18.

Du hast mich betäubt, du Schwachkopf«, sagte Judith anklagend, sowie sie ihr Haus betreten hatten. Sie hatte die Arme in die Hüften gestemmt, als sie zu Stefan herumwirbelte. »Du hast etwas in die Schokolade geschüttet – von wegen altes russisches Hausmittel! Du hast mich betäubt. Und wage es nicht, mir einzureden, du hättest es nicht getan.«

Stefan nickte. »Ich sehe schon, dass das wahrscheinlich ein Fehler war.«

»Wahrscheinlich? Es war wahrscheinlich ein Fehler?«

Judith sah sich nach etwas um, das sie ihm an den Kopf werfen konnte. Das Einzige, was sie fand, war ein Kaleidoskop, das auf dem kleinen Beistelltisch stand. Sie schleuderte es ihm entgegen und bereute es augenblicklich, aber nicht etwa, weil sein dicker Schädel eine Beule abbekommen könnte, sondern weil sie dieses Kaleidoskop liebte. Es war eines von denen, die sie für sich und ihre Schwestern gestaltet hatte, ein Mandala für jede von ihnen und eines für sie selbst. Jede von ihnen hatte ein solches Kaleidoskop in ihrem Haus.

Die kunstvoll verzierte Röhre verharrte wenige Zentimeter von ihm entfernt in der Luft. Stefan strecke eine Hand aus und schlang seine Finger vorsichtig um das Kaleidoskop, stellte es behutsam wieder auf den Beistelltisch und zuckte zusammen, als sein verletzter Arm protestierte.

»Eindeutig ein Fehler. Ich hätte sagen sollen, dass es eindeutig ein Fehler war«, bemerkte er. »Hast du einen Erste-Hilfe-Kasten im Haus? Ich glaube, die Wunde muss genäht werden.« Er sagte sich, für einen Appell an ihr Mitgefühl könnte eine kleine Erinnerung daran, dass er verwundet war, genau das Richtige sein.

Judiths Miene verfinsterte sich noch mehr. »Musst du die ganze Zeit den Helden spielen? Es hat mich verrückt gemacht, wie du ihn regelrecht dazu aufgefordert hast, auf dich zu schießen. Du hast eine Waffe. Jede Menge Waffen. Ich habe dich nicht auf ihn schießen sehen.«

»Ich habe auf ihn geschossen«, verteidigte er sich und gestattete seinem Blick, über ihren Körper zu gleiten.

Judith war klatschnass. Sie war durchnässt bis auf die Haut und Wasser tropfte auf den Teppich. Ihr langes Haar hing in dicken schwarzen Fransen an ihr herunter und die Wassertröpfchen auf ihrer Haut erinnerten ihn an Tau auf Rosenblüten. Ihre Kleidungsstücke waren nahezu durchsichtig und sie zitterte unablässig und klapperte tatsächlich mit den Zähnen. Sie war aber derart außer sich, dass sie es nicht zu merken schien. Sie glaubte, für den Tod eines Mannes verantwortlich zu sein, und das konnte einem normalen Menschen einiges abverlangen. Ihr Zustand grenzte an Schock.

Stefan zog die Stirn in Falten und ging einen Schritt auf sie zu. Sie trat zurück und ein Anflug von Ungeduld huschte über seine harten Gesichtszüge.

»Judith, du bist klatschnass. Wir können darüber reden, nachdem du ein warmes Bad genommen hast.«

Als er sah, dass sie den Kopf schüttelte, wandte er ihr den Rücken zu und ging durch den Flur zu ihrem Schlafzimmer. Auf dem Weg dorthin zog er sich aus. Er dachte gar nicht daran, sich mit ihr zu streiten. Wenn sie ihm nicht freiwillig folgte, würde er sie sich über die Schulter werfen und die zitternde kleine Gestalt in der Wanne absetzen.

Seine Schulter brannte teuflisch und er musste humpeln, da an einem seiner Stiefel der Absatz fehlte. O Gott, wie müde er war. Und er machte sich solche Sorgen um seinen Bruder. Das Letzte, was er von Levi gesehen hatte, war, dass er in einem Krankenwagen abtransportiert wurde. Stefan würde niemals glauben, dass Ivanov tot war, solange er seine Leiche nicht mit eigenen Augen gesehen hatte.

Er legte seine nassen Kleidungsstücke ins Waschbecken, ließ Badewasser für Judith einlaufen und wickelte sich in ein Handtuch, nicht aus Schamhaftigkeit, sondern um sich zu wärmen. Er war so klatschnass wie sie. Nun sah er sich seinen Arm genauer an. Er war bereits zum zweiten Mal an dieser Stelle getroffen worden und dem gerade verheilten Muskel fehlte ein Stück. Seine Schultern waren einfach zu breit für Katz-und-Maus-Spiele mit Killern.

Er hörte sie auf nackten Füßen durch den Flur tappen. Sowie sie zur Tür hereinkam, streckte er die Hände nach den Knöpfen ihrer Jeans aus, zog den Bund auseinander und riss den Stoff an ihren Schenkeln hinunter. »Runter damit«, befahl er. »Zieh deine verdammten Sachen aus und leg dich in die Wanne.« Sowie er ihre Jeans losließ, packte er ihr nasses Tanktop, zerrte es über ihren Kopf und warf es auf seine nassen Kleidungsstücke, ehe sie protestieren konnte.

Judith stemmte eine Hand gegen seinen Brustkorb, um sich abzustützen, während sie die nasse Jeans von ihren Füßen trat. »Erst sehe ich mir deine Schulter an.«

»Du legst dich in die Wanne. Du zitterst wie Espenlaub. Es ist nicht das erste Mal, dass ich eine solche Wunde habe. Sie schmerzt teuflisch, aber sie wird mich nicht umbringen.« Er nahm ihren Arm und zog sie zur Wanne. »Rein mit dir. Ich stelle mich unter die Dusche und verbinde meine Wunde.«

»Du bist so herrisch«, beschwerte sich Judith und schnitt ihm eine Grimasse, als sie in das dampfende Wasser stieg.

»Und du klapperst so stark mit den Zähnen, dass sie dir gleich rausfallen werden.« Sie war verständlicherweise aufgebracht, und obwohl Levis Taktik, unter allen Umständen die Wahrheit zu sagen, ihn immer noch nicht vollständig überzeugte, war er bereit, es auszuprobieren, wenn es das war, was sie wollte – vorausgesetzt, sie war nicht in Gefahr. Natürlich hatte sie sich sehr gut gehalten und würde das wahrscheinlich als Argument verwenden. Das zog bei ihm zwar nicht, aber anhören würde er es sich.

