20.
Judith weigerte sich, im Beisein von Stefan zu weinen. Sie würde sich von ihm nicht ihre schwer errungene Gelassenheit zerstören lassen. Wie hatte sie ihn bloß so schnell in ihr Leben – und in ihr Herz – einlassen können? Sie war ja so dumm. Tränen trübten ihren Blick, als sie mit den Gemälden die Treppe hinuntereilte. Es wurde dunkel und sie schaltete die Lichter an, damit sie das Ausmaß des Schadens, den ihre Bilder genommen hatten, besser beurteilen konnte, während sie die Leinwände spannte. Im Gegensatz zu dem fröhlichen Durcheinander in ihrem Kaleidoskopstudio war das hier der Raum, in dem sie als Restauratorin und Konservatorin alter Gemälde ihr Geld verdiente, und sie hielt ihn makellos sauber.
Nachdem sie die Tür fest hinter sich geschlossen hatte, spielte sie mit dem Gedanken, sie abzuschließen. Aber ein Mann wie Stefan Prakenskij, der jedes Sicherheitssystem umgehen konnte, würde bestimmt keine Probleme damit haben, durch eine abgeschlossene Tür zu kommen. Sie stand mitten im Raum und hätte am liebsten in einem kindischen Wutanfall die Leinwände durch das Studio geschleudert und ihren Kummer herausgeschrien.
Stattdessen blieb sie vollkommen beherrscht. Tränen strömten über ihr Gesicht, als sie jedes der Gemälde auf den Tisch legte. Sie atmete tief ein und aus und stieß den Schmerz von sich. Einen Moment lang schlug sie sich beide Hände vors Gesicht. Sie war restlos erschüttert, bis in ihre Grundfesten. Ihr hart errungenes Selbstvertrauen, das sie im Lauf der letzten fünf Jahre Stück für Stück aufgebaut hatte, war verschwunden – zerschmettert. Sie unterdrückte einen gequälten Aufschrei.
Sie würde nicht in die Dunkelheit zurückkehren. Stefan mochte zwar ein Betrüger gewesen sein, aber immerhin hatte er ihr den Weg aus dem Dunkel gezeigt. Sie würde es schaffen, ohne ihn weiterzuleben. Es gab Millionen von Frauen, die sich in den falschen Mann verliebten, und sie führten ein glückliches und produktives Leben. Sie musste nur den Entschluss fassen, dass sie eine von ihnen sein würde. Ihre Erfolgsbilanz würde vielleicht als eine der schlechtesten in die Geschichte eingehen, aber sie würde sich nicht von einem russischen Agenten zerstören lassen.
Die Versuchung, ihre Schwestern anzurufen und sich an ihren Schultern auszuweinen, war enorm, doch sie widerstand ihr. Sie wollte Rikki im Moment nicht sehen und Rikki würde verletzt sein, wenn sie nicht in den Kreis der Helfer einbezogen wurde. Aber verdammt noch mal, Levi hatte sie verraten. Er musste gewusst haben, was sein Bruder wirklich im Schilde führte. Die Brüder hatten sich auf ihr Mitgefühl verlassen, auf ihre Loyalität, die so tief in ihr verwurzelt war, dass sie niemals auf den Gedanken gekommen wäre, einen von ihnen an jemanden zu verraten. Sie hatten sie geschickt manipuliert – und hieß das, dass Levi Rikki manipulierte?
Sie strich mit einer Hand über ihr Gesicht. Sie konnte kaum atmen in ihrem geliebten Studio. Um sich etwas Ablenkung zu verschaffen, schaltete sie die Stereoanlage an, die die Stille mit sanfter Musik ausfüllte. Sie musste sich an die Arbeit machen und sie hatte eine Menge zu tun, genug, um sie die halbe Nacht wachzuhalten. Und wenn das nicht genügte, konnte sie jederzeit zusätzliche Arbeit erfinden – schließlich war sie ein Profi darin, Dinge zu finden, die sie mitten in der Nacht tun konnte.
Sie sah durch die gläsernen Schiebetüren in die Nacht hinaus. Heute waren keine Sterne zu sehen, nur dichter Nebel, der ihre Gärten in verschwommene, feuchte Schatten verwandelte. Sie schlenderte durch den Raum, von dem grauen Dunstschleier angelockt. Das zählte zu den Dingen, die sie an einem Leben am Meer liebte. Wenn sie sah, wie der Nebel über den Wald herankroch, erinnerte die Atmosphäre sie immer an einen Schauerroman.
»Mach dich an die Arbeit«, schalt sie sich laut aus und stellte die Alarmanlage ab, damit sie die Glastüren öffnen konnte.
Eigentlich brauchte sie keine frische Luft von draußen – sie malte ja nicht –, aber sie hatte ein beengtes Gefühl in der Herzgegend und ihre Kehle war immer noch wie zugeschnürt. Sie wollte sich nicht eingestehen, dass sie am liebsten geschrien und mit Gegenständen um sich geworfen hätte. Dass sie weinen wollte, bis alle Tränen auf Erden aufgebraucht waren. Sie liebte ihn. Sie liebte ihn mit jeder Faser ihres Wesens. Wie hatte sie sich derart täuschen lassen können?
Sie stand in der Tür und starrte in ihren Garten hinaus, und dabei fühlte sie den Dunst auf ihrem Gesicht und in ihren Augen und als silberne Tränen, die in ihr Herz tropften, bis ihr Kummer sie derart niederdrückte, dass sie sich wieder an die Arbeit machen oder vor der betäubenden Kälte kapitulieren musste – und dorthin würde sie nicht zurückgehen. Nie wieder. Nicht wegen eines Mannes.
Es war eine solche Dummheit gewesen, auf einen Mann wie Jean-Claude reinzufallen. Alle Anzeichen waren da gewesen und sie war nur zu naiv gewesen, um sie zu deuten. So viele Menschen fügten sich ihm, gingen ihm aus dem Weg oder erstarrten, wenn er einen Raum betrat. Sie hatte geglaubt, er flößte ihnen großen Respekt ein, und sie war gar nicht erst auf den Gedanken gekommen, dass alle ihn fürchteten. Sie fand ihn attraktiv und faszinierend, wenn auch einschüchternd durch sein enormes Selbstvertrauen, und daher mussten natürlich alle um sie herum dasselbe empfinden.
Resolut zog sie ihre Schultern zurück und ging wieder hinein, um sich die Bilder genauer anzusehen. Die meisten ihrer Gemälde waren Seestücke. Es war unmöglich, als Künstler in Sea Haven zu leben und nicht die Schönheit des Meeres in seinen stürmischsten Launen einfangen zu wollen. Es waren aber auch ein paar Bilder von alten Gebäuden darunter und eines von den Klippen mit einem langen, kaputten Zaun, der vom Alter und vom Wetter gegerbt war. Dieses Bild zählte zu ihren persönlichen Lieblingen.
