4.
Sowie Stefan aus der Galerie in die kühle Nacht hinaustrat, wusste er, dass er in den größten Schwierigkeiten seines bisherigen Lebens steckte. Vielleicht hatte sein Leben noch nie so sehr in Gefahr geschwebt. Es ging ihm nicht um den Scharfschützen, der ihn im Fadenkreuz hatte, oder um das Jucken im Nacken, das ihm sagte, dass sich der Todesschütze eindeutig in dem kleinen Küstenort Sea Haven aufhielt. Er war Agent und mehr oder weniger von Geburt an dazu ausgebildet worden, Menschen, seine Umgebung und alles und jedes als Werkzeuge zu benutzen – und trotzdem hatte er sich instinktiv und ohne jede Überlegung zwischen Judith Henderson und die Kugel eines Scharfschützen gebracht, statt ihren Körper als Schutzschild für sich zu nutzen.
Er erstarrte vor Schreck. Was zum Teufel hatte er gerade getan? Was war los mit ihm? Da stimmte doch etwas nicht. Er stand total ungeschützt da, schirmte sie mit seinem Körper ab und war in ihren Duft eingehüllt. Der Wind zog an ihren Haaren und wehte Strähnen nach hinten, die verführerisch über seine Haut glitten. Sein eigenes Vorgehen verblüffte ihn, schockierte ihn, entsetzte ihn sogar, doch seine Füße wollten sich nicht von der Stelle rühren. Eine schnelle Bewegung genügte und er wäre auf der anderen Seite und hätte ihren Körper zwischen sich und den Wasserturm gebracht, auf dem, wie er mit Sicherheit wusste, Petr Ivanov mit einem Gewehr und einem Zielfernrohr lag. Petr war da – Stefan konnte ihn fühlen. Er fühlte die glitschige Brühe einer Bedrohung, die ihn jedes Mal warnte, eine seiner zahlreichen übersinnlichen Gaben. Trotzdem rührte er sich nicht vom Fleck. Wo zum Teufel war sein eingefleischter Selbsterhaltungstrieb geblieben? Jahre des Survivaltrainings? Sein gesamtes Know-how?
Warnglocken schrillten in seinem Inneren. Seine linke Handfläche juckte so grässlich, dass er sie an seinem Oberschenkel rieb. Er blieb, wo er war, als hätten seine Füße Wurzeln geschlagen. Sein Herz pochte und er schmeckte Leidenschaft in seinem Mund, eine Frucht, die ihm völlig fremd war, die er aber dennoch augenblicklich erkannte. Judith. Sie füllte die gesamte Leere in ihm aus. Irgendwie hatte sie sich in der kurzen Zeit, die er mit ihr verbracht hatte, in ihn verströmt und ihm etwas gegeben, was er sich nie ausgemalt hatte: Hoffnung. Sie stand für das Leben. Ein wirkliches Leben.
Ihm war bewusst, dass sich rechts von ihnen Menschen über den Gehsteig bewegten. Sie kamen aus der Richtung des Wasserturms. Er könnte es schaffen, die kleine Menge als Schild zu benutzen und einen Bogen zu schlagen, um hinter Ivanov zu gelangen. Wenn das klappte, würde er Ivanov zu seinem Bau zurückverfolgen und ihn töten. Die Beseitigung der Leiche würde nicht schwierig sein und das würde ihm Zeit geben, seinen Bruder zu finden, ohne befürchten zu müssen, dass er ihn einem Eliminator auslieferte.
Aber im Moment war es das oberste Gebot in seinem Leben, Judith zu beschützen. Er sorgte weiterhin dafür, dass sein Körper zwischen dem Scharfschützen und Judith war. Sein Verstand verlangte eine Antwort darauf, was zum Teufel er tat, aber sein Körper rührte sich nicht vom Fleck.
Er bezweifelte, dass Ivanov einen Schuss auf ihn abgeben würde, selbst dann, wenn er eine freie Schusslinie hatte. Es war noch zu früh. Der Mörder wollte Lev. Sein Bruder war hier verschwunden und galt als tot, und Petr Ivanov kaufte es ihm nicht ab. Sein Plan bestand darin, beide Prakenskij-Brüder zu töten, nicht nur Stefan. Daher würde er nicht schießen, aber Stefans Selbsterhaltungstrieb hätte ihn trotzdem zwingen müssen, sich zu rühren. Doch das war ihm unmöglich und das grässliche Jucken in seinem Nacken wurde stärker.
Diese verfluchte Frau. Warum zum Teufel brauchte sie so lange? »Brauchen Sie Hilfe?«, erbot er sich höflich und blieb in der Rolle von Thomas Vincent.
»Das Schloss scheint zu klemmen.«
Judith warf ihm über ihre Schulter einen Blick zu und sein Herzschlag hätte beinah ausgesetzt. Das seidige Haar fiel ihr so ins Gesicht, dass es unglaublich verlockend war. Ihr Blick glitt über ihn und für einen Moment schien die Zeit stillzustehen. Er war nicht der Einzige, der Leidenschaft in seinem Mund schmeckte; sie stand auch in ihren Augen. In ihren früheren Gemälden hatte er Spuren von Feuer entdeckt und er hatte sich nicht getäuscht. Ganz gleich, wie gelassen und beherrscht sie sich gab – das Feuer war da, loderte unter der Oberfläche und war bereit für den richtigen Mann, der es hervorholte.
Er wich abrupt vor seinen eigenen Gedanken zurück. Welcher richtige Mann? Er war für keine Frau der richtige Mann. Er lebte in einer anderen Welt, die weit von dieser hier entfernt war, und er hatte kein Recht zu glauben, eine Frau wie Judith Henderson könnte ihm gehören. Noch nicht einmal in seiner Phantasie – und doch rührte er sich nicht von der Stelle, nicht einmal einen Zentimeter.
»Lassen Sie es mich mal versuchen.« Er wartete nicht darauf, dass sie zur Seite trat, sondern griff mit beiden Armen um sie herum, hielt sie zwischen der Tür und seinem Körper gefangen und achtete sorgsam darauf, sie vor Ivanovs Zielfernrohr zu verbergen, während er ihr den Schlüssel aus der Hand nahm.
