13.
Jean-Claude La Roux.
Judith stand an der Tür und sah Jonas nach, der zu seinem Streifenwagen zurückging. Ihr ganzer Körper war taub und jegliche Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen. Für lange Zeit versagte ihr Verstand ihr den Dienst. Sie starrte einfach nur in die Nacht hinaus, schockiert, von Schuldgefühlen geplagt und furchtsam. Sie hatte alle, die sie liebte, in Gefahr gebracht. Jean-Claude war zu allem fähig.
Sie hatte sich nie wirklich von ihm befreit, nicht wenn er sie jede Nacht heimsuchte, in ihren Träumen herumspukte und diese zu Alpträumen machte. Sie würde sich niemals wirklich von ihm befreien können, aber das Wissen, dass er sie ständig überwachen ließ … seit fünf Jahren jemanden dafür bezahlte, ihm Fotos von ihr zu schicken, war wirklich beängstigend.
Und Thomas. Was war mit Thomas? Sie war verrückt nach ihm. Aber es war alles zu schnell gegangen. Die Flamme brannte zu heiß. Natürlich war das alles nicht echt. Und wenn es echt war, wenn es tatsächlich eine gute Erklärung für alles gab, dann durfte sie ihn dieser Gefahr nicht aussetzen. Sie würde ihn dieser Gefahr nicht aussetzen.
Sie durfte auch ihre Schwestern nicht in Gefahr bringen. Jean-Claude hatte nicht nur die Folterung und die Ermordung ihres Bruders angeordnet, sondern auch die anderer Männer, und er war zweifellos dazu fähig, ihr auf dem Umweg über ihre Schwestern einen Schlag zu versetzen. Was hatte er vor? Was wollte er? Sie würde fortgehen müssen. Was blieb ihr denn anderes übrig? Ihr Verstand weigerte sich, Fragen zu beantworten; er ließ einfach nur alle Fäden zusammenlaufen, bis sie überhaupt nichts mehr begriff.
Ein Schluchzen stieg in ihr auf und sie presste sich eine Hand auf den Mund, um nicht zu weinen.
»Judith?«
Blythes Stimme raubte ihr erfolgreich jeden Rest an Selbstbeherrschung, den sie vielleicht noch gehabt hätte. Judith warf sich bereits in Blythes Arme, ehe ihre Schwester wirklich die oberste Treppenstufe erreicht hatte. Blythe fing sie auf, gab ihnen beiden Halt und drückte sie an sich, während sie schluchzte. Judith hatte keine Ahnung, wie lange sie weinte, aber als sie aufblickte, war sie von ihren Schwestern umgeben – von ihnen allen. Ihr ging das Herz auf und gleich darauf weinte sie wieder.
Blythe strich ihr über das lange Haar und murmelte beschwichtigende Laute. »Wir werden damit fertig, meine Süße. Ganz bestimmt. Wir alle miteinander.«
»Woher habt ihr es gewusst?« Judith schaffte es, sich lange genug zusammenzureißen, um ihren Kopf zu heben und sie alle anzusehen. In ihren Augen standen immer noch Tränen.
»Rikki hat uns verständigt. Levi hat ihr von den Fotos und von Jean-Claude erzählt. Da war es doch klar, dass wir kommen«, sagte Blythe. »Airiana wird Tee für uns kochen und Lexi hat ein paar Dinge für einen spätnächtlichen Snack mitgebracht. Wir werden Energie brauchen, um eine Lösung zu finden.«
Blythe klang wie, nun ja – wie Blythe eben. Sie war praktisch veranlagt, die Mutter von ihnen allen, die große Schwester, der Boss, ohne sie herumzukommandieren. Blythe schaffte es schon allein durch ihre ruhige Anwesenheit immer, dass alle sich besser fühlten. Aber vielleicht lag es auch an ihren Berührungen. Judith war es schon etwas leichter ums Herz und ihre Tränen versiegten zwar nicht, flossen aber langsam genug, um ihr einen Anschein von Selbstbeherrschung zu erlauben.
Judith sah den Kreis von Frauen an, von dem sie umgeben war. Das waren die Menschen, auf die sie zählen konnte, die immer – aber auch wirklich immer – zu ihr standen. Sie waren keine Schwestern im biologischen Sinne, doch ihr Herz hatte sie gewählt und sie standen ihr genauso nah wie Blutsverwandte. Diese Frauen hatten ihr das Leben gerettet und waren ihr eine Stütze gewesen, als sie ganz unten gewesen war und keinen Ausweg mehr gesehen hatte. Sie hatten ihr den Glauben an sich selbst zurückgegeben und jetzt standen sie wieder einmal hinter ihr, als um sie herum ihre ganze Welt zusammenbrach.
Judith holte tief Atem und stieß ihn wieder aus, während sie zusah, wie Lexi Kerzen aus ihrer Tasche nahm und sie im Zimmer aufstellte. Lissa folgte Lexi und blies auf die Dochte; Flammen züngelten auf und tanzten fröhlich. Das heilende Aroma der Duftkerzen erfüllte den Raum.
Der Kessel füllte sich auf Rikkis Anweisung mit Wasser und Airiana stellte ihn auf die Herdflamme, die Lissa bereits angezündet hatte.
»Du bist eine solche Angeberin«, zog Airiana sie auf.
Diese Demonstration ihrer Kraft sollte Judith dienen – die Frauen, die mit den Elementen verbunden waren, waren durch ihre gegenseitige Liebe miteinander verbunden.
Judiths Herz wurde leichter und der grässliche Schmerz, der sie zu erdrücken gedroht hatte, nahm ab. Sie ließ sich von Blythe zu einem Sessel führen und versank in den weichen Polstern.
»Jonas hat Levi Handschellen angelegt«, verkündete Rikki.
Ein Keuchen war zu vernehmen, als die Frauen kollektiv nach Luft schnappten.
»Levi hat es zugelassen?«, fragte Lissa.
»Ja.« Aus Rikkis Stimme war Stolz herauszuhören, aber auch ein Anflug von Gelächter. Sie suchte sich einen Sessel aus, der möglichst nah an der Tür stand. Sie musste immer gegen ihren Widerwillen ankämpfen, sich in einem Haus mit geschlossenen Türen aufzuhalten, wenn die Menschen, die sie liebte, um sie herum waren.