Sie betrachtete die Gemälde mit einem voreingenommenen Blick. Das wilde Meer frustrierte sie immer ein bisschen, denn sie hatte nie das Gefühl, die Stimmung wirklich so eingefangen zu haben, wie sie es wollte. Grau- und Blautöne und wirbelndes Purpur vermittelten nie ganz die volle Wirkung einer zornigen See, launisch und reizbar. Auf einem Bild verschleierte der Dunst die Bäume so, dass der Wald wie eine große Armee wirkte, geheimnisumwittert in dem verschwommenen, schattigen Inneren verborgen.
Sie presste ihre Lippen fest aufeinander und zwang sich, die ersten Keilrahmenleisten herauszuziehen, um die Leinwand zu spannen. Sie konnte nur hoffen, dass die Farbe auf den beiden Acrylbildern nicht jetzt schon beschädigt war. Sie konzentrierte sich vollständig auf ihre Arbeit und achtete sorgsam darauf, dass alle vier Ecken perfekt waren, während sie die Leinwand um die Leiste wickelte. Es war wesentlich schwieriger, den Hefter mit den Edelstahlklammern zu benutzen, wenn die Leinwand bemalt war. Eines der beiden Acrylbilder war eindeutig beschädigt und sie würde den Schaden beheben müssen, wenn sie es retten wollte. Wäre es das Werk eines anderen Künstlers gewesen, dann hätte sie nicht gezögert, aber allein und ungestört in ihrem Studio konnte sie sich eingestehen, dass sie diese Gemälde immer mit Stefans Verrat in Verbindung bringen würde.
Er hatte ihr das Herz gebrochen, wie es kein anderer jemals tun könnte. Er hatte ihr immer wieder Halbwahrheiten aufgetischt, während sie ihre Seele vor ihm entblößt hatte. Dafür sollte ihn der Teufel holen. Und sie sollte er für ihre Dummheit holen, sich ihm in die Arme zu werfen, weil er sie mit Augen ansah, die ihr einen Blick in seine Seele ermöglichten. Sie warf die Leinwand auf den Tisch und stieß ihren Stuhl zurück, denn sie war zu aufgebracht und zu unruhig, um die bitteren, kummervollen Gefühle, die in ihr aufstiegen und wie in einem dunklen Whirlpool sprudelten, in sich zu verschließen.
Die kühle Nachtluft raunte ihr etwas zu und sie trat in den Garten hinter dem Haus hinaus, wo ihre Blumen und Sträucher sie mit ihren leuchtenden Farben und ihrer beschwichtigenden Schönheit umgeben konnten. Ihr Blick trübte sich, als Tränen in ihre Augen traten, überflossen und an ihren Wangen hinabrannen. Sie presste sich die Handballen auf die brennenden Augen.
Einen kurzen Moment später presste sich eine Hand fest auf ihren Mund und ein kräftiger Körper stieß sie gegen die Wand. Der Geruch eines teuren Rasierwassers hüllte sie ein und warf sie in eine andere Zeit zurück. Das Herz hämmerte in ihrer Brust und sie schmeckte Furcht.
Jean-Claude hielt sie mit einer Hand an die Wand gepresst und stieß einen Finger drohend vor ihre Nase. »Du hast mir das Herz rausgerissen«, klagte er sie mit einem leisen Zischen an, und seine dunklen Augen bohrten sich in ihre. Beide Hände packten ihr T-Shirt und zogen sie an ihn. Dann stieß sein Mund brutal auf sie herab und zermalmte ihre Lippen, eine Demonstration seiner Eigentumsrechte. Seine Zunge drang gewaltsam in ihren Mund vor und missachtete ihren Widerstand.
Sie schmeckte Mord. Blut. Das Grauen ihres Bruders und ihren eigenen Hass. Galle stieg in ihr auf, und als er sich von ihr losriss, hustete sie und schluckte die Galle, rieb ihre brennenden Lippen mit ihrem Handrücken und ließ ihn dabei keinen Moment lang aus den Augen. Sie presste sich an die Wand ihres Hauses, als sie dem Mann gegenüberstand, der die Folter und Ermordung ihres Bruders angeordnet hatte.
»Dachtest du, ich könnte dich einfach vergessen, Judith?«, fragte Jean-Claude barsch. Er sah sich lange und bedächtig um. »Ich weiß, dass du mich nicht vergessen hast. Ich habe all diese Jahre gewartet und du bist nie gekommen. Du hast mir nie geschrieben. Warum, ma belle, hast du mich im Stich gelassen, als ich dich mehr denn je brauchte?«
»Wie kannst du mich das fragen?« Sie konnte das plötzliche Aufflackern ihres Zorns nicht verhindern. Diese Woge von Wut ließ sich unmöglich unterdrücken. »Du hast meinen Bruder foltern lassen. Ihn ermorden lassen. Hast du etwa geglaubt, dafür würde ich dich lieben?«
Er schüttelte den Kopf und diese großen dunklen Augen bohrten sich weiterhin in ihre. »Das war einzig und allein seine Entscheidung. Meine Männer hatten den Befehl, ihn gehen zu lassen, sowie er ihnen sagt, wo du bist. Mehr brauchte er nicht zu tun, um seine Freiheit zu erlangen und am Leben zu bleiben. Nur um diese Kleinigkeit habe ich ihn gebeten, aber er hat sich geweigert. Ich lasse mir von dir nicht die Schuld an seinem Tod zuschieben. Das war ganz allein seine Entscheidung.«
Sie machte den Mund auf, brachte aber keinen Ton heraus. Sie konnte ihm anmerken, dass er kein Verständnis dafür hatte, warum sie seinen Standpunkt nicht einsehen wollte. Er hielt sich für vernünftig. Judith schüttelte den Kopf. »Du bestreitest noch nicht einmal, dass du deine Männer angehalten hast, ihn zu foltern.«
Er stach wieder mit seinem Finger in die Luft. »Du bist mir weggelaufen. Ohne jede Nachricht, ohne jede Erklärung. Du hast dich einfach aus dem Staub gemacht. Was hast du denn erwartet, mon amour? Dass ich das tatenlos hinnehme?« Er stellte sich dichter vor sie und sie fühlte seinen heißen Atem auf ihrem Gesicht. »Du gehörst mir. Mir. Du machst nicht einfach Schluss mit mir. Niemals. Das lasse ich nicht zu, Judith. Ich dulde es nicht.«
»Du warst in diesem Raum, Jean-Claude. Ich habe gesehen, wie du deinen Männern gesagt hast, sie sollen diesen armen Mann verletzen. Er hat um Erbarmen gefleht.«
»Er hat mich bestohlen. Du hättest das nicht sehen sollen. Es war nicht für deine Augen bestimmt. Und du hättest zu mir kommen und mit mir reden sollen.«
»Ich hatte Angst.«
»Vor mir? Wie konntest du Angst vor mir haben?« Er wirkte ehrlich schockiert. »Ich habe dir gegenüber nichts anderes als Liebe an den Tag gelegt. Ich bin vorsichtig mit dir umgegangen, ganz vorsichtig. Du warst noch so jung und das konnte ich verstehen.« Er packte ihren Arm und drängte sie wieder ins Haus. »Natürlich hat das, was du gesehen hast, ein unschuldiges Mädchen wie dich damals überwältigt. Aber du hättest zu mir kommen sollen.«
»Bloß weil du sauer auf jemanden bist, geht es noch lange nicht in Ordnung, denjenigen zu foltern und zu ermorden, Jean-Claude.«
Sein Gesicht verfinsterte sich vor Ungeduld. »Du kommst mit mir, und diesmal, mon amour, wirst du tun, was man dir sagt. Ich werde dich rund um die Uhr bewachen lassen, bis dir klar wird, wo dein Platz ist.«
Judith stolperte, als er sie in das Studio stieß. Sie hielt sich an einer Tischkante fest und drehte sich langsam zu ihm um.
