11.
Judith schlief noch nicht. Stefan konnte sie in dem Zimmer umherlaufen sehen, von dem er jetzt wusste, dass es ihr Schlafzimmer war; sie lief vor der breiten Fensterreihe mit Blick auf ihre Siebensterne im Garten auf und ab. Das Licht, das von hinten kam, machte es einfach, sie durch die gardinenlosen Fensterscheiben zu sehen. Hinter den Toren der Farm wähnten sich die Frauen in Sicherheit vor ungebetenem Besuch, aber er war da, in sich zusammengekauert und wieder einmal in den Schatten, ein Phantom, das zum Leben erwacht war.
Dass er wütend auf seinen Bruder gewesen war, überraschte ihn nicht mehr. Ihm wurde klar, dass Judith nicht nur seine Gefühle nach so vielen langen Jahren der Unterdrückung an die Oberfläche sprudeln ließ, sondern dass inmitten ihrer Gärten und so nah an ihrem Haus jedes Gefühl verstärkt wurde. Judith versuchte zwar, ihren Geist zu bändigen, doch das Element war zu stark und die Energien pulsierten um ihr Haus herum und breiteten sich wie warmer Honig durch ihre riesigen Gärten aus. Er verspürte einen unbändigen Drang, zu Judiths Balkon hinaufzuklettern und dafür zu sorgen, dass sie zu müde war, um irgendetwas anderes zu tun, als eng an ihn geschmiegt in seinen Armen zu schlafen.
Die Brise, die vom Meer kam, brachte eine Andeutung von Regen mit sich, gemeinsam mit den ersten Nebelfäden, die landeinwärts zogen. Weiche Wolken trieben über den Himmel und verdeckten langsam den Mond und die Sterne, als zögen sie einen dichten Schleier vor die Nacht. Unter seinen Füßen pulsierte die Erde. Stefan fühlte es, diesen Ausbruch von Energie und von Freude, als berste der Boden vor Aufregung, und dann schien sich daraus ein stetiger pochender Rhythmus herauszubilden. So etwas hatte er noch nie gefühlt. Er grub seine Finger in den fruchtbaren Boden, um sein Verständnis für das, was hier geschah, zu vertiefen.
Die Luft um ihn herum geriet kaum wahrnehmbar in Bewegung und die Brise drehte sich leicht, doch das genügte, um die Wolken über den riesigen Gemüsefeldern und den weitläufigen Blumengärten in Position zu bringen. Auch die Luft pulsierte jetzt vor Kraft, ein einzigartiger Strom von Energien, der ihm sagte, dass diese Brise gesteuert worden war. Er beobachtete Judith, als sie auf den Balkon trat, am Geländer stehen blieb und über die Farm hinausblickte, als hätte eine unsichtbare Hand sie angelockt.
Sie hob ihr Gesicht zu den Wolken am Himmel, rührte sich aber nicht, sondern wartete offenbar auf etwas. Der Wind zog an ihrem langen Haar und presste ihr dünnes Tanktop so eng an ihre Brüste, dass sich der Stoff liebevoll an ihre weichen Rundungen schmiegte. Ihr flatternder Rock bewegte sich anmutig um ihre langen Beine herum und verlieh ihr einen geheimnisvollen Nimbus, der äußerst feminin war und ihm den Atem verschlug.
Der Regen begann behutsam auf die Blumengärten zu fallen und sie sanft, fast schon zärtlich, zu berühren. Es dauerte einen Moment, bis er die Musik in den Tropfen hörte, wie eine leise Symphonie, die langsam zu einem Crescendo anschwoll. Der Regen wurde nicht von Judith dirigiert, sondern von einer der anderen Frauen, aber sie verstärkte eindeutig die Kraft dieses Elements und hielt ihre Hände anmutig mit den Handflächen nach oben, während sie auf die Farm hinausblickte.
Der Atem stockte in Stefans Kehle. Er wurde gerade Zeuge der vereinten Kraft von Elementen, die hier am Werk waren. Die Wirkung war schockierend, faszinierend und ehrfurchtgebietend zugleich. Er war an paranormale Vorkommnisse gewöhnt; sämtliche Mitglieder seiner Familie besaßen von Natur aus spezielle Gaben. Aber das hier … das war eine Demonstration des Einsatzes von Elementen im Alltagsleben zu praktischen Zwecken.
Rikki, die Frau seines Bruders, war ein Wasserelement, und Stefan war sicher, dass sie diejenige war, die den Regen über bestimmte Teile der Farm lenkte. Eine von Judiths Schwestern war zweifellos ein Luftelement und dirigierte mit zarter Hand meisterlich den Wind. Die Erde reagierte auf eine weitere Schwester; Regenwürmer lockerten das Erdreich, verrichteten ihre Arbeit im Komposthaufen und gediehen dort, hießen den Regen willkommen, antworteten dem Geist und verbanden die Elemente miteinander. Die Erde ließ das Wasser tief in den Boden sickern und dort breitete es sich in Adern aus, die unter dem Lehm verliefen und lebensspendende Flüssigkeit zu jeder Pflanze trugen. Er fühlte, wie das letzte Element, das Feuer, sich den anderen anschloss, nicht in Form von Feuer, sondern als eine leuchtende Flamme, die den gemeinsamen Traum von einer erfolgreichen Farm vorantrieb.
Der Regen fiel schwer in die Wälder, zart auf die Gemüsefelder und noch behutsamer auf die Blumen. Durch all das trug der Wind die Klänge einer Symphonie, während er sich durch die Bäume und Gärten bewegte, und das Luftelement die hellen Töne einer Flöte spielte. Die Trommel des Feuerelements legte für alle anderen den Rhythmus fest. Die Erde trug die wohlklingenden Klaviertöne bei und Judiths Geist verband alles miteinander.
Stefans Herz fiel in den Rhythmus ein. Wenn er versuchen würde, jemandem von diesem einmaligen Phänomen zu berichten, würde ihm kein Mensch glauben. Es war so schön und belebend wie kein anderes Schauspiel, das er jemals beobachtet – nein, erlebt hatte. Er war mitten drin, von Judiths mächtigem Geist angezogen. Stefan erkannte, dass ihr gemeinsamer Traum sich nicht nur darum drehte, die Elemente zu nutzen, damit ihre Farm gedieh, sondern vor allem darum, dass sich alle fünf Elemente eng miteinander verbanden, sich gegenseitig unterstützten, einander Mut machten und sich in ihrem Engagement bestärkten.