»Wie kommt es, dass er jetzt nicht hier ist?«, fragte Judith. »Normalerweise weicht er doch nicht von deiner Seite.«
»Na ja …« Ein schelmisches Lächeln ließ Rikkis Augen leuchten. »Ich habe ihm gesagt, er kann nicht mitkommen.«
Wieder schnappten die Frauen kollektiv nach Luft, diesmal noch erstaunter, und dann brachen sie in Gelächter aus – sogar Judith. Die Vorstellung, dass Rikki Levi mit seinen ach so männlichen Beschützerinstinkten verbot, sie zu begleiten, ließ sie alle schallend lachen.
Judith wischte sich die letzten Tränen aus dem Gesicht. »Wie hat er es aufgenommen?«
»Nicht gerade besonders gut«, gab Rikki zu. »Er schleicht um dein Haus herum wie ein verwundeter Jagdhund, aber das hier ist Frauenpower. Von mir aus kann er sich wie ein Macho aufführen und draußen schmollen.«
Eine weitere Runde Gelächter stellte Judiths natürliche Ausgeglichenheit wieder her. Sie sah ihre Schwestern mit einem liebevollen Lächeln an. »Danke. Mir geht es schon wieder besser. Zumindest kann ich wieder denken. Als ich seinen Namen gehört habe, bin ich in Panik geraten. Ich habe so gut wie nichts von dem mitbekommen, was Jonas gesagt hat, nachdem er mir mitgeteilt hat, wohin die Fotos gehen.«
»Als ich gehört habe, was passiert ist, hatte ich im ersten Moment Angst, dieser Mann hätte vielleicht eine Kamera in deinem Schlafzimmer installiert und du seist die neueste Sensation im Internet«, sagte Airiana. »Es ist Wahnsinn, dass jetzt jeder solche Dinge tun kann.«
»Nein, nicht im Internet, aber wahrscheinlich bin ich inzwischen eine gewisse Berühmtheit unter französischen Strafgefangenen«, sagte Judith mit einem geknickten Lächeln.
»Ich hoffe, dein Bild prangt nur in einer Zelle«, sagte Blythe. »Ich bezweifle, dass er anderen deinen Anblick gönnt.«
Judith fuhr sich mit einer Hand durchs Haar und schob es mit einer schnellen, unruhigen Geste aus ihrem Gesicht. »Ich verstehe nicht, warum er mich im Auge behält. Seit fünf Jahren, hat Jonas gesagt. Ich habe nie etwas von einem Mike Shariton gehört. Offenbar lebt er in Point Arena und hat ziemlich gut daran verdient, Fotos von mir – und meinen Arbeiten – an Jean-Claude zu schicken.«
Airiana, die gerade Tee einschenkte, lehnte sich mit einer Hüfte an die Spüle und drehte sich zu ihnen um. »Shariton? Das ist ein ungewöhnlicher Name. Ich erinnere mich an ihn. Er kam mal in den Laden und hat eines deiner Kaleidoskope gekauft. Ich glaube, es war eines mit Meermotiven, das mit den Wellen und den Muscheln und den auswechselbaren Objektkammern. Das war vor etwa einem Monat.«
»Na prima. Dann kann er jetzt im Gefängnis damit spielen«, sagte Judith.
»Wenigstens hast du Geld an ihm verdient«, hob Lexi mit einem Feixen hervor und setzte sich gegenüber von Judiths Sessel auf den Boden. »Das ist doch schon mal was.«
»Vermutlich sollte ich mich darüber freuen«, sagte Judith. »Im Ernst, vielleicht hilft es ihm ja dabei zu begreifen, dass er Unrecht getan hat.«
»Airiana, ich trinke meinen Tee mit Milch«, sagte Lexi.
»Ich nicht«, sagte Rikki hastig.
Airiana verdrehte die Augen. »Ihr beide sagt immer genau dasselbe. Und das jetzt schon seit fünf Jahren. Ich denke, mittlerweile habe ich es kapiert.«
Teetassen schwebten eine nach der anderen vom Abtropfbrett des Spülbeckens ins Wohnzimmer, eine ganze Parade, die den Weg in die Hände jeder der Frauen fand.
»Und du redest von Angeberei«, sagte Lissa.
»Ich übe«, verteidigte sich Airiana. »Euch ist doch sicher meine kleine Schwäche nicht entgangen, den Wind in den Redwoods zurückzuhalten, während ich versucht habe, die Windstärke über den Gemüsebeeten konstant niedriger zu halten? Damit habe ich immer noch meine Probleme. Heute Abend habe ich so viel Kraft gespürt, als Judith uns alle miteinander verwoben hat, und der Wind war auch etwas schwerer zu kontrollieren.«
Rikki nickte. »Ich musste mich ebenfalls daran gewöhnen. Aber deine Kraft war heute Abend wirklich außergewöhnlich stark, Judith, und das ist gut so, aber als ich Wasser aus den Wolken gezogen habe, wollte das Wasser im Boden ebenfalls reagieren. Ich musste etwas härter daran arbeiten, die Kontrolle darüber zu behalten.«
»Mir war nicht klar, dass ich euch allen so viel Auftrieb gegeben habe«, sagte Judith. Ihre Stimme klang alarmiert. »Vermutlich habe ich mich heute Abend etwas mehr gehenlassen als sonst, ohne es selbst zu merken.«
»Etwas mehr gehenlassen?«, fragte Lissa. »Du bist doch immer so zurückhaltend und beherrscht, aber heute Abend hatte ich einen anderen Eindruck von dir. Es war zwar anfangs schwieriger, die Kraft zu kontrollieren, aber es war ganz schön beeindruckend. Heißt das etwa, du kannst unsere Fähigkeiten noch mehr verstärken?«
Judith fühlte die Last der Blicke all ihrer Schwestern. Die Regel lautete, dass sie einander nicht belogen. Unterlassungssünden konnten gerade noch angehen, aber regelrechte Lügen kamen nicht in Frage. Sie zögerte, holte tief Luft und atmete aus. »Ja.«
»Wow«, sagte Airiana und ließ sich neben Lexi auf den Boden gleiten. »Also wirklich, Judith, einfach irre.«
»Ich kann mir vorstellen, dass es manchmal sehr schwierig für dich sein muss, die Kontrolle über diese immense Kraft zu behalten«, sagte Blythe und kam damit direkt zum Kern der Sache.