»Man kann sich wirklich auf dich verlassen«, sagte Jean-Claude und sah sich in ihrem Studio um. »Meine fleißige kleine Judith, die immer verantwortungsbewusst handelt. Ich wusste, dass du diese Bilder retten wollen würdest und dass du in dein kleines Studio eilen würdest, um sie wieder in Ordnung zu bringen.« Er versetzte einer der Leinwände einen Stoß. »Und natürlich hast du genau das getan. Auch malst du nie, ohne die Türen zu öffnen und frische Luft reinzulassen. Ich brauchte nichts weiter zu tun, als zu warten. Siehst du, wie gut ich dich kenne?«
Der Triumph in seiner Stimme ließ sie zusammenzucken. Sie hatte wirklich genau das getan, was er sich vorgestellt hatte. Wut wallte in ihr auf und sie presste sich eine Hand auf den Bauch, als könnte sie damit irgendwie den lodernden Zorn abwehren, der wie heißes Magma zu sprudeln begann. »Was willst du hier, Jean-Claude?«
»Was ich hier will?«, wiederholte er und stieß jedes Wort durch zusammengebissene Zähne hervor, während sein schwelender Zorn Feuer zu fangen begann.
Judith wusste, dass sie diejenige war, die die Flammen schürte. Ihre eigene Wut schwoll an und gab seiner Wut Nahrung, doch das war ihr ganz egal. Sie hatte es verdammt satt, sich emotional herumschubsen zu lassen, weil sie alle beschützen musste.
»Genau das habe ich dich gefragt«, fauchte sie zurück.
»Ich bin gekommen, um dich zu holen. Du gehörst mir. Dachtest du etwa, das Gefängnis würde uns dauerhaft voneinander trennen? Dachtest du, du könntest gefahrlos jemand anderen finden?«
Sie stieß sich das Haar aus dem Gesicht und funkelte ihn finster an. »Dein kleiner Spion war etwas voreilig mit seinem Bericht an dich. Und außerdem geht es dich nichts an, ob ich jemanden habe. Du hast meinen Bruder getötet und das werde ich dir niemals verzeihen. Verschwinde aus meinem Haus.«
Er trat vor und packte ihre Oberarme, um sie unsanft zu schütteln. All die Stärke, die sie irrtümlich für weltmännisches Selbstvertrauen gehalten hatte, war in Wirklichkeit etwas Teuflisches, das unter der Oberfläche lauerte. Er war ein Mann, der sehr wenig empfand. Da ihre Gefühle so stark waren, weiteten sie sich auf alle in ihrer Nähe aus – darunter auch auf ihn. Er wollte diese Gefühle wieder haben und bildete sich ein, sie enthielte ihm seine Emotionen vor, indem sie es sich nicht erlaubte, ihn zu lieben. Judith verstand jetzt, dass Jean-Claude kalt war und dass ihm die Fähigkeit fehlte, Kontakt zu anderen Menschen herzustellen.
Als junge Frau, die keinerlei Erfahrung hatte, hatte sie den Mann bewundert und geliebt, für den sie ihn gehalten hatte – eine Phantasiegestalt, die sie in ihrem Kopf heraufbeschworen hatte. Er hatte sich in dieser Liebe und Bewunderung gesonnt, weil er ihre Projektion so stark empfunden hatte, aber sowie sie fort gewesen war, war er wieder zu diesem kalten, gefühllosen Mann geworden, dem jeder moralische Kompass fehlte.
»Ich werde mich nicht mit dir streiten, Judith, jedenfalls nicht dann, wenn du derart unvernünftig bist. Wo ist unser Gemälde?«
Die Frage überrumpelte sie. Das sah Jean-Claude wieder mal ähnlich. Ihr war nie aufgefallen, wie oft er ein Gespräch abrupt beendet und ihr das Gefühl gegeben hatte, jung und dumm zu sein, und wie oft er sie manipuliert hatte, um seinen Willen zu bekommen.
»Welches Gemälde?«
»Du hast unser Gemälde mitgenommen. Das von unserer Begegnung. Ich habe dieses Gemälde geliebt und du hast es auch geliebt. Es war das Einzige, was du mitgenommen hast. Sogar deine Kleidung hast du zurückgelassen.«
Für einen Moment kehrte dieser entsetzliche Moment zurück, in dem sie der Wahrheit ins Auge gesehen hatte, dass sie einen Killer geliebt hatte. Sie hatte das Gemälde mitgenommen, weil sie jung und albern und derart verliebt in einen so reichen und raffinierten Franzosen gewesen war. Sie dachte, sie würde sich immer an das tragische Ende ihrer Liebesbeziehung erinnern, wenn sie das Gemälde ansah – und dann hatte er ihren Bruder ermorden lassen. Damit war dieses Gemälde ihr Erzfeind geworden. Im Lauf der letzten fünf Jahre hatte sie ihren Hass, ihre Wut und ihren Kummer auf diese Leinwand verströmt.
»Ich habe es übermalt. Der Anblick war mir unerträglich.«
»Du herzloses Miststück. Dieses Gemälde hat mir etwas bedeutet.« Er schlug ihr so fest ins Gesicht, dass sie hinfiel.
Der Angriff kam so schnell und so unerwartet, dass Judith im ersten Moment nicht wirklich verstand, was passiert war. Dann schien ihre Wange zu explodieren, ein heftiger Schmerz, der ihr die Zähne und das Auge herauszureißen schien, und sie begriff, dass er sie geschlagen hatte. Wut loderte in ihr auf und erschütterte sie bis ins Mark. Sie trat nach ihm, als er sich über sie beugte. Ihr Fuß traf gegen sein Schienbein und er stieß fauchend Flüche aus. Judith rollte sich herum, weil sie versuchen wollte, unter dem Tisch Schutz zu suchen, doch er holte mit seinem Fuß, der in einem Stiefel steckte, nach ihr aus und knallte ihn so fest in ihre Rippen, dass die Luft aus ihrer Lunge entwich. Ehe sie sich davon erholen konnte, packte er ihr Haar mit beiden Händen und riss sie daran hoch.