Seine Finger streiften ihre. Ein Ruck durchfuhr ihn mit erschütternder Heftigkeit, als sei ein Blitz in ihn eingeschlagen. Sie war beängstigender als jeder Feind, an den er sich jemals angeschlichen hatte, um ihn zu töten. Sie berührte ihn, den nichts jemals berührt hatte. Sie erstarrte vollständig, als er sie in seinen Armen gefangen hielt, doch er fühlte jeden ihrer Atemzüge. Glut strömte durch seine Adern und setzte sich wie eine Feuerkugel in seinen Lenden fest. Bisher hatte er Sex als wirksame Waffe eingesetzt, ein perfektes Werkzeug, um Informationen an sich zu bringen. Er hatte seinen Körper beherrscht, eine Erektion dann zugelassen, wenn sie gebraucht wurde, und sie so lange aufrechterhalten, wie es nötig war. Aber er konnte sich nicht daran erinnern, dass sein Körper jemals so auf eine Frau reagiert hatte, wie er es jetzt tat, fast so, als hätte er einen eigenen Willen.
Dieses seltsame und absolut einzigartige Phänomen war schockierend und beglückend zugleich. Er war nie Achterbahn gefahren, aber jetzt kam er sich fast so vor wie auf einer Achterbahnfahrt – restlos aus dem Gleichgewicht gebracht. Er wusste nicht mehr, wo oben und wo unten war, und er war kaum noch fähig zu atmen. Seine Lunge schien ausgehungert nach Luft zu sein. Er nahm alles an ihr bewusst wahr, Strähnen ihres Haars, die Länge ihrer Wimpern, den Spalt zwischen ihren leicht geöffneten Lippen, ihre Brüste, die sich hoben und senkten, während er den Schlüssel in das Schloss stieß und mehrfach daran herumruckelte, um den Schließmechanismus zu betätigen.
»Ich muss schon sagen, Judith«, gestand er ihr, halb Stefan und halb Thomas, »dass mir das Atmen zunehmend schwerer fällt.«
Er erwartete, dass sie ihn von sich stoßen würde. Alles tun würde, um sich zu retten – oder ihn. Vielleicht war sie sich der Gefahr nicht bewusst, in der sie schwebte, und das hatte nicht das Geringste mit der Kugel im Gewehr eines Scharfschützen zu tun.
»Das ist mir auch schon aufgefallen. Meine Lunge brennt ebenfalls.«
Er stöhnte. Mit ihrer Aufrichtigkeit würde sie ihn noch umbringen. Er war kein aufrichtiger Mann. Er wusste noch nicht einmal, ob er sie im Moment tatsächlich vorsätzlich manipulierte. Eigentlich hatte er keine Ahnung mehr, wer er war. Judith schien nichts mit ihm gemeinsam zu haben, wenn sie nicht gar von einem anderen Planeten stammte; sie war alles, was er nicht war und niemals sein konnte. Sie war echt, sie war sanft, sie war leidenschaftlich.
Er dagegen bestand nur aus harten Kanten und Schatten. Er machte sich keine Vorstellung von der Art von Welt, in der sie lebte. Seine Welt war gewalttätig und hässlich. Darin gab es kein Gelächter und keine Aufrichtigkeit. Das Schloss schnappte mit einem dumpfen Laut ein und er hatte keinen Grund mehr, sie in seinen Armen gefangen zu halten. Aber er rückte nicht von ihr ab, als er ihr den Schlüssel zurückgab.
»Ich kann nicht gut mit Frauen umgehen.« Das war eine unverfrorene Lüge, denn er manipulierte Frauen ohne jede Anstrengung. Es mochte zwar sein, dass Thomas Vincent nicht gut mit Frauen umgehen konnte, aber Stefan setzte Sex als Waffe ein und verführte eine Frau dazu, ihm alles zu geben, was er wollte. Alles, was er wollte. Dabei hatte er seinen Körper immer vollständig unter Kontrolle gehabt – bis er Judith begegnet war.
Es sollte ihm absolut keine Probleme bereiten, eine gewaltige – und schmerzhafte – Erektion zu unterdrücken, die nur daher kam, dass er ihren einmaligen Duft tief in seine Lunge einsog. Oder all dieses seidige Haar berührte.
»Ich kann auch nicht allzu gut mit Männern umgehen«, vertraute sie ihm an.
Sein Blick nahm ihren gefangen und hielt ihn fest. In der Intimität der Nacht kam es Stefan so vor, als hätte sich die Welt auf den Kopf gestellt. In Sea Haven gab es stärkere Kräfte, als ihm klar gewesen war – oder in dieser Frau. Er war auf einen Kampf vorbereitet gewesen, als er hierhergekommen war, aber nicht auf diese langsame Verführung seiner gesamten Sinne. Er fühlte nichts. Ihm war es nicht gestattet, etwas zu fühlen, und doch war er jetzt, als sein Körper nur um Haaresbreite von ihrem entfernt war, lebendiger als jemals zuvor.
Er drückte ihr den Schlüssel in die Hand und überprüfte, ob die Tür abgeschlossen war, ehe er sich langsam und nahezu widerstrebend aufrichtete. Er konnte sich noch nicht ganz von ihr lösen und ließ den Blickkontakt keinen Moment lang abreißen. Stefan legte eine Hand behutsam neben ihren Scheitel und beugte sich die wenigen fehlenden Zentimeter vor, bis ihre Brüste um Haaresbreite seinen Brustkorb berührten.
»Das ist mir noch nie in meinem ganzen Leben passiert.« Die Aufrichtigkeit in seiner Stimme konnte ihr nicht entgehen. Es war die nackte Wahrheit. »Ich weiß noch nicht mal, was zum Teufel hier passiert.« Hier sprach eindeutig Stefan Prakenskij und er zuckte zusammen. Es war eine Beschuldigung. Ein Knurren. Eine Forderung, die Wahrheit zu erfahren – und, was noch schlimmer war, er fiel als schüchterner Thomas aus der Rolle.
War sie eine Agentin, die so verflucht gut war, dass er keine Chance gegen sie hatte? Hatte sie Jean-Claude ebenso mühelos übertölpelt? Er hatte mit eigenen Augen gesehen, wie besessen Jean-Claude von ihr war, und trotzdem war er in dieselbe Falle getappt und hatte sich von ihr einfangen lassen.
Sie hob eine zitternde Hand und ihre Finger strichen beinah über sein Gesicht, ehe sie sich zurückhielt. »Ich weiß auch nicht, was hier passiert, Thomas. Was auch immer es ist, es darf nicht passieren. Das täte ich Ihnen nicht an.«
Ihre Worte waren so aufrichtig wie seine Worte. Sie hielt sich selbst für diejenige, die in den Schatten lebte. Sie verbarg sich hinter diesem reizenden Auftreten und hielt die echte Judith hinter einer Mauer gefangen, still und erstarrt, und sie weigerte sich, diese Mauer einzureißen. Sie hatte Angst vor sich selbst, vor derjenigen, die sie in Wirklichkeit war. Er sah sie und wusste, dass andere niemals das glimmende Feuer wahrnehmen würden, das sie so tief in sich begraben hatte. Das Feuer und noch etwas anderes – eine lebensgefährliche Kraft, die sich mit ihrem Gegenstück in Verbindung setzen wollte, der gefährlichen Kraft in ihm.