Judith nickte. »Bis Levi es angesprochen hat, dass jede von uns an ein Element gebunden ist, war mir überhaupt nicht klar, dass es etwas Nützliches und Gutes gibt, wofür ich all diese Kraft verwenden kann. Ich habe sie, so gut es eben ging, unterdrückt. Seit ich sie aktiv mit euren Kräften verflechte, ist mir zum ersten Mal wohl dabei zumute. Dabei habe ich es die ganze Zeit über getan, von Anfang an, seit wir hier eingezogen sind, aber nicht bewusst. Wenn ich das Wasser oder den Wind gefühlt habe, habe ich einfach nur ein bisschen nachgeholfen, und dasselbe habe ich auch dann getan, wenn das Erdreich zu mir gesprochen hat.«
»Seit Levi es uns erklärt hat, fällt es mir auch leichter zu verstehen, warum ich ständig mit den Händen im Boden graben muss«, stimmte Lexi ihr zu. »Und dass wir miteinander verflochten sind. Findet ihr es nicht seltsam, dass wir alle ein Element haben, mit dem wir verbunden sind, im Grunde genommen eine grandiose Gabe, und dass doch jeder von uns eine schreckliche, gewaltsame Tragödie in ihrem Leben zugestoßen ist? Glaubt ihr, da gibt es irgendeinen Zusammenhang?«
Eine Weile herrschte Stille, während sie darüber nachdachten. Wie üblich war Blythe diejenige, die als Erste das Wort ergriff. »Überall herrscht ein gewisses Gleichgewicht, das wissen wir alle. Gut und Böse. Glück und Leid. Man hat nie eines ohne das andere. Ihr alle tragt eine große Gabe in euch, eine sehr mächtige sogar, und was ein Ausgleich dazu sein könnte, ist schwer zu beurteilen. Was auch immer der Grund sein mag – wir leben hier und jetzt. Daran hat sich nichts geändert. Wir haben uns alle darauf geeinigt, nicht unser Leben lang dem Was-wäre-wenn nachzuhängen. Jede von uns hat ihr Leben und wir haben alle gelobt, das Beste daraus zu machen. Bloß weil Jean-Claude aus der Versenkung auftaucht, ändert sich daran nichts. Es wird vielmehr dazu dienen, uns zu einen und uns zu stärken. Wir wissen nicht, was er will, aber wir wissen, dass er Judith über die Schulter schaut. Das gibt uns Gelegenheit dazu, die Gaben zu erkunden, die wir besitzen, und herauszufinden, wie wir sie besser für uns nutzen und sie beherrschen können. Seine Gegenwart im Leben unserer Schwester wird uns nur noch stärker machen.«
»Er ist sehr gefährlich«, hob Judith hervor. »Ihr wisst, was er meinem Bruder angetan hat. Und Paul war nicht der Einzige. Es ist sehr gut möglich, dass er versuchen wird, mir auf dem Umweg über eine von euch einen Schlag zu versetzen.«
»Niemand ist weggelaufen, als ich Gefahr hierhergebracht habe«, sagte Rikki unerschütterlich. »Und niemand wird jetzt weglaufen. Falls dieser Mann etwas plant, egal was, dann bist du nicht allein, und er wird eine böse Überraschung erleben.«
»Mein Bruder war stark«, sagte Judith leise. Bei dem Gedanken daran, was ihr Bruder ihretwegen durchgemacht hatte, zog sich ihr Herz so schmerzhaft zusammen, als steckte es in einem Schraubstock.
»Das ist wahr«, sagte Blythe. »Aber diesmal ist es etwas anderes, Judith. Du bist kein junges Mädchen mehr. Wir alle sind, jede auf ihre Weise, durchs Feuer gegangen, und es hat uns gestählt und uns Kraft gegeben, und jetzt sind wir zusammen. Ich glaube fest daran, dass dieser Mann keine Chance hat, uns etwas anzutun, denn er kann es nicht gegen uns alle gemeinsam aufnehmen. Daran musst du auch glauben.«
»Levi hilft uns, was unsere Sicherheitsvorkehrungen und Selbstverteidigung betrifft«, sagte Lissa, »aber wir können auch noch mehr Eigeninitiative ergreifen, statt nur an unseren Fähigkeiten zu arbeiten, unsere Elemente zu beherrschen. Nur durch Übung vervollkommnet man sein Können und ich weiß, dass wir gerade erst begonnen haben, unsere Kräfte gemeinsam als eine Einheit anzuwenden.«
Die Frauen nickten.
»Was hat dich dazu gebracht, heute Abend so starke Energien freizusetzen, Judith?«, fragte Blythe.
»Es waren nicht nur starke Energien«, sagte Airiana, »sondern auch glückliche Energien. Du kamst mir glücklich vor.«
»Mir auch«, stimmte Lissa ihr zu. »Es fühlte sich nach echtem Glück an.«
Judith trank einen Schluck Tee und gestattete den beruhigenden Eigenschaften des Getränks, ihr Herz zu beschwichtigen, das plötzlich heftig pochte. »Thomas. Thomas Vincent. Er ist der Grund.«
Ihre Schwestern tauschten lange, schockierte Blicke miteinander auf.
Wieder war es Blythe, die den Stier bei seinen sprichwörtlichen Hörnern packte. »Vielleicht könntest du darauf etwas näher eingehen, Judith.«
Judith stellte ihre Teetasse hin, um sich nicht durch ihre zitternden Hände zu verraten. »Ich habe lange darüber nachgedacht. Wenn ich mit Thomas zusammen bin, fühle ich mich am Leben, wirklich am Leben – mein Geist fühlt sich lebendig. Es ist schwer zu erklären, aber ich fürchte mich in seiner Gegenwart nicht vor dieser Kraft in meinem Innern. Ich komme mir vor, als ob …« Sie ließ ihren Satz abreißen, holte Atem und versuchte es noch einmal. »Wenn ich mit ihm zusammen bin, habe ich das Gefühl, es steht mir vollkommen frei, ich selbst und doch zugleich in Sicherheit zu sein.«
Sie sah Blythe in die Augen. »Ich weiß, dass es nicht einleuchtend ist. Wenn ich nicht bei ihm bin, sage ich mir all die Dinge, von denen ich sicher bin, dass ihr sie mir sagen werdet. Es geht alles viel zu schnell. Körperliche Anziehungskraft ist nichts, worauf man sich verlassen kann, aber all das zählt für mich nicht mehr, wenn ich bei ihm bin. Es ist einfach so, dass er … mich glücklich macht – glücklich damit, wer ich bin. Ich habe keine Angst und ich brauche mich nicht vor ihm zu verstecken. Ich glaube, er kann sogar mit meinen schlimmsten Seiten umgehen.«
Blythe sah Rikki an. »Was sagt Levi?«
Rikki schüttelte den Kopf. »Levi hat nicht viel gesagt, weil ich ihm keine Gelegenheit dazu gegeben habe. Ich wusste, dass Judith uns braucht, und das hatte Vorrang.«
»Außerdem«, hob Judith hervor, »kann Levi außer uns sowieso niemanden leiden und wird deshalb wohl kaum ein faires Urteil abgeben.«
Lissa lachte und tarnte es als ein Hüsteln. »Da ist was dran, nicht wahr, Rikki?«
Rikki seufzte. »Ich kann schließlich auch niemand anderen leiden. Daher klappt es.«
Airiana hob ihre Teetasse in Rikkis Richtung. »Du liebst uns und das ist das Einzige, was zählt, meine Süße.« Sie trank einen Schluck und sah Judith über den Rand ihrer Tasse an. »Was ist mit seiner Aura?«
»Sie ist irgendwie trüb, wie man es bei erfolgreichen Geschäftsmännern oft sieht. Gut und böse. Aber manchmal kann ich sie überhaupt nicht sehen.« Judith seufzte. »Ich bemühe mich wahrscheinlich schon zu lange, die Aura von Menschen nicht mehr zu sehen. Deshalb vertraue ich meiner eigenen Deutung nicht und seine Aura ist ziemlich kompliziert. Je mehr ich versucht habe, mich darauf zu konzentrieren, desto weniger konnte ich sie deuten.«
»Na, toll«, sagte Airiana finster. »Ich hasse das.«
»Warum?«, fragte Blythe.
Airiana warf Judith einen bedauernden Blick zu, ohne ihr in die Augen zu sehen. »Weil diese Form von Aura fast immer das Produkt von Verheimlichung ist.«
Blythe zog die Stirn in Falten, beugte sich zu Airiana vor und rieb ihre linke Handfläche an ihrem Oberschenkel, eine Gewohnheit, die normalerweise signalisierte, dass sie sich aufregte oder dass ihr etwas gar nicht behagte. »Vorsätzlich? Jemand könnte seine Aura vorsätzlich verbergen? Hieße das nicht, er besäße eine übersinnliche Gabe und wüsste, dass er seine Aura in unserer Gegenwart besser verbirgt?«
»Nein, das meinte ich damit nicht, Blythe«, korrigierte Airiana ihre Schwester. »Eher, dass derjenige etwas sehr Wichtiges verbirgt.«
»Eigentlich spielt es keine Rolle«, sagte Judith. »Ich kann ihn nicht sehen, solange die Bedrohung durch Jean-Claude über meinem Haupt schwebt.«
»Natürlich spielt es eine Rolle«, widersprach Lexi. »Ich glaube nicht, dass man allzu oft einem idealen Partner begegnet. Wenn die Gelegenheit da ist und du dich mit ihm verstehst, dann rate ich dir, es zu riskieren. Rikki hat es getan, und sieh dir nur an, wie glücklich sie ist.« Sie zog die Stirn in Falten. »Ich meine … du bist doch glücklich mit Levi, oder nicht? Ein wenig beängstigend ist er ja. Er lächelt nie.«
»Ich bin sehr glücklich mit Levi«, sagte Rikki und wiegte sich dabei ein wenig. Sie sah sich um. »Aber vielleicht könnten wir ein Fenster aufmachen oder so. Hättest du etwas dagegen, Judith?«
»Levi streift dort draußen herum und ist wahrscheinlich bis an die Zähne bewaffnet«, sagte Judith. »Mach ruhig die Tür auf, Liebes. Mich stört das nicht.«
»Er wird reinkommen«, sagte Rikki und schlang auf ihrem Schoß ihre Finger umeinander. »Er wird durch das ganze Haus laufen, um sich zu vergewissern, dass es ordnungsgemäß gesichert ist.« Sie verdrehte die Augen. »Er überprüft sogar regelmäßig meine Gartenschläuche, um zu sehen, ob sie wirklich funktionsfähig sind.«
Sämtliche Frauen brachen in schallendes Gelächter aus. Rikki blinzelte und sah sich im Zimmer um. »Was ist?«
»Er überprüft die Gartenschläuche um dein Haus herum?«, half Blythe ihr auf die Sprünge. »Wie du es selbst an jedem einzelnen Morgen tust?«
»Genau darum geht es ja. Mir würde doch auffallen, wenn mit den Schläuchen etwas nicht stimmt, oder etwa nicht? Der Mann übertreibt maßlos, wenn es um Sicherheit geht. Und er will einen Hund.«
»Oh, das ist es wohl, was dich wirklich stört«, sagte Judith behutsam. »Kleines, du weißt doch, dass es dir nicht das Geringste ausmacht, wenn Levi die gesamte Farm, dein Boot und unsere Läden eine Million Mal überprüft. Das ist nun mal sein Ding und er nimmt es ernst. Er will doch nur, dass wir alle in Sicherheit sind. Aber dir geht es um den Hund.«
»Er bringt das Thema einfach immer wieder auf den Tisch«, gestand Rikki und wedelte mit ihren Fingern durch die Luft. Ihr war deutlich anzusehen, dass sie sich aufregte.
»Wir haben doch auch schon darüber gesprochen, und zwar bevor Levi hergekommen ist«, hob Blythe hervor. Sie legte eine beruhigende Hand ganz leicht auf Rikkis Arm und achtete darauf, ihr Bewegungsfreiheit zu lassen. »Lexi könnte hier auf der Farm wirklich einen Gefährten gebrauchen. Sie ist oft allein und hätte wirklich liebend gern einen Hund. Airiana hätte auch gern einen. Levi steht mit diesem Wunsch also nicht allein da.«
»Aber wenn wir uns einen Hund zulegen, wird er in mein Haus und auf mein Boot kommen«, protestierte Rikki.
»Nicht unbedingt«, widersprach ihr Blythe. »Viele Leute haben Hunde, die draußen leben.«
Airiana entwich zischend der Atem und sie machte den Mund auf, um zu protestieren, doch Blythe brachte sie mit einem eindringlichen Blick zum Verstummen. Es war allseits bekannt, wie sie dazu stand, Hunde draußen zu lassen.
Rikki schüttelte den Kopf. »Oh, nein, das könnte ich nicht tun, Blythe. Wenn wir uns einen Hund zulegen, dann müsste er ständig bei uns sein. Ich würde mir Sorgen um ihn machen, wenn er allein wäre, während wir tauchen. Und ich könnte nachts nicht schlafen, wenn das arme Ding wegen mir draußen schlafen müsste, nur weil ich keine Hundehaare in meinem Haus haben will.«
»Es gibt Rassen, die nicht haaren«, sagte Airiana. »Und du magst Tiere wirklich, Rikki.«
»Ich weiß.« Rikki rieb mit dem Daumen ihre Handfläche, als juckte sie. »Ich habe es mit Mühe und Not fertiggebracht, Levi in mein Haus zu lassen, und jetzt will er einen Hund. Was kommt danach? Das sind zu viele Veränderungen und sie kommen zu schnell hintereinander.«
Blythe lächelte sie an. »Rikki, du weißt längst, dass du einen Hund haben wirst. Ich kann es deiner Stimme anhören. Du willst nur, dass wir dir alle zustimmen und es dir ausreden.«
Rikki seufzte. »Ich weiß, dass ich mich wegen dem verflixten Ding verrückt machen werde. Es wird peinlich sein. Levi weiß noch nicht, wie ich bin. Nicht wirklich. Er weiß nicht, wie wahnsinnig ich mich aufführen kann. Der Hund wird meiner sein. Er wird unter meinem Schutz und unter meiner Aufsicht stehen. Ich nehme solche Dinge sehr ernst. Ich werde Hundebücher lesen und von allem nur das Beste für ihn wollen. Wahrscheinlich werde ich sogar biologisches Hundefutter für ihn kaufen.« Sie pustete angewidert auf ihre Finger. »Himmel noch mal.«
»Levi wird dich nicht verlassen, weil du einen Hund liebst«, sagte Blythe. »Er wird genauso schlimm sein wie du.«
»Und außerdem«, fügte Lexi hinzu, »ist er davon besessen, dich und uns alle zu beschützen. Dann hat er wenigstens eine Ablenkung.«
Airiana lachte. »Soll das ein Witz sein? Jeder Hund auf diesem Anwesen wird als Wachhund ausgebildet werden. Dafür wird dieser Mann sorgen.«
Rikki nickte. »Er wird große Hunde anschaffen. Und er weiß, dass Airiana Ausbilderin ist. Daher erwartet er von ihr, dass sie mit ihm und den Hunden zusammenarbeitet, um sie zu Wachhunden zu machen.«
»Ist das denn so schlimm?«, hakte Blythe behutsam nach.
Rikki wiegte sich heftiger vor und zurück. »Nein. Doch. Ich weiß es nicht.« Sie pustete wieder auf ihre Fingerspitzen. »Es ist eine große Verantwortung.«
Judith beugte sich zu ihr vor. »Schätzchen, geht es hier vielleicht um die Brände in deiner Kindheit? Bei einem der Brände ist ein Hund ums Leben gekommen, nicht wahr?«
Rikki hatte ihre Eltern und ihren Verlobten bei Bränden verloren. Lange Zeit war sie der Überzeugung gewesen, sie hätte in irgendeiner Form etwas mit der Brandstiftung zu tun gehabt.
Rikki nickte bedächtig. »Ich habe Schwierigkeiten mit der Vorstellung, dass etwas passieren könnte. Auch wenn ich weiß, dass ich nicht dafür verantwortlich war …«
»Und der Mann, der dafür verantwortlich war, sitzt jetzt hinter Gittern«, rief ihr Blythe mit sanfter Stimme ins Gedächtnis zurück. »Kleines, du darfst dir von ihm nicht dein Leben bestimmen lassen, ebenso wenig, wie Judith zulassen darf, dass Jean-Claude über sie bestimmt. Du hast Levi in deinem Leben und alles ist gut. Wenn du einen Hund in dein Leben lässt, dann wird ihn das nicht in Gefahr bringen. Und du wirst blendend für ihn sorgen, ganz gleich, wie er abgerichtet ist.«
Judith seufzte. Sie wusste, dass Blythe nicht nur mit Rikki sprach. Sie erinnerte auch Judith daran, dass sie alle gelobt hatten, das Leben wieder zu leben, statt sich davor zu verstecken. Sie hatte die anderen nicht in ihre Sorge eingeweiht, bei Thomas Vincent könnte der Schein trügen. Rikki hatte keinen wirklichen Hinweis darauf gegeben, dass sie mehr über ihn wusste als Judith, und Levi schien keine Geheimnisse vor ihr zu haben; trotzdem schien es ihr so, als seien Thomas und Levi miteinander bekannt.
Thomas hatte Levi mit einem perfekten russischen Akzent Lev genannt. Die Kindheitserinnerungen, die Thomas hatte, schienen so gewalttätig und hässlich zu sein wie Levis Erinnerungen. Sie wusste, dass Levi Russe war, und die Adoptivmutter von Thomas war Russin. Bestand da ein Zusammenhang? Lief sie vor der Beziehung fort, weil sie das fürchtete, was Jean-Claude tun könnte? Oder weil sie Angst davor hatte, Thomas würde ihr das Herz brechen?
Es war so viel einfacher, sich hinter den Toren zu verbergen und in ihrer eigenen kleinen, behüteten Welt zu bleiben, als ihr Herz aufs Spiel zu setzen. Denn davon würde sie sich vielleicht nicht mehr erholen. Thomas war nicht wie irgendein anderer Mann, dem sie jemals begegnet war. Ihr Geist hatte nie auf einen Mann reagiert, sich sinnlich um ihn geschlungen und sie beide in eine einzige Haut gehüllt.
Das klang so dramatisch und irgendwie lachhaft. Aber wie konnte sie anderen etwas erklären, was sie selbst nicht verstand, auch wenn diese anderen die Menschen waren, die sie liebte? Sie wusste, dass Thomas und sie perfekt zueinander passten. Alles an ihm und alles an ihr. Sie gehörten zusammen. Es spielte keine Rolle, dass sie einander kaum kannten und dass beide Geheimnisse hatten. Ihr war ganz egal, dass seine Aura trüb war oder auf Verheimlichung hinwies. Vielleicht hatte er ein oder zwei Geheimnisse – aber die hatte sie auch. Darum ging es nicht.
»Ich weiß, dass Airiana und Lexi nichts gegen Hunde auf der Farm hätten, aber Blythe, Judith und Lissa haben sich weder so noch so dazu geäußert«, sagte Rikki.
»Ich bin restlos dafür«, sagte Blythe. »Ich hätte nichts dagegen, einen Hund zu haben, der mit mir laufen geht, und ich würde mich wahrscheinlich etwas sicherer fühlen.«
Judith zuckte die Achseln. »Ich bin nicht sicher, ob ich mir einen Hund zulegen würde – zumindest keinen großen Hund. Aber ich habe absolut nichts gegen Hunde für alle anderen auf der Farm.«
»Lissa?«, hakte Blythe nach, als diese weiterhin schwieg.
Lissas Gesicht schien blasser als sonst zu sein und ihr fester Körper schrumpfte ein wenig, als sie sich kleiner machte. Sie zuckte die Achseln, blieb stumm und trank den letzten Schluck von ihrem Tee.
»Du musst dich zu diesem Thema äußern, Lissa.« Blythe blieb hartnäckig. »Jeder sollte ein Mitspracherecht haben. Fürchtest du dich vor Hunden?«
Lissa zuckte wieder die Achseln. »Für mich klingt das so, als wollten alle Hunde haben, und daher werde ich mich, wie Rikki, daran gewöhnen.«
»Ich nehme an, es geht in Ordnung, sich an Hundehaare zu gewöhnen«, räumte Rikki ein. »Levi passt sich in mein Leben ein, ohne viel zu verlangen. Ein Hund würde uns Spaß machen … vielleicht.« Es klang nicht so, als sei sie sich da allzu sicher.
Und genau darin bestand das eigentliche Problem im Leben, folgerte Judith. Es gab in keiner Hinsicht Gewissheit. Rikki liebte Levi mit jeder Faser ihres Wesens, mit ihrer immensen Loyalität und mit ihrer Mentalität, für die es nur alles oder nichts gab, doch selbst das genügte nicht. Ihre geordnete Welt, die sie brauchte, um zu überleben, würde auf den Kopf gestellt werden, um ein Bedürfnis ihres Partners zu stillen.
Judith presste ihre Lippen fest aufeinander und schüttelte den Kopf. Das Leben hatte einfach nur eine hässliche Wendung genommen. Sie sah sich in dem Zimmer um, in dem die Frauen saßen, die mitten in der Nacht aus ihren Betten aufgestanden waren, um sie zu trösten. Sie hatten sie lange genug erfolgreich abgelenkt, um diesen ersten Ansturm von Schock und Entsetzen zu überstehen. Sie begriff, dass die Themenwechsel für sie da gewesen waren; Blythe hatte das Gespräch geschickt gesteuert und all ihre Schwestern waren jedem Wink bereitwillig gefolgt, um ihr Zeit zu geben, sich wieder zu fangen.
»Ich bin so froh, dass ich euch alle habe.« Ihre starken Gefühle für die Frauen wogten auf und ergossen sich in den Raum.
Lissa warf ihr eine Kusshand zu. »Ich glaube, ich weiß, was wir tun sollten, Schwesterherz: Wir sollten in Erfahrung bringen, warum Jean-Claude dich fünf Jahre lang hat beobachten lassen, denn das ist für mich nicht einleuchtend. Wenn er diesen Mann hier dafür bezahlt hat, in all der Zeit Fotos von dir zu machen, dann hat er viel Mühe und Ausgaben auf sich genommen. Er ist in Frankreich. Er muss jemanden gehabt haben, der Shariton gefunden und ihn beauftragt hat, er muss den Wärter bestochen und die Zahlungen arrangiert haben. Das kann vom Gefängnis aus nicht leicht gewesen sein.«
Judith unterdrückte ihr Zusammenzucken beim Klang seines Namens. Jean-Claude gehörte in ihr dunkles Studio, von Hass und Kummer umgeben und gefangen gehalten. Sie presste ihre Fingerspitzen auf ihre Augen. Vielleicht war sie ja diejenige, die gefangen gehalten wurde. Vielleicht war die ganze Zeit sie diejenige gewesen, die eingesperrt war. Dann war Thomas gekommen und hatte ihr die Augen geöffnet, obwohl sie nicht gewollt hatte, dass es dazu kam, und sie fühlte sich schuldbewusster denn je. Wenn sie sich von diesen Gefühlen löste, die sie über einen so langen Zeitraum sorgsam kultiviert hatte, wie konnte sie dann jemals wieder der Erinnerung an ihren Bruder ins Gesicht sehen?
»Jean-Claude hat mehr Geld, als sich eine von uns vorstellen kann. Mit Geld kann man eine ganze Menge Loyalität kaufen und er hat eine große, weit verzweigte Organisation. Er hat einen langen Arm, länger, als mir damals klar war.«
»Aber was will er von dir, Judith?«, fragte Blythe. »Er muss doch wissen, dass du ihn verabscheust. Er kann sich nicht einbilden, du würdest jemals wieder mit ihm zusammen sein wollen, das entbehrt jeder Logik. Er hat deinen Bruder ermorden lassen und er weiß, dass dir durchaus bewusst ist, dass er es war, stimmt’s?«
Judith nickte und biss sich fest auf die Unterlippe. »Ich habe keine Ahnung, was er will.«
»Hast du gegen ihn ausgesagt?«, fragte Lissa.
Judith schüttelte den Kopf. »Er ist nie wegen Mordes angeklagt worden. Wie hätte ich beweisen können, dass er die Folter und die Ermordung meines Bruders angeordnet hat? Wir waren in Griechenland. Er war in Frankreich. Ich habe mitbekommen, dass ein Mann in seinem Haus gefoltert wurde, aber ich habe den Mann nicht gesehen, nur das Blut überall. Da die Leiche verschwunden ist – und daran besteht kein Zweifel, weil ich kein Wort darüber gelesen habe, dass eine Leiche gefunden wurde –, was hätte ich dann beweisen können? Ich war untergetaucht, als er wegen Waffenschmuggels verurteilt worden ist, und ich hatte nichts mit seiner Verurteilung zu tun.«
»Und was ist es dann, wenn es nicht darum geht, dir etwas heimzuzahlen?«, fragte Lissa beharrlich weiter. »Was bleibt noch übrig? Warum hat er diese Männer überhaupt erst hinter dir hergeschickt? Wusste er, dass du gesehen hast, wie der Mann in seinem Haus getötet wurde?«
Judith zog die Stirn in Falten. »Ich glaube nicht, dass er es weiß. Ich habe keinen Laut von mir gegeben und ich wüsste nicht, wie er es gewusst haben könnte, es sei denn, er hatte Kameras, was durchaus möglich ist.«
»Aber wenn er wusste, wo sie war, warum hat er sie dann nicht einfach töten lassen?«, fragte Lexi.
Blythe nickte. »Das ist eine gute Frage. Wenn er befürchtet hätte, du könntest ihm einen Mord anhängen, dann hätte er dich töten lassen. Du kanntest ihn besser als jeder andere, Judith. Was meinst du? Könnte er auf den abartigen Gedanken gekommen sein, du würdest ihn nehmen, wenn er zurückkäme?«
Judith versuchte die letzten fünf Jahre des Schuldbewusstseins und der Scham von den Jahren als Kunststudentin zu trennen, als sie Jean-Claude erstmals begegnet war und sich von seinem Charme hatte hinreißen lassen. Er war so kultiviert gewesen. So elegant. Im Umgang mit ihm war sie unbeholfen und schüchtern gewesen und viel zu unschuldig, um sich jemals vorzustellen, was für ein Monster er gewesen war. Sie hatte keine Ahnung gehabt, dass es Männer wie Jean-Claude überhaupt gab. Sie war so vollständig in ihre Welt der Kunst eingetaucht, dass sie in der Welt um sich herum nur Farben und Schönheit sah. Sie war in Paris gewesen, hatte sich in den Museen herumgetrieben, in den kleinen Straßencafés gegessen und studiert und währenddessen die Atmosphäre von Frankreich in sich eingesogen. Sie hatte diese ganze Erfahrung geliebt und Jean-Claude war ein so großer Teil davon gewesen.
Er sah gut aus und war gut gebaut und so französisch mit seinen Komplimenten und seinem Akzent und seinen eleganten Manieren. Wer hätte da auf den Gedanken kommen können, dass er ein Verbrecher war? Er kannte Polizisten, Politiker, Filmstars. Das Leben an seiner Seite war glanzvoll. Sie hatte nie in ihrem Leben jemanden getroffen, der so war wie Jean-Claude, und sie hatte ihn mit leuchtenden Augen und verklärtem Blick angesehen. Er war ein Teil ihrer Erfahrung in Frankreich, ein vornehmer Mann mit makellosen Manieren, der ihr die Wagentür aufhielt, sich tief über ihrer Hand verbeugte und sie an Orte mitnahm, von denen sie sich nicht erträumt hätte, sie jemals zu sehen. Er hatte ihr das Gefühl gegeben, eine Prinzessin zu sein.
Konnten diese Blicke, mit denen er sie angesehen hatte, geheuchelt gewesen sein – lange, intensive Blicke, mit denen er ihr direkt in die Augen sah, als er ihr seine Liebe erklärte? Er kaufte ihr einen erstaunlichen Ring, als sie einander erst zwei Wochen gekannt hatten. Sie hatte den Antrag abgelehnt und nachts in ihrem Zimmer geweint, aber etwas hatte ihr gesagt, sie solle sich etwas mehr vorsehen.
Es hatte jedoch überhaupt keine Rolle gespielt, dass sie seinen Heiratsantrag abgelehnt hatte, und dadurch hatte sie sich erst recht als etwas ganz Besonderes gefühlt – weil er ihr Zeit ließ, obwohl er jede Frau haben konnte, die er wollte. War das von seiner Seite aus alles echt gewesen? War es überhaupt möglich, dass ein Mann, der zu den grauenhaften Dingen fähig war, die er getan hatte, tatsächlich Liebe für jemanden empfand?
Ein Gedanke traf sie mit voller Wucht. Sie sah Blythe betroffen an. »Könnte ich ihm durch nichts anderes als meine Gegenwart die Fähigkeit verliehen haben, wahre Liebe zu empfinden? Durch meine Liebe zu Frankreich? Durch meine Liebe zu dem, für den ich ihn gehalten habe?«
Lissa beugte sich vor und nahm Judiths Hände in ihre. »Du hast nichts falsch gemacht, Judith. Was ist dagegen einzuwenden, sich zu verlieben? Wenn Jean-Claude der Mann gewesen wäre, für den er sich ausgegeben hat, wäre dein Leben ganz anders verlaufen – und recht erstaunlich. Er war derjenige, der dich durch seine Verstellung getäuscht hat. Es ist nie falsch, jemanden zu lieben.«
»Ich muss meine Gefühle auf ihn übertragen haben und er hielt sie seinerseits für echt.«
Lissa schüttelte den Kopf. »Du bist total durcheinander, Kleines. Sieh dir doch nur mal Rikki und Levi an. Wenn die beiden zusammen sind, können wir alle fühlen, wie sehr sie einander lieben. Sie strahlen Liebe aus, selbst dann, wenn sie gerade einen ihrer lächerlichen Streits vom Zaun brechen. Ich habe die Absicht, uneingeschränkt zu lieben, wenn ich liebe. Eine andere Form von Liebe sollte es gar nicht geben. Du weißt nicht, ob das, was er für dich empfunden hat, echt war oder nicht. Vielleicht hatte er das Glück, sich zum ersten Mal in seinem Leben mit einem guten Menschen zu verstehen, und das hat ihn tief bewegt. Für das, was er empfunden oder nicht empfunden hat, kannst du nicht verantwortlich gemacht werden.«
Airiana nickte zustimmend. »Wir können nur über uns selbst bestimmen, nicht über andere, erinnerst du dich noch? Wir haben alle gelobt, so zu leben. Wir sind für unser eigenes Glück verantwortlich und wir treffen unsere eigene Wahl. Du darfst nicht zulassen, dass Jean-Claude über dich oder darüber bestimmt, wie du dein Leben gestalten willst; und du bist auch nicht verantwortlich dafür, ob er fähig ist zu lieben oder nicht.«
»Und genau das ist dein Problem, Judith. Außerdem fürchtest du dich vor deiner Gabe«, hob Blythe hervor. »Du findest Möglichkeiten, dir selbst die Schuld zu geben, und deshalb weigerst du dich die meiste Zeit zu akzeptieren, dass jeder im Einklang mit sich selbst sein muss. Niemand ist durch und durch gut. Niemand ist durch und durch schlecht. Du musst dir erlauben, du selbst zu sein.«
Judith wusste, dass sie alle recht hatten, aber trotzdem … Sie fuhr sich mit einer Hand durch ihr Haar. »Ich fühle mich im Einklang mit mir selbst, wenn ich mit Thomas zusammen bin. Nicht weil ich einen Mann brauche, um mich selbst klar zu sehen, das ist es nicht. Es liegt daran, dass er irgendwie mit intensiven Gefühlen umgehen kann, ob sie nun gut oder schlecht sind, und die Intensität scheint ihm nichts auszumachen oder sich wenigstens nicht nachteilig auf ihn auszuwirken. Wenn ich mit ihm zusammen bin, habe ich keine Angst, weder vor mir noch vor meiner Kraft.«
Sie presste ihren Daumen tief in die Mitte ihrer linken Handfläche. »Er bringt mich zum Lachen. Und ich fühle mich schön, wenn ich mit ihm zusammen bin, sogar ungeschminkt und in Jeans und T-Shirt. Ich kann nicht direkt behaupten, dass er gut aussieht, aber er ist ungeheuer männlich und unwiderstehlich. In meinen Augen ist er der schärfste Mann, dem ich jemals begegnet bin.«
Sie legte das Geständnis rasch ab und ihre Worte überschlugen sich. Sie hatte den Begriff Seelenverwandter nicht benutzt, aber als genau das empfand sie ihn. Sie wusste nicht, ob sie jemals wieder mit ihm reden würde, und sie wusste auch nicht, wie sie das deuten sollte, was sich zwischen ihm und Levi abgespielt hatte. Aber das machte ihre Worte nicht weniger wahr.
»Wow«, sagte Airiana im Namen aller. Sie war reichlich perplex.
Judith nickte. »Du sagst es. Als ich ihn das erste Mal gesehen habe, hat mir sein Anblick den Atem verschlagen. Er stand im Schatten und ich schwöre, dass die Erde gebebt hat, als wir einander in die Augen gesehen haben. Ich wusste es. Schon in dem Moment wusste ich, dass er es ist und dass er es von Anfang an hätte sein sollen.«
Sie rieb ihre Hände aneinander und presste ihren Daumen fester auf ihre Handfläche, eine Geste, die irgendwie beschwichtigend auf sie wirkte. »Ich weiß, dass das seltsam klingt, aber so war es nun mal. Ich war überhaupt nicht darauf vorbereitet. Ich war spät dran und in Eile, und dann habe ich aufgeblickt und es war, als sei er in meinen Geist eingedrungen und hätte jeden einsamen Fleck in mir ausgefüllt. Ich sollte dem nicht trauen, das weiß ich verstandesmäßig selbst, aber es scheint so, als könnte ich ihm einfach nicht widerstehen.«
»So etwas kann passieren«, sagte Blythe. »Und vielleicht war er von vornherein für dich bestimmt, wie du es sagst, und ihr seid Seelenverwandte, aber sieh dich vor, Judith.« Sie beugte sich näher zu ihr vor und sah ihr eindringlich in die Augen. »Schätzchen, vorsichtig solltest du trotzdem sein. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass selbst dann, wenn alles in dir mit absoluter Sicherheit weiß, dass er der Richtige sein sollte, dass er der Richtige ist, nicht immer alles so ausgeht, wie es sollte.«
»Wenn ich mit ihm zusammen bin, fürchte ich mich nicht vor mir selbst, und es kommt mir so vor, als könnte er mich sehen. Er kann in mich hineinschauen und er fürchtet sich nicht vor meiner Kraft«, platzte Judith heraus, denn sie wollte, dass sie alle es verstanden, aber insbesondere Blythe. Es war wichtig, dass Blythe sie verstand, denn sie befürchtete, wenn sie Thomas wiedersähe, würde sie, möge ihr Gott beistehen, von Neuem von dieser Klippe fallen. Selbst wenn sie alle der Meinung waren, sie sei verrückt, und es ihr auch sagten, würde sie trotzdem springen.
Sie sah Blythe mit einem gequälten Blick in die Augen. Sie brauchte es, von ihr verstanden zu werden. Die Frauen, die mit ihr in diesem Zimmer waren, waren die Menschen, die sie liebte, ihre Familie – alles, was ihr auf der Welt geblieben war. Wenn sie einen furchtbaren Fehler machte, würden sie es ihr sagen, weil sie sie liebten, aber sie wusste nicht, ob sie die Kraft aufbrachte, ihm zu widerstehen, wenn er noch einmal zu ihr kam.
»Geh es langsam an, Kleines«, sagte Lissa. »Stell ihn uns vor.«
»Blythe hat ihn schon kennen gelernt«, verteidigte sich Judith eilig und kam sich dann albern vor. Sie biss sich auf die Unterlippe. »Da seht ihr es. Ihr braucht euch doch nur anzusehen, wie ich mich benehme. Und selbst wenn er alles ist, was er zu sein scheint, der perfekte Mann für mich, was ist mit Jean-Claude? Ich weiß, wozu Jean-Claude fähig ist. Findet ihr es etwa richtig, dass ich Thomas in Gefahr bringe? Jonas hat mir gesagt, diese Fotos von Thomas und mir seien bereits ins Gefängnis geschickt worden.«
»Dann nehmen die Dinge ohnehin ihren Lauf, oder etwa nicht?«, sagte Lissa. »Sag deinem Thomas die Wahrheit und lass ihn entscheiden, ob er das Risiko eingehen will oder nicht. Du bist nur für dich selbst und für deine Entscheidungen verantwortlich, Judith. Thomas muss seine eigenen Entscheidungen treffen und Jean-Claudes Sünden sind ganz allein seine.«
»Wenn du das sagst, klingt es ganz einfach, dabei ist es in Wirklichkeit so kompliziert«, sagte Judith.
»Weil du Angst hast«, sagte Rikki und schockierte Judith mit diesen Worten.
Rikki zuckte die Achseln und stellte ihre Teetasse hin. »Ich weiß, dass du Angst hast, weil ich selbst Angst hatte. Es ist sehr beängstigend, einen neuen Mann in dein Leben einzulassen, zumal du weißt, dass du ihn auch in das Leben von uns allen hineinziehst. Das hier ist unser Zuhause. Würde er hierher passen? Würde er seinen Teil beitragen und diesen Ort und uns alle lieben? Selbst wenn die Beziehung brandneu ist, ist es erschreckend, wenn du weißt, dass dein Leben anders und kompliziert sein wird und dass du diejenige sein wirst, die auch das Leben aller anderen komplizierter macht.«
»Wie wahr«, gab Judith zu. »Und ich bin ein Feigling. Ich will nicht verletzt werden. Als ich dahintergekommen bin, was Jean-Claude war, ist mir klar geworden, dass ich eine Illusion geliebt habe, nicht den Mann. Er war restlos in meine Liebe zur Kunst und in die romantischen Vorstellungen verstrickt, die man sich von Paris macht, und ich war in dieser Phantasie gefangen. Thomas ist für mich real, und obwohl ich ihn noch nicht lange kenne, bin ich in seinem Geist gewesen, und ich fühle ihn in mir. Ich war in seinem Innern und wir passen zusammen. Ich fürchte, wenn er mir das Herz bricht, werde ich nicht in der Lage sein, wieder auf die Füße zu kommen.« Sie sah Blythe in die Augen.
Blythe nickte, doch in ihren Augen standen Tränen. »Ich verstehe dich, Judith. Geh es langsam an. Vergewissere dich, dass er der Mann ist, von dem dein Herz dir sagt, er sei es.«