»Hör auf, Judith«, zischte er. »Hast du mich verstanden? Du hörst sofort damit auf, oder ich schlage dich bewusstlos, und dann nehme ich dieses Haus auseinander, bis ich das Gemälde finde. Und dich nehme ich mit, egal, ob du bei Bewusstsein oder bewusstlos bist. Du kannst es dir aussuchen.«
Judith nickte und rang um Luft. Sie zwang ihren Körper, ihr zu gehorchen. »Sag mir, was dir an diesem Gemälde so wichtig ist, Jean-Claude.«
»Ich habe dort etwas versteckt, was ich brauche. Etwas sehr Wichtiges. Wo zum Teufel ist das Gemälde?«
Judith schloss kurz die Augen. Sie wusste genau, wovon er sprach. Nicht einmal dann, als Stefan diesen Microchip erwähnt hatte, hatte sie es erfasst, doch jetzt wusste sie es. Ihr Bruder hatte diese Leinwand für sie gespannt. Er war der erste Mensch gewesen, der ihr jemals gezeigt hatte, wie man das machte, und sie hatte die Leinwand mitgenommen, als sie nach Paris gegangen war, mit der Absicht, ihm als Zeichen ihrer Anerkennung ihr erstes Gemälde zu schenken.
Dann war sie Jean-Claude begegnet und hatte sich in den gutaussehenden Franzosen verliebt, und sie hatte sie beide porträtiert; dieses Doppelporträt war eines der wenigen Porträts, die sie jemals gemalt hatte. Sie hatte die gesamte Liebe eines jungen Mädchens zu ihrem Märchenprinzen in dieses Gemälde einfließen lassen. Jean-Claude hatte es in seinem Schlafzimmer an die Wand gehängt. Sie hatte sich das Gemälde geschnappt und bei der ersten Gelegenheit hatte Paul ihr geholfen, das wenige, was sie besaß, nach Hause zu schicken. Ohne Gepäck war es leichter, kreuz und quer durch Europa zu reisen, bis sie sich nach Griechenland wagen konnten. Dort würde ein Freund von Paul sie erwarten, um sie auf seinem Boot in die Vereinigten Staaten zurückzubringen.
»Ich habe es dir doch schon gesagt. Ich habe es übermalt, aber es ist in meinem anderen Studio. Du wirst es mich holen lassen müssen. Es ist gefährlich, dieses Studio zu betreten.«
Sie wusste wirklich nicht, wie gefährlich es war, aber es hatte sich bereits gezeigt, dass Jean-Claude sehr anfällig für ihre Gefühle war, und alles Gewalttätige würde eine extrem starke Wirkung auf ihn haben. Der aufgestaute Zorn von fünf Jahren hatte sich in diesem Raum geballt und wartete nur darauf, einen Weg nach draußen zu finden.
»Ich lasse dich nicht aus den Augen«, kündigte Jean-Claude an. Er packte eine Handvoll von ihrem Haar und zerrte sie zur Tür. »Hältst du mich für blöd?«
Sie schaffte es irgendwie, auf den Füßen zu bleiben, als er sie durch den Flur zerrte.
»Wo ist es?«, fragte er barsch, während er sich im Kreis drehte und die vielen Türen ansah.
»Es ist in diesem Raum. Er ist abgeschlossen.« Sollte sie lügen und behaupten, der Schlüssel sei oben? Vielleicht war Stefan doch noch nicht gegangen. Wollte sie Stefan überhaupt in diese Angelegenheit hineinziehen?
Ihr Herz flatterte und wurde dann vollkommen ruhig, als ihr die Erkenntnis aufging: Stefan war die perfekte Mordmaschine. Jean-Claude war ein Verbrecher und er war kaltblütig, aber wenn sie Stefan tatsächlich zurückrief, zweifelte sie nicht daran, dass Stefan exakt die Dinge tun konnte, die sie sich ausgemalt und in den letzten fünf langen Jahren geplant hatte. Er konnte das Instrument sein, das sie brauchte, um Jean-Claude zu zerstören. Er war nicht nur fähig, den Franzosen zu töten – er eignete sich ideal dafür.
Ihre rechte Hand kroch auf ihre linke Hand zu, zu dem juckenden Mal mitten auf ihrer Handfläche. Euphorie durchzuckte sie. Endlich konnte sie Jean-Claude bestrafen. Sie konnte Rache üben und zusehen, wie er gefoltert und getötet wurde und genau das am eigenen Leib erfuhr, was er mit Paul getan hatte. Sie brauchte nichts weiter zu tun, als Stefan zurückzurufen, und sie wusste, dass sie ihn rufen konnte. Er würde kommen, um den Microchip an sich zu bringen, und sie wusste, wo der Microchip war. Jean-Claude würde ihn nicht finden, aber sie konnte ihn benutzen, um Stefan dazu zu bringen, dass er tat, was sie wollte.
Sie holte tief Atem und ihr Daumen verharrte über ihrer Handfläche. Sie brauchte nur fest zuzudrücken und ihn telepathisch zu rufen. Falls er das Haus bereits verlassen hatte und zu weit weg war, um sie zu hören, könnte er trotzdem fühlen, dass sie ihn rief.
»Verdammt noch mal, Judith.« Jean-Claude stieß die Tür zu dem unteren Schlafzimmer auf. »Ich werde ungeduldig.« Er gab ihr einen heftigen Ruck, um sie weiter durch den Flur zu zerren. »Wo zum Teufel ist das Gemälde?«
Sie war von einem solchen Hass auf diesen Mann erfüllt, dass sie nicht fähig gewesen war, die Dinge klar zu sehen. Sie hatte es satt, so zu leben, mit so viel Wut und Rage. Sie war glücklich mit Stefan gewesen – und dieses Glück war echt – und sie hatte die Erinnerungen an Jean-Claudes Abartigkeit von sich gestoßen und sich geweigert, ihr Leben davon besudeln zu lassen. Der Teufel sollte sie holen, wenn sie jetzt zuließ, dass ihre Liebe zu Stefan dadurch besudelt wurde. Und sie liebte Stefan wirklich, ob er ihre Gefühle erwiderte oder nicht. Ihre Gefühle für ihn waren sehr echt und sie würde nicht der Versuchung erliegen, ihn für ihre Rache zu missbrauchen.
Statt auf dieses Mal zu drücken, strich sie also mit einer Fingerspitze liebevoll und sogar fürsorglich darüber.
»Das Gemälde befindet sich in dem Studio dort«, sagte sie mit ruhiger Stimme. »Ich schließe es immer ab. Der Schlüssel hängt an einer Kette um meinen Hals.« Sie zog die schmale Kette heraus, damit er sehen konnte, dass sie die Wahrheit sagte.