Sie hatte Angst – um ihn. Sie hatte Angst vor sich selbst. Und das sagte ihm viel mehr als alles, was sie in Worten hätte eingestehen können. Sie besaß große Macht und war es nicht gewohnt, sie auszuüben. Was also war es? Was könnte sie fürchten?
»Wir kriegen das schon hin, Judith«, beteuerte er ihr, von dem Drang getrieben, dieser Mann für sie zu sein, der eine Mann, dem sie furchtlos die Wahrheit sagen konnte. Er musste unbedingt der Mann sein, der sie aus den Krallen dieser Furcht befreite, die sie mit aller Kraft in ihrem Innern festhielt. Er hatte noch nie das Bedürfnis verspürt, jemanden zu beschützen oder jemanden zu retten. Was war das bloß, was sie an sich hatte und was ihm derart unter die Haut ging?
Sie erschauerte und senkte den Kopf, doch er hatte bereits einen Blick auf das Grauen geworfen, das sich plötzlich in ihren Augen gezeigt hatte. Sie sah nur einen Moment lang weg und wandte sich ihm gleich wieder zu, aber er hatte bereits die echte Judith gesehen.
Sie zog die Schultern zurück, reckte ihr Kinn in die Luft und sah ihm mutig in die Augen. »Ich bin kein guter Mensch, Thomas. Was auch immer das zwischen uns ist, Sie müssen wissen, dass es zu nichts führen kann. Es wird zu nichts führen. Sie scheinen ein anständiger Mann zu sein. Ich werde mit Ihnen zusammenarbeiten, wenn Sie wirklich daran interessiert sind, die Galerie zu erwerben, und ich bin gern bereit, Sie mit den Leuten hier bekannt zu machen, aber Sie müssen wissen, dass nie mehr daraus werden darf.«
Ihre körperliche Anziehungskraft auf ihn war enorm. Er fühlte sich auch von ihren übersinnlichen Kräften angezogen, worin auch immer sie bestehen mochten, aber jetzt schlich sich noch etwas anderes ein und machte es umso gefährlicher für ihn, in ihrer Gesellschaft zu sein: Bewunderung. Und Respekt. Und er verspürte das übermächtige Verlangen, ein besserer Mensch zu sein. Ein Held, der auf einem weißen Ross angeritten kam und eine wunderschöne Frau mit kummervollen Augen rettete.
Bedauerlicherweise war Stefan Prakenskij kein solcher Mann. Er war vielmehr einer, der Frauen täuschte, sie ins Visier nahm, sie als Werkzeuge für sein Gewerbe nutzte und sie beiseitewarf, ohne sich größere Gedanken darüber zu machen. Er bewohnte nicht einmal dieselbe Welt, in der eine Frau wie Judith lebte. Sie mochte zwar glauben, sie sei kein guter Mensch, aber sie hatte ihm ihre Verletzbarkeit gezeigt, und ein Mann wie Stefan sprang in eine solche Bresche und nutzte sie für seine Zwecke.
Er machte sich keine Sorgen, Petr Ivanov könnte übermäßiges Interesse an Judith zeigen, da er glauben würde, Stefan benutzte sie dafür, seine angenommene Identität zu festigen und ihn in das Gemeinschaftsleben des Küstenortes einzugliedern. »Ich verstehe. Ich weiß auch nicht, was das zwischen uns ist, Judith«, sagte er, und seine linke Handfläche juckte, bis ihm gar nichts anderes mehr übrigblieb, als sie an seinem Oberschenkel zu reiben, damit er sich nicht lächerlich machte und mit beiden Händen durch die verführerische rote Seide ihre Brüste packte. Trotz – oder vielleicht gerade wegen – der Behauptung, die sie aufgestellt hatte, verspürte er das dringende Verlangen, sich die wenigen fehlenden Zentimeter vorzubeugen, um ihre Lippen zu kosten.
»Ich rechne nicht damit, dass etwas passiert, aber ich glaube Ihnen nicht, dass Sie kein guter Mensch sind. Ich habe einen sechsten Sinn für diese Dinge.« War das Thomas Vincent, der das gesagt hatte? Stefan Prakenskij hätte sich genommen, was er wollte – und er wollte Judith. Dieses Begehren verwandelte sich in etwas sehr Gefährliches.
Abrupt ließ er einen Arm sinken und trat einen Schritt zurück. Er zwang sich, wieder in die Rolle des schüchternen Thomas zu schlüpfen, da er wusste, dass dieser Mann für sie beide ungefährlicher war.
Judith Henderson zwang ihn, sein Leben zu bewerten und zu überdenken, was er wollte. Er hatte die ganze Welt gesehen, und auf irgendeiner Ebene hatte er, ohne sich dessen bewusst zu sein, nach etwas gesucht, das seinem Leben einen Sinn verlieh. Er war eine Maschine, ein Apparat, der in den Schatten beheimatet war, und als er sie jetzt ansah, erkannte er, dass er sich immer noch einen kleinen Hoffnungsschimmer bewahrt hatte. Seine Ausbilder hatten seine wahre Persönlichkeit nicht vollständig ausgemerzt. Ein winziger Funke war zurückgeblieben, nicht mehr als ein glimmendes Bröckchen Kohle, aber es war da, vor allen verborgen, und glühte tapfer weiter.
»Ich bringe Sie zu Ihrem Wagen.« Es war notwendig klarzustellen, dass Thomas Vincent ein Mann war, der eine Frau zu ihrem Wagen oder bis zu ihrer Haustür begleitete und auf ihre Sicherheit bedacht war. Das würde es Stefan gestatten, sie weiterhin vor Ivanov zu beschützen, und wenn er sich selbst gegenüber ehrlich war, diente es auch dazu, noch etwas mehr Zeit in ihrer Gesellschaft zu verbringen.