»Was meintest du, als du gesagt hast, Ivanov hätte seinen Wagen von der Klippe gesteuert?«

»Ich bezweifle, dass er drinsaß.« So. Das war die Wahrheit. Ihr Gesicht wurde weiß und er verfluchte tonlos seinen Bruder. »Tauch dein nasses Haar in das warme Wasser ein. Dir ist immer noch kalt, Judith. Und mach dir wegen Ivanov keine Sorgen. Falls er noch am Leben ist« – und für ihn bestand kein Zweifel daran, dass Ivanov am Leben war und irgendwo seine Wunden leckte –, »werden wir ihn finden.«

Sie sah ihn aus zusammengekniffenen Augen an. »Indem du mich betäubst und dich jede Nacht auf die Suche nach ihm machst?«

Er schnappte sich ein Handtuch und stellte sich hinter sie, bis sie tat, was er verlangt hatte, und ihr langes Haar in das heiße Wasser eintauchte. Er wartete, bis sie es ausgewrungen hatte und ihre üppige Mähne mit einer achtlosen Geste und einem glühenden Blick über ihre Schulter warf. Dann rieb er die langen, seidigen Strähnen mit dem Handtuch trocken und massierte ihre Kopfhaut, damit ihr wärmer wurde.

»Ich gebe zu, dass es ein Fehler war, Judith«, sagte er mit ruhiger Stimme. »Ich hatte bisher nie eine Beziehung und mein erster Instinkt besteht immer darin, dich zu beschützen. Ich dachte, genau das täte ich. Anscheinend habe ich mich geirrt.«

Sie wollte ihren Kopf zu ihm umdrehen, doch er hielt sie fest und hinderte sie daran, sich zu rühren, während er ihr Haar gründlich trocknete. Er merkte, dass ihn eine unbestimmte Wut gepackt hatte. Er war es nicht gewohnt, sich Gefühle einzugestehen, und im ersten Moment glaubte er, ihre Wut färbte auf ihn ab, doch er musste zugeben, dass es diesmal ganz und gar seine eigene Wut war.

»Bezweifelst du das immer noch? Es klingt nämlich nicht so, als seist du dir deiner Sache sicher.«

»Natürlich zweifle ich daran. Du hättest heute Nacht getötet werden können. Eine Million Dinge hätten schiefgehen können, Judith. Ich werde nichts riskieren, wenn es um dein Leben geht.«

Er versuchte gar nicht erst, die Gereiztheit aus seiner Stimme fernzuhalten. Seine Eingeweide hatten sich verkrampft und er hatte ein flaues Gefühl in der Magengrube. Seit dem Moment, als er erkannt hatte, dass sie in Sea Haven war und dass es nichts gab, was er daran ändern konnte, hatte ihn sein Unvermögen, die Kontrolle über die Situation an sich zu reißen, in Wut versetzt. Er brauchte das Wissen, dass sie in Sicherheit war, und sie war es nicht. Offenbar war er anders als sein Bruder, der zusehen konnte, wie seine Frau im Meer tauchte und sich aktiv in Gefahr brachte. Er hatte sein ganzes Leben allein verbracht, und nachdem er Judith jetzt gefunden hatte, musste er feststellen, dass er nicht damit umgehen konnte, wenn sie in Gefahr war.

Seine Hand ballte sich in ihrem Haar zur Faust und er riss ihren Kopf zurück und fiel über ihren Mund her, ehe sie protestieren konnte. Sowie sich sein Mund auf ihren legte und seine Zunge in diesen weichen, heißen Hafen einlief, kam seine Welt wieder in Ordnung. Er war aus dem Gleichgewicht geraten, aber wenn er Judith küsste, schmeckte sogar Wut verdächtig nach Leidenschaft.

»Ich weiß, dass du frierst, mein Engel. Und du bist wütend auf mich, aber ich brauche dich. Jetzt sofort. Hier.« Er murmelte die Worte an ihre weichen Lippen und küsste ihre Worte fort. Er wusste nicht, ob sie protestierte oder einwilligte, denn für ihn zählte in diesem Moment nichts anderes, als sie zu fühlen, sie zu schmecken und zu wissen, dass sie am Leben war und seinen Kuss erwiderte.

Er legte einen Arm um ihren nackten, nassen Rücken, zog sie hoch und zuckte zusammen, als sein Arm protestierte. Es störte ihn nicht, dass wieder Blut aus der Wunde sickerte und an seinem Arm hinunterlief, und ihn störte auch nicht, dass sie klatschnass war. Er brauchte sie.

Sie drehte sich in seinen Armen um und schlang ihm ihre Arme um den Hals, als sie ihren nassen Körper an ihn presste. Ihre Füße waren noch im Wasser. »Ich bin wirklich wütend auf dich«, flüsterte sie in seinen Mund, doch ihre Lippen glitten über seine und sie küsste ihn immer wieder.

Er fühlte diese Wut in ihrem Kuss, die schäumende Leidenschaft, die aufstieg und sich zu heftigem Verlangen auswuchs. »Das ist in Ordnung, Judith«, flüsterte er in die Glut ihres Mundes. »Du kannst später auch noch wütend auf mich sein.«

Sein Mund zog eine lodernde Spur über ihr Gesicht, die bis zu ihrem Kinn und von dort aus auf ihre Kehle führte. Er hob sie vollends aus der Badewanne und störte sich nicht daran, dass Wasser auf den Boden tropfte.

Der Atem stockte in Judiths Kehle. »Ich bin keine zierliche Elfe wie Lexi oder Airiana, Thomas. Ich bin groß und daher kein Leichtgewicht. Du wirst dir wehtun.«

Seine Küsse setzten sich bis auf ihren Nacken fort, seine Zähne knabberten an ihr und seine Zunge tanzte über all diese zarte, verlockende Haut. »Ich will dich mit Haut und Haar, Judith.«

»Dein Arm«, zischte sie und wich zurück.

»Den soll der Teufel holen. Wer interessiert sich schon für meinen Arm? Im Moment brauche ich etwas ganz Bestimmtes.« Er nahm ihr Bein und zog es um sich. »Ich muss unbedingt in dir sein. Schling mir deine Beine um die Taille.«

Seine Stimme war jetzt heiser und sein Drängen überrumpelte ihn. Er brauchte gar nichts. Und schon gar nicht so. Nicht so, als hinge sein Leben davon ab, und doch konnte er nicht verhindern, dass seine Hände ihre Oberschenkel packten und seine Finger sich tief in ihr Fleisch gruben, als er sie hochzog. Sie hakte ihre Füße hinter seinem Rücken ineinander. Falls sein Arm sich beschwerte, drangen die Proteste nicht ernsthaft zu ihm vor. Das Einzige, was zählte, war diese Frau, in ihr zu sein und ihre Körper miteinander zu vereinen, Haut an Haut, Herz an Herz. Er brauchte es, dass sie mit ihm verschmolz und ihn mit ihrer sengenden Glut umgab.