Jean-Claude ließ ihr Haar los und nahm ihr den Schlüssel mit einem flüchtigen Lächeln aus der Hand. »Ich wusste doch, dass du zur Vernunft kommen würdest, ma belle.«
Er senkte den Kopf, um sie zu küssen. Sie wandte ihr Gesicht ab und sein Kuss landete auf ihrer schmerzenden Wange. Er lachte und tätschelte die Schwellung, die sich dort bildete, bevor er sich umdrehte und den Schlüssel ins Schloss steckte.
Stefan stand nahezu erstarrt mitten im Wohnzimmer. Judith hatte vollständig dichtgemacht und ihn so nachhaltig ausgesperrt, dass er sie nicht mehr erreichen konnte. Einen Moment lang waren Schmerz und Leid aufgeflackert. Die Gefühle waren wie eine Rakete durch ihn geschossen und zu einem scharfen Sägemesser geworden, das sich durch sein Herz bohrte, und dann … nichts. Das Grauen lag schon seit einer Weile in der Luft und hatte sich wie ein schwerer Umhang um ihn gelegt. In dem Moment, als er aus dem Wagen gestiegen war, hatte er drohendes Unheil gewittert.
Er kam sich vor wie ein Ertrinkender. Sie hielt alles, was er zu ihr gesagt hatte, alles, was er mit ihr getan hatte – darunter auch, wie glühend er sie geliebt hatte –, für nichts weiter als einen Haufen Lügen. Sein ganzes Leben lang hatte er auf sie gewartet, mit angehaltenem Atem. Er hatte es nur nicht gewusst, bis er sie gefunden hatte, und jetzt hatte er sie, einfach so, verloren. Er war wieder allein. In der Dunkelheit und in den Schatten, und um ihn herum lagen Teile seines Herzens verstreut. Er hatte keine Ahnung, wie er sie wieder zusammensetzen sollte. Beziehungen waren etwas, wovon er keine Ahnung hatte, und er besaß auch keine Erfahrung, auf die er zurückgreifen konnte.
Sie hatte so zerbrochen gewirkt, am Ende ihrer Kräfte. Restlos am Boden zerstört. Er wusste, wie sie über ihn dachte. Sie glaubte, er hätte Spielchen mit ihr gespielt und sie verführt, um ihr nahezukommen, damit er den Microchip fand. Plötzlich erschien ihm sein Leben so falsch, alles, was er getan hatte, um seine Aufträge auszuführen. Sie hatte ein vollkommen anderes Leben geführt. Sie war mit dem Bösen in Berührung gekommen, hatte es gestreift, aber sie war nicht darin eingetaucht.
Er fluchte auf Russisch, als er dastand und sich hilflos fühlte, etwas, was ein Mann wie er nicht ertragen konnte. Er war ein Mann der Tat. Was war schlimmer – abzuwarten und ihr etwas Zeit zu geben, damit sie begriff, dass er mit seinem Herzen in der Hand vor ihr stand, ihr die ungeschminkte, hässliche Wahrheit über sein Lebens erzählte und ihr gestand, dass er sie liebte? Oder zu ihr zu gehen und von ihr zu verlangen, dass sie die Wahrheit erkannte?
Der Rat seines Bruders, die Wahrheit zu sagen, war, ehrlich gesagt, ein beschissener Rat gewesen. Offenbar war es nicht so schlimm, sie zu betäuben, wie gewisse Tatsachen unerwähnt zu lassen. Den einen Fehler hatte sie ihm verziehen, den anderen nicht. Und dabei hatte er doch nur versucht, das Richtige zu tun. Er wusste nicht weiter, ein Zustand, den er bei sich nie für möglich gehalten hätte.
Er schloss die Augen. Er wollte sie heiraten. Sie zur Frau haben. Und zwar nicht er als Thomas Vincent. Sie konnten unter diesem Namen leben, aber er wollte wissen, dass sie ihm gehörte, ein Teil von ihm war. Wie konnte er ihr zeigen, dass jedes Wort, das er zu ihr gesagt hatte, ernst gemeint war? Jede Berührung? Jede Liebkosung? Er konnte sich nicht vorstellen, den Rest seines Lebens ohne sie zu verbringen. Ohne ihr Gelächter und ihre Helligkeit. Ohne ihre Küsse oder das Aufleuchten ihrer dunklen Augen.
Eines wusste er. Er würde nicht aufgeben. Er liebte Judith Henderson mit jeder Faser seines Wesens. Es mochte durchaus sein, dass er noch eine Million Fehler machen würde, aber unter dem Strich liebte er sie, und er wusste, dass er sie glücklich machen konnte. Mit Jean-Claude in ihrer Nähe schwebte Judith in Gefahr. Der Mann war ein skrupelloser Verbrecher. Das hieß, wenn er seine Beziehung zu Judith nicht kitten konnte, dann musste er eben das tun, was er am besten konnte. Seinen Job. Nur so konnte er für ihre Sicherheit sorgen. Es mochte ja sein, dass er nicht gut mit Frauen umgehen konnte, aber in seinem Job war er verdammt gut.
Der Microchip musste irgendwo ins Spiel kommen. Stefan war der Fährte, die die Killer hinterlassen hatten, mit großer Sorgfalt gefolgt, und der Chip war am Ende in Jean-Claudes gierige Hände gefallen. Er war verhaftet worden, ehe Stefan an ihn herankommen und den Chip zurückholen konnte. Es war ausgeschlossen, dass er Zeit gehabt hatte, den gestohlenen Microchip weiterzureichen, und von seiner Gefängniszelle aus hatte er es eindeutig nicht getan. Stefan hätte gehört, dass er zum Verkauf stand, wenn er angeboten worden wäre. Der Chip musste hier sein. Ein Gemälde? War das der Grund, weshalb jemand in der Galerie gewütet hatte?
War das eine Nachricht an Judith? Nein, Judith hätte es ihm gesagt, wenn sie etwas von dem Microchip gewusst hätte. Sie war so verletzt und so wütend gewesen, dass sie ihm die Information ins Gesicht geschleudert hätte. Also wusste sie von nichts. Konnte La Roux den Microchip in einem ganz bestimmten Gemälde versteckt haben? Im Lauf der letzten fünf Jahre waren Judiths Gemälde in alle Welt verkauft worden. Sie hatte sich einen Namen gemacht und insbesondere in Japan wuchs ihr Ruf.
La Roux hätte den Microchip mühelos zwischen die Keilrahmenleiste und die Leinwand eines Gemäldes stecken können. Aber warum hätte Judith ein Gemälde mitnehmen sollen, als sie ihn verlassen hatte, wenn sie nichts von dem Microchip gewusst hatte? Und wenn sie etwas davon gewusst hatte, wäre es dann nicht leichter gewesen, einfach nur den Chip mitzunehmen? Nein, sie hatte nichts von dem Chip gewusst. Falls er also hinter einer Leinwand verborgen war, welches Gemälde war es dann gewesen und warum war La Roux so sicher gewesen, dass sie es behalten würde?