»Das ist nicht nötig, obwohl es sicher nett gemeint ist. Sea Haven hat nicht gerade eine hohe Verbrechensquote.«
»Ich begleite Sie zu Ihrem Wagen«, sagte er mit Nachdruck, wobei ihm ganz egal war, ob das mehr nach Stefan oder nach Thomas klang. Er würde sie nicht allein über die Straße laufen lassen, wenn jede Sekunde eine Kugel in sie einschlagen könnte. »Wo haben Sie geparkt?«
»Hier in der Straße, ein paar Läden weiter auf der linken Seite.«
Natürlich hatte sie ausgerechnet dort geparkt. Das hieß, dass sie auf den Turm zugingen, in dem sich Ivanov verschanzt hatte. Stefan sandte ein stummes Stoßgebet zu einem Gott hinauf, an den er nicht glaubte und in den er auch kein Vertrauen setzte. Trotzdem bat er ihn, er möge die Situation akkurat eingeschätzt haben und Ivanov würde nicht abdrücken und ihn jetzt gleich töten. Er lief neben Judith her und seine Blicke glitten aus Gewohnheit unermüdlich über die Dächer und tauchten in all die kleinen Innenhöfe von Gebäuden ein, die in liebevoll ausgestattete Geschäfte führten.
Er achtete sorgsam darauf, seine Hände frei zu haben, während er über die Straße lief. In einem Abstand von wenigen Sekunden kehrte sein Blick zu dem Turm und den umliegenden Dächern zurück. Das war eine Gewohnheit, und wenn Ivanov ihn durch das Nachtsichtgerät beobachtete, würde er genau dieses Verhalten erwarten.
In einem kleinen Innenhof, der zu weiteren Geschäften führte, stand leicht zurückversetzt von den Gebäuden eine Holzbank. Ein Obdachloser saß nicht etwa auf der Bank, sondern auf dem Boden und lehnte zusammengekauert an dem Gebäude. Er beobachtete schlicht und einfach das Meer, das weiße Gischt hoch in die Luft aufsprühen ließ, wenn es gegen die Klippen schlug.
Ein paar Häuser weiter schien sich die kleine Schar der Weinverkoster vor der Tür eines Ladens versammelt zu haben; alle redeten gleichzeitig und lachten und nahmen ihm damit jede Chance, Geräusche aufzuschnappen, die ihm dabei geholfen hätten, Ivanovs exakten Standort zu bestimmen. Für ihn bestand kein Zweifel mehr daran, dass eine Waffe auf ihn gerichtet war, denn der Radar seines Körpers bestätigte es ihm. Der Feind war dort draußen und beobachtete ihn.
Er drehte seinen Kopf zu Judith um, beugte sich ein wenig zu ihr hinunter, lächelte und hörte ihr zu und machte sich gleichzeitig an eine Bestandsaufnahme jeder möglichen Deckung zwischen ihnen und Judiths Wagen. Maßnahmen zur Selbsterhaltung erfolgten bei ihm automatisch; sie waren ihm in Fleisch und Blut übergegangen und er würde immer das Kennzeichen jedes Fahrzeugs um ihn herum wahrnehmen, die Gebäude und die Landschaft, den natürlichen Fluss seiner Umgebung. Er war wie ein Chamäleon, das sich anpasste, um nicht aufzufallen, eine Schlange, die eine Haut nach der anderen abwarf, da sie mühelos nachwuchs – ein Schatten ohne eigene Substanz.
Sie näherten sich dem Obdachlosen. Der Mann hatte eine Hand in seiner Jacke, wo er problemlos eine Waffe verbergen könnte. Stefan gestattete seinem Blick, über den Mann zu gleiten und jede Einzelheit wahrzunehmen. In den letzten zwei Wochen, während er den Ort ausgekundschaftet hatte, hatte er ihn täglich irgendwo gesehen und viele Male mit ihm gesprochen. Oft waren die Menschen, die auf der Straße lebten, über jeden Fremden informiert, der in den Ort kam, und es erwies sich häufig als nützlich, gute Beziehungen zu ihnen zu unterhalten. Außerdem wäre es einfach und keine schlechte Tarnung gewesen, in die Rolle eines Obdachlosen zu schlüpfen. Ivanov war eine solche Tarnung durchaus zuzutrauen und das war der Grund dafür, dass sich Stefan mit jedem Obdachlosen in der kleinen Ortschaft bekannt gemacht hatte.
Er hielt sich am äußeren Straßenrand, etwas, was er normalerweise niemals getan hätte. Er war jetzt in höchster Alarmbereitschaft. Wenn er sich irrte und Ivanov nicht im Wasserturm oder auf einem Hausdach war, wäre er in der Rolle als Obdachloser nah an sein Ziel herangekommen. Stefan hatte sein Messer im Ärmel stecken und konnte es werfen, bevor Ivanov einen Schuss abgeben konnte. Der Obdachlose roch wie sonst und sah auch so aus, aber ein Profi brächte auch das zustande.
»Einen Moment, Thomas.« Judith berührte seinen Arm, als sie sich dem kleinen Hof näherten.
Die zarte Berührung ihrer Finger war kaum zu spüren, doch er fühlte Wärme in sich eindringen, die seine Konzentration beeinträchtigte – und das durfte er nicht zulassen. So etwas hatte er noch nie erlebt. Ganz gleich, was um ihn herum vorging oder wer bei ihm war – sein Leben drehte sich ausschließlich um die Jagd und das Überleben.
Stefan wusste nicht, ob er sie in die nächste dunkle Gasse zerren, sie an eine Hauswand pressen und sie küssen sollte, bis sie genauso besinnungslos war, wie er es zu sein schien, oder ob er ihren Kopf mit beiden Händen packen und fest genug daran reißen sollte, um ihr das Genick zu brechen, weil er die Nase von diesem Zirkus voll hatte. Instinktiv ließ er sich einen Schritt zurückfallen, gerade weit genug, um seinen Posten zu beziehen. Sein Magen verkrampfte sich. Der Schraubstock war wieder da und zerquetschte sein Herz, bis seine Brust schmerzte. Dieser Gedanke ließ ihn stutzen. Wie hoffnungslos war er ihr bereits verfallen, wenn er so verflucht verzweifelt war? Sein Selbsterhaltungstrieb und sämtliche Instinkte drängten ihn mit einem schrillen Schrei, schleunigst den Rückzug anzutreten, solange er es noch konnte.
»Es dauert nur einen Moment«, sagte Judith, die nicht merkte, dass ihr Leben an einem seidenen Faden hing.
Innerlich verfluchte er sich für seine Unfähigkeit zu überwinden, wer und was er war – sogar bei einer Unschuldigen. Er hatte einen Radar für den Feind, ob Mann oder Frau, und dieser Radar hatte ihn bisher nicht ein einziges Mal im Stich gelassen. Sie war nicht das, was sie vor aller Welt verkörperte; in ihr waren zu viele Gefühle angestaut, die sie der Welt vorenthielt. Er sah sie tief unter der Oberfläche glimmen. Verdammt noch mal, sie hatte ihn total durcheinandergebracht und ihn in ein Chaos voller Widersprüche gestürzt, etwas, was er noch vor wenigen Stunden für unmöglich gehalten hätte.
