bisserl wenig für ein Exklusiv-Interview!“

Das Blond der Haare wirkt noch künstlicher als wie bei Tageslicht. Unnatürlich. Und noch was stimmt nicht an diesem Schädel: Der Rest von der Altenpflegerin ist nicht dran!