Eine Spur von Unbehagen schlich sich in sein Gemüt ein und er warf einen Blick auf die Alarmanlage. Das grüne Lämpchen war ausgegangen. Verdammt noch mal. Die Frau hasste dieses Sicherheitssystem wahrhaftig. Er hätte wissen müssen, dass sie die Türen öffnen würde, wenn sie in ihr Studio ging – aber sie malte nicht. Sie spannte die Leinwände über den Keilrahmenleisten und das ließ sich weiß Gott bei geschlossener Tür erledigen. Er ging tatsächlich zwei Schritte auf den Flur zu, der zur Treppe führte, doch dann hielt er sich zurück.
Das hier war Judiths Haus und es war ihr Schmerz. Sie hatte das Recht, so damit umzugehen, wie es ihr angemessen erschien. Sein Unbehagen stieg sprunghaft an und seine Eingeweide verkrampften sich, aber sie hatte ihn so verflucht durcheinandergebracht, dass er nicht klar denken konnte. Schrillte seine innere Alarmanlage, weil Judith sich entschloss, ihn für alle Zeiten abzuweisen? Oder schlich Jean-Claude um das Haus herum?
Sie brauchten Hunde. So war es nun mal. Er ging zur Tür und trat mit der Absicht hinaus, das Haus langsam zu umrunden und sich zu vergewissern, dass der Franzose sich nicht draußen herumtrieb. Die Sterne und der Mond wurden vollständig von dem dichten grauen Schleier verdeckt, der vor sie gezogen war. Die Bäume waren verschwommene Umrisse und jedes Geräusch wurde durch den dichten Nebel gedämpft.
Es widerstrebte ihm, das Haus zu verlassen, und sei es auch nur für einen kurzen Moment. Seine linke Handfläche juckte. Pulsierte. Er fühlte Liebe darüberstreichen – eine zarte Liebkosung, die unverwechselbar war.
Jean-Claude drehte den Schlüssel im Schloss um und zog die Tür auf. Judith hielt den Atem an, als eine grausame Kraft herausgeströmt kam und auf der Suche nach einem Opfer pulsierend durch den Flur zog. Die Energien waren so stark, als sie den Franzosen trafen, dass er das Auftreffen wie einen körperlichen Hieb empfand, obwohl sie seinem Gesichtsausdruck ansehen konnte, dass er keine Ahnung hatte, was geschah. Er presste sich eine Hand aufs Herz, trat zurück und winkte sie in das Studio.
»Dieser Raum ist gefährlich, Jean-Claude«, warnte sie ihn noch einmal, obwohl sie wusste, dass er nicht auf sie hören würde, doch sie hatte das Gefühl, wenigstens das sei sie ihm schuldig.
Er stieß sie hinein und folgte ihr. Im Inneren des Studios war es nahezu pechschwarz und man konnte unmöglich etwas sehen. Das Licht im Flur war zu schwach, um das Innere des Raums zu erhellen.
»Wo ist der Lichtschalter«, fragte er und drehte sich zu Judith um.
Sie konnte jetzt schon das unheilvolle Pulsieren der Kraft fühlen, von der er umgeben war. Sie räusperte sich. »Ich benutze hier drinnen kein elektrisches Licht. Nur Kerzen.«
»Dann zünde sie an. Zieh die Vorhänge auf«, fauchte er sie ungeduldig an.
Die Tür schwang aus eigenem Antrieb zu, ein lautes, endgültiges Geräusch, das wie der dumpfe Schlag von Trommeln auf einer Beerdigung klang. Der Raum wurde augenblicklich in undurchdringliches Dunkel getaucht.
Judith fühlte, wie die wogenden Emotionen an Kraft zunahmen, und sie trat hastig vor, da sie die Absicht hatte, die Kerze anzuzünden, die ihr am nächsten stand. Sie war schwarz mit einem roten Kern und sie kannte den ungefähren Standort. Der Raum ächzte und stöhnte und leise Schritte kamen über den Fußboden auf sie zugetappt.
Jean-Claude riss Judith vor sich und tastete nach seiner Waffe. »Was zum Teufel geschieht hier? Judith, zünde die verdammte Kerze an.«
Ehe sie dazu kam, prallte eine weitere Woge von Kraft von den Wänden ab. Im ganzen Raum entzündeten sich Kerzen, makabre purpurne Lichtpunkte in dem Meer aus Dunkelheit. Rauch stieg auf, entfaltete sich und breitete sich langsam an der Decke aus. Die tanzenden Lichter folgten und leuchteten bedächtig die verrenkten, knorrigen Äste und die bekümmert weinenden Purpurspritzer an den Wänden und über ihren Köpfen aus. Kristalline Tränen tropften von den Zweigen und rannen an den Wänden hinab.
Die Wände knarrten und etwas Dunkles bewegte sich in den Schatten. Ein Geräusch, das ganz nach einem berstenden Ast klang, ließ sie beide schleunigst zum hinteren Ende des Raumes herumwirbeln, wo sie den großen, dunklen Stamm eines Baumes gemalt hatte, gekrümmt und missgestaltet, eine groteske, gespenstische Erscheinung eines lebenden, atmenden Baums. Während sie hinsahen, schien sich der Stamm zu spalten, und dickflüssige schwarze Gehässigkeit triefte aus der Öffnung.
»Was zum Teufel ist das?«, fragte Jean-Claude barsch.
»Ich habe dir doch gesagt, dass dieser Raum gefährlich ist«, antwortete Judith. Ihr Herzschlag beschleunigte sich und sie schmeckte echte Furcht in ihrem Mund.
Sie hatte bis zu diesem Moment keine Ahnung gehabt, wie gefährlich das Studio tatsächlich war. Jean-Claudes Anwesenheit hatte das finsterste Geistergespinst geweckt. Hier, wo sich jeder ihrer hässlichen Gedanken und jedes ihrer finsteren Gefühle um ihn gedreht hatte. Rache. Wut. Kummer. Alles, was sie ihm im Namen der Rache hatte antun wollen, hatte sie sich in diesem Raum ausgedacht. Ihr Geist hatte diese finsteren Gefühle zusammengeschnürt und jetzt war Jean-Claude hier, ein lebender Schlüssel, um diese sehr gefährliche finstere Kraft zu entfesseln.
Er zeigte ihr seine Waffe. »Glaube bloß nicht, ich werde sie nicht benutzen, wenn das hier irgendein Hinterhalt ist. Wo ist das Gemälde?«
Sie deutete auf eine Stelle in der Mitte des Studios, wo sie die Staffelei mit einem dunklen Tuch abgedeckt hatte. »Darunter.« Es hatte wenig Zweck, ihre Warnung zu wiederholen. Er würde ja doch nicht auf sie hören.
Judith sah sich wachsam um. Dunkles blutrotes Wachs warf in der Mitte der Kerzen Blasen und floss in Strömen an ihnen hinunter. Sie holte Atem und der Raum pulsierte, die Wände atmeten ein und aus.
Jean-Claudes Finger schlossen sich wie ein Schraubstock um ihren Oberarm, um sie zu der Staffelei zu ziehen. Er streckte eine Hand aus, um das Tuch zu packen. Ranken regten sich über ihren Köpfen wie Riesenschlangen, die ihre Köpfe hoben, um zuzusehen. Die Luft im Raum schien sich zu verdichten und das Atmen zu erschweren. Der Franzose zog mit einem Ruck das Tuch von dem Gemälde und ließ es auf den Boden fallen. Seine Hand glitt über die scharfen Glasscherben, die in die Leinwand eingebettet waren, und als er sie zurückzog, war sie blutig.
Er fluchte und sah Judith finster an, als er seine Handkante an seinen Mund hob. Blutstropfen spritzten auf das Gemälde und trafen auf den Boden. Unter ihren Füßen bewegten sich Schatten und streckten sich über die dunklen Fliesen, um die Flüssigkeit zu erreichen und sie gierig in sich aufzusaugen. Formlose Silhouetten tauchten aus den krummen Stämmen auf, unter Knarren und Ächzen. Die Kraft pulsierte wie ein Herzschlag.
Judith nahm Jean-Claudes Arm. »Wir müssen gehen. Lass uns jetzt gehen.«
»Nicht ohne den Microchip. Er ist hinter der Leinwand.« Er schüttelte sie ab und griff nach dem Gemälde, bevor sie ihn daran hindern konnte.
Er zerrte die Leinwand von der Staffelei und drehte sie um, sodass die veränderlichen Symbole und der Name ihres Bruders von ihm abgewandt waren, doch Judith erhaschte einen Blick auf diese dunklen Schatten, die wie Schemen aus den Schichten schmerzhafter Gefühle aufstiegen, die in das schroffe Gemälde eingeflossen waren. Die schaukelnden Äste über ihren Köpfen griffen den pulsierenden Trommelschlag auf, als sei ein Herz zum Leben erwacht, dort in diesen wogenden, finstereren Geistern.
Judith presste ihre Finger auf ihre Handfläche und ihr eigener Herzschlag folgte diesem unheilverkündenden, gespenstischen Rhythmus. Silhouetten begannen Gestalt anzunehmen, sich aufzubäumen und zurückzuweichen, während die Kerzen in die Mitte des Raumes sprangen – zu Jean-Claude. In dem gefühllosen Mann herrschte innere Leere und die Energien hatten es darauf abgesehen, dieses Vakuum zu füllen. Judith konnte sehen, wie sich seine Haut im Schein des tanzenden purpurnen Lichts subtil veränderte und sein perfekt getönter Teint sich aschgrau verfärbte.
Sie versuchte Glück zu verströmen, doch Furcht sandte ihre Strahlen durch den Raum und die Erscheinungen dehnten sich aus, kamen aus dem strömenden schwarzen gehässigen Saft heraus und wuchsen in dem Maß, in dem ihre Furcht anschwoll. Jean-Claude bemerkte weder die Schatten, die an seinen Armen hinaufkrochen, noch seine geschwärzten Finger oder die subtilen Veränderungen seiner Haut. Jedes Mal, wenn er das Gemälde umdrehte und es von den Keilrahmenleisten zu reißen versuchte, betteten sich die scharfen Glasscherben in seine Haut ein. Blut nährte die Phantome, sodass sie monströse Gestalten annahmen. Judith griff nach der Leinwand und versuchte sie ihm aus den Händen zu ziehen.
Jean-Claude knurrte, entriss ihr das Gemälde, warf sie dabei fast zu Boden und fluchte, als er selbst stolperte. Blut tropfte stetig.
»Er ist nicht da«, flüsterte Judith. »Jean-Claude, bitte, lass uns gehen. Er ist nicht da. Wir müssen gehen, jetzt gleich.«
Jean-Claude warf das Gemälde an die Wand. Der Knall hallte durch den Raum und seine Wut steigerte sich direkt proportional zu der zunehmenden Gewalttätigkeit der wogenden Emotionen. Die Energien drehten sich rasend im Kreis, wie ein furchtbarer Wirbelsturm, der sich von der Decke bis zum Boden bildete und durch das Studio sauste, auf der Suche nach einem Opfer – auf der Suche nach Jean-Claude.
Er schlug ihr mit dem Handrücken ins Gesicht und sie flog im hohen Bogen durch die Luft und landete zwischen den Schatten auf dem Boden. Um sie herum sprühten Blutstropfen herunter. Sie versuchte zur Tür zu kriechen, in der Hoffnung, er würde ihr folgen. Wie konnte er derart blind sein? Wie konnte er die Dämonen nicht fühlen, die sich aufblähten und nach ihm griffen, während das purpurne Licht der Kerzen sich ihm entgegenreckte? Alles in dem Raum reckte sich ihm mit gieriger Begeisterung entgegen, von oben und von unten, die berstenden Äste, die gehässigen Baumstämme, die kristallinen Tränen.
Er trat sie mehrfach und folgte ihr, wie sie es gewollt hatte. Auf seinem Gesicht zeigte sich in dem purpurnen Licht eine barbarische Wut, die kochte und brodelte, bis sie vollständig ausbrach und er in dem Moment, als sie die Tür erreichte, ihre Beine packte und sie mitten in den Raum zurückzerrte.
»Wo ist der Chip?«, zischte er, und seine Lippen zogen sich von widerwärtig gefletschten Zähnen zurück. Seine Zähne sahen schärfer aus, seine Lippen dünner. Die äußere Hülle des Mannes, die immer attraktiv gewesen war, schien sich vor ihren Augen aufzulösen, und der finstere, hässliche Mann in seinem Innern tauchte auf, wie von diesen finsteren Geistern geboren. »Du heimtückisches Miststück. Du hast ihn verkauft!«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe ihn nicht verkauft. Ich habe ihn gefunden und da Paul für eine Computerfirma gearbeitet hatte, dachte ich, er hätte ihn dort angebracht, als er die Leinwand für mich gespannt hat. Ich habe ihn für ein Symbol gehalten, seinen Glücksbringer für mich. Ich habe ihn in einer der Objektkammern meines Kaleidoskops eingeschlossen.«
Er riss den Kopf herum, ein Jagdhund, der eine finstere Fährte wittert. Er trat mitten auf die Leinwand, direkt auf Pauls Namen, diese weinenden japanischen Schriftzeichen, das einzig Schöne in diesem Werk des Hasses und der Zerstörungswut. Glas knirschte unter seinem Stiefel und die scharlachroten Buchstaben überzogen sich mit geschwärztem Ruß, als hätten die brennenden Kerzen den Boden mit einer dünnen Schicht überzogen, die sich an die Sohle seines Stiefels geheftet hatte.
Jean-Claude watete durch die wirbelnden Energien, als sähe er sie nicht. Der Raum stieß ein triumphierendes Zischen aus, als er auf das große Kaleidoskop zuging und die Abdeckung herunterriss.
Judith benutzte ihre Fersen für den Versuch, sich an die Wand zu drücken und sich so klein wie möglich zu machen. »Tu es nicht«, flüsterte sie.