Was auch immer von seiner Seele übrig war – es gehörte ihr. Sein Herz schlug heftig und das Blut rauschte in seinen Ohren, lauter als Donner. Rette mich, mein Engel. Gib dich mir hin.

Es war ihm unerträglich, dass er sie in Gefahr gebracht hatte und er derjenige war, dem sie in die Hölle gefolgt war; und dass damit der Weg dafür geöffnet worden war, dass ein Mann wie Ivanov an sie herankommen konnte. Und nach ihm würde es einen anderen und anschließend einen weiteren geben. Welches Recht hatte er, sie in seine Welt der Schatten und des Todes hineinzuziehen?

Ich bin so sehr in dich verliebt, Thomas. Das spielt alles keine Rolle. Nichts von alldem zählt. Nur das. Nur wir. Liebe mich. Zeig mir, dass du mich liebst.

Judith legte ihm beide Arme um den Hals, zog sich über ihn und presste sich auf ihn, bis die Spitze seiner Erektion den heißen, dickflüssigen Honig schmeckte, den ihr Körper verströmte, um ihn willkommen zu heißen.

Ihre zarte Stimme erfüllte seinen Geist, schlüpfte in jeden Schatten, löschte jeden Zweifel aus und brachte seinen Verstand zum Schweigen. Er wartete nicht. Er ließ ihr keine Zeit, sich auf ihn einzustellen, sondern hob sie in seine starken Arme und riss sie auf sich herunter, und während er sie nach unten zog, damit sie ihn vollständig in sich aufnahm, stieß er sich nach oben in sie. Sie war eng und heiß und er erstickte vor Lust in all diesen seidigen Falten, die seinem brutalen Eindringen wichen.

Sie schrie auf, warf ihren Kopf zurück und verschränkte ihre Finger hinter seinem Nacken, um Halt zu finden. Ihre Brüste bewegten sich schwingend und ihre Bauchmuskulatur spannte sich an, als sie der Forderung seiner Hände Folge leistete und zu einem wilden Ritt ansetzte. Glut loderte in ihm auf, versengte ihn und richtete ihn wieder auf. Mit jedem seiner brutalen Stöße begann die schreckliche Angst, die ihn zerrissen hatte, nachzulassen. Er stieß sich schnell und fest in sie, denn er brauchte die Flammen, die durch sein Blut rasten. Er brauchte das Feuer, das seinen Körper einhüllte, von seinen Zehen aufstieg, um ihn zu verschlingen – sie beide zu verschlingen, sie zusammenzuschweißen und Herz und Seele miteinander zu verbinden, während ihr Fleisch miteinander verschmolz.

Ihre atemlosen, wimmernden Schreie waren liebliche Musik in seinen Ohren. Ihr schluchzendes, keuchendes Flehen, wenn sie seinen Namen rief, erschütterte ihn bis ins Mark. Er hielt sie noch fester und verlor sich in der sengenden Glut ihres Körpers, in ihrer engen, seidigen Scheide und in der Lust, die sich in ihm ausbreitete.

Er konnte nicht glauben, dass sie ihm gehörte. Ob wütend oder nicht – sie hieß ihn willkommen und ritt ihn hart und heftig, ein wilder, hemmungsloser Ritt, bei dem sie sich ihm vollkommen überließ. Ihre keuchenden Rufe wurden drängender und ihre Nägel gruben sich in seinen Nacken. Die winzigen Nadelstiche des Schmerzes machten ihn nur noch heißer, restlos besessen von seinem rasenden Verlangen.

»Du gehörst mir«, stellte er fest. »Sag es mir. Jetzt. Sofort. Judith. Wem gehörst du?«

Sie öffnete die Augen und sah ihn fest an. Einen Moment lang setzte sein Herzschlag aus und er fühlte, wie er fiel. Ertrank.

»Stefan Prakenskij. Ich gehöre ihm und ich werde ihm immer gehören.« Die Worte kamen abgehackt und keuchend aus ihr heraus, denn er hatte nicht aufgehört, sich wie ein stampfender Kolben in sie zu treiben. »Und er gehört mir.« Sie warf ihren Kopf wieder zurück und ihre Brüste reckten sich empor, ein hocherotischer Anblick, der sich ihm für alle Zeiten einprägen würde.

»Wen liebst du?«

»Dich, du Schwachkopf.« Ihre Muskeln packten ihn besitzergreifend und drückten zu, heiß und eng und absolut perfekt. »Immer nur dich.«

Ihre Liebeserklärung ließ die letzten Spuren der Furcht und der Wut dahinschmelzen. Seine Finger packten ihre Pobacken fester und er hob sie hoch und zog sie auf sich hinunter, während Blitze durch seinen Körper zuckten und sein Blut einen Gesang anstimmte. Alles, was er jemals gewesen war und getan hatte, hatte ihn an diesen Ort geführt, zu dieser Frau. Sie war alles, wonach er jemals gesucht hatte. Es gab keine vor ihr und es würde keine nach ihr geben.

Er machte sich nicht die Mühe zu leugnen, dass es sich bei seinen Gefühlen für sie nur um Liebe handeln konnte. Es war ein so intensives und ursprüngliches Gefühl, dass es ihn bis in die Grundfesten seines Daseins erschütterte. Er wollte jeden Morgen mit ihr aufwachen. Seinen Körper beim Einschlafen eng um ihren schlingen. Er wollte, dass sie sein Kind gebar – seine Kinder. Er wusste, dass er den Rest seines Lebens mit ihr an seiner Seite verbringen wollte, und wenn er starb, wollte er in ihren Armen sterben.

Sinnliches Feuer verbrannte ihn von innen nach außen, führte ihn in Höhen hinauf, die er niemals zuvor erklommen hatte. Er spürte, wie auch Judith über ihre Grenzen hinausging, bis sie sich nur noch an ihn klammern, keuchen und flehen konnte und ihre leisen Rufe immer fieberhafter wurden. Sein Körper explodierte wie ein feuriger Vulkan, eine Rakete durchschlug ihn, ein rasender Ansturm auf seine Sinne.

Sie drückte zu und ihre Muskeln schlangen sich noch enger um seinen Schwanz, würgend und glühend heiß, und zogen seine Essenz bis auf den letzten Tropfen aus seinem Körper, während Blitze durch seine Adern fuhren und durch sein Blut rasten. So fühlte sich Liebe an. Allumfassend. Ein fieberhaftes, unersättliches Verlangen, das einen vollständig ausgewrungen und doch seltsam mit sich selbst im Reinen zurückließ.

Judith ließ ihren Kopf auf seine Schulter sinken, während Nachbeben ihren Körper durchzuckten, ihr Atem ein schluchzendes Keuchen war und sie ihre Augen geschlossen hielt, als kostete sie ihn genüsslich aus. Er hielt sie eng an sich gedrückt, denn er wollte die Nähe und den Hautkontakt, und er blieb weiterhin tief in ihr begraben und empfand eine gewaltige Zärtlichkeit, ein Gefühl, das er nie gekannt hatte und das ihn jetzt überwältigte.