Sie beugte sich hinunter, um mit dem Mann zu sprechen, der auf dem Boden saß. »Ist Ihnen warm genug, Bill?«
Er nickte. »Blythe hat mir Socken und neue Stiefel gebracht.« Er deutete auf seine Füße, die unter seiner Decke herausschauten. »Die letzten Tage hatten wir schönes Wetter.« Sein Blick wanderte zu Stefan und wandte sich sofort wieder ab. »Ich habe heute den Teufel gesehen. Er stand auf der anderen Straßenseite, dort drüben.« Er deutete auf das Geländer, das die Straße von den Klippen trennte. »Der Teufel hatte den Tod in den Augen.«
Judith sah ihn stirnrunzelnd an. »Ich weiß nicht, was das heißen soll.«
»Wie der da.« Bill deutete auf Stefan. »Er hat den Tod in den Augen.«
Judith blickte mit einer Spur von Hilflosigkeit zu Stefan auf und schüttelte den Kopf, als wollte sie sich für diesen Vorwurf entschuldigen. Diese kleine Beobachtung sagte Stefan mehr über den alten Mann, als er in den letzten zwei Wochen erfahren hatte. Höchstwahrscheinlich besaß er übersinnliche Gaben, und das war mit ziemlicher Sicherheit der Grund, weshalb ihn Sea Haven angelockt hatte; außerdem war er zu irgendeiner Zeit auf die eine oder andere Weise Soldat gewesen und hatte wahrscheinlich im Vietnamkrieg gedient.
»Bill, möchten Sie, dass ich Sie ins Krankenhaus bringe?«
Stefan war klar, dass sie glaubte, der alte Mann sei krank, aber Bill hatte zweifellos Petr Ivanov mit seinen toten Augen gesehen und ihn als einen Psychopathen erkannt. Den Eliminator konnte man leicht mit dem Teufel gleichsetzen, der den Tod mit sich herumtrug. Er wollte nicht näher darüber nachdenken, was dieser Mann in seinen eigenen Augen gesehen hatte.
Bill schüttelte den Kopf und schreckte zurück, als sei die Vorstellung, ins Krankenhaus zu gehen, viel schlimmer, als dem Teufel ins Gesicht zu sehen, und vielleicht traf das für ihn ja zu.
»Haben Sie heute etwas gegessen?«
Bill nickte. »Ich habe im Laden und im Café noch was gut.«
Judith lächelte ihn an. »Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend, Bill.«
»Ihnen auch, Miss Judith«, murmelte der alte Mann.
Stefan erkannte deutlich, dass Bills Zuneigung echt war. Er mochte Judith wirklich. Es hatte ihn geballte Anstrengung gekostet, den Mann im Lauf der Zeit dazu zu bringen, dass er überhaupt ein paar Worte mit ihm wechselte, aber über einen Austausch von Höflichkeiten war es nicht hinausgegangen. Der gelegentliche heiße Kaffee mit frischem Gebäck hatte nicht genügt, um seine Zunge zu lösen.
»Das, was er über Sie gesagt hat, tut mir leid«, sagte Judith. »Manchmal ist er verwirrt. Er lebt schon seit Jahren auf der Straße. Jeder steuert etwas bei, sogar die älteren Gymnasiasten. Sie zahlen in den Geschäften kleine Beträge für ihn ein. Er ist allerdings nicht bereit, viel Hilfe anzunehmen. Er hat mehrere Schlafplätze und will nicht in ein Obdachlosenheim gehen, was nicht heißen soll, dass wir hier eines hätten.« Sie seufzte. »Es gibt so gut wie keine Hilfe für solche Leute.«
»Er will keine Hilfe«, erwiderte Stefan aufrichtig. »Er ist frei. Er lebt so, wie er leben will.«
Sie schwieg einen Moment lang und lief ein paar Schritte, ehe sie wieder zu ihm aufblickte. »Meinen Sie? Er war schon hier, als ich hergekommen bin, und Inez sagt, er war schon zwanzig Jahre vorher da. Er ist tatsächlich hier zur Schule gegangen und war dann eine Zeitlang fort. Als er zurückkam …« Sie zuckte die Achseln.
»Er hat das Recht, selbst zu entscheiden. Er hat für dieses Recht gekämpft und es steht ihm zu, das zu tun, was er tun will. Wenn er die Entscheidung trifft, zwei Tage lang in der Sonne zu sitzen, ohne sich zu rühren, dann hat er das Gefühl, das Richtige zu tun.«
Judith warf sich das Haar über die Schulter und sah ihm in die Augen. Auch diesmal nahm er wieder diese seltsame, beunruhigende Reaktion in seiner Magengrube wahr.
»So habe ich das noch nie gesehen. Ich denke immer, er ist traurig, und dann fühle ich mich schlecht und wünschte, ich fände eine Möglichkeit, ihm zu einem besseren Leben zu verhelfen.«
Stefans Hand legte sich gegen seinen Willen auf ihr Kreuz, eine Geste, die für jeden außer ihm ganz natürlich gewesen wäre. Die linke Hand. Die mit der juckenden Handfläche. So wie er sie berührte, ließ das Jucken nach. Aber das änderte nichts an der Tatsache, dass es nicht anging, seinen Selbstschutz zu gefährden. Er berührte niemanden und niemand berührte ihn. Er ärgerte sich über diesen irrationalen Drang. Er tat keine Dinge, die ihn das Leben kosten konnten.
Er biss die Zähne zusammen, versagte sich aber nicht den Körperkontakt. Es war ein Alptraum. Ihre Stimme hatte so hilflos geklungen, so verloren. In Bedrängnis. Was zum Teufel dachte er sich bloß? Wenn hier jemand in Bedrängnis war, dann wäre er das. Er hatte seine Seele schon vor langer Zeit verloren, und doch bildete er sich jetzt ein, er würde der Mann sein, der den Kummer aus ihren Augen vertreiben konnte. Der Mann, der ihr Schutzschild sein würde, damit sie nie mehr Angst davor zu haben brauchte, ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen.
Er wollte der Mann sein, der ihr die Freiheit schenkte, der Mann, zu dem sie sich mitten in der Nacht umdrehte. Derjenige, der das Recht hatte, sie zu berühren, sie in seinen Armen zu halten und für ihre Sicherheit zu sorgen. Er würde den traurigen Ausdruck von ihrem Gesicht küssen und sie lieben, bis sie nur noch mit ihren prachtvollen Augen zu ihm aufblicken konnte und wirklich glücklich war. Anstatt so zu tun oder vereinzelte Momente des Glücks zu finden, die nichts weiter waren als kleine Einschlüsse von Glück.