»Wie funktioniert das?«, zischte er frustriert, als die Objektkammer dunkel blieb. Er sah sich im Studio um, sah dann sie finster an und hob drohend seine Waffe.
Judith schüttelte den Kopf, doch dann deutete sie auf die tragbare ultraviolette Lampe, die in seiner Reichweite auf dem Tisch stand. Er schnappte sich die Lampe, schob sie in die Rille, die in die Röhre eingelassen war, und schaltete das Licht an. Augenblicklich bestürmten ihn Bilder, finster und ausgehungert und von mächtigen Energien erfüllt. Er sah sich selbst dort, sein Inneres, und er konnte den Blick nicht abwenden, denn die strudelnden Emotionen hielten ihn fest, so dicht miteinander verwoben, so lebendig und so stark, dass sie das wahre Bild gebaren und die äußere Hülle der inneren Substanz anpassten.
Judith schlug sich die Hände vors Gesicht, als die Wände schwarze Gehässigkeit verströmten und aus den fallenden Tränen an der Decke Blut tropfte. Die Tür zersplitterte. Sie hatte nicht gemerkt, dass die Schatten sie abgeschlossen hatten. Stefan rief ihren Namen und seine Schulter warf sich ein zweites Mal an die Tür, gefolgt von seinem Stiefel. Die Tür barst und er griff hinein und riss sie auf, kam in den Raum geeilt und sah sich um.
Er beugte sich über sie und hob sie hoch, und sie schlang ihm ihre Arme um den Hals und begrub ihr Gesicht an seiner Schulter. »Bei mir bist du sicher, Judith«, murmelte er und bedeckte ihr Gesicht mit Küssen, während er aus dem Raum rannte. »Ja tebja ljublu. Falls du mich nicht verstanden hast: Ich liebe dich. Ich liebe dich von ganzem Herzen.«
»Ich kann nicht glauben, dass du gekommen bist, um mich zu holen.«
»Immer, Judith. Ich habe nicht gelogen, als ich dir gesagt habe, dass du mein Ein und Alles bist. Jedes Wort war ernst gemeint.« Er drehte seinen Kopf zu dem dunklen Raum mit den seltsamen, flackernden purpurnen Lichtern um, die sich jetzt etwas abgeschwächt hatten. »Ich muss ihn dort rausholen.«
Sie umklammerte seinen Arm. »Geh nicht noch einmal rein, Stefan. Es ist zu gefährlich.«
»Wir können ihn nicht dort liegen lassen. Ich hole ihn raus. Meine Abwehr ist stark. Ich gehe ihn holen und nichts wird mich daran hindern, zu dir zurückzukommen.«
Judith ließ widerstrebend zu, dass er sich von ihr entfernte. Sie glitt langsam an der Wand hinab und presste ihre zitternden Finger auf ihren Mund. Sie glaubte ihm. In Stefan war nichts Böses, was diese finsteren Emotionen verschlingen konnten. Sein Leben war durch die Umstände seiner Kindheit geformt worden, aber er war weder pervers geboren worden noch hatte er sich dazu entwickelt.
Er trug Jean-Claude über seiner Schulter, als er aus dem Studio gerannt kam. Behutsam legte er ihn neben Judith auf dem Boden ab und nahm ihm mit der Fingerfertigkeit, die ihr inzwischen so vertraut an ihm war, die Waffe aus der Hand. Jean-Claudes Haar wies weiße Strähnen auf, seine Augen waren tief in sein Gesicht gesunken und seine Haut war runzlig und mit dunklen Flecken gesprenkelt. Seine Augen wirkten leer; sie blickten starr vor sich hin und die Pupillen hatten sich in einer Form von Entsetzen geweitet. Judith bewegte ihre Hand vor Jean-Claudes Gesicht. Er blinzelte nicht.
Stefan drückte ihre Hand und raste in das Studio zurück, um die Vorhänge von den Fenstern zu zerren und die Glastüren aufzureißen.
»Tu das nicht! Was ist, wenn …«
Er schüttelte den Kopf. »Die Emotionen haben sich fast vollständig aufgelöst. Ich werde das Studio gründlich lüften. Im Moment gibt es nichts, was wir für ihn tun können. Er wird einen Arzt brauchen und ich bin nicht einmal sicher, ob das viel nützen wird.«
»Der Microchip ist in der ersten Objektkammer, die ich für das Kaleidoskop angefertigt habe. Schau nicht hinein, schnapp dir einfach nur diese erste Kammer. Ich dachte, mein Bruder hätte den Chip in den Keilrahmen gesteckt. Er hat die ganze Zeit über in zähem Mineralöl gelegen. Ich bezweifle, dass nach fünf Jahren in Öl noch viel Brauchbares drauf ist.« Sie zog die Stirn in Falten. »Aber es könnte ja möglich sein, dass sich ein Teil der Informationen noch retten lässt, wenn die Chancen auch nicht besonders gut stehen.«
Sie kniete sich neben Jean-Claude und wischte die Spucke ab, die an seinem Kinn hinuntertropfte.
»Ich brauche keine Informationen von dem Chip runterzuziehen, ich muss ihn nur nach Russland zurückbringen«, sagte Stefan. Er steckte die Objektkammer in seine Tasche, nachdem er die Türen und Fenster geöffnet hatte. »Solange kein anderes Land die Informationen stehlen kann, ist mir ganz egal, ob sie zerstört sind oder nicht.« Er half ihr auf die Füße.
Judith ließ sich an ihn sacken und rieb ihr Gesicht an seiner Brust, über seinem gleichmäßig schlagenden Herzen. »Danke, dass du zurückgekommen bist, um mich zu holen, obwohl ich wütend auf dich war und dich weggeschickt habe.«
Er schlang seine Arme um sie und drückte einen Kuss auf ihr Gesicht, das ihm zugewandt war. »Nächstes Mal, mein Engel, bekommst du keine Atempause, wenn wir Streit miteinander haben. Ab heute gilt die Regel, dass du in meiner Sichtweite bleibst, bis wir alles geklärt haben.«
Er hob Jean-Claude mit größter Behutsamkeit hoch, als wöge er nicht mehr als ein Kind. »Wir werden einen Krankenwagen rufen müssen. Wir müssen sagen, wir hätten ihn auf dem Grundstück gefunden. Er ist unkenntlich. Daher klingt es einleuchtend, wenn du sagst, du weißt nicht, wer das ist. Sie werden ihn durch seine Fingerabdrücke identifizieren und ihn ins Krankenhaus bringen.«
»Stefan.« Judith hielt den Atem an, bis er auf sie hinunterblickte.
Sie sog seinen Anblick in sich auf, ein großer Russe mit blaugrünen Augen und vielen Narben. Er ging so sanft mit Jean-Claude um, dass sich ihr Herz zusammenschnürte. Sie lächelte ihn unsicher an. »Ich liebe dich.«
Sein Lächeln erreichte seine Augen. »Das weiß ich besser als du.«