»Am liebsten würde ich immer hierbleiben, tief in dir begraben. Du bist mein sicherer Zufluchtsort, Judith, ein Ort, an dem ich ich selbst sein kann«, flüsterte er und zog eine Spur von Küssen über eine Seite ihres Gesichts bis zu ihrem Hals.

»Du bist du selbst«, antwortete sie mit ihren Lippen an seiner Schulter. »Zumindest glaube ich das. Du bist ernsthaft verletzt, Thomas. Du solltest mich nicht so halten.«

»Das ist sogar genau das, was ich tun sollte. Russen sind zäh, mein Engel.« Er drückte einen Kuss auf ihr Haar, als er es sich gestattete, aus ihr hinauszugleiten. Und das tat er, obwohl er es nicht wollte, denn er war grob mit ihr umgesprungen und sie brauchte die lindernde Wärme des Badewassers.

Er ließ sie wieder in die Wanne sinken. »Möchtest du, dass ich heißes Wasser nachlaufen lasse?«

Judith legte ihren Kopf zurück und blickte mit ihren exotischen Augen zu ihm auf. Mit ihrem glatten, schimmernden Haar und ihren sinnlichen Gesichtszügen wirkte sie auf ihn noch geheimnisvoller als sonst. »Ich muss wissen, was los ist, Thomas. Wenn wir das durchziehen …«

Er packte mit einer Faust ihr Haar. »Es gibt kein Wenn und Aber. Wir haben uns beide aneinander gebunden, Judith, versuch also nicht, einen Rückzieher zu machen, weil dir etwas, was ich getan habe, nicht gepasst hat. Das wird noch oft passieren, bevor ich dahinterkomme, wie diese Beziehungskisten laufen.«

Ihr Grübchen zeigte sich, als versuchte sie ein Lächeln zu unterdrücken. Aber die Woge von Glück, die sich im Raum ausbreitete, konnte sie nicht unterdrücken. »Beziehungskisten?«, wiederholte sie. »Ich sehe schon, dass ich mir keine großen Hoffnungen auf romantische Entschuldigungen machen darf. Dusch dich, Thomas, damit wir deinen Arm verarzten können. Lassen wir es für heute dabei bewenden, aber glaub mir, wenn du jemals wieder versuchen solltest, mich zu betäuben, dann ziehe ich dir eine Bratpfanne über den Schädel.«

»Wahrscheinlich tätest du das sogar.«

»Zweifle bloß nicht daran.«

Stefan stellte verwundert fest, dass er lachte. »Du bist so verflucht schön.«

»Stell dich unter die Dusche, Thomas«, sagte Judith mit fester Stimme, die keinen Widerspruch duldete.

Es gefiel ihm, wenn sie ihn herumkommandierte. Irgendwie fand er es sehr sexy, wenn eine Frau ihren Besitzerstolz hervorkehrte und ruppig mit ihrem Mann umsprang – und ihm gefiel es, ihr Mann zu sein. Er grinste sie an und stellte sich unter die Regenwasserdusche.

Das heiße Wasser vertrieb die Erschöpfung aus seinen Knochen. Er ließ sich Zeit und kostete das Vergnügen aus, sie ein Bad nehmen zu sehen, während er duschte. Er hatte recht gehabt, was diese Badewanne anging: Wenn er danebenstand, hatte sie genau die richtige Höhe, und Judith brauchte nur noch ihren Kopf zurückzulehnen, ihren Mund zu öffnen, der so sexy war, und seinen plötzlich schmerzenden Schwanz mit Aufmerksamkeiten zu überhäufen. Er ließ seine Hand sinken und schloss sie locker um sein Fleisch, das schnell hart wurde. Der Sprühregen, der auf das empfindliche Fleisch prasselte, diente höchstens dazu, die erotische Phantasie zu verstärken.

»Lass das«, sagte sie, ohne ihren Kopf umzudrehen.

»Ich habe doch gar nichts getan – jedenfalls noch nicht.«

»Du wirst jetzt deine Schulter verarzten.«

»Hinterher.« Seine Stimme nahm einen unbewussten Befehlston an.

Jetzt drehte sie den Kopf um und sah ihn an, und als sein Blick über sie glitt, wurden ihre Augen schläfrig und der verführerische Ausdruck einer Sirene trat auf ihr Gesicht. Sie winkte ihn mit einem gekrümmten Finger zu sich. »Komm her. Ich glaube, du bist unersättlich.«

Das Schnurren ihrer Stimme ließ seinen Schwanz noch härter werden. Er drehte das Wasser ab und sah ihr fest in die Augen, als er auf sie zuging. In Judiths Augen stand sengende Glut. Sie neigte ihren Kopf zurück, als sie nach ihm griff, beide Hände liebevoll unter seinen Hodensack legte und ihn drängte näher zu kommen. Stefan machte die Augen zu, als sich ihr heißer Mund über seinem pochenden Fleisch schloss. All diese glühend heiße Seide schloss sich so eng wie eine Faust um ihn, doch das, was ihm den Atem verschlug und die sengende Glut verstärkte, die durch seinen Körper raste, war der Blick, den er in ihren Augen sah.

Er stöhnte vor Lust, als sie fest an ihm saugte, ihn tiefer in sich hineinzog und mit ihrer Zunge seinen Schaft bearbeitete. Ihr Mund war fast so himmlisch wie ihr Schoß. Sie ließ sich Zeit, neckte ihn und überschüttete ihn mit Aufmerksamkeiten. Ihre Zunge und ihre Faust spielten mit seiner Eichel und sie leckte den Schaft, ehe sie Ernst machte und ihren Mund gezielt einsetzte.

Er schloss die Augen und gab sich der Ekstase hin, der Glut, die von seinen Zehen in seine Lenden hinaufglitt und von seinem Kopf aus in seine heftige Erektion raste. Er konnte es nicht lassen, mit zarten Fingerspitzen ihre geliebten Gesichtszüge nachzufahren, während er zusah, wie er in den heißen Tiefen ihres Mundes verschwand. Ihre Augen, die hohen Wangenknochen, ihre zarte, einladende Haut. Seine Hand glitt an ihrem Kinn hinunter und streichelte ihre Kehle, als er noch etwas näher vor sie trat und sie somit zwang, ihren Kopf zurückzulehnen, damit er einen besseren Winkel hatte und noch tiefer in sie gleiten konnte.

Er blieb so passiv wie möglich, solange er noch dazu in der Lage war, bevor die Sinneseindrücke seine Selbstbeherrschung zu bezwingen begannen. Stefan wusste, dass Judiths Vergnügen, die Art, wie sie sich ihm anbot, einen großen Teil seines Vergnügens ausmachte. Er bemühte sich um etwas mehr Kontrolle, als die Flammen in seinen Adern zu lodern begannen und über seine Haut züngelten. Er ließ seinen Schwanz noch zwei Zentimeter tiefer in ihr versinken und verweilte einen Moment lang dort, damit sie sich an das Gefühl gewöhnen konnte, ehe er sich zurückzog.

Sie streichelte mit ihrer Zunge die Unterseite seiner breiten, empfindlichen Eichel und auf ihr Gesicht trat ein Ausdruck von versunkener Konzentration, als wollte sie sich jede Einzelheit ins Gedächtnis einprägen. Seine Hände packten ihr Haar und hielten ihren Kopf still, als er die Kontrolle vollständig an sich riss, tiefer als jemals zuvor in ihr versank und dort stillhielt.

»Schluck, mein Engel.« Er stieß die Anweisung durch zusammengebissene Zähne hervor.

Die fesselnde Enge bewirkte, dass sich ihm ein Stöhnen entrang. Er zog sich behutsam zurück und stellte fest, dass ihre Zunge vorsätzlich auf seine pulsierende Ader drückte. Er begann einen Rhythmus vorzugeben, bei dem sie mithalten konnte, wobei er versuchte, dieses wunderbare Gefühl, wenn sie schluckte, damit zu vereinbaren, dass sie zwischendurch Luft holen musste. Es war beseligend, die reinste Wonne, ihr Mund, ihre Kehle und ihre Zunge. Er fühlte die zunehmende Anspannung in seinem Körper und packte ihr Haar noch fester.

»Sieh mich an. Wende den Blick nicht von mir ab.« Er hatte die Worte kaum hervorgebracht, als die Explosion irgendwo in der Nähe seiner Zehen begann und sich glühend durch seine Schenkel fortsetzte, ein kräftiger, schneller Strahl nach dem anderen, während das Blut in seinen Ohren rauschte und sein Herz vor Liebe höher schlug.

Sie sah ihm in die Augen, ohne mit einer Wimper zu zucken, als sie ihn in sich aufnahm und ihre Kiefer gierig arbeiteten, und die Liebe in ihren Augen war unerschütterlich. Ihre Liebe zu ihm. Sie hatte ihn von seiner besten und von seiner schlechtesten Seite gesehen und sie hielt immer noch zu ihm, schenkte ihm immer noch ihre Liebe und ihre Loyalität. Der letzte Rest seiner Wut wich aus ihm, als er erkannte, dass sie seine Unfähigkeit, Beziehungen zu verstehen, noch mehr akzeptierte als er. Judith würde zu ihm stehen. Der grässliche Aufruhr in seinen Eingeweiden legte sich und er merkte, dass er die Frau, die er liebte, vertrauensvoll anlächelte.

Es war ein seltsames und erheiterndes Gefühl, vor den Augen der Einwohner von Sea Haven die Hauptstraße hinunterzulaufen und dabei Judith an der Hand zu halten. Auf der anderen Straßenseite spielte das Meer verrückt und die Wogen schlugen auf die Klippen ein. Von Felsen in die Höhe geschmettert stieg weiße Gischt hoch in die Luft auf, mit einem lauten Dröhnen, das der Wind auffing und landeinwärts trug. Schmale Dunstfetzen strömten auf die Gebäude und die Straßen zu, von der Brise, die vom Meer her kam, an Land gebracht.

»Die meisten Leute hier stören sich mehr am Wind als am Nebel«, sagte Judith, »aber ich liebe den Wind und die Stürme hier. Es kommt mir immer so vor, als könnte niemand diesen Ort wirklich zähmen.«

Stefan gefiel dieser Gedanke. Er war nicht der Typ Mann, der durch die Straßen schlenderte und kühn die Hand einer Frau hielt. Sein Blick bewegte sich unruhig über Dächer und tauchte in Gassen ein, obwohl ein Teil von ihm jeden Moment dieser neuen Erfahrung genoss. Es schien so, als erlebte er alles mit Judith zum ersten Mal. Er war ein Mann, der an die Rollen gewöhnt war, die er spielte, und er fühlte sich in Gesellschaft nur sicher, wenn er sich tarnte. Wenn er vorhatte, Thomas Vincent zu werden und sich in Sea Haven niederzulassen, würde er sich mit Judith vollständig in die Kunstszene einleben müssen. Sie unternahm Reisen und besuchte Galerien und Tagungen. Sie veranstaltete Kurse. Wohin Judith ging, dahin würde auch Stefan gehen, aber er würde immer die Wildheit dieses Ortes haben, die es ihm erleichterte, sich in seiner eigenen Haut wohlzufühlen.

Er fühlte ein Rinnsal des Unbehagens in sein Inneres rieseln. Er sah sich schnell um. Der Nebel war dicht, ballte sich rasch zusammen und hüllte die Gebäude in graue Dunstschleier.

Judith hob ihr Gesicht zu dem dichter werdenden Nebel und lächelte. »Ich liebe unser Meer hier. Es ist so wild und wechselt stündlich seine Stimmung. Heute Morgen war es wunderschön auf der Farm, und trotzdem fahren wir nur ein paar Meilen und schon strömt der Nebel so schnell und so dicht in die Ortschaft, dass man kaum noch die Hand vor den Augen sieht.«

Stefan wusste, dass seine »Flitterwochen« mit Judith ihrem Ende zugingen. Er konnte die Anspannung, die sich in ihm aufbaute, so deutlich fühlen, wie er einen drohend bevorstehenden Tornado wahrnahm. Er wusste es immer, wenn sich Ärger anbahnte, und als sie sich der Galerie näherten, stellten sich die Haare in seinem Nacken auf, und jede Zelle seines Körpers schaltete auf Alarmbereitschaft. Ohne eine bewusste Überlegung ließ er Judiths Hand los und begab sich hinter ihr auf ihre andere Seite, um seinen Körper zwischen sie und die Gebäude zu bringen, statt sie gegen die Straße abzuschirmen. Er stellte seine Instinkte nicht in Frage, sondern reagierte schlicht und einfach darauf.

»Lass mich vorausgehen«, ordnete er an, als sie sich dem schmalen Weg zwischen den Gebäuden näherten, wo sich der alte Bill heimisch eingerichtet hatte. »Bleib hinter mir, bis ich weiß, dass die Galerie sicher ist.«

Judith blickte finster in sein grimmiges Gesicht, als sie seinen angespannten und sehr gebieterischen Tonfall hörte, doch sie erhob keine Einwände. Als sie an Bill vorbeikamen, blieb sie stehen. Der Veteran lag unter seiner Decke, hielt sich eine Hand über den Kopf und zitterte ein wenig in dem dichten Nebel.

»Bill, brauchen Sie eine zusätzliche Decke? Was ist aus Ihrem Schlafsack geworden?«

Die Welt war grau und trist, und dort, wo Ivanovs Wagen auf die Felsen hinabgestürzt war, schlug das Meer zornig gegen die Klippen. Stefan sah sich lange um, während Judith mit dem Obdachlosen sprach, doch selbst während er Dächer und Türme absuchte, nahm er bewusst wahr, dass Bill einen Versuch unternahm, sich aufzusetzen, hustete und sich wieder hinlegte.

»Brauchen Sie einen Arzt?«, fragte Judith.

Bill schüttelte den Kopf und wollte sie mit einem Wedeln verscheuchen; sein Unabhängigkeitsdrang war offensichtlich so groß wie sonst auch.

Judith sah ihn mit finsterer Miene an. »Wenn es Ihnen morgen nicht besser geht, bringe ich Lexi zu Ihnen, Bill, und Sie wissen, was das bedeutet. Sie wird einen Trank für Sie zubereiten, der grauenhaft schmeckt, und Sie werden ihn trinken, weil ihr niemand widerstehen kann, noch nicht einmal Sie.«

Bill gab einen gedämpften Laut von sich, der schnaubendes Gelächter oder Zustimmung hätte sein können. Stefan drängte Judith weiterzugehen, indem er sie am Oberarm nahm und sie mit autoritärer Kraft in Richtung Galerie zog. Sie warf ihm einen finsteren Blick zu, denn ihre Sorge um Bill setzte ihren gesunden Menschenverstand außer Kraft.

Sein Radar schrillte lautstark und seine Muskeln spannten sich einsatzbereit. Das Gewicht seiner Schusswaffe war beruhigend. Er hatte ein Messer an seine Wade geschnallt, eines in seinem Stiefel stecken und ein weiteres im Ärmel, und zwischen seine Schulterblätter, wo er es im Notfall in weniger als einer Sekunde griffbereit hatte, hatte er ein kleines Wurfmesser geklebt. Trotzdem behagte es ihm nicht, dass Judith auf offener Straße war.

Komm jetzt, Judith. Hier stimmt etwas nicht. Ich kann es fühlen. Er zischte ihr die Warnung in ihrem Innern zu.

Judith lächelte Bill an und hob eine Hand in die Richtung des älteren Mannes. Sie war offenbar immer noch der Meinung, sie sollte darauf beharren, dass er ärztlich versorgt wurde. Er hasst Ärzte, erklärte sie, aber sie setzte sich in Bewegung und ging auf die Galerie zu.

Sie waren noch keine zwei Meter weit gekommen, als sich zwei verschwommene Gestalten in dem Wintergarten erhoben, wo sie auf Stühlen gesessen hatten. Stefans Herz sank. Er erkannte das Paar sofort. Inez Nelson und Frank Warner erwarteten sie. Beide wirkten verstört und Inez rang, sichtlich aufgewühlt, die Hände.

»Was ist los, Inez?« Judith trat vor. Mitgefühl drückte sich in ihrer Stimme, auf ihrem Gesicht und in der Geste aus, mit der sie ihre Hand auf den Arm der älteren Frau legte.

Stefans natürlicher Hang bestand darin, Judith gegen das Paar abzuschirmen. Sein inneres Warnsystem schrillte so laut, dass er es deutlich hören konnte, obwohl das Blut donnernd in seinen Ohren rauschte. Er drängte sich dicht an Judith und gab ihr mit seinem Körper Schutz, als er einen Arm um sie herumstreckte, um Frank die Hand zu schütteln. »Stimmt etwas nicht?«

»Ich bin heute Morgen in die Galerie gegangen, um aufzuschließen, bevor Sie kommen«, erklärte Inez, »und …« Sie ließ ihren Satz abreißen. »Sie werden es ja sehen. Ich habe Jonas verständigt.«

Stefan fluchte in sich hinein. Das Letzte, was er gebrauchen konnte, war ein Sheriff, der sich einmischte. Er folgte Inez und Frank in die Galerie und achtete darauf, Judith vor sich zu haben, damit ein Bewaffneter auf der Straße keine Chance hatte, auf sie zu schießen. Sowie sie eingetreten waren, sah Stefan den Schaden. Jemand hatte Gemälde von der Wand gerissen und sie achtlos auf den Boden geworfen, nachdem Leinwände aus den Rahmen gezerrt und die Keilrahmenleisten herausgerissen worden waren.

»Wer macht denn so etwas?«, fragte Judith. »Solch ein Vandalismus ist hier ja noch nie vorgekommen. Wenn die Leinwände nicht bald wieder gespannt werden, sind die Gemälde ruiniert. Die meisten sind Ölgemälde, aber es sind auch Acrylbilder darunter und die werden ein größeres Problem darstellen.« Sie presste sich die Fingerspitzen auf die Augen. »All die Arbeit, die zerstört worden ist.«

Stefan ging näher an die Gemälde heran, die auf dem Boden verstreut lagen. Es handelte sich ausnahmslos um Gemälde von Judith. Er erstarrte. Dahinter steckte eine Absicht. Ließ ihnen Ivanov eine Nachricht zukommen? Er warf einen schnellen Blick auf die Fensterreihen. Plötzlich kam ihm Judith sehr exponiert vor. Er nahm ihren Arm und zog sie fort von den Gemälden und in das schattige Innere zurück, wo es für einen Scharfschützen schwieriger sein würde, einen sicheren Schuss auf sie abzugeben.

»Inez, es sieht so aus, als hätte es jemand auf meine Gemälde abgesehen«, sagte Judith und hob eine Hand abwehrend auf ihre Kehle.

Stefan fand, sie sähe sehr verletzlich aus, und sein Herz schnürte sich zusammen. Er schlang ihr einen Arm um die Taille und zog sie eng an sich. Wir werden der Sache auf den Grund gehen, mein Engel.

»Sie haben die Kunstwerke nicht zerstört«, hob Inez hastig hervor. »Sie haben die Leinwände von den Keilrahmen gezogen. Das können Sie doch wieder in Ordnung bringen, nicht wahr, Judith? Wenn Jonas sich das Ganze angesehen hat, nehmen Sie alles mit in Ihr Studio und reparieren es, bevor die Bilder endgültig ruiniert sind.«

»Er wird sie als Beweisstücke behalten wollen«, hob Judith hervor.

»Das geht aber nicht. Er kann sie fotografieren, und wenn ihm das nicht genügt, dann hat er eben Pech gehabt. Wir lassen es auf sich beruhen, weil die Galerie Verluste dieser Größenordnung nicht hinnehmen kann«, sagte Inez hitzig. »Und wir werden ganz bestimmt nicht ausgerechnet all Ihre Werke einbüßen.«

»Könnten die Vandalen auf der Suche nach etwas gewesen sein?«, fragte Stefan und behielt Judith im Auge.

»Wonach sollten sie denn unter den Leinwänden suchen?«, fragte Judith. »Ich spanne die Leinwände selbst. Sie werden einfach nur um die Keilrahmenleisten gewickelt und mit Heftklammern aus Edelstahl daran befestigt.«

»Woher beziehen Sie Ihre Keilrahmenleisten?«, fragte Frank. Er räusperte sich und warf erst Stefan und dann Inez einen Blick zu. »Judith, Sie erinnern sich doch sicher noch an den Ärger, den ich vor ein paar Jahren hatte.«

Die russische Mafia hatte ihre Krallen in Frank geschlagen und gestohlene Kunstschätze durch seine Galerie in Umlauf gebracht. Für seine Beteiligung an dem Schmuggelunternehmen war er ins Gefängnis gewandert.

Judith schüttelte den Kopf. »Die Keilrahmenleisten bekommt man überall – in jedem Geschäft für Künstlerbedarf. Daran ist nichts Besonderes.«

»Was ist mit den Leinwänden?«, fragte Inez.

Judith zog die Stirn in Falten. »Wie die meisten Künstler spanne ich meine Leinwände selbst und kaufe daher Leinwand in Rollen. Auch die bekommt man in jedem Geschäft für Künstlerbedarf. Manchmal verwende ich eine Leinwand mehrmals, aber auch daran ist nichts Besonderes.«

Stefan konnte fühlen, wie ihr Verstand arbeitete, rätselte und dahinterzukommen versuchte, warum man sich ausgerechnet ihre Werke vorgenommen hatte, wogegen alle anderen Kunstwerke intakt geblieben waren. Da er sich in höchster Alarmbereitschaft befand, nahm er die Spur von paranormaler Kraft wahr, die Jonas Harrington vorauszueilen schien, als er die Galerie betrat. Er ließ seinen Arm um Judiths Taille liegen und beobachtete den Sheriff, der augenblicklich seinen Arm um Inez legte, um sie zu trösten. Sein scharfer Blick richtete sich jedoch auf Stefan und darauf, wie schützend er Judith an sich schmiegte.

»Haben Sie etwas von Levi gehört?«, begrüßte Jonas Judith. »Ich wollte gestern nach ihm sehen, aber ich habe es zeitlich nicht mehr geschafft.«

»Er ist wieder zu Hause«, sagte Judith. »Er humpelt, aber ansonsten geht es ihm gut.«

Jonas hielt seinen Blick fest auf Judith gerichtet. »Dieses Unwetter in der Nacht. Hannah hat gesagt, es sei kein natürliches Unwetter gewesen. Das Aufwallen von Energien war ganz enorm und die Verbindung von Wind, Wasser und sogar Erdbeben war nicht normal. Manche Menschen haben sogar berichtet, sie hätten einen Flammenturm gesehen.«

Stefans Arm legte sich enger um Judith. Sieh dich vor, mein Engel, er versucht dich auszuhorchen.

Er fühlte ihr Zögern. Sie log nicht gern. Sie presste ihre Lippen aufeinander und seufzte dann. »Sie wissen doch, dass Rikki eine besondere Affinität zum Wasser hat. Levi war in Gefahr. Ich glaube, sie war emotional aufgewühlt, und das mit gutem Grund. Dieser Mann war schon mal hier und hat Levi gejagt.«

»In dem kleinen Haus, das Ivanov gemietet hatte, haben wir eine ziemliche Sauerei vorgefunden«, sagte Jonas. »Überall Blut. Zu viel Blut, und es war menschliches Blut. Da drinnen ist jemand gestorben und es muss ein sehr unangenehmer Tod gewesen sein. Wir haben Fetzen von einer gesteppten Daunenjacke gefunden, von sehr alten Jeans und von einem Schlafsack.«

»Oh nein«, sagte Inez entsetzt. »Ist jemand vermisst gemeldet?«

Jonas schüttelte den Kopf. »Bisher nicht. Und der Hund von Danny und Trudy Granite ist in derselben Nacht getötet worden. Davy, ihr Sohn, war am Boden zerstört.« Sein stechender Blick richtete sich plötzlich auf Stefan. »Sie wissen nicht zufällig etwas darüber?«

»Woher denn?«, konterte Stefan angriffslustig. Er war Thomas Vincent, ein amerikanischer Geschäftsmann, der die Absicht hatte, eine Galerie zu kaufen, in der Vandalen ihr Unwesen getrieben hatten.

»Ich frage nur der Gründlichkeit halber«, sagte Jonas.

»Ich habe vor, ein Angebot für diese Galerie abzugeben«, sagte Stefan. »Ich vermute, es hat sich in der Ortschaft herumgesprochen, dass ich zu diesem Zweck hier bin. Dabei geht es um ein ziemlich großes Objekt – die Galerie und das gesamte Gebäude; Frank spielt zusätzlich mit dem Gedanken, das angrenzende bebaute Grundstück zu verkaufen. Vielleicht will hier jemand nicht, dass ein Außenstehender das Objekt erwirbt.«

Inez schnappte nach Luft und klammerte sich an Frank, der sich dichter neben sie stellte und einen Arm um ihre Taille schlang.

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand den Verkauf sabotieren will«, sagte Frank mit fester Stimme, die in erster Linie Inez beruhigen sollte.

»So etwas würde mich allerdings nicht abschrecken«, beteuerte Stefan. »Judith kann die Leinwände wieder spannen und den Gemälden ist nichts passiert. Ich habe vor, ein Angebot zu machen, sowie ich das Inventar und die Geschäftsbücher durchgegangen bin.«

Judith warf einen Blick auf die zwei Landschaften in Acryl. »Ich muss mich schnell an die Arbeit machen, wenn ich die Bilder retten will. Jonas, ich muss sämtliche beschädigten Gemälde mitnehmen und sie schleunigst in mein Studio zurückbringen.«

»Dann mache ich mich gleich daran, alles zu fotografieren«, sagte Jonas sofort. »Warum geht ihr nicht einen Kaffee trinken, Inez? Es sollte nicht allzu lange dauern.«

Stefan musste dem Sheriff lassen, dass er seine Sache gut machte. Inez war keine junge Frau mehr und sie war sehr besorgt. Er vermutete, finanziell sei es für sie und Frank notwendig, die Galerie zu verkaufen, und beide befürchteten trotz seiner Beteuerungen, er würde einen Rückzieher machen und das Geschäft käme nicht zustande.

»Kommt schon«, sagte Judith und ergriff die Initiative. »Lasst uns alle in den Coffeeshop gehen. Wir können in Ruhe miteinander plaudern, während Jonas seine Arbeit macht. Frank, ich kann die Gemälde auf neue Rahmen spannen, Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen.«

Sie lächelte das Paar strahlend an, doch Stefan konnte ihre Beklommenheit spüren. Wie immer verbarg Judith ihre Gefühle in der Öffentlichkeit. Sie achtete sehr sorgsam darauf, nicht die Kontrolle über sich zu verlieren. Er ließ seine Hand liebevoll an ihrer Wirbelsäule hinabgleiten, um sie daran zu erinnern, dass er da war und wusste, wie sehr es sie bestürzte, dass jemand so etwas mit ihren Werken tat.

Er bezweifelte, dass Ivanov die Gemälde so zugerichtet hatte. Das war nicht sein Stil. Und das konnte nur eines heißen. Jean-Claude La Roux war in Sea Haven angekommen. Er hatte keine Zeit vergeudet. Wenn er sich Judiths Gemälde vornahm und die Leinwände von den Keilrahmen zog, hieß das, er hatte den Microchip zwischen der Leinwand und der Keilrahmenleiste verborgen. Judith musste das Gemälde mitgenommen haben, als sie fortgegangen war.

Aber warum? Wenn sie damals vor ihm geflohen war, warum hätte sie dann ein Gemälde mitnehmen sollen? Das leuchtete ihm nicht ein. Und wenn sie tatsächlich etwas von dem Microchip gewusst und ihn vorsätzlich mitgenommen hatte, warum hatte sie dann nicht versucht, ihn auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen? Sein Leben würde demnächst sehr kompliziert werden. Judith musste verhört werden und es würde ihr gar nicht gefallen, dass er sie getäuscht und es unterlassen hatte, ihr zu gestehen, dass er für die russische Regierung arbeitete und den Auftrag hatte, den Microchip zurückzubringen.

Die vier ließen Jonas seine Arbeit machen und traten auf die überdachte Veranda hinaus. Der Nebel war noch dichter geworden und hatte die Welt in einen dicken grauen Dunst verwandelt. Die Umrisse von Bäumen und Gebäuden waren verschwommen und unklar. Die Knoten in Stefans Eingeweiden hatten sich nicht gelockert und seine innere Anspannung war größer denn je, denn er wusste, dass er Judith nach Hause bringen und den Microchip finden musste. Abgesehen von der Bedrohung, die Ivanov darstellte, trieb sich hier auch noch La Roux herum. Dessen war er sich absolut sicher.

Judith zog ihren Pullover enger um sich. »Es ist wirklich kühl heute.«

»Und ein bisschen trostlos«, fügte Inez hinzu. »In der Regel stört mich der Nebel nicht, aber wenn er so dicht ist, dass man gar nichts mehr sieht, kann er bedrückend sein.«

Frank schlang seinen Arm um ihre Schultern und lächelte auf sie hinunter. »Nicht wenn wir zu Hause sitzen, uns einen alten Film ansehen und Popcorn essen.«

Inez strahlte sofort. »Das ist wahr. Wir könnten uns zum Beispiel einen alten Gruselfilm raussuchen. Die liebe ich.« Sie wandte sich lächelnd an Stefan. »Mögen Sie alte Filme?«

Spielfilme wurden den Jungen und Mädchen nicht gezeigt, die in den Lagern ausgebildet wurden, in denen er aufgewachsen war, und sein Job brachte es auch nicht wirklich mit sich, dass er oft ins Kino ging. Er zuckte lässig die Achseln. »Die wenigen Filme, die ich gesehen habe, habe ich wirklich genossen. Ich finde, es klingt gut, sich alte Filme anzuschauen, wenn es draußen neblig oder stürmisch ist. Das werde ich in Zukunft auch tun, denn ich habe vor, mich häuslich niederzulassen und das Leben ein bisschen zu genießen.«

Als er die Worte aussprach, überraschte es ihn, wie ernst es ihm damit war. Er war mehr als reif dafür, ein Leben in den Schatten gegen ein Leben mit Judith einzutauschen. Ein echtes Leben – mit einem Zuhause, Kindern, der Farm, mit Reisen zu Tagungen von Kaleidoskopkünstlern –, er wollte alles, was dazugehörte.

»Arbeiten Sie viel?«, fragte Inez, als sie sich auf dem Bürgersteig in Bewegung setzten, um zu dem kleinen Coffeeshop zu laufen.

»Meine Arbeit bringt es mit sich, dass ich viel reisen muss«, gestand Stefan. »Das kann auf die Dauer seinen Reiz verlieren. Deshalb ist es jetzt an der Zeit, dass ich sesshaft werde.«

Sein inneres Radar weigerte sich zu verstummen. Der Nebel war entschieden ein Problem, wenn er jeden Feind sehen musste, der auf ihn zukam. Das Gefühl, umzingelt zu sein, das der dichte Dunst bei ihm auslöste, behagte ihm nicht. Mit jedem Schritt, den er machte, nahm seine innere Anspannung zu. Ihm entging etwas Entscheidendes und sein Warnsystem forderte ihn lautstark auf, es zu beachten. Judith und Inez plauderten miteinander und er blendete die beiden aus und lauschte auf verräterische Geräusche, rennende Schritte, irgendeine Kleinigkeit, die ihm sagen könnte, die Gefahr sei nah.

Ivanov war verwundet worden. Für Stefan bestand kein Zweifel daran, dass seine Kugel ihn erwischt hatte, aber es war ausgeschlossen, dass er so, wie die Bullen es sich ausgemalt hatten, mit dem Wagen von der Klippe gestürzt war. Stefan glaubte keinen Moment lang daran. Er war entkommen und hatte sich in einem anderen Bau verkrochen, um seine Haut abzuwerfen und sich so, wie er es gelernt hatte, eine neue Haut wachsen zu lassen.

In Gedanken machte er sich an eine rasche Bestandsaufnahme und fügte Teile zusammen, während sein Warnsystem auf Hochtouren lief. Wo ist dein Schlafsack, Bill? Judiths Stimme. Seine Haut abgeworfen, sich eine neue wachsen lassen. Ein leises Geräusch durchdrang die dichte Nebelschicht. Gedämpft. Verstohlen. Material gefunden, das von einem Schlafsack stammen könnte. Die Stimme von Jonas.

Seine Instinkte schlugen Alarm. Stefan versetzte Judith und Inez einen so festen Stoß, dass sie auf dem Bürgersteig übereinander fielen, während er seinen Körper in die schmale Öffnung zwischen zwei Gebäuden schleuderte. Das Geräusch eines Schusses war laut, als es durch die enge Gasse hallte. In weiter Ferne hörte er ein Kreischen, einen schrillen Schrei, und gleichzeitig knallte etwas gegen seinen Brustkorb und warf ihn zurück. Er weigerte sich, zu Boden zu gehen, weigerte sich, das Bewusstsein zu verlieren, weigerte sich, von Panik gepackt zu werden, als er keine Luft bekam. Er stemmte sich dagegen, warf sich nach vorn und griff den alten Bill an.