Er fluchte tonlos, als sie weiterliefen. Judith war nicht von ihm abgerückt und hatte ihn auch nicht vorwurfsvoll angesehen. Wo zum Teufel steckte ihr Selbsterhaltungstrieb?
»Sie tragen nicht gerade viel dazu bei, uns zu retten«, sagte er anklagend.
Diese dunklen Augen glitten über ihn und dann senkten sich ihre langen Wimpern. »Ich weiß«, gestand sie mit gesenkter Stimme. »Ich tue nur so. Nur dieses eine Mal.«
Sein Herz schlug höher. Sie brauchte ihm nicht zu erklären, was sie meinte. Er tat auch so. Er strich mit seiner Hand über diesen Wasserfall aus Seide. Es war ein weiter Weg bis hin zur Rundung ihres Hintern. Blut hämmerte und dröhnte in seinen Ohren. Glut strömte durch seine Adern. Er verspürte ein nahezu übermächtiges Verlangen, dieses Haar mit seiner Faust zu packen und ihren Kopf herumzureißen, damit er die Leidenschaft in ihrem Mund kosten konnte. Er fühlte das Feuer, das in ihr aufloderte, um sich an dem Feuersturm zu messen, der in seinem Körper tobte.
Vor Judith hatte er in seinem ganzen Leben noch nie eine natürliche körperliche Reaktion auf eine Frau gehabt. Er hatte es für ausgeschlossen gehalten. Nun war es beglückend und bestürzend zugleich, derart die Selbstbeherrschung zu verlieren. Dieses eine Mal in seinem Leben fühlte er sich ausnahmsweise wie ein Mann und nicht wie eine Maschine. Dieses Geschenk hatte ihm Judith gemacht. Und er würde immer diese Momente mit ihr haben, wenn er es sich gestatten konnte, dieses Gefühl bereitwillig anzunehmen.
Sie waren nur wenige Schritte von der Menge entfernt. Jetzt schon drehten sich einzelne Personen zu ihnen um, bemerkten Judith und winkten ihr fröhlich zu. Ihm blieben nur noch Sekunden, um die Tatsache auszukosten, dass er die Antworten auf Fragen gefunden hatte, die er immer in seinen Hinterkopf verbannt hatte. Während seiner Reisen um die ganze Welt hatte er oft vor Häusern gestanden, die andere Menschen ihr Zuhause nannten, die Lichter angesehen, dem leisen Murmeln von Stimmen gelauscht, eine Frau beobachtet, die ihren Kopf zu einem Kind hinunterbeugte. Oftmals hatte er sich gefragt, wie es wohl wäre, so tiefe Gefühle für einen anderen Menschen zu hegen, und sei es auch nur für einen Moment. In all diesem seidigen Haar, das sich wie Feuer in seine Handfläche einbrannte, hatte er gefunden, wonach er gesucht hatte.
Als sie den Rand der kleinen Menschenmenge erreichten, ließ er seine Hand sinken und verschaffte sich genug Platz, um jede der zahlreichen Waffen zu benutzen, die er verborgen an seinem Körper trug. Er war Thomas Vincent und das hier waren die Menschen, die seine Nachbarn sein würden, wenn er die Galerie kaufte – wenn er sich in Sea Haven niederließ und eine Frau fand, mit der er den Rest seines Lebens verbringen wollte.
»Judith! Wir haben dich vermisst, meine Süße.« Eine große Blondine drückte Judith zur Begrüßung einen Kuss auf die Wange. Ihr Blick fiel auf Thomas, aber er las darin in erster Linie höfliches Interesse.
»Thomas, das ist meine Schwester Blythe Daniels.« Judith stellte sie ihm vor und ihre Finger streiften seinen Arm, als wollte sie ihn näher bei sich haben.
Blythe fiel diese klitzekleine Intimität sogar im Dunkeln auf und das sagte Stefan, dass sie jemand war, vor dem man sich wirklich vorsehen musste. Er lächelte sie an und nahm die Hand, die sie ihm reichte. Er nahm eine schwache Strömung von Energien wahr, doch das reichte aus, um seine Radarwarnanlage einzuschalten. Hinter Blythe steckte mehr, als man auf den ersten Blick erkennen konnte.
»Thomas zieht in Erwägung, die Galerie zu kaufen«, warf Judith hilfreich ein.
»Natürlich. Sie ist wunderschön. Ich habe dieses Gebäude schon immer geliebt und die Aussicht ist spektakulär«, sagte Blythe.
»Dem muss ich zustimmen.« Stefan bedachte die Blondine mit einem weiteren schüchternen Lächeln.
Stefan schlüpfte mühelos in seine Rolle, denn er war weitaus vertrauter mit dem Chamäleon als mit Stefan Prakenskij, den es ja eigentlich gar nicht gab. Thomas Vincent könnte sich für Judith Henderson interessieren, aber für ihn stellte dieses Interesse keine Bedrohung dar. Thomas würde sich zu vielen Frauen hingezogen fühlen. Ihm mochte zwar etwas unbehaglich zumute sein, weil er eher schüchtern war, wenn es um Frauen ging, aber er hatte nichts dagegen, sich eine erfreuliche Zukunft auszumalen.
Stefan Prakenskij wusste, dass er mit Judith in Flammen aufgehen, bei lebendigem Leibe verbrennen und nach mehr lechzen würde – mehr brauchen würde. Er reagierte mit Leib und Seele auf sie, und lange Jahre der Ausbildung und der Disziplin wurden durch sie zunichtegemacht. Für ihn würde es nur diese eine Frau geben. Eigentlich war sie eine Fremde, und doch kannte er sie jetzt schon nahezu intim. Er war sein Leben lang um die Welt gereist und dieses unglaubliche, undenkbare Phänomen war ihm nicht ein einziges Mal zugestoßen und würde ihm auch nie wieder begegnen. Das wusste er mit absoluter Sicherheit.
»Das Gebäude ist ein Vermögen wert«, stimmte Thomas bereitwillig zu. Er drehte sich um und gestattete seinen Augen unter dem Vorwand, auf das Gebäude zurückzublicken, die Dächer abzusuchen. »Diese Stadt ist ganz außerordentlich.«
Hinter Blythe lachte eine ältere Frau und hielt ihm die Hand hin. »Ich glaube, unsere Ortschaft ist zu klein, um als Stadt zu gelten. Wir sprechen von uns selbst als Dorfgemeinschaft. Ich bin Inez Nelson. Es freut mich, Sie kennen zu lernen. Die Galerie ist ein wesentlicher Bestandteil von Sea Haven.«
Für ihre geringe Körpergröße war ihr Händedruck fest und sie hatte durchdringende Augen. Es war nicht zu übersehen, dass sie ihn sorgfältig taxierte.
»Thomas Vincent«, stellte er sich vor.
»Lassen Sie sich von ihr nicht beeinflussen, Thomas«, warnte ihn Judith. »Sie ist die Verlobte von Frank Warner und hat daher eigennützige Interessen.«
»Ist Ihre Frau mitgekommen?«, fragte Inez und klopfte damit ungeniert auf den Busch.
Blythe und Judith lachten laut. Sie waren es offensichtlich gewohnt, dass Inez Menschen aushorchte, und nahmen keinen Anstoß daran. Thomas würde sich auch nicht daran stören. Er war ein charmanter Mann. Er ließ sein Lächeln in ein knabenhaftes Grinsen übergehen und schüttelte den Kopf.
»Ich bin nicht verheiratet, Ma’am. Ich lebe allein.«
Inez strahlte augenblicklich. »Oh, wie schön. Hier ist der ideale Ort, um Kinder großzuziehen.«
»Dazu bräuchte er erst mal eine Frau, Inez«, hob Blythe hervor.
Inez schmunzelte. »Genau. Und wenn ich mich recht erinnere, ist keine von euch beiden verheiratet.«
»Jetzt reicht es.« Blythe nahm ihr das Weinglas aus der Hand. »Du kriegst nichts mehr. Thomas, schenken Sie ihr bitte keinerlei Beachtung. Ihr Mundwerk ist heute Abend nicht zu bremsen.«
Inez zeigte keine Spur von Reue. »Wie jeden Abend. Wie sollen wir diesen gutaussehenden Mann denn sonst dazu verleiten, unserer kleinen Gemeinde eine Chance zu geben?«
»Sie sollte diejenige sein, die Ihnen die Bücher zeigt«, sagte Judith.
»Ich höre mir gern an, was sie anzubieten hat.« Stefan beschloss mitzuspielen. »Gibt es eine dieser beiden Frauen als Zugabe, wenn ich die Galerie kaufe? Ich hätte nichts gegen eine Ehefrau und Kinder, denn auf diesem Gebiet habe ich bisher kläglich versagt.«
»Das könnte sich vielleicht einrichten lassen«, sagte Inez bereitwillig. Ihr Tonfall nahm eine gespielte Unschuld an. »Judith, hätten Sie vielleicht Lust auf ein Glas Wein oder zwei?«
Judith lachte. »Sie sind unverbesserlich, Inez. In diesem Sinne verabschiede ich mich jetzt.«
Sie packte Stefans Arm und zog daran. Er hatte die Bewegung gesehen und wusste, dass sie ihn anfassen würde. Normalerweise wich er solchen Berührungen aus, doch bei ihr ließ er es zu, dass sich ihre Finger um sein Handgelenk legten. Es kam ihm ein bisschen so vor, als hielte sie sein Herz in ihrer Hand gefangen.
»Und ihn bringe ich auch in Sicherheit. Dann könnt ihr weiterziehen, aber gebt den Versuch auf, Franks Galerie unter Einsatz unlauterer Mittel zu verkaufen«, spottete Judith liebevoll.
Stefans Mund wurde trocken, als sie ihn berührte. Er nahm ihre Finger und klemmte sie in seine Armbeuge; dabei machte er sich vor, er sei Thomas, obwohl Stefan derjenige war, der sie näher an sich zog, um dem grässlichen Verlangen nachzugeben, dieser Frau nah zu sein. Das Feuer zwischen ihnen weigerte sich auszugehen, selbst wenn sie sich noch so große Mühe gaben, so zu tun, als loderte es nicht glühend.
Wenn es nur eine körperliche Anziehungskraft wäre, könnten sie eine feurige Affäre haben und es hinter sich bringen, aber das Schlimme war, dass die Anziehungskraft viel tiefer ging, sozusagen bis ins Mark. Und nicht einmal das reichte als Erklärung dafür aus, was hier zu passieren schien. Als sie gemeinsam weitergingen, wurde ihm klar, dass ihre Seele seine streifte und sie vielleicht sogar in sich aufnahm. Wie auch immer es dazu gekommen war – diese Frau hatte sich seinem Körper für alle Zeiten eingeprägt und forderte ihn für sich.
Sie wandte ihren Kopf zu ihm um und ihre Blicke begegneten sich. Ein Schraubstock schien sich um sein Herz zu legen, als er den sehnsüchtigen Blick in ihren Augen sah. Er war nicht der Einzige, der die Stärke und die Intensität des Sogs fühlte.
»Es liegt daran, dass wir beide Gaben besitzen«, flüsterte Judith. »Ich habe gehört, dass das passieren kann. Die Gaben ergänzen einander oder so ähnlich.«
Sie war mutig, das musste er ihr lassen. Sie machte ihm nichts vor. Es mochte zwar sein, dass Judith der Welt ihr wahres Ich nicht zeigte, aber ihm gegenüber war sie in den Dingen aufrichtig, auf die es ankam, und dafür bewunderte er sie. Sie hätte nichts zu sagen brauchen.
Er tat das Schlimmstmögliche, indem er mit seiner noch freien Hand über ihre Hand strich. Er konnte der Versuchung einfach nicht widerstehen, ihre zarte Haut zu fühlen, konnte der Verbindung zwischen ihnen nicht widerstehen. Zum ersten Mal in seinem Leben wollte er jemanden für sich haben, an dem er festhalten konnte. Jemand, der ihn sah. Jemand, der ihm Wirklichkeit einhauchte, damit er sich nicht mehr als der substanzlose Schatten fühlte, von dem er wusste, dass er es war. Nicht irgendjemand – Judith.
»Sie machen es mir schwer zu atmen«, gestand sie und wandte den Kopf von ihm ab, um auf das Meer hinauszublicken, das gegen die Klippen schlug.
»Ich dachte, es sei umgekehrt«, sagte Stefan und brachte seinen Körper noch gezielter in eine schützende Position, um zu verhindern, dass Ivanov ihr Gesicht allzu deutlich sah, falls das Nachtsichtgerät auf sie gerichtet war. Und das tat, um bei der Wahrheit zu bleiben, nicht Thomas, sondern Stefan, dessen Lunge brannte.
Sie zu berühren war ein Wunder. Ihre Haut schien mit seiner zu verschmelzen. Ivanov würde seine Gesten lediglich als eine Festigung seiner angenommenen Identität ansehen, aber Stefan wollte nicht, dass der Eliminator ihr Gesicht deutlich zu sehen bekam. Erstmals in seinem Leben entwickelte er echte Beschützerinstinkte gegenüber einer Frau.
»Ist Ihnen das schon mal passiert?«, fragte Stefan. Alles in ihm kam zum Verstummen, als er auf ihre Antwort wartete. Er kannte Jean-Claude. Er hatte zwei Monate gemeinsam in einer Zelle mit dem Mann verbracht und wusste, dass er von Judith besessen war. Er wollte nicht, dass sie mit derselben unbändigen Intensität auf den Mann reagiert hatte, die er zwischen ihnen wahrnahm.
Sie schüttelte den Kopf. »Nie. Ich habe keine Beziehungen. Einmal hatte ich eine. Aber es war nicht so. Ich war sehr jung und … dumm. Das hier geht zu schnell und ist zu umfassend und ich traue diesen Gefühlen nicht. Sie sollten es auch nicht tun. Wir werden uns wie Erwachsene benehmen.« Sie sah ihm wieder in die Augen. »Abgemacht?«
Wenn Ivanov sie nicht beobachtet hätte, hätte er die Dinge selbst in die Hand genommen, und Thomas Vincent und seine Tarnung sollte von ihm aus der Teufel holen. Er hätte sie an die Hauswand des nächstbesten Gebäudes gestoßen, in einer dunklen Gasse vor neugierigen Blicken geschützt, und sein Mund hätte sich über ihren hergemacht, während er steif und heiß und schamlos von echtem Verlangen erfüllt war. Von verdammt echtem Verlangen. War ihr das erwachsen genug?
Sie schnappte hörbar nach Luft, als sie die Glut in seinen Augen aufblitzen sah. Er wusste, dass sie das glimmende Feuer sehen konnte, denn vor ihr konnte er es nicht verbergen.
»Abgemacht?«, flüsterte sie noch einmal.
Er wollte ihr gut zureden, aber sie hatte den Mut aufgebracht, ihm gegenüber ehrlich zu sein, und dem durfte er in nichts nachstehen. »Ich werde es um Ihretwillen versuchen, Judith, aber ich sage Ihnen ganz ehrlich, dass ich noch nie so etwas für eine Frau empfunden habe.«
Thomas glaubte sie es vielleicht, aber nicht Stefan. Es gab keinen Stefan. Er war nicht echt, nicht wirklich vorhanden, dieser Mann, der Frauen verführte, damit sie ihm ihre Geheimnisse verrieten, und ihr Leben zerstörte, wenn er sie fallen ließ. Nichts fiel ihm leichter, auch wenn diese Frauen Spioninnen waren oder für Verbrecher arbeiteten, doch jetzt hatte er keine Ahnung, was er mit dieser Frau anfangen sollte.
Er wollte mit ihr fortlaufen und nie mehr auf seine Vergangenheit zurückblicken, den Killer abschütteln und ihr Held werden, der Mann, der ihre Nächte und Tage mit nichts anderem als Glück ausfüllte. Wen zum Teufel wollte er eigentlich zum Narren halten? Er wusste nicht einmal, was Glück war, bis er mit einer wildfremden Frau durch eine dunkle Straße spaziert war.
»Ich kann dieser Mann sein«, sagte er laut. Die Worte waren ihm herausgerutscht, ehe er sie zurückhalten konnte.
Einen Moment lang schimmerten ihre Augen feucht. »Das weiß ich«, flüsterte sie. »Aber ich kann nicht diese Frau sein, Thomas. Ich möchte es sein, aber das geht nicht.«
Er hörte das Bedauern und den Schmerz in ihrem leisen Murmeln und sein Herz schlug einen Salto. Sie brachte ihn um, so zielsicher wie Ivanovs Kugel. Thomas. Er verabscheute Thomas. Der Mann war sein größter Rivale und würde bei der einen Frau, die in seiner Welt zählte, seine Chancen zerstören.
»Das werden wir ja sehen«, sagte er und störte sich nicht daran, dass sie seine Worte hörte. Es war eine Warnung und er meinte sie ernst.
Als er über die hölzernen Bohlen des Gehwegs lief, der Wind ihm einen feinen Sprühregen ins Gesicht wehte und Judiths Hand in seiner Armbeuge lag, verspürte er ein ganz seltsames Gefühl von Frieden. Er gestattete sich für die wenigen letzten Meter, bevor sie ihren Wagen erreichten, seinen Phantasien nachzuhängen.
»Das ist mein Wagen«, erklärte sie und legte ihre Hand auf die Motorhaube ihres Mini Cooper. Aus ihrer Stimme war das Bedauern herauszuhören, das er empfand.
Stefan stellte sich vor sie, vertrat ihr den Weg und hinderte sie daran, um den Wagen herum zur Fahrertür zu gehen. »Morgen komme ich zum Traktorfahren auf Ihre Farm raus und bringe das Mittagessen mit.«
Sie holte Atem und strich ihr Haar zurück, das über ihre Schulter in ihr Gesicht geweht wurde. »Sie wissen, dass es uns in Schwierigkeiten bringen könnte, nicht wahr?«
Er nickte bedächtig. »Ich werde auf Sie aufpassen.«
Sie holte erneut Atem und nickte. »Also gut. Ich verlasse mich auf Sie.«
Sein erster Schritt auf dem Weg, dieser Mann zu sein, und er wusste jetzt schon, dass er es verpatzen würde. Wenn sich ihre Freunde nicht auf der Straße getummelt hätten und wenn Ivanov nicht im Wasserturm auf der Lauer gelegen hätte, hätte er sie bewusstlos geküsst.
Stefan zwang sich, ihr den Weg freizugeben, obwohl er fast Angst davor hatte, sie loszulassen, da er befürchten musste, sie würde ihm entwischen. In Wahrheit hatte er noch größere Angst vor sich selbst – dass der Schattenmann zur Vernunft kommen, sich in Luft auflösen und nur Thomas zurücklassen würde.
Er ging mit Judith auf die Straße und hielt ihr die Wagentür auf. Sie blieb einen Moment stehen und sah ihn einfach nur an, und ihm wurde klar, dass sie das Ende ihres gemeinsamen Augenblicks ebenso sehr fürchtete wie er.
»Danke für einen sehr eigenartigen und doch wundervollen Abend, Thomas«, sagte Judith, als sie in ihren Wagen schlüpfte.
»Es war mir ein Vergnügen«, sagte er, als er die Tür hinter ihr schloss und noch einmal draufklopfte, bevor er ihr freundlich zuwinkte, sich auf den Rückweg zu dem hölzernen Gehsteig machte und die Gefahr mit sich nahm.