Während er still dasaß und die Energien in sich aufsog, fühlte er die sehr subtilen Klänge eines Mannes, die mit dem Wasserelement verwoben waren, und er wusste, dass sein Bruder auf irgendeine Weise eins mit seiner Frau geworden war, während sie das Wasser aus den Wolken zog. Es war aber auch noch eine weitere weibliche Präsenz vorhanden, eine, die ihm fast entgangen wäre. Die sechste Schwester besaß eigenständige Kräfte, die sich jedoch subtil von den anderen unterschieden. Sie war kein Element und doch schien sie ein Teil von jeder von ihnen zu sein. Lev hatte gesagt, sie sei schwer zu verstehen, und jetzt sah Stefan, woran das lag. Ihre Berührung ließ den Wind wie eine Geige stöhnen und durch die Bäume tanzen, verspielt an Blättern ziehen und die leuchtend bunten Blumen küssen.
Um ihn herum reagierte die gesamte Natur auf die aufwogende Kraft und badete in den stampfenden Rhythmen. Eulen flogen in den Regentropfen und kreisten über den Baumwipfeln, während aus dem Wald Füchse und Rotwild auftauchten, als würden sie angelockt, um teilzunehmen. Erst in dem Moment wurde Stefan klar, dass er die kraftvollen Energien in seinen eigenen Körper aufsog. Jedes Gefühl verstärkte und vervielfältigte sich. Er konnte fühlen, wie Kraft durch seine Muskeln strömte, während die Energien sich so in ihn ergossen wie der Regen über die Farm. Schnell. Langsam. Leicht. Schwer. Er nahm sämtliche Elemente in sich auf und fühlte, wie sich jede der Energien mit seinen eigenen übersinnlichen Gaben vermischte.
Stefan ließ jeden Muskel spielen, ehe er sich behutsam einen Weg durch die Blumengärten bahnte, wobei er sorgsam darauf achtete, auf dem schmalen Pfad zu bleiben, damit sein Vorübergehen keine Spuren hinterließ. Er konnte es sich nicht leisten, allzu nass zu werden, nicht wenn er Judiths Haus betreten würde. Er wollte nicht, dass sie nasse Spuren auf ihrem cremefarbenen Teppich fand. Er schlich um das Haus herum zur Rückseite, wo die eher naturbelassenen Gärten mit ihrem Wildwuchs im Regen wie ein kleiner Urwald wirkten.
Das gesamte untere Stockwerk lag im Dunkeln. Die hohen buschigen Pflanzen, deren Laub sich nach allen Seiten ausbreitete, erschwerten ihm das Ausweichen. Er schlüpfte zwischen ihnen durch und achtete darauf, sie nicht zu streifen. Blätter oder Gras auf ihrem Teppich zurückzulassen wäre genauso schlimm wie nasse Fußabdrücke. Er ließ das erste und das zweite Studio links liegen und schlich diagonal durch die wuchernden Pflanzen, um die dunklen Glastüren des dritten Studios zu erreichen.
Schwere Vorhänge waren vor den Türen zugezogen, ein gewaltiger Kontrast zu den beiden anderen, viel einladenderen Studios. Mit größter Behutsamkeit brachte er seine Handfläche bis auf zwei Zentimeter an die Glasscheibe heran, um den Raum zu ertasten. Sein inneres Warnsystem spielte verrückt und jeder Nerv, jede Zelle und jeder Muskel in seinem Körper schreckten zurück. Sein Herz beschleunigte seine Schläge, und seine Lunge brannte. Sogar seine Nackenhaare stellten sich auf. Die Macht der Elemente hatte seinen natürlichen Radar verstärkt, aber selbst wenn er das in Betracht zog, musste sich etwas ungeheuer Gefährliches in diesem Studio befinden.
Stefan atmete langsam aus. Was konnte sie in diesem Studio verbergen? Die Gefahr fühlte sich nicht nach Verrat oder Verschwörung an. Er ließ seine Hand langsam über die Tür gleiten, suchte sie Zentimeter für Zentimeter ab und schenkte dabei dem Türrahmen besondere Beachtung. Nirgends waren verborgene Stolperdrähte zu finden, die sie auf einen Einbruch aufmerksam gemacht hätten. Er legte seine Handfläche über das Schloss, ohne gleich den Türknopf zu berühren. Das Metall strahlte keine Hitze ab. Er legte seine Hand ganz leicht um den Türknopf. Das Schloss reagierte auf ihn und hieß seine Berührung willkommen; er brauchte nicht einmal dagegen zu drücken, damit es sich drehte. Aber die Tür ging nicht auf.
Er war noch nie auf ein Schloss gestoßen, dass sich nicht auf seinen Wunsch hin öffnete. Noch nie. Sicherheitssysteme waren ebenfalls kein Problem für ihn. Aber selbst dann, als er noch einmal leicht dagegen drückte, öffnete sich die Tür nicht für ihn. Judith hatte dieses Studio wohl mit zwei Schlössern gesichert. Sie wollte wirklich nicht riskieren, dass jemand hineinkam. Seine argwöhnische Natur brach unvermittelt und mit großer Heftigkeit durch. Was zum Teufel konnte sie da drin vor aller Welt verbergen? Vor ihm?
Er ließ seine Hand noch einmal über den Türrahmen gleiten. Am unteren Rand traf er auf einen minimalen Widerstand und wusste, dass er das zweite Schloss gefunden hatte. Sie hatte ein Bodenschloss angebracht. Normalerweise wäre es unmöglich, um dieses Schloss herumzukommen, ohne das Glas herauszuschneiden oder durch ein Fenster einzusteigen. Er warf einen Blick auf die Fensterreihe, die ausschließlich der Belüftung diente. Niemand konnte durch diese schmalen Öffnungen schlüpfen. Es gab Dutzende von Fenstern, lang und schmal, um Luft durchzulassen, aber selbst für ein Kind wäre es unmöglich gewesen, sich durchzuzwängen, von einem erwachsenen Mann ganz zu schweigen. Sie hatte dieses Studio pedantisch genau geplant und sich abgesichert, dass niemand ohne ihr Wissen oder ihre Zustimmung hineingelangen konnte.
Er ging in die Hocke und legte seine Handfläche über diesen minimalen Widerstand. Jetzt galt es, Geduld aufzubringen. Konzentration war von entscheidender Bedeutung. Er fühlte, wie die vertraute Wärme durch seinen Arm nach unten strömte, und wieder öffnete und schloss er seine Finger. Seine Hand erwärmte sich und hielt über der richtigen Stelle einen Moment lang vollkommen still, bevor sie sich langsam herabsenkte und auf dem unteren Ende des Türrahmens liegen blieb. Das Schloss blieb weiterhin hartnäckig. Judith besaß einen starken Willen und dieser Wille war hier am Werk. Stefan schob den Gedanken von sich und konzentrierte sich voll und ganz auf die Mechanik des Schlosses. Es war ein simples, aber sehr wirkungsvolles Prinzip. Ein kleiner Schieberegler drehte den Metallverschluss und hinderte die Tür daran, sich zu bewegen. Sowie er den Mechanismus »ertastet« hatte, konnte er ihn manövrieren, damit er sich öffnete.
Ehe er die Glastür aufschob, überprüfte er noch einmal, ob sie wirklich nicht durch eine Alarmanlage gesichert war, die Judith darauf aufmerksam machen würde, dass jemand in ihr doppelt gesichertes Studio eingedrungen war. Mit extremer Vorsicht drehte er den Türgriff und öffnete die Tür. Die schweren mitternachtsschwarzen Vorhänge nahmen ihm die Sicht, doch er konnte die Druckwelle der Wut fühlen, eine explosive Energie, die ihm entgegensprang. Wieder rebellierte jede Zelle seines Körpers. Er schlüpfte hinein und schloss die Tür hinter sich; seine Stabtaschenlampe, die einzige Abhilfe gegen die vollkommene Dunkelheit des Raumes, hielt er zwischen den Zähnen.
Stefan zog die Vorhänge gerade weit genug zur Seite, um eintreten zu können. Das Atmen fiel ihm schwer, denn die Wut hing so dick in der Luft, dass es unmöglich war, tief durchzuatmen. Er bewegte den Strahl seiner Taschenlampe zu einer raschen Inspektion durch den Raum, um sich zu vergewissern, dass er allein war, obwohl sein inneres Radar ihm das bereits mitgeteilt hatte. Dennoch überprüfte er wie immer, wenn es um Sicherheitsvorkehrungen ging, alles mehrmals.
Jeder andere Raum in Judiths Haus war weiß oder cremeweiß gestrichen, ein geeigneter Hintergrund für die fröhlichen Farbtupfer, die sie großzügig im ganzen Haus und an den Wänden verteilt hatte. Hier aber fand er nur erbarmungslose Dunkelheit vor. Ein Wandgemälde erstreckte sich vom Boden bis zur Decke, dicke Baumstämme und abgebrochenes Geäst, das verstreut herumlag, Zweige, die grotesk verbogen waren und die Illusion eines finsteren, bedrohlichen Waldes hervorriefen.
Das war es also, was sie nicht länger in ihre Gemälde einfließen ließ. Sie achtete sorgfältig darauf, ihre Emotionen in unterschiedliche Bereiche aufzugliedern und sie voneinander getrennt zu halten. Das hier war ein Raum, in dem sämtliche destruktiven Gefühle untergebracht waren. Ihr war nicht klar, dass man unmöglich auf Dauer so leben konnte, wie sie es versuchte. Düstere Gefühle ließen einen oft die schwierigsten äußeren Umstände überstehen. Es gab ein Gleichgewicht im Leben und Judith hatte versucht, sich von diesem Gleichgewicht zu entfernen, da sie die dunkle Seite ihrer Seele fürchtete.
Sogar hier, in diesem Studio der Wut, konnte er die Künstlerin in ihr sehen. Die Decke über seinem Kopf war in dunklen Purpurtönen bemalt, von wogenden dunkleren Linien durchzogen, von Schlitzen, die nahezu blutrot waren. Die Wirkung war erstaunlich. Die Decke sah aus, als weinte sie dunkle Tränen. Als er sie ansah, fühlte er, wie sich Kummer in sein Herz einschlich, eine heimtückische Ranke von Emotionen, die sich tief in seinen Geist hineinwand. Er riss den Blick von der faszinierenden Farbmontage los und inspizierte die Wände.
Auf den Wänden waren die Farben gesprenkelt, dicke Schnüre, die zu Ranken aus Hass und Wut gekrümmt worden waren. Kummer tropfte durch den schwarzen Wald der Wut. Die Blutstropfen waren lebhafter, das Messer, das sich in schnellen Wutausbrüchen durch die Farbe schnitt, während dieses tiefe Purpur seine Tränen über all das ergoss. Kerzen standen auf den Tischen und in den Regalen, viele bis auf den Stummel heruntergebrannt, und die Pfützen aus Wachs, die sich um die Kerzenenden herum gebildet hatten, wurden zu einem Bestandteil der makabren Atmosphäre. Ein gruseliger Ölgeruch durchdrang den Raum und trug zu dem morbiden, fast schon grausigen Gefühl bei, das von den Wänden ausgeströmt wurde.
Er war wieder einmal vollständig von ihr umgeben, von ihren finstersten Momenten, ihren intimsten, schaurigsten Gedanken. Ihre Kaleidoskopwerkstatt war fröhlich und bunt, das Studio, in dem sie malte, schön und beschwichtigend, doch dieses Studio war das absolute Gegenteil, obwohl er fand, dass selbst in der erbarmungslosen Dunkelheit noch Schönheit lag, vor allem, weil, ganz gleich, was sie empfand, immer die Künstlerin in ihr hervorkam.
»Oh, moj padschij angel, du bist ja so verloren«, murmelte er vor sich hin.
Stefan wusste, dass er ein Phantom war, das seine Heimat in den Schatten hatte, aber zumindest wusste er genau, wer er war und wie er dorthin gelangt war. Judith traute sich selbst nicht – ihr war nicht klar, dass sie sich durch die Existenz dieses Raumes nur noch mehr in ihrem Glauben bekräftigte, total verkorkst zu sein. Fünf Jahre der Wut und des Kummers hatten Form angenommen und waren an diesem einen Ort eingesperrt. Niemand konnte es über einen längeren Zeitraum in diesem Studio aushalten, ohne von den erbarmungslosen destruktiven Gefühlen angesteckt zu werden.
Er trat dicht vor das Gemälde, an dem sie gerade arbeitete, entfernte langsam die Abdeckung und richtete den Strahl seiner Taschenlampe darauf. Sein Atem stockte. Seine Kehle fühlte sich an wie zugeschnürt. Das war Judiths Alptraum. Die Folter und der Tod ihres geliebten Bruders. Scharfe Glasscherben mit dunklem Blut auf den Spitzen schlitzten in zornigen Linien die Leinwand auf. Kühne, zornige Pinselstriche, mit einem breiten Pinsel gezogen; in dieses Gemälde flossen keine der zarten kleinen Pinselstriche ein, die er in all ihren anderen Werken bemerkt hatte. Die einzige wirkliche Farbe war in einem kühnen und leuchtenden japanischen Schriftzeichen zu finden. Er wusste, dass es der Name ihres Bruders war, der über die Blutströme und den gemarterten, zerbrochenen Körper gemalt war.
Er sah genauer hin und Judiths Augen starrten ihn aus dem Bild an, schaurig, mit einer Mischung aus Kummer und Zorn. Seine eigenen Augen brannten und seine Eingeweide waren aufgewühlt. Scham und Schuldbewusstsein brachen über ihn herein, eine schwere Decke, die ihn niederdrückte und seinen Brustkorb über seinem Herzen fast zerquetschte. Intellektuell wusste er, dass es nicht seine eigenen, sondern ihre Gefühle waren, die Intensität, die jedes Mal über sie hereinbrach, wenn sie dem geballten, gnadenlosen Kummer nachgab und sich in diesen Raum zurückzog, um das Gemälde zu überarbeiten. Nur hier glaubte sie ihren Gefühlen gefahrlos freien Lauf lassen zu können.
Sie hatte die graphisch detaillierte Darstellung des Todes ihres Bruders nicht signiert, aber sie hatte ihr Leben eingehaucht. Er konnte fast sehen, wie sich die Gestalten durch diesen Raum voller Blut und Schmerz bewegten. Die Männer waren übereinander hergefallen, während ihr Bruder im Todeskampf lag und keuchend seine letzten Atemzüge tat. Der leblose Körper des Polizisten, der über Judith zusammengesackt war und sie in das Blut und das zerfetzte Fleisch ihres Bruders presste, während das Blut und das zerstückelte Fleisch des Polizisten sie bespritzte.
Es war eine schaurige Szene, sogar für einen Mann, der an Gewalttätigkeit gewöhnt war, vor allem, weil man sie durch die Augen einer Frau sah, die das Opfer liebte – durch Judiths Augen. Er wusste, dass es ein unfertiges Gemälde war, weil sie es noch nicht mit ihrem Namen signiert hatte. Es spielte keine Rolle, wie oft er sich sagte, dass es Judiths Gefühle waren; sein Herz zersprang trotzdem fast vor Schmerz. Als er in ihre Augen sah und das Schuldbewusstsein, die Wut und den Kummer dort entdeckte, fühlte er eine mörderische Wut in seinem Bauch glimmen und immer stärker werden, je länger er das Gemälde anstarrte. Er musste das für sie in Ordnung bringen.
Ein Muskel in seiner Mundpartie zuckte, als er das Gemälde wieder abdeckte. Er hatte ihr gesagt, er sei der Richtige und könnte das für sie erledigen. Ihr Bruder war nicht gefoltert worden, um Informationen aus ihm herauszuholen, die für die Staatssicherheit eines Landes eine entscheidende Rolle spielten; es war als eine Lektion gedacht gewesen. Er wusste, dass er sein eigenes Leben und seine eigenen schrecklichen Sünden rechtfertigte, aber jetzt ließ sich nicht mehr ändern, was die Männer, die sein Leben geformt hatten, aus ihm gemacht hatten. Er konnte das für sie tun, und wenn jemand verdient hatte zu leiden, bevor er starb, dann war das Jean-Claude La Roux.
Mitten im Raum war ein großer Gegenstand mit einem dunklen Tuch abgedeckt. Das Tuch schien sich zu bewegen, obwohl es ganz ausgeschlossen war, dass eine Brise diese Bewegung verursacht hatte. Das leichte Kräuseln lenkte seine Aufmerksamkeit auf den Stoff. Der Raum flüsterte, ein hinterhältiges Summen in seinen Ohren, das nie laut genug wurde, um einzelne Wörter zu verstehen.
Er ging um den Gegenstand herum, der ihm fast bis zur Brust reichte, und benutzte nur seine Fingerspitzen, um die Stoffbahn zu entfernen. Das Kaleidoskop war riesig, fast so groß wie ein Teleskop zum Betrachten des Nachthimmels, und es stand auf einem hohen Stativ. Vier individuelle versiegelte Objektkammern waren in einem schwarzen Behälter gestapelt und eine fünfte, an der sie zu arbeiten schien, lag darauf. Er vermutete, jede Kammer stellte ein Jahr dar, das vergangen war, ohne dass der Mörder ihres Bruders einen angemessenen Preis für sein Verbrechen bezahlt hatte. Als er die Kammern in die Hand nahm, konnte er nicht erkennen, was sie enthielten.
Verwirrt untersuchte Stefan alle Kammern aus jedem erdenklichen Blickwinkel und legte sie sorgsam in der richtigen Reihenfolge nebeneinander. Zwar blieben ihm immer die kleinsten Einzelheiten im Gedächtnis haften, aber er ging trotzdem methodisch vor, überprüfte jede Kleinigkeit mehrfach und riskierte nicht, dass jemand seine Anwesenheit wahrnahm. Kein echtes Phantom konnte es sich leisten, das winzigste Detail zu übersehen.
Er drehte die erste Objektkammer in alle Richtungen. Sie war mit Mineralöl gefüllt und versiegelt, und sie war eindeutig fertiggestellt, aber ganz gleich, wie oft er den Strahl der Taschenlampe darauf richtete – er konnte die Gegenstände nicht erkennen, die darin herumschwimmen sollten. Er zog die Stirn in Falten, als sein Verstand mit dem Problem beschäftigt war. Sie würde keine leeren Kammern benutzen, aber sie hatte offenbar eine Möglichkeit gefunden, das, was sich in ihnen befand, zu verbergen. Als sie ihn durch ihre Kaleidoskopwerkstatt geführt hatte, war ihm schnell klar geworden, dass Objektkammern etwas sehr Persönliches waren. Jeder verwendete Gegenstand wurde mit größter Sorgfalt ausgewählt und bedeutete etwas Wichtiges.
Judith erzählte mit ihren Kaleidoskopen Geschichten. Sie brachten Frieden und Freude in das Leben von Menschen rund um den Erdball. Die Kaleidoskope waren mehr als Kunst; sie waren nützlich für medizinische Zwecke, sie senkten den Blutdruck und sie verhalfen autistischen Kindern oder Erwachsenen zu einer gesunden Form des Rückzugs. Stefan betrachtete das riesige Kaleidoskop noch einmal. Was wollte sie damit ausdrücken? Und wie tat sie es?
Das Kaleidoskop war viel größer als alle, die er in ihrem anderen Studio gesehen hatte, und das musste auf irgendeine Weise bedeutsam sein. Außen war es aus pulverbeschichtetem Metall und nicht mit Folie beklebt. Bei der Farbe schien es sich um ein erbarmungsloses Schwarz zu handeln, doch es hatte etwas an sich, das ihn, genauso wie die Objektkammern, auf den Gedanken brachte, sie hätte etwas vor den Blicken verborgen.
Er inspizierte den Raum noch einmal mit seiner Stabtaschenlampe. Ihm entging etwas Wichtiges. Das Denken fiel ihm schwer, wenn der Raum um ihn herum so lebendig war. Emotionen bestürmten ihn und jeder Atemzug war kompliziert, weil glühender Hass in der Luft brodelte. Sein Bauch verkrampfte sich und spannte sich an und das Blut toste in seinen Ohren, fuhr heulend durch seinen Verstand und verlangte lautstark nach Rache.
Eine tragbare Ultraviolettlampe stand auf der Werkbank, in der Nähe ihres Stuhls mit Rollen. Es sah so aus, als benutzte sie sie häufig, und doch schien sie nicht zu dem restlichen Raum zu passen. Der Griff ließ sich zu einem Lampenfuß auseinanderklappen und die Lampe war zwar nicht eingesteckt, stand aber dicht neben der Zelle, an der sie arbeitete. Stefan steckte den Stecker in eine Steckdose und drückte auf den Schalter.
Sofort konnte er eine große Auswahl von Objekten in einem kleinen Behälter neben den Werkzeugen sehen. Sie hatte die verschiedenen Objekte, die sie in ihren Kammern verwenden wollte, aus Materialien hergestellt, die nur in ultraviolettem Licht zu sehen waren. Genial. Stefan schüttelte den Kopf über ihre Kreativität. Dieser Geniestreich versetzte sie nicht nur in die Lage, ihre Arbeit zu verbergen, sondern die geheimnisvolle Natur der Kammern spiegelte auch die Intensität der Gefühle wider, die sie mit allen Mitteln vor dem Rest der Welt verbarg. Im Grunde genommen hatte sie in diesen versiegelten Kammern einen Teil von sich selbst eingesperrt.
Stefan beschloss, sich das Jahr eins zuerst anzusehen. Für ihn war nicht nur ersichtlich, dass es sich bei dieser speziellen Zelle um den Beginn handelte, weil sie die unterste in dem Stapel war, sondern als er sie nah ans Licht hielt und sie schüttelte, um den Inhalt in Bewegung zu versetzen, sah er deutlich inmitten der anderen Gegenstände die Zahl eins. Rote Tropfen, die wie Blut aussahen, rannen über die Bilder, und wieder senkte sich Kummer schwer auf seine Schultern herab.
Jahr eins drehte sich ausschließlich um Kummer. Judith hielt ihr Leid darüber, ihren geliebten Bruder verloren zu haben, für alle Zeiten in dieser Kammer gefangen. Die Seelenqualen hatten tiefe Wunden hinterlassen, die sich nicht schließen wollten. In der Objektkammer befanden sich ausschließlich Bilder von Schuldbewusstsein und eine schwache Spur von Scham. Verbogenes Metall, ein zerbrochenes Herz und Folterwerkzeuge kreisten langsam und stolperten übereinander, und die Kammer weinte ununterbrochen Blutstropfen. Dasselbe japanische Schriftzeichen in Rot, das der Name ihres Bruders war, taumelte in der Mischung herum. Ein funkelnder Gegenstand verkündete: »Es tut mir leid« und bei einem anderen handelte es sich um eine sehr verräterische Uhr, die die Zeiger der Zeit zurückstellte.
Er bemerkte, dass Tränen in ihm aufstiegen, und als er den Blick senkte, wurde ihm klar, dass sein Finger den Abzug seiner Waffe streichelte. Abrupt zog er seine Hand fort und begriff, wie ungeheuer intensiv ihre Gefühle waren. Er fühlte das, was sie fühlte. Hier in diesem Raum, umgeben von ihrem unbarmherzigen Kummer, spielte sie mit dem Gedanken, ihrem Leben ein Ende zu bereiten, um für ihre Sünden zu büßen. Sie wusste es besser, auch das konnte er sehen, aber der Gedanke ging ihr gelegentlich durch den Kopf. Sie konnte ihn nicht zurückholen; sie konnte die Zeit nicht zurückdrehen.
In der zweiten Kammer musterte er die Objekte, die stellvertretend für Paris waren. Ein zerbrochener Pinsel. Eine aufgeschlitzte Leinwand. Eine Farbpalette, die dunkle Blau- und Purpurtöne umfasste. Eine winzige Kopie des Louvre. Ein zerrissenes Foto von ihr und ihrem Bruder, das ihm fast das Herz brach. Kleine Dinge, die ihm sagten, dass ihr Schuldbewusstsein wuchs.
Spätere Kammern zeigten ein japanisches Kanji-Symbol für Scham und ein anderes stand für Schuld. Ein Polizeiabzeichen. Die kleine griechische Insel, auf der Jean-Claudes Männer ihren Bruder eingeholt hatten. Dinge, von denen er glaubte, sie stellten das Leben ihres Bruders dar. Im Lauf der Jahre wuchs die Wut in Judith ganz offensichtlich, und immer mehr Gegenstände zeigten den langsamen, qualvollen Tod, Scheibchen für Scheibchen, während sie versuchten, Informationen über Judiths Aufenthaltsort aus ihm herauszuholen. In einer einzigen Zelle hatte sie so detailliert winzige Kopien seiner Folterung erschaffen, dass es nur eine Erklärung dafür gab: Ihr Geist hatte sich mit dem ihres Bruders vereint, als er im Sterben lag, und sie hatte jeden Schnitt und jede Brandwunde ebenso stark gefühlt wie er.
Eine brennende Flamme loderte in seinen Eingeweiden. Mordlust wütete in ihm und sein Körper kribbelte vor Verlangen, den Mord an Paul Henderson zu rächen. Mörderische Wut war Stefan bisher unbekannt. Er tötete eiskalt und gefühllos. Das dringende Bedürfnis, La Roux leiden zu lassen, stammte von Judith, nicht von ihm. Seine Hände zitterten nicht, sein Körper spannte sich nicht an und seine Gedanken verlangten nicht lautstark nach einem Mord. Judith hatte diese Gefühle in diesen Raum strömen lassen und sie dann hier eingesperrt, und sein Geist nahm ihren immer in sich auf. Er sog diese finstere Stimmung in seinen Körper auf.
Stefan holte Atem und schaffte es, die Wut zu unterdrücken, als er die Objektkammer in das große Kaleidoskop einfügte und die tragbare ultraviolette Lampe nachschob. Die Stablampe passte in die Röhre und strahlte die Kammer an. Er legte sein Auge an das Glas und drehte die Kammer. Die Szenen wurden durch die Spiegelprismen in einem Strahlenkranz vervielfältigt, sodass er die Folter so sah, als blickte er durch einen makabren Alptraum hindurch, wahrscheinlich so, wie Judith von der Erinnerung heimgesucht wurde, wenn sie nachts die Augen schloss. Er drehte die Kammer.
Augenblicklich barst durch all das frische und geronnene Blut und die rasende Wut ein gewaltiger Kosmos, wie eine wüste urzeitliche Mischung reiner Gefühle. Die winzigen Funken explodierender Sterne enthüllten unabsichtlich Judiths Charakter, wenn sie sich auch noch so sehr bemühte, ihn vor sich selbst zu verbergen, und es war ein Anblick von roher Schönheit, der dennoch beängstigend war. Hier herrschte Chaos, und doch war Ordnung zu erkennen. Glühender Hass und glühende Liebe vermischten sich in einem Strudel von blanken, ungeschminkten Gefühlen miteinander, und keinem anderen Menschen stand das Recht auf diesen Anblick zu. Er warf einen Blick in Judiths entblößte Seele.
Er sah die Wahrheit, sah, wer und was sie wirklich war. Sie hatte fünf lange Jahre damit zugebracht, ihre Wut und ihre Rachegelüste auf diese Weise auszudrücken, weil Jean-Claude La Roux es verdiente, für das zu bezahlen, was er getan hatte, doch ihre wahre Essenz trug immer den Sieg davon. Das Licht in ihr, das Mitgefühl und die natürliche Leuchtkraft wollten sich einfach nicht trüben lassen. Sie hielt diese finsteren Emotionen in diesem einen Raum gefangen und versuchte sich aufzuspalten, um etwas zu werden, was sie nicht war und niemals sein konnte. Er wusste jedoch, dass er bei der Betrachtung jeder einzelnen Objektkammer diese explosiv hervorbrechenden Lichtstrahlen sehen würde, die sich über dem düsteren, feindseligen Aufbau ihres Bedürfnisses nach Rache ausbreiteten.
Die quälende Scham und das Schuldbewusstsein drehten sich weniger um den Tod ihres Bruders und des Polizisten – sie hatte sich im Lauf der Jahre gründlich mit ihrer Verantwortung auseinandergesetzt und war offenbar zu der Schlussfolgerung gelangt, dass die Umstände zu der Zeit ihre Fähigkeiten überschritten hatten. Die Scham und das Schuldbewusstsein hatten in diesem Raum im Verborgenen geschwärt wie eine entsetzliche Wunde, die sie nicht ausbrennen konnte. Sie war nicht in der Lage, einen anderen Menschen leiden zu lassen. Töten konnte sie mit Sicherheit niemanden. Er bezweifelte nicht, dass sie sich und die Menschen, die sie liebte, glühend verteidigen würde, aber ein kaltblütiger Mord war für eine Frau mit ihrem Charakter eine Unmöglichkeit, und tief in ihrem Inneren wusste sie das selbst.
Judith wollte ihren Bruder rächen, sie hatte sogar das Gefühl, sie müsste es tun, aber sie war keine Frau von der Sorte, die so etwas jemals täte, und dieses Schuldbewusstsein nagte ständig an ihr. Sie hatte das Gefühl, sie ließe ihren Bruder ein zweites Mal restlos im Stich. Kein Wunder, dass sie oft nicht schlafen konnte.
Für Judith war es ganz natürlich gewesen, sich an ihren älteren Bruder zu wenden, damit er ihr aus einer schlimmen Lage heraushalf. Er hatte sie nach dem Tod ihrer Eltern großgezogen. Er war der Mensch gewesen, auf den sie immer hatte zählen können, und er war selbstverständlich zu ihrer Hilfe herbeigeeilt. Wahrscheinlich sah sie seinen vorwurfsvollen Blick, wenn sie die Augen schloss. Auf ihrem Gemälde waren Pauls Augen weit offen gewesen und hatten seine Schwester angestarrt, als das Leben aus ihm floss – und sie sah seinen Schuldspruch darin. Stefan wusste es besser; er wusste, dass es nicht ihr Bruder, sondern ihr Gewissen war, das an sie appellierte.
Diese Erkenntnis rührte an seinem Beschützertrieb, von dessen Existenz er nichts gewusst hatte, bevor er Judith begegnet war, und dieser Trieb war ebenso roh und unverfälscht und leidenschaftlich wie ihre ungezähmten, chaotischen Gefühle. Er musste sie eng umschlingen und sie vor Blicken von außen schützen, bis sie die beiden Hälften ihres Geistes wieder zusammenführen konnte. Sie musste sich verzeihen, dass sie sanft und freundlich war. Dass sie mitfühlend war. Judith schien nicht zu begreifen, dass die Welt ein viel besserer Ort wäre, wenn sie mit Menschen wie ihr und nicht mit Menschen wie ihm bevölkert wäre.
Sie fürchtete ihre eigene leidenschaftliche Natur so sehr, dass sie an den Tod dachte, an Mittel und Wege, andere, die sie liebte, vor sich zu schützen. Sie hatte enorme Angst, ihre dunkleren Gefühle würden, wenn sie auch noch so natürlich sein mochten, zum Schmerz und zum Leiden anderer Menschen beitragen, die sie liebte.
Stefan schüttelte den Kopf. Er dachte gar nicht daran, sie gehen zu lassen. Er wusste, dass er die Fähigkeit besaß, jeden schattigen Ort in ihrem Innern mit seinem eigenen Geist auszufüllen und sich so tief mit ihr zu verbinden, dass sie die Last nie wieder allein tragen würde. Irgendwie verflochten sich seine Gaben mit ihren und gestatteten ihm eine so intime Nähe, dass er nicht nur Judith, sondern auch andere, von denen sie beide umgeben waren, abschirmen konnte, bis sie ihre Gabe vollständig verstanden hatte und sie kontrolliert einsetzen konnte. Das wusste er mit Sicherheit.
Er musste diesen Ort des Kummers und der Rache verlassen, ehe die Gefühle, die hier eingesperrt waren, so überwältigend wurden, dass selbst seine Kraft ihnen nicht mehr gewachsen war. Im Gegensatz zu Judith besaß sein Geist nicht die Leuchtkraft, die über jedes finstere Gefühl siegte. Er hatte Schutzschilde, aber sogar ihn drohte die Kraft in diesem Raum zu überwältigen.
Mit großer Sorgfalt legte er die ultraviolette Lampe und die Objektkammern für das Kaleidoskop wieder an ihre Plätze zurück, deckte das Kaleidoskop zu und vergewisserte sich, dass die Stoffbahn genauso dalag wie vorher. Stefan sah sich ein letztes Mal in dem Studio um, weil er sichergehen wollte, dass alles wieder so aussah, wie er es vorgefunden hatte, und nichts darauf hinwies, dass jemand Judiths Geheimnis entdeckt hatte. Er zog die Vorhänge wieder zu und verriegelte beide Schlösser, ehe er sich auf die Terrasse setzte und die frische Luft in tiefen Zügen in sich aufsog.
Er ließ seinen Kopf in seine Hände sinken und nahm den Regen nicht wahr, der herunterkam. Es war nur ein ganz leichter Schauer und ihm waren die frischen, sauberen Wassertröpfchen auf seiner brennenden Haut willkommen. Der Regen fühlte sich an wie Tränen auf seinem Gesicht, als er aufblickte, um zu beobachten, wie das Wasser vom Himmel fiel. Judith brauchte ihn und er war unendlich dankbar für diese Erkenntnis. Er hatte geglaubt, sie würde seine Rettung sein, aber es war durchaus möglich, dass auch er etwas in ihre Verbindung einbringen konnte.
Sie musste sich so akzeptieren, wie sie war – unfähig, anderen ein Leid anzutun. Sie musste begreifen, dass jeder Mensch finstere Gedanken hatte, darunter auch ihr Bruder, aber er würde nicht wollen, dass seine Schwester ihr Leben damit verbrachte, Rachepläne zu schmieden. Wenn Paul sie so sehr liebte, wie sie ihn geliebt hatte – und das war aus allem, was er bisher gesehen hatte, ersichtlich –, dann war das Letzte, was er sich wünschen würde, dass Judith ihre Gabe vergeudete, indem sie sie fürchtete. Sie war kraftvoll und ausdrucksstark in ihrer Kreativität und ebenso leidenschaftlich in ihrem Geist, und dazu zählte die gesamte Bandbreite ihrer Emotionen, nicht nur die zarteren.
Stefan stand langsam auf, streckte seine Muskeln und merkte jetzt erst, wie groß seine Anspannung in dem finsteren Studio gewesen war. Er fühlte sich erschöpft und brauchte einen sicheren Ort, an den er sich zurückziehen konnte. Nicht das Hotel, in dem sich Thomas Vincent einquartiert hatte – das kam überhaupt nicht in Frage. Falls Ivanovs Verletzungen doch nicht so schwer waren, wie Stefan annahm, würde er Jagd auf ihn machen. Er könnte ihm jetzt schon in seinem Hotelzimmer eine Falle gestellt haben und Stefan war viel zu müde, um sich damit abzugeben. Müde Männer machten Fehler.
Man hatte ihm beigebracht, unbeirrt weiterzumachen, ganz gleich, wie sehr es seinen Körper strapazierte. Dann kam seine Willenskraft zum Tragen und gab ihm den notwendigen Schwung, um weiterzumachen, bis sein Vorhaben ausgeführt war. Er war es gewohnt weiterzuarbeiten, wenn er übermüdet oder verwundet war oder tagelang nicht gegessen oder geschlafen hatte, aber der Tribut, den dieser Ansturm von Emotionen von ihm forderte, war schlimmer als alles, was er jemals erlebt hatte. Der Kampf, sich gegen das Bombardement derart intensiver destruktiver Energien zu schützen, hatte ihn restlos ausgelaugt.
Stefan begann sich durch die hohen Gräser und Sträucher zu schlängeln, um wieder auf die Seite des Hauses zu gelangen, von der aus er Judiths Schlafzimmer sehen konnte. Er hoffte ohne große Überzeugung, sie sei ins Bett gegangen, aber der Regen fiel noch zu gezielt. Jemand dirigierte die Symphonie und jedes Element leistete seinen Beitrag, doch Judith verstärkte die Kräfte aller anderen. Wenn er sich selbst gegenüber aufrichtig war, wollte er sie noch einmal sehen, damit er sicher sein konnte, dass ihr nichts fehlte. Da er sie jetzt gefunden hatte, widerstrebte es ihm, von ihr getrennt zu sein.
Aus dem Augenwinkel sah er etwas Großes, das von oben auf ihn zukam, als er um die Ecke des zweistöckigen Hauses bog. Er kauerte sich zusammen und sah dem Geschöpf entgegen, das sich schnell näherte, um ihn anzugreifen. Die Eule stieß mit ausgefahrenen Krallen stumm herab und hatte die Absicht, ihm die Augen auszukratzen. Erst im letzten Moment erkannte sie ihn von dem Bild, das Lev den Vögeln übermittelt hatte, um seine Zugehörigkeit zu bekunden, und versuchte den raschen Sturzflug mit kräftigen Flügelschlägen abzufangen. Klauen streiften sein Gesicht unter dem linken Auge und dann war der Vogel fort, schwang sich in den Himmel auf und peilte den nächstbesten Baum an.
Stefan berührte den brennenden Kratzer in seinem Gesicht, der so heiß wie ein Brandeisen glühte. Er hatte Glück gehabt. Die Eule hätte ihm das Auge aushacken können. Möglicherweise würde er seine Meinung über die Vögel als Wachposten revidieren müssen, denn die Eule hatte sich brutal und völlig lautlos auf ihn gestürzt. Die Flügelfedern dämpften das Geräusch des nachtaktiven Raubvogels im Flug und erlaubten ihm einen vollkommen lautlosen Angriff. Stefan bezweifelte, dass er so glimpflich davongekommen wäre, wenn sein inneres Warnsystem nicht so gut funktioniert hätte – selbst dann, wenn der Vogel ihn als einen Freund erkannte.
Die Eule ließ sich im Wipfel der Kiefer nieder, legte ihre Flügel dicht an ihren Körper an und starrte mit ihren runden Augen in die Bäume hinunter, die auf dem kleinen Hügel über Judiths Haus dicht zusammenstanden. Stefan störte etwas daran, wie konzentriert der Vogel die kleine Anhöhe im Auge behielt. Er war erschöpft, hatte mit unbekannten Gefühlen zu kämpfen und versuchte die Anspannung aus seinem Körper zu vertreiben und alles auf sein Erlebnis in dem dunklen Studio zurückzuführen. Aber da der Vogel ihn jetzt auf etwas aufmerksam gemacht hatte, war er nicht mehr ganz sicher, ob sich nicht doch das Warnsystem seines Körpers lautstark meldete.
Lev, treibst du dich hier draußen rum? Er sandte die Frage mit größter Vorsicht aus, da er nicht einmal seinem Bruder seinen genauen Standort verraten wollte.
Die Eule war auf seine Augen losgegangen. Hatte der Vogel seinen Sturzflug abgebremst, weil Lev ihn zurückgerufen hatte, oder hatte es an Stefans Reflexen gelegen? Etwas war auf dieser Hügelkuppe und hatte das Interesse des Vogels geweckt. Eulen hatten scharfe Augen und ihr feines Gehör war ganz erstaunlich. Stefan setzte sich wieder in Bewegung und schlich um das Haus herum, bis er Judiths Balkon in seinem Blickfeld hatte.
Sie stand draußen, hatte den Kopf in den Nacken gelegt und ihr Gesicht dem leichten Regen zugewandt. In der Nässe klebte ihr Tanktop an ihren üppigen Rundungen und betonte ihren schmalen Brustkorb und den Schwung ihrer Hüften. Ihr Haar hätte wie der Schwanz einer ertrunkenen Ratte aussehen sollen, doch stattdessen schimmerte es in der Nässe wie ein Wasserfall, der um ihren Körper floss. Stefan stieß zischend den Atem aus, denn er hatte plötzlich Angst um sie. Jeder, der sich zwischen den dichten Bäumen auf der Kuppe verbarg, konnte Judith mühelos sehen, und das konnte als ein Delikt angesehen werden, auf das der Tod stand.
Stefan? Ist alles in Ordnung mit dir?
Stefans Herzschlag toste in seinen Ohren. Levs Stimme war so schwach, als käme sie aus einer größeren Entfernung. Die Reichweite ihrer telepathischen Fähigkeiten war nie getestet worden, doch Stefan wusste, dass sie nicht allzu groß sein konnte.
Wo bist du?
Bei Rikki. Brauchst du mich?
Ich glaube, wir haben Gesellschaft. Auf dem Hügel über Judiths Haus. Zwischen den dicht zusammenstehenden Kiefern.
Stefan fühlte Levs Reaktion, eine Art Ruck, der durch sein Bewusstsein ging. Die ganze Farm pulsierte vor Energien, wenn sich die Elemente zusammentaten, und durch Stefan strömte eine Kraft, die seine Fähigkeiten verstärkte, doch gleichzeitig war sie so stark, dass es ein Leichtes war, das Unbehagen und die Anspannung auf die zunehmende Intensität zurückzuführen. Lev musste diese Kraft ebenfalls fühlen und sie konnte sie alle irreführen.
Die Eulen würden mich warnen.
Sogar dann, wenn sich sämtliche Energien so wie jetzt miteinander verbinden und es zu einer Störung der Kräfte kommt?
Die Eule hatte ihn angegriffen, obwohl Lev Stefans Bild an die Raubvögel in der Umgebung ausgesandt und ihnen deutlich zu verstehen gegeben hatte, dass Stefan zur Farm gehörte. Etwas hatte den Vogel verwirrt. Wenn die pulsierende Kraft in der Luft einen Raubvogel verwirren konnte, der sich in der Nacht heimisch fühlte, dann konnte diese Kraft zweifellos auch das Warnsystem der beiden Männer in die Irre führen.
Ich mache mich sofort auf den Weg. In Levs Tonfall schwang Empörung mit.
Stefan fühlte augenblicklich den Sprung in der pulsierenden Kraft, als sei einer der Fäden gerissen. Elektrizität knisterte und entlud sich in der Luft, schmale, glühende Linien, die von einem zentralen Punkt ausgestrahlt wurden. Die hellen Lichter hätten außer Kontrolle geratene Elektrizität sein können. Jedenfalls kamen sie ihm vor wie eine umwerfende Lightshow. Als Lev abrupt aus dem Haus geeilt war, hatte seine Frau zweifellos aufgehört, ihre Regensymphonie zu dirigieren und die Verbindung zwischen allen fünf Elementen abreißen lassen.
Er blickte zu Judith auf. Sie stand da, plötzlich im strömenden Regen, und sah überrascht in die Richtung von Rikkis Haus, doch sie unternahm nichts, um Schutz zu suchen. Einen Moment lang verschleierte sich Stefans Sicht. Sein Magen hob und senkte sich und sein Verstand verlor die Orientierung. Als er sie wiederfand, war er mit seinem Bruder verschmolzen und schaute durch die Augen der Eule auf die dicht zusammenstehenden Kiefern hinunter. Der schattenhafte Umriss eines Mannes kauerte dort und hielt etwas auf Judith gerichtet.
Judith! Beide Brüder stießen die Warnung exakt im selben Moment aus und ihre Stimmen donnerten in ihrem Kopf. Lass dich sofort auf den Boden fallen und bleib still liegen.
Stefan ließ blanken Stahl in seinen Befehl einfließen und war nicht überrascht darüber, dass Lev dasselbe tat. Das Ergebnis war erfreulich. Judith zögerte nicht. Stefan wusste nicht, was sie mehr schockierte – diesen entschiedenen Befehl zu hören oder das Wissen, dass beide Männer in ihrer Nähe waren.
Stefan ließ jede Vorspiegelung von Verstohlenheit sausen und sprintete auf die Bäume zu. Lev war noch ein gutes Stück entfernt, aber er war auf dem Weg. Ein Zweig knackte vernehmlich und das Geräusch war in der Stille der Nacht weithin zu hören. Seine Beute floh, sowie sie Stefan entdeckte.
Schick die Eule, wies er seinen Bruder an. Schneide ihm den Weg zu seinem Fahrzeug ab. Er muss einen Wagen haben. Ich kann ihn nicht rechtzeitig einholen. Du musst ihn aufhalten. Sofort, Lev. Halte ihn auf.
Er rannte mit gezogener Waffe und die Angst um Judith ließ sein Herz stockend schlagen. Hatte der Mann versucht, sie zu töten? War es Ivanov? Ivanov hatte nichts davon, wenn er Judith tötete. Er konnte unmöglich wissen, was Stefan für sie empfand. Selbst wenn Stefan dem Eliminator die Wahrheit sagte und ihm schwor, seine Gefühle für Judith seien echt und tief, würde Ivanov ihm niemals glauben.
Er hatte Deckung in Hülle und Fülle, als er durch die Gärten rannte, denn die Blütenstauden und die hohen Sträucher schirmten ihn selbst vor einem guten Schützen ab. Er achtete darauf, keinen geraden Weg einzuschlagen, sondern in einer gebückten Haltung in Schlangenlinien zu laufen, da er jeden Moment einen Kugelhagel erwartete.
Die Eule flog los und schloss sich etlichen anderen an, die plötzlich zur anderen Seite der dichten Bäume flogen und hinter der Kuppe verschwanden.
Wo ist er?, fragte Stefan schroff.
Auf dem westlichen Trampelpfad. Ