2.
Dunkle Purpurtöne, durchsetzt mit wogenden schwarzen Linien, zogen über die hohe Kobaltdecke und weinten kristalline Tränen. Wenn der Raum von so viel Kummer erfüllt war, wurden Stein und Holz von der Intensität der Gefühle nahezu gesprengt. Der Kummer war ein eigenständiges atmendes Lebewesen.
Rasende Wut war in diesen Wänden in Bewegung und atmete ein und aus, sodass die breiten roten und orangen Schlitze, klaffende Wunden, ständig wogten, sich wölbten und sich ausbeulten und dann wieder zurückgepresst wurden; ein tiefes Einatmen, ein wiederholtes Luftschnappen, um die gewaltige Wut zu beherrschen, das Verlangen nach Vergeltung, nach Rache. Rasende Wut lebte und atmete neben dem Kummer.
Durch die offenen gläsernen Schiebetüren, die auf die Terrasse und den Hinterhof führten, wo hohe Gräser den Blick auf das Studio von draußen vollständig versperrten, wehte eine Brise und neckte die flackernden Flammen an der Spitze jeder der dunklen Kerzen, deren Schein die Gemälde beleuchtete. Die tanzenden Lichter brachen sich in scharfen Glasscherben, die in die finsteren, zornigen Gemälde eingebettet waren. Kühne rote japanische Schriftzeichen schluchzten einen einzigen Namen – Paul Henderson.
Judith Henderson beugte sich auf dem hochlehnigen Stuhl vor und trug schwungvoll einen breiten, kühnen schwarzen Pinselstrich auf, um jedes Licht aufzusaugen und es zu verschlingen. Vergebung war ausgeschlossen. Dazu konnte es niemals kommen. Sie konnte die Folterung ihres Bruders nicht vergeben, seinen sinnlosen Tod. Tränen rannen über ihr Gesicht und sie wischte sie mit ihrem Unterarm fort und trug einen weiteren weinenden Pinselstrich auf, um ihn mit einem glühenden Racheversprechen zu kreuzen.
»Eines Tages, mein Bruder.« Sie sprach es laut aus, um in dem brodelnden Raum ein Versprechen abzulegen. »Ich werde das richtige Instrument finden, um zurückzuschlagen, und ich werde nicht zögern – diesmal nicht. Ich werde es mit tödlicher Kraft handhaben und ich werde deine Folter und deine Ermordung rächen.« Ihre Seele war ohnehin schon schwarz von der Schuld, die sie auf sich geladen hatte. Was war schon eine weitere Todsünde unter so vielen?
Nahezu ehrfürchtig berührte sie den Rand der Leinwand. Paul hatte diese Leinwand gespannt, wie für so viele ihrer frühesten Gemälde, und sie überarbeitete sie immer wieder mit Ölfarben, in einem verzweifelten Versuch, sich von der finsteren Wut zu befreien, die ihre Seele durchdrang. Manchmal konnte sie es dabei belassen, dass dieses Studio abgesperrt und dunkel war, und so sollte es auch sein – aus ihrer Welt ausgeschlossen –, doch es gab andere Zeiten, in denen sie, wie jetzt, den Drang verspürte herzukommen, weil sie von dem Verlangen besessen war, all das hinauszulassen – die finstere ekelhafte Wut, das Schuldbewusstsein und den ungeheuren Kummer –, Gefühle, die sich ihr bis in die Knochen eingebrannt hatten.
In diesem Studio und den Kunstwerken, die darin verborgen waren, hielt sie all ihre düstereren Emotionen gefangen – Gefühle, denen sie nicht zu erlauben wagte, sich ungehindert draußen im Universum aufzuhalten. Wut. Rage. Auflehnung und Schuldbewusstsein. Das alles ließ sie in ihre Gemälde und in die individuellen Kammern für das Kaleidoskop strömen. Manchmal bebte sie beim Malen und ihre Pinselstriche, kühn und zornig, fegten über die Leinwand, wenn sie sich die Freiheit eines wahrhaftigen Ausdrucks gestattete. In diesem Raum benutzte sie nur große, breite Pinsel, kein Vergleich mit den feineren Pinseln, die sie beim Restaurieren und auch dann benutzte, wenn sie für die Öffentlichkeit malte.
Jeder finstere Gedanke und jedes finstere Verlangen, stark genug, um sie mitten in der Nacht schweißgebadet zu wecken, wurden sorgsam in diesem Raum zurückgelassen. Darauf verwandte sie ebenso viel Sorgfalt und Bedacht wie auf die Pflege ihrer Farben und Pinsel. Dieser Raum war mit Depression und Wahnsinn angefüllt. Mit finsteren, hässlichen Dingen. Mit erdrückendem Kummer, Schuldbewusstsein, Scham und tiefster, grenzenloser Verzweiflung.
Judith sandte einen weiteren kühnen Pinselstrich von einer Ecke zur anderen, wobei der Pinsel seitlich über die Leinwand fegte, denn sie brauchte diese grobe Strichführung, damit die Wut in ihrem Innern ihren Ausdruck fand. Diesen Gemälden schenkte sie ebenso große Aufmerksamkeit wie ihren anderen, wenn nicht sogar noch mehr. Dieses Studio war der einzige Ort, an dem sie es wagte, den düstereren Emotionen, die wie ein Vulkan tief in ihr brodelten, Leben einzuhauchen.
Mitten im Raum stand ihr schlimmstes und bestes Meisterwerk, ein großes Kaleidoskop, das sie stets abdeckte, aber das tat sie auch mit den Gemälden. Sie wollte nicht, dass jemand versehentlich auf diesen Ort finsterer Kräfte stieß. Das Kaleidoskop war besonders gefährlich, denn in jeder Kammer ballte sich ein Jahr Mordlust, fünf von ihnen, eine für jedes Jahr, das seit der Ermordung ihres Bruders vergangen war. Sie hatte ein anderes Studio, das ausschließlich ihrer Arbeit an Kaleidoskopen vorbehalten war, doch das unterschied sich gewaltig von diesem hier. Sie sandte einen weiteren schreienden Pinselstrich quer über die Leinwand, diesmal in einem tiefen, fast mitternachtsschwarzen Purpur.
Die Brise glitt erneut in den Raum und ließ die Flammen flackern, und der übermächtige Geruch von unverdünnten Ölfarben kroch bis in die Wände hinein und verlieh dem schwarzen Zorn, der dort gefangen gehalten wurde, einen ganz eigenen Geruch. Mit der Kante ihres Pinsels zog sie rasant als eine Art Ausrufezeichen eine schmale Linie quer durch ihr Rachegelübde. Eine spitze Glasscherbe ritzte die Haut auf ihrem Handrücken der Länge nach auf, nicht zum ersten Mal, und ihr Blut tropfte in das Gemälde hinein. Ihr Schweiß und ihre Tränen endeten oft im Innern dieser Gemälde, vermischten sich damit und verbanden sich mit den Glasscherben; und wenn sie die Scherben übermalte, wurden Teile von ihr ebenso tief in die Gemälde eingebettet.
Zum tausendsten Mal verfluchte Judith ihre »Gabe«. Sie konnte jedes Element an sich binden, sie hatte an Emotionen teil, und diese Emotionen konnte sie verstärken und für destruktive Zwecke nutzen. Hier in diesem Raum konnte sie sich gefahrlos den Luxus von Tränen, Wut und Hass erlauben, die sehr realen Rachegelüste, aber sie durfte es niemals riskieren, diese Dinge außerhalb dieser vier Wände aufkeimen zu lassen.
Die Brise wehte jetzt beharrlich und trug einen melodischen Klang mit sich, sanft, aber unaufhörlich, einen Klang, der ihre Konzentration durchdrang.
»Judith.«
Ihr Name klang wie das Wispern des Windes. »Das Telefon läutet. Wo bist du? Zu Hause?«
Judith blinzelte mehrfach und schaute auf die dicken, fetten Blutstropfen hinunter, die jetzt auf den Boden tropften. Sie brauchte einen Moment, um zu sich zu kommen und sich daran zu erinnern, wo sie war und was sie gerade tat. Diesmal war sie so sehr darin aufgegangen, ihren Hass und ihr Schuldbewusstsein auf die Leinwand zu ergießen, dass sie sich vollständig darin verloren hatte. Sie erkannte die Stimme von Airiana Rydell, einer ihrer geliebten Schwestern. Es fiel ihr nicht allzu schwer, sich vorzustellen, wie sie auf der Suche nach Judith barfuß durch das Haus tappte und ihre nackten Füße in dem dicken, weichen Teppich versanken, während ihr platinblondes Haar wippte.
Ein Hauch von Dringlichkeit schlich sich in die melodische Stimme ein. »Judith? Ist alles in Ordnung mit dir? Antworte mir.«
Judith begab sich zu den gläsernen Schiebetüren und holte tief Luft, weil sie versuchen wollte, wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Sie war ganz und gar im Malen aufgegangen und immer noch in einem dichten Nebel; jetzt rang sie darum herauszukommen und sich einen Reim darauf zu machen, wo sie war und was sie zu tun hatte. Es dauerte ein Weilchen, die schwarzen wogenden Wasser der Wut und des Kummers zurückzudrängen, die sie von innen heraus zu verschlingen drohten, und den Weg zu finden, der sie zu ihrer Zurechnungsfähigkeit zurückführen würde.
»Ich komme gleich raus, Airiana.« Es kostete sie Mühe, mit ruhiger Stimme zu sprechen, während sie einen frischen Lappen um ihre Hand wickelte, damit er die Blutstropfen aufnahm. »Sei so gut und nimm eine Nachricht für mich entgegen, ja?«
Sie reinigte ihre Pinsel mit großer Sorgfalt und ließ sich Zeit, denn sie wusste, dass Airiana am Telefon eine Ausrede für sie finden würde. Airiana würde wissen, dass sie auf dem mühsamen Rückweg war. Sie ging nur dann in diesen Raum, wenn die Dunkelheit sie vollständig zu umfassen drohte und sie eine Möglichkeit finden musste, einen Teil dieser Dunkelheit zu zerstreuen. Sie befürchtete, wenn sie es nicht täte, würden ihre Gefühle früher oder später ausbrechen und sie würde versehentlich jemandem etwas antun.
»Atme ein. Atme aus. Finde Schönheit in der Welt um dich herum.« Sie ließ sich von dem vertrauten Mantra in die Welt zurückführen, in der sie lebte.
Sie hatte Schwestern, fünf Schwestern. Jede von ihnen hatte eine gleichermaßen traumatische Erfahrung gemacht. Sie waren sich in Monterey, Kalifornien, begegnet, einer wunderschönen Stadt am Meer. Dort hatte eine ganz erstaunliche Frau eine Selbsthilfegruppe für Opfer von Gewalttaten gegründet. Sie hatte Frauen zusammengebracht, die einen geliebten Menschen durch einen Mord verloren hatten. Jede der Frauen fühlte sich dafür verantwortlich und jede von ihnen war absolut am Ende gewesen, weil sich ihre Fähigkeit, mit der Scham und dem Schuldbewusstsein fertigzuwerden, restlos erschöpft hatte. Bis Monterey. Bis sie einander begegnet waren und sich dauerhaft zusammengetan hatten.
Sie vertrauten nur wenigen Menschen. Und die Zahl derer, an die sie glaubten, war noch geringer. Aber gemeinsam waren sie stark. Gemeinsam konnten sie in Frieden leben und neues Glück finden, vielleicht nicht so, wie andere es für richtig gehalten hätten, aber das ließ sich nicht ändern. Sie gingen ihren eigenen Weg und Judith ließ sich voll und ganz auf ihr Leben in Sea Haven ein, der kleinen Ortschaft, in der sie arbeitete.
Sie sahen sich als eine Familie an und genau das waren sie auch – Schwestern. Viele Menschen hatten Seelenverwandte, die keine Blutsverwandten, sondern ihre selbst gewählten nächsten Angehörigen waren, und auf ihre Seelenfamilie war sie in ihrer finstersten Stunde getroffen. Diese Frauen hatten ihr das Leben gerettet. Vor fünf Jahren hatten sie den Entschluss gefasst, gemeinsam eine Farm am Ortsrand von Sea Haven an der nordkalifornischen Küste zu kaufen. Es war eine kleine Gemeinde mit festem Zusammenhalt, da die Einwohner aufeinander angewiesen waren, um Erfolg zu haben, und das führte bei allen zu großer Freundlichkeit und Toleranz.
»Alles klar, Judith?«, rief Airiana wieder, diesmal hartnäckiger.
Das war eine übliche Frage, die sie sich gegenseitig stellten.
»Ich komme gleich«, sagte sie noch einmal und wich damit der Frage aus. Es war nie gut, rundheraus zu lügen. Schlechtes Karma. Und Airiana war sowieso sehr gut darin, Lügen zu durchschauen.
Unter all ihren Schwestern war Airiana diejenige, die es einem am schwersten machte, sie irrezuführen. Ebenso wie Judith konnte auch sie die Aura von Menschen sehen und deuten, das elektromagnetische Feld aus reiner Energie, das jeden umgab. Sie sah die Energien in Form von Farben, in die Menschen eingehüllt waren und die nicht nur über ihre Gefühle, sondern auch über ihren Charakter viel aussagten. Judith traute ihrer Gabe selten. Airiana dagegen verließ sich vollständig auf diese Gabe. All ihre Schwestern wussten, dass Judith keinen guten Tag hatte, wenn sie sich in dieses spezielle Studio begab.
Judith packte sorgfältig all ihre Pinsel und Farben weg und verhängte die Leinwand, an der sie arbeitete. Niemand durfte dieses Gemälde jemals sehen. Niemand durfte jemals einen Blick in das finstere, strudelnde Kaleidoskop werfen. Diese Werke übten einen viel zu starken Einfluss auf die Sinne aus, denn ihre Entstehung entstammte einem abschreckenden, hoffnungslosen Ort in ihrem Innern, den sie sich selbst nur selten aufzusuchen gestattete, aber manchmal blieb ihr nichts anderes übrig.
Mit Bedacht verriegelte sie die Glastüren und zog die dicken, schweren Vorhänge vor, um jedes Licht auszusperren und jeden Blick in dieses Studio zu verhindern.
Sie blies die vielen Kerzen aus und tauchte den Raum in Dunkelheit. Dann atmete sie tief den beschwichtigenden Lavendelgeruch ein, während sie darum rang, ihren Frieden wiederzufinden. Nachdem sie ihren düstereren Emotionen stundenlang die uneingeschränkte Herrschaft überlassen hatte, kostete es sie Zeit, sie wieder zuzudecken und innere Ruhe zu finden. Wenn sie in Gesellschaft anderer Menschen war, musste sie zu jedem Zeitpunkt ihre vollständige Gemütsruhe bewahren.
Judith atmete noch einmal tief den Lavendelgeruch ein, der sich jetzt schon abschwächte, und trat in den Flur ihres Hauses. Die wohltuende Farbe von Elfenbein schlug ihr entgegen. Sie sah alles als eine Leinwand an, darunter auch – wenn nicht sogar insbesondere – ihr Haus. Da jede der Schwestern ihren eigenen ausgewiesenen Anteil an der Farm von jeweils zwei Hektar Land besaß und jede sich ihr eigenes Haus entwerfen konnte, hatte sie mit einer erstaunlich leeren »Leinwand« begonnen.
Das Erdgeschoss war ganz allein ihr Werk, die drei Studios, ein Freizeitraum, ein Bad und ein Schlafzimmer für den Fall, dass sie bis tief in die Nacht hinein arbeitete und so kaputt war, dass sie sich nicht die Mühe machen wollte, nach oben zu gehen. Ihr Wohnbereich war geprägt von Glas und den Ausblicken auf die Gärten, von denen das Haus umgeben war. Großzügige und einladende Räumlichkeiten, in denen man sich nie beengt fühlte. Sie liebte ihr Haus und den hart erarbeiteten Frieden, den sie hier fand.
Als sie Airiana im Flur begegnete, umarmte sie ihre Schwester kurz.
»Ich habe mir Sorgen gemacht«, gab Airiana zu, und ihre tiefblauen Augen suchten Judiths Gesicht nach verborgenen Schatten ab. »Du gehst nur dann in dieses Studio, wenn du wirklich aufgebracht bist, Judith. Du bist seit ein paar Wochen nicht mehr dort gewesen.«
Das entsprach nicht ganz der Wahrheit. In den allerletzten Tagen, die zum Jahrestag von Pauls Ermordung führten, hatte Judith nicht schlafen können, und sie hatte etliche Nächte in dem Studio verbracht, umgeben von ihrer Wut und ihrem Kummer.
»Ich weiß, dass es dich beunruhigt«, sagte Judith sanft. Allein schon Airianas Anblick stellte ihr inneres Gleichgewicht wieder her. Sie war nicht allein in ihrem Kampf mit der Masse von Gefühlen, die sie gezwungenermaßen unterdrücken musste. Sie hatte ihre Schwestern. Sie liebten sie trotz ihrer unbesonnenen Vergangenheit und sie würden zu ihr halten.
»Was ist mit deiner Hand passiert?«, fragte Airiana erschrocken. »Soll ich Lexi holen?«
Ihre jüngste Schwester arbeitete unter anderem mit Heilkräutern. Judith zwang sich zu einem Lächeln und hielt ihre Hand hoch. »Ein Kratzer. Nichts weiter. Ich könnte dringend eine Tasse Tee gebrauchen. Hast du den Kessel aufgesetzt?«
»Ehe ich runtergekommen bin«, sagte Airiana. Sie warf noch einen schnellen Blick auf Judiths Hand, seufzte dann und ließ es auf sich beruhen.
»Gut. Dann wird das Wasser gleich kochen.«
Gemeinsam stiegen sie die Treppe hinauf, die zum eigentlichen Wohnbereich führte. Judith betrachtete Airiana gern, da sie in Krisensituationen stets ruhig blieb. Sie war ein gutes Stück kleiner als Judith und sie war schlank und hatte eine fast knabenhafte Figur mit kleinen Brüsten, einer schmalen Taille und schlanken Beinen. Ihr Haar war von Natur aus platinblond mit silbernen und goldenen Strähnchen und sah in der Sonne umwerfend aus. Ihre Augen waren riesig, tiefblau und von goldenen Wimpern umgeben. Ihre Nase schien mit Goldstaub überzogen zu sein.
Airiana war einer der klügsten Menschen, die Judith kannte, und darunter war auch Damon Wilder, der Ehemann von Sarah Drake, der am Abwehrsystem der Vereinigten Staaten arbeitete. Darauf wäre niemand gekommen, der die kleine Elfe ansah, für die man Airiana auf den ersten Blick halten konnte. Sie sah eher aus wie eine Tänzerin und nicht wie die Ideenschmiede, die sie war. In Airianas Gegenwart fühlten sich die Leute einfach wohl, und an Tagen wie diesem war ihre Gesellschaft Judith ganz besonders lieb.
»Du suchst dir immer den perfekten Tag aus, um mich zu besuchen«, sagte Judith und meinte es vollkommen ernst. »Ich nehme an, du hast den Tee schon ausgesucht und ihn in die Teekanne gefüllt.« Airiana schien immer zu wissen, wann Judith – oder irgendjemand sonst – eine Aufheiterung brauchte.
Airiana lachte. »Selbstverständlich. Du weißt doch, dass ich keine Hemmungen habe, mich hier wie zu Hause zu fühlen. Selbst wenn du einen Ehemann hast und ein Dutzend Kinder in deinem Haus herumlaufen, werde ich immer noch unangekündigt reinschneien und die wunderbare Lieblingstante sein. Wir trinken übrigens schwarzen Tee. Ich brauche etwas, das mich aufputscht.«
Judith schüttelte den Kopf, lächelte strahlender und achtete darauf, dass ihre Augen leuchteten, obwohl sie innerlich pausenlos weinte. Sie war eine Gefangene ihrer eigenen Gaben und ihr graute davor, jemals wieder ein solches Risiko einzugehen – etwas für einen Mann zu empfinden und ihm zu vertrauen. Sie würde niemals Kinder haben, und dabei hatte sie sich immer sehnsüchtig eine Familie gewünscht.
Ihren Gesichtsausdruck zu beherrschen war einfach im Vergleich dazu, sich in eine strahlende Aura zu hüllen. Zum Glück war sie wirklich hocherfreut, Airiana zu sehen, und daher war die blühende Farbe da und breitete sich über dem tiefen Kummer, der Scham und dem Schuldbewusstsein aus, den Dingen, die sie vor der Welt verbarg. In Airianas Gegenwart neigte sie dazu, ihre Energien zurückzuhalten, was dazu führte, dass sie von einem trüben Grau umgeben war. Wenn sie das sah, zog Airiana immer eine Augenbraue hoch, doch darüber hinaus fragte sie lediglich, ob bei ihr alles klar war oder ob sie etwas brauchte. Ansonsten hielt sie sich an die Abmachung der Schwestern, wonach sie alle die persönlichen Grenzen jeder Einzelnen respektierten.
Das obere Stockwerk war geräumig. Das große Wohnzimmer ging in das Esszimmer und den Küchenbereich über, und daher fühlte sich jeder Besucher in allen Räumen willkommen. Fensterreihen sorgten dafür, dass der Wohnbereich lichtdurchflutet war.
»Es gibt nichts Besseres auf Erden als eine gute Tasse Tee im richtigen Moment«, hob Judith hervor. »Es war nett von dir, dass du den Kessel schon aufgesetzt hast.« Sie streckte sich. »Ich hocke viel zu oft auf meinem Hintern. Vermutlich wird er von Tag zu Tag dicker.«
Airiana beschrieb mit einem Finger einen kleinen Kreis. Judith drehte sich gehorsam einmal um sich selbst. Airiana riss ihre Augen weit auf. »Du hast vollkommen recht. Aber was willst du machen? Man geht eben in die Breite, wenn man in die mittleren Jahre kommt.« Sie brach in schallendes Gelächter aus und rannte, mit Judith dicht auf den Fersen, um ihr Leben.
»Der Vorteil an langen Beinen ist, dass ich schneller laufen kann als du, du kleiner Stöpsel.«
»Nicht mit einem fetten Arsch, da wird das nichts«, rief Airiana über ihre Schulter, während sie durch den geräumigen Wohnbereich sauste. Die Unterstellung, irgendetwas an der gertenschlanken Judith könnte fett sein, war so absurd, dass sie schon wieder schallend lachte und nicht sah, wohin sie lief, bis sie an einen Sessel krachte. Sie stolperte, flog seitlich über den Sessel, landete auf dem Fußboden und blickte blinzelnd zu Judith auf. »Huch. Dein Hintern ist wohl doch nicht ganz so fett, wie wir dachten.«
»Ich bin noch weit davon entfernt, in die mittleren Jahre zu kommen, du Klugscheißerin.«
»Das ist wahr, aber du wirst trotzdem immer älter sein als ich«, hob Airiana selbstgefällig hervor.
Das Fliegengitter in der Haustür wurde geöffnet und eine Frau streckte ihren Kopf zur Tür herein. Sie war groß, blond und der Inbegriff von Sportlichkeit; ihr Haar war zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden und ihr Körper steckte in einem engen Stretch-Shirt, einer Jeans und Turnschuhen. Als sie auf der Veranda über den Stufen stand, wippte sie mit den Zehen und wischte sich einen dünnen Schweißfilm vom Gesicht.
»Blythe.« Judith winkte ihr zu, um ihre älteste Schwester zu begrüßen, die von allen als Anführerin anerkannt wurde. »Du warst heute Nachmittag noch mal laufen? Du bist doch schon heute Morgen gelaufen.«
»Was um alles in der Welt tut ihr zwei?« Blythe Daniels ignorierte die Frage und trat ein, ließ sich auf eine Ottomane sinken und zog ihre Turnschuhe aus.
»Tja«, sagte Airiana, die immer noch auf dem Boden lag, »eigentlich diskutieren wir über Judiths Hintern und darüber, wie fett er geworden ist, während sie heute dagesessen und gemalt hat.«
»Wirklich?« Blythe sah die beiden stirnrunzelnd an und wirkte sehr besorgt. »Ich habe meine Brille nicht dabei und kann dich daher nicht näher begutachten, Judith, aber viel ist da nicht. Man könnte deinen Hintern sogar tatsächlich als flach ansehen.«
»Ich habe einen ganz bezaubernden Hintern«, widersprach Judith.
»Du warst diejenige, die behauptet hat, er ginge in die Breite«, rief ihr Airiana ins Gedächtnis zurück. »Ich habe nur versucht, dich zu unterstützen und dir behilflich zu sein.«
Judith warf ihr ein dekoratives Zierkissen an den Kopf. Airiana stieß dem Kissen eine geballte Ladung Luft entgegen, die es so abrupt aufhielt, dass es auf den Boden fiel.
»Angeberin«, sagte Judith vorwurfsvoll. »Ich mache den Tee. Blythe, du kannst sicher ein Glas Wasser gebrauchen?«
»Danke, liebend gern.
»Du solltest nicht zweimal am Tag laufen, Blythe, und heute schon gar nicht. Erteilt uns Levi nicht heute Abend Unterricht in Selbstverteidigung, oder bringe ich da gerade die Tage durcheinander?«, fragte Airiana. Wieder musterten ihre blauen Augen besorgt ihre älteste Schwester.
Judith blieb in dem breiten bogenförmigen Durchgang zur Küche stehen, weil sie Blythes Antwort hören wollte. Sie alle hatten mit ihren persönlichen Dämonen zu kämpfen und Blythe stellte da keine Ausnahme dar. Sie war einfach nur so gut – das einzige Wort, das Judith dazu einfiel –, dass es sie alle beunruhigte, wenn sie eine dieser Phasen von Schlaflosigkeit durchmachte. Sie stand früh auf und lief, und oft lief sie auch spät am Abend, aber es war eine Seltenheit, dass sie außerdem noch einen Nachmittagslauf einschob.
»Nein, du irrst dich nicht. Levi wird uns heute Abend kreuz und quer durch die Turnhalle werfen«, sagte Blythe und wischte mit dem Saum ihres Shirts ihr Gesicht ab. »Ich glaube, letzte Woche hatte ich keinen Knochen im Leib, der nicht wehgetan hat. Er ist schlimmer als Lissa mit ihrem Kampfsporttraining.«
»Vergiss ihre Pilates-Kurse nicht. Und ihr Krafttraining. Und ihre Zumba-Kurse«, fügte Airiana hinzu und warf sich stöhnend wieder auf den Boden. »Ich bin schon erschöpft, wenn ich bloß daran denke. Ich glaube, Lissa lässt sich eine Million Fitnesskurse einfallen, nur um uns alle kleinzukriegen.«
Judith zwang sich zu einem Lachen. Es fiel ihr schon wieder leichter, das zu empfinden, was sie ihren Schwestern gegenüber darzustellen versuchte. »Aber sie ist nichts gegen Levi.«
Levi Hammond war mit Rikki verheiratet, einer weiteren Schwester, und Levi hatte es sich in den Kopf gesetzt, sie alle auf jede Situation vorzubereiten. Sie übten immer wieder Bewegungsabläufe zur Selbstverteidigung und er war ein Lehrer, der hohe Ansprüche stellte. Vor kurzer Zeit hatte er seinen Unterricht um das Waffentraining ergänzt. Lissa, die bereits einen schwarzen Gürtel des dritten Dan-Grads hatte, kapierte natürlich alles besonders schnell, wogegen sich Judith überhaupt nicht in ihrem Element fühlte. Sie beherrschte die Kampfsport-Katas, all diese herrlich anmutigen Formen, bei denen man durch den Raum schwebte und jede Bewegung exakt und elegant war, aber es schien so, als bekäme sie die praktischeren Techniken zur Selbstverteidigung nicht hin.
Lissa hatte immer unerschöpfliche Geduld mit ihr. Von Levi konnte man das nicht sagen. Er war entschlossen, dafür zu sorgen, dass Judith mit jeder Situation fertigwerden konnte. Sie wusste, dass er recht hatte, aber das half ihr nicht dabei, ihre Technik zu verbessern. Sie beschäftigte sich damit, das kochende Wasser in die Teekanne zu gießen. Dann stülpte sie einen Kannenwärmer darüber und ließ den Tee ziehen.
Als der Tee fertig war, hatte Blythe bereits ein großes Glas Wasser geleert und sich nichts daraus gemacht, dass die beiden anderen sie auslachten. Die drei Frauen machten es sich auf weichen, behaglichen Sesseln bequem und zogen die Beine unter sich an.
»Ich muss gestehen«, sagte Judith, »dass ich mich restlos in Levi geirrt habe. Er ist verrückt auf Rikki und er hat ihr gut-getan. Er ist mir tatsächlich ans Herz gewachsen.«
»Ich hätte auch nicht erwartet, dass ich ihn so gern mag«, gab Airiana zu.
Blythe zuckte die Achseln und sah die beiden über den Rand ihrer Teetasse an.
»Oh nein, das wirst du nicht tun.« Judith schüttelte den Kopf. »Du wirst dich nicht zu dem Thema Levi ausschweigen. Er ist mit unserer geliebten Rikki zusammen und ich dachte, du hättest gesagt, sie täten einander gut.«
»Das glaube ich immer noch«, sagte Blythe. »Er macht ihr ein klein wenig Druck, um ihr Schritt für Schritt die Abhängigkeit von ihren Ritualen zu nehmen, damit sich ihr Handlungsradius ausweitet. Aber er akzeptiert sie und er scheint sie so zu lieben, wie sie ist. Sie scheinen perfekt zueinanderzupassen.«
»Das klingt so, als vermutest du dennoch irgendwo einen Haken«, hob Airiana hervor.
»Niemand kennt einen anderen Menschen wirklich«, sagte Blythe. »Man muss den Leuten glauben, was sie sagen und wie sie sich verhalten, aber wenn sie lügen, wenn sie einem nicht all ihre Seiten zeigen, dann weiß man nie, mit wem man es wirklich zu tun hat.«
Judith senkte den Kopf und tat so, als tränke sie einen Schluck Tee. Blythe sagte immer die Wahrheit, und diesmal war ihr Treffer so gezielt gewesen, dass Judith ihn wie einen Pfeil durch ihr Herz fühlte. Plötzlich trat Stille ein, und als sie aufblickte, merkte sie, dass ihre Schwestern sie alarmiert ansahen.
»Was ist los, meine Süße?«, sagte Blythe. »Ich wollte keine alten Geister wecken. Vielleicht waren meine eigenen Dämonen heute etwas zu nah. Ich konnte nicht schlafen und bin vermutlich ein wenig melancholisch.«
Judith holte tief Atem und riss sich von dem gähnenden Abgrund der Verzweiflung und des Kummers zurück, da sie wusste, dass sie Blythe und Airiana mit sich reißen würde, wenn sie hineinfiel. »Tut mir leid«, flüsterte sie. »Ich habe heute an Paul gedacht. Die Vorstellung, dass Levi Rikki wehtun könnte, nachdem wir uns für ihn eingesetzt und ihn in unsere Familie aufgenommen haben, ist einfach zu grässlich.« Sie hatte in der letzten Zeit kaum geschlafen. War es denkbar, dass sich das auf Blythe auswirkte? Es war zumindest nicht außerhalb des Bereichs des Möglichen.
»Aber solche Dinge passieren«, sagte Blythe.
Airiana legte Blythe eine tröstliche Hand auf die Schulter. »Ja, Blythe, sie passieren. Manchmal, vor allem, wenn wir noch sehr jung sind, vertrauen wir den falschen Personen.«
Judith versetzte Airiana mit ihrem nackten Fuß einen Rippenstoß, weil sie die Stimmung aufhellen wollte. »Manche von uns sind tatsächlich recht jung.«
Airiana tat so, als sei sie ihr böse. »Ich bin nicht das Nesthäkchen in dieser Familie. Lexi ist die Jüngste.«
»Aber weit seid ihr beiden nicht auseinander«, zog Judith sie auf. »Ganz erwachsen bist du noch nicht. Musstest du nicht letzte Woche an der Kinokasse deinen Ausweis vorlegen, weil sie dich nur in Begleitung eines Erwachsenen reinlassen wollten?«
Blythe lachte schallend, als Airiana zusammenzuckte. »Du kannst es nicht abstreiten, Airiana. Das lässt sich nicht ungeschehen machen und du wirst es dir noch lange anhören müssen.«
Airiana fiel in das Gelächter ein und schüttelte ihren Kopf über die absurde Situation. »Die Frau braucht eindeutig eine Brille.«
»Wer hat vorhin eigentlich angerufen?«, fragte Judith, als das Gelächter nachließ.
»Fast hätte ich es vergessen«, sagte Airiana. »Inez hat angerufen. Sie hat gesagt, du sollst sie unbedingt so schnell wie möglich zurückrufen. Jemand interessiert sich für den Kauf der Galerie, und sie hofft, du kannst dir die Zeit nehmen, sie dem Interessenten zu zeigen.«
»Es wäre so schön für sie und für Frank, wenn sie diese finanzielle Belastung endlich nicht mehr am Hals hätten«, sagte Blythe. »Sie hat wirklich alles darangesetzt, die Galerie am Laufen zu halten, während Frank im Gefängnis war. Im Moment ist er gesundheitlich so anfällig, dass sie nicht den Laden und die Galerie betreiben können. Du hast ihnen sehr geholfen, Judith.«
Judith deutete mit ihrer Teetasse auf Airiana. »Ich habe öfter in der Galerie gearbeitet als in meinem eigenen Geschäft. Wenn Airiana nicht für mich eingesprungen wäre, hätte ich den beiden nicht helfen können.« Sie grinste ihre Schwestern an. »Vielleicht schaffe ich es ja doch noch, mich heute Abend vor dem Training zu drücken.«
»Oh nein, das kommt überhaupt nicht in Frage«, protestierte Blythe. »Wenn ich hingehe, musst du auch hingehen.«
»Levi lässt nicht mal Rikki ungeschoren davonkommen«, hob Airiana hervor. »Du wirst hingehen, Judith. Ruf Inez zurück, aber wage es ja nicht, einen Termin für heute Abend auszumachen. Wir haben Levi versprochen, dass wir seinen Selbstverteidigungskurs alle gemeinsam machen.«
»Aber ich bin doch ein hoffnungsloser Fall«, jammerte Judith.
»Nur weil du niemanden schlagen willst«, sagte Airiana. »Mir persönlich bereitet es Vergnügen, dem Mann eine reinzuhauen. Du solltest es mal ausprobieren, Süße, es könnte dir auch gefallen. Stell dir einfach vor, er sei jemand, den du nicht leiden kannst.«
Judiths Herzschlag setzte aus. Sie zwang sich, schleunigst an etwas anderes zu denken, um sich von dieser Möglichkeit abzulenken. Airiana hatte keine Ahnung, wie gefährlich das wäre. Judith konnte sämtliche Elemente anzapfen und aus allen Energien Kraft schöpfen; sie konnte den Raum mit Lissas Feuer anzünden, ihn mit Rikkis Wasser überschwemmen, ihn unter Lexis Erde begraben oder Airianas Luft dafür verwenden, ein Haus umzuwehen. Sie konnte es sich nicht leisten, die Herrschaft über ihre Gefühle zu verlieren. Das durfte nie wieder vorkommen. Sie wagte nicht einmal, sich zu einem finsteren Gefühl zu bekennen – aus Furcht davor, was dann passieren würde.
Sie hatte Angst davor, jemanden zu schlagen, vor allem jemanden, den sie ins Herz geschlossen hatte. Sie senkte den Kopf, um ihren Gesichtsausdruck zu verbergen, und hielt grimmig an ihrem Lächeln fest. »Levi hält mich sowieso für verweichlicht.«
Airiana versetzte ihr einen Rippenstoß. »Na und?«
»Besser verweichlicht als hartgesotten«, fügte Blythe hinzu.
Judith sah Blythe forschend ins Gesicht. »Weshalb bist du wirklich hergekommen, Blythe? Was ist passiert?«
Blythe seufzte und stellte ihre Teetasse hin. »Ihr wisst ja, dass Elle und Jackson in Europa sind. Er hat sich sechs Monate freigenommen und sie machen eine große Rundreise. Aber sie werden zurückkommen. Die siebente Tochter hat immer im Drake-Haus in Sea Haven gelebt. Sie kommen ganz bestimmt zurück. Joley Drake ist mit Ilja Prakenskij verheiratet. Wir können uns noch so sehr anstrengen, allen vorzumachen, Levi sei ein Hammond, aber Ilja wird wissen, was los ist. Und Jonas wird es Jackson sagen.«
Judith biss sich auf die Lippen. Jackson, Elles Ehemann, würde Levi Hammond nicht in Sea Haven willkommen heißen. Levi war dabei gewesen, als Stavros Elle Drake gefangen gehalten hatte. Er hatte als Undercoveragent versucht, einen groß angelegten Menschenhandelsring zu sprengen, und er hatte es nicht riskieren können, seine Tarnung auffliegen zu lassen, um Elle zu retten. Aber für Jackson würde das alles keine Rolle spielen. Elle war monatelang von Stavros vergewaltigt und gefoltert worden, und in Jacksons Augen war kein Ziel wichtig genug, um zu rechtfertigen, dass jemand ein Auge zudrückte und Elles Leiden wissentlich ignorierte.
»Du befürchtest, sie werden ihm das Leben zur Hölle machen«, wagte sich Airiana vor.
»Oder Schlimmeres. Dafür ist Rikki jedoch zu zerbrechlich.« Blythe rieb sich aufgewühlt die Schläfen. »Wenn sie Levi zwingen fortzugehen, wird Rikki mit ihm gehen, und außerhalb dieses Umfelds wird sie nicht gut zurechtkommen. Sie hat so lange gebraucht, um sich hier einzugewöhnen.«
»Die Drakes können uns nicht zwingen, Sea Haven zu verlassen«, sagte Judith. »Aber wenn sie nicht darüber hinwegkommen, wer und was Levi war, und wenn sie ihm ein Leben hier unmöglich machen, bin ich bereit, woanders neu anzufangen.«
Blythe blickte zu ihr auf. »Denk ernsthaft darüber nach, Judith. Das sollten wir alle tun, bevor jede von uns ihre persönliche Entscheidung trifft. Du hast dein Geschäft und deine Studios hier.«
Judith nickte. »Ich liebe Rikki. Sie ist meine Schwester und sie ist autistisch. Sie braucht uns. Sie braucht das Meer und sie braucht Levi. Wenn die beiden fortgehen, gehe ich mit. Es spielt keine Rolle für mich, wo ich arbeite. Ich liebe diesen Ort, aber das, was am meisten zählt, ist unsere Familie, und nicht, wo wir sind.«
Airiana stieß ihren Atem aus. »Ich habe mir auch Sorgen gemacht. Mir war aber nicht klar, dass es nicht nur mir so geht.«
»Hast du mit den anderen gesprochen? Mit Lexi?«, fragte Judith.
Lexi verbrachte den größten Teil ihrer Zeit auf der großen Farm. Sie baute das Gemüse an, das sie an Märkte und auf den Bauernmärkten in den umliegenden Ortschaften verkauften.
»Mit allen außer ihr«, gestand Blythe. »Lissa hat auch gesagt, sie wird woanders neu anfangen. Aber für Lexi wird es schwer sein. Sie hat so viel in diese Farm gesteckt.«
»Glaubst du wirklich, es wird dazu kommen?«, fragte Airiana. »Jonas hat sich doch recht gut verhalten, als er es herausgefunden hat, und er ist mit Hannah verheiratet, Elles Schwester.«
»Das heißt noch lange nicht, dass Jackson so reagieren wird wie er«, hob Blythe hervor. »Ich bin ihre Cousine ersten Grades, eine Familienangehörige, und ihr könnt mir glauben, wenn ich euch sage, dass sie ebenso gut wie wir die Reihen schließen können. Wenn Jackson sich nicht mit Levi abfinden kann, wird es schwierig für uns sein, in Sea Haven zu leben. Rikki ist sehr empfindlich und sie wird es fühlen.« Sie zuckte die Achseln. »Ich versuche nur, mich auf alle Eventualitäten vorzubereiten.«
»Wir haben uns alle Sorgen gemacht«, sagte Judith. »Ich glaube, Levi macht sich auch Sorgen, aber wahrscheinlich ganz andere. Dem wäre es vollkommen egal, ob er akzeptiert wird, und Rikki wäre es vermutlich auch egal, wenn sie die Ortschaft meiden könnte.«
»Ein Kind würde es aber spüren«, wagte sich Airiana vor. »Kinder merken es immer, wenn sie ausgeschlossen werden.«
»Ich bezweifle, dass Rikki mit dem Gedanken spielt, ein Baby zu haben«, sagte Blythe. »Aber zumindest sind wir uns alle einig. Ich werde vorsichtshalber auch Lexi darauf ansprechen.«
»Es könnte schwierig werden, die Farm zu verkaufen«, hob Judith hervor. »Die Zeiten sind im Moment hart, obwohl die Farm ein einträgliches Geschäft ist.«
»Genau das wird uns zugutekommen«, sagte Blythe. »Immerhin können wir Gewinne ausweisen. Aber das sind alles ungelegte Eier.«
»Hast du dir schon andere Orte angesehen, wo wir gemeinsam einen Neuanfang machen könnten?«, fragte Airiana. »Hier fühlen wir uns alle wohl. Können wir woanders etwas Ähnliches finden?«
»Wir werden das richtige Anwesen finden, wenn es sein muss«, sagte Blythe voller Überzeugung.
»Wirst du mit Rikki und Levi darüber reden?«, fragte Judith.
Blythe schüttelte den Kopf. »Nicht mit Rikki. Ich dachte mir, ich rede heute Abend mal mit Levi, aber nicht, bevor ich mit Lexi gesprochen habe. Sie werde ich gleich anschließend aufsuchen. Ich wollte nur sicher sein, dass ihr beide mit von der Partie seid.«
Judith sah sich in ihrem Haus um. Sie hatte es von Grund auf selbst entworfen, wie alle anderen ihre Häuser auch. Sie hatten sie gemeinsam gebaut und jede von ihnen hatte beim Schreinern und Sägen kräftig mitgeholfen. Auch ihre Gärten hatte sie genau so angepflanzt, wie sie es wollte. Den japanischen Garten schmückte ein Wasserfall, der über Steine in einen Koi-Teich plätscherte, und der umgeben war von sämtlichen verfügbaren Grüntönen. Jeden Abend blickte sie von ihrem Schlafzimmerfenster aus auf ihren Nachtgarten voller weißer Blumen hinunter, die ihre Gesichter zu den Sternen hoben. Sie liebte den Frieden, den dieser Garten ausstrahlte, wenn sie den mitternächtlichen Himmel über sich und die weißen Blüten unter sich betrachtete. Und dann gab es noch all die Gärten, in denen wüste Farbenpracht herrschte, Massen von Blüten, die miteinander um Raum und Aufmerksamkeit wetteiferten, eine wilde Melodie aus Farben. Jeder Tag der fünf Jahre, die sie jetzt hier gelebt hatte, war nötig gewesen, um ihre Gärten genauso zu gestalten, wie sie sie haben wollte.
Es würde wehtun, von hier fortzugehen, aber die Familie stand an erster Stelle. Das, was für Rikki notwendig war, besaß Vorrang. So grässlich der Abschied auch sein würde – Judith würde nicht zurückblicken. Sie hatte am eigenen Leib erfahren, dass Menschen mehr zählten als alles andere, nicht, wo sie lebte oder welcher Arbeit sie nachging. »Du weißt, was Levi dazu sagen wird, Blythe«, sagte sie sanft. »Er wird sagen, von ihm aus kann sie alle der Teufel holen.«
»Ich weiß«, stimmte Blythe ihr zu, »aber am Ende wird er, ebenso wie wir, das tun, was das Beste für Rikki ist.«
Airiana räusperte sich, spielte mit dem Griff ihrer Teetasse und zwang sich dann, Blythe in die Augen zu sehen. »Könntest du nicht mit Elle reden? Du bist ihre Cousine.«
Blythe schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht im besten Einvernehmen mit den Drakes, Airiana. Das wisst ihr alle. Wir kommen in erster Linie deshalb miteinander aus, weil sie nie unhöflich sind, und ich bin es auch nicht. Wir sind alle dazu erzogen worden, nie grob zu werden.«
»Blythe«, sagte Judith behutsam, »sie alle lieben dich. Niemand außer dir selbst gibt dir die Schuld am Tod deiner Mutter.«
Blythe blinzelte gegen ihre Tränen an. »Vielleicht ist das wahr, aber ich kann sie um nichts bitten und ich bezweifle, dass es etwas ändern würde, wenn ich es täte. Sie würden ganz einfach sagen, sie zwingen uns nicht zu gehen, und das entspräche auch der Wahrheit. Aber sie würden uns höflich kaltstellen.«
Airiana umarmte sie. »Es tut mir leid, dass ich das Thema zur Sprache gebracht habe. Ich weiß, dass du eine schwierige Zeit durchmachst, und es war rücksichtslos und selbstsüchtig von mir, dir das auch nur vorzuschlagen. Es tut mir wirklich leid, Blythe.«
»Keine Sorge, Airiana. Ich glaube, es liegt nur an dieser Jahreszeit.« Sie sah Judith in die Augen. »Für dich jährt es sich auch. Wie kommst du zurecht?«
Judith zuckte die Achseln. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als zu lächeln und »gut« zu sagen. Was auch immer das heißen sollte. Ihr Bruder war tot und nichts würde ihn jemals wieder zurückholen. Paul war schlicht und einfach ihretwegen ermordet worden. Aufgrund ihrer Dummheit. Ihres Leichtsinns. Ihrer Taten. Blythe gab sich die Schuld am Tod ihrer Mutter, aber sie war nicht die direkte Ursache, ganz gleich, was sie selbst glaubte. Judith hingegen wusste, dass sie mit absoluter Sicherheit den Tod ihres Bruders verschuldet hatte.
»Ich sollte jetzt wohl besser Inez zurückrufen und einen Termin mit dem potentiellen Käufer für die Galerie vereinbaren. Ich hoffe, diesmal ist es ein echter Interessent. Inez kann es sich nicht leisten, weiterhin beide Geschäfte zu finanzieren.«
»Eine Zeitlang war das Gerücht im Umlauf, Jackson hätte sich als Teilhaber in das Lebensmittelgeschäft eingekauft«, sagte Airiana. »Glaubst du, das ist wahr?«
»Wenn ja, dann steht Inez finanziell schlechter da, als ich dachte«, erwiderte Blythe. »Sie liebt diesen Laden und er hat ihr immer Geld eingebracht. Wenn sie das tun musste, heißt das, dass sie viel zu viel Geld in Franks Galerie gesteckt hat, um sie für ihn zu erhalten.«
Beide Frauen sahen Judith an. Da sie die Galerie betrieb, wusste sie besser als jeder andere, wie viel der Laden abwarf. Sie zuckte die Achseln, da sie nicht einmal mit ihren Schwestern über die Angelegenheiten von Inez und Frank reden wollte. Sie warf einen Blick aus dem Fenster auf den Garten unter sich, denn sie brauchte den Anblick der wilden Farbenpracht, die großzügig vorhanden war, um die Wunden ihrer Seele zu lindern. Der Wind fuhr durch die Blumen und ließ Wellen in jedem erdenklichen Farbton wogen.
Während sie hinausblickte, glitt ein Schatten über die Blumen und dämpfte für einen Moment die Wirkung der Farben. Sie blickte zum Himmel auf und rechnete damit, eine Möwe oder einen Geier vorüberfliegen zu sehen, doch dort war nur blauer Himmel. Sie sah es nicht wirklich, sondern fühlte eher, dass Airiana hinter ihr stand.
»Was ist das?«, fragte Blythe.
»Ich weiß es nicht«, sagte Airiana. »Aber dieser Schatten ist direkt über das Haus gezogen und das ist besorgniserregend.«
Die drei Frauen tauschten einen langen Blick miteinander aus. Sea Haven war eine Stätte der Kraft, daran bestand kein Zweifel, ein magischer Ort, der seine eigenen Energien ausstrahlte und daher auch Menschen mit übersinnlichen Energien anlockte.
»Du bist das Luftelement«, sagte Blythe. »Das wissen wir alle. Du brauchst mich also gar nicht mit weit aufgerissenen Augen anzusehen. Was hat dieser Schatten zu bedeuten?«
»Ich habe keine Ahnung«, gestand Airiana, »aber das gefällt mir nicht. Ich glaube, wir könnten Ärger bekommen.
»Ilja? Joley und Ilja geben ein riesiges Benefizkonzert, aber sie ist schwanger. Vielleicht muss sie nach Hause kommen und sich ausruhen«, vermutete Blythe.
»Ich bezweifle, dass Ilja seinen eigenen Bruder aus Sea Haven rauswerfen würde. Das täte er nicht mal für Joley. Und sie würde ihn auch gar nicht erst zu so etwas auffordern.«
»Ich glaube nicht, dass Ilja einen seiner Brüder wirklich gekannt hat«, hob Blythe hervor. »Er steht Jonas und den Drakes näher als seiner eigenen Familie. Er ist weder mit seinen Brüdern aufgewachsen noch hatte er Kontakt zu ihnen.«
»Na, toll«, sagte Airiana. »Ich weiß nicht, wie es euch beiden geht, aber dieses eine Mal möchte ich es aussprechen. Verflucht noch mal. Verdammter Mist. Wir sind hier zu Hause und mir ist der Gedanke verhasst, von hier fortzugehen. Ich werde es tun, wenn es sein muss, aber es ist mir wirklich verhasst.«
Judith zwang sich zu einem Lächeln. »Wir kriegen das schon hin. Im Moment wissen wir noch gar nicht, wie die Drakes auf Levis Anwesenheit reagieren werden. Wir wissen aber, dass wir alle zu einem Neuanfang an einem anderen Ort bereit sind, wenn es sein muss – nun ja, von Lexi wissen wir es noch nicht.« Sie warf einen Blick auf ihre Schwester. »Blythe, du wirst nachher mit ihr reden, oder nicht?«
Blythe nickte. »Wir können einfach nicht so tun, als sei es keine reale Möglichkeit, von hier fortzugehen. Es wird Zeit kosten, einen Ort wie diesen hier zu finden, mit dem Meer für Rikki, genug Land für Lexi, um ihr Gemüse anzubauen, genug Land für uns alle, um zusammenzuleben. Und wir müssten die Farm verkaufen.«
»Lexi wird außer sich sein«, sagte Airiana.
»Sie liebt dieses Land von ganzem Herzen«, stimmte Judith ihr zu. »Für sie wird es schwerer sein als für jede von uns.«
»Vielleicht sollten wir einfach abwarten, bis wir wissen, was los ist«, sagte Airiana. »In Wirklichkeit stellen wir doch nur Spekulationen an, mehr ist es nicht.«
»Wir haben einander versprochen, immer die Wahrheit zu sagen, selbst wenn es noch so schwierig ist. Es geht um eine Entscheidung, die wir gemeinsam treffen müssen. Mit Rikki reden wir erst, wenn wir anderen uns einig sind«, sagte Blythe. »Rikki muss uns alle gemeinsam sehen und wissen, dass wir jederzeit bereit sind, mit ihr und Levi umzuziehen.«
Für eine kurze Zeit herrschte Schweigen. Niemand wollte fortgehen, nachdem sie fünf Jahre darauf verwandt hatten, ihre Traumhäuser zu bauen. Lexi hatte hart daran gearbeitet, damit die Farm genug hervorbrachte, um eine Einnahmequelle zu sein. Es war nicht leicht gewesen, aber jede von ihnen war bei jeder Form von Arbeit eingesprungen, um ihren gemeinsamen Traum zu verwirklichen.
Judith stand auf, sammelte die leeren Teetassen ein und trug sie zum Spülbecken. »Schatten können auch einfach nur Schatten sein«, rief sie über ihre Schulter zurück. »Vielleicht sind wir ja nur paranoid.«
»Das ist wahr«, gab Blythe zu und stand ebenfalls auf. Sie streckte sich träge. »Dann werde ich jetzt wohl mal mit Lexi reden. Wir sehen uns heute Abend in der Selbstverteidigungsgruppe.«
Judith drehte sich abrupt um und schnitt eine kleine Grimasse. »Ehrlich gesagt, ich verabscheue diesen Unterricht in Selbstverteidigung. Ich komme mir vor wie ein Prügelknabe, auf dem der Lehrer ständig rumhackt.«
Airiana schlang Judith einen Arm um die Taille. »Süße, du bist nun mal der Prügelknabe, auf dem er rumhackt. Zum Glück lieben wir dich alle, und daher ist es uns egal, ob du Arschtritte austeilen kannst oder nicht.«
»Und wie ich Arschtritte austeilen kann. Die Bewegungen beherrsche ich alle.« Judith schnaubte missbilligend und sah finster in Airianas hämisches Gesicht hinunter. »Ich ziehe es einfach nur vor, keine Menschen zu schlagen. Ich bin eben weiter entwickelt und zivilisierter als der Rest von euch.«
»Du hast recht, denn gestern Abend hast du Blythe auf die Matte geworfen«, räumte Airiana ein. »Aber dann bist du in Tränen ausgebrochen und hast damit gewissermaßen die gesamte Wirkung zerstört.«
»Levi war so entnervt«, sagte Blythe und lachte bei der Erinnerung daran schallend. »Habt ihr sein Gesicht gesehen? Ich dachte, er würde gleich rausrennen.«
Judith lachte gegen ihren Willen auch, obwohl ihr bei der Erinnerung an den Moment, als sie ihre Schwester auf die Matte geworfen hatte, übel wurde. Das Geräusch, mit dem Blythes Körper auf die Matte traf und die Luft aus ihrer Lunge strömte, hatte sie krank gemacht. Judith konnte weder Levi noch ihren Schwestern erklären, dass sie zwar die Techniken lernen wollte, aber während dieses Lernprozesses niemandem wehtun wollte. Sie glaubte, ihre Schwestern grimmig und kämpferisch verteidigen zu können, wenn es sein musste, aber jemanden vorsätzlich zu schlagen oder ihn mit so viel Schwung auf den Boden zu werfen, dass es ihm den Atem verschlug, war für sie abstoßend. Und was war, wenn sie ihre Selbstbeherrschung verlor? Welches Unheil würde sie dann anrichten?
»Er kann es eindeutig nicht leiden, wenn eine von uns weint«, stimmte ihr Airiana zu. »Und hast du ihn schon mal erlebt, wenn Rikki außer sich ist? Er ist verrückt nach ihr.«
Blythe seufzte. »Das ist wahr, ich muss es zugeben. Ich beobachte ihn ständig. Morgens schaue ich immer noch auf einen Kaffee bei ihnen vorbei und Rikki erwartet mich immer draußen. Levi bringt den Kaffee raus und scheint sich zwar zu freuen, mich zu sehen, aber er lässt Rikki selten aus den Augen. Ich freue mich für sie.«
Judith nickte, denn sie wusste, dass Blythe recht hatte. Levi Hammond war derartig in Rikki verliebt, dass ihn ihr Autismus in keiner Weise abzuschrecken schien. »Bringt dich das auf den Gedanken, dass es vielleicht auch für den Rest von uns dort draußen jemanden gibt? Er ist so anders und ich kann mir weder sie noch ihn mit jemand anderem vorstellen. Sie sind füreinander geschaffen. Vielleicht gibt es tatsächlich für jede Frau den Richtigen.«
Ihrer Stimme fehlte es an Überzeugungskraft und sie wusste es. Für sie würde es nie den Richtigen geben. Sie konnte weder sich selbst noch ihrer Gabe trauen und durfte nie wieder die Menschen, die sie liebte, in Gefahr bringen. Noch dazu fühlte sie sich zu der falschen Sorte Mann hingezogen. In den letzten Jahren hatte sie es nicht einmal gewagt, einen Mann auch nur mit einer Spur von Interesse anzusehen. Sie wagte es nicht, diesen Pfad noch einmal zu beschreiten. Noch schlimmer war, dass es ihr so vorkam, als sei ihr eigener Körper gestorben. Sie hatte sich zu keinem Mann, dem sie in den letzten fünf Jahren begegnet war, auch nur im Geringsten hingezogen gefühlt, weder physisch noch psychisch.
Blythe schüttelte den Kopf. »Ich bin aus dem Alter raus, in dem ein Ritter in schimmernder Rüstung auf einem weißen Ross angeritten kommt und mich im Sturm erobert.«
Airiana machte ein paar kleine Tanzschritte auf dem dicken, weichen Teppich. »Ich denke mir, Levi könnte bald mal wieder männliche Gesellschaft brauchen, der arme Kerl.«
Judith zwang sich zu einem Lachen, doch der Schatten, der über ihr Haus geglitten war, war nicht weitergezogen, sondern in sie hineingeglitten, und in ihrem Innern keimte tiefes Grauen auf und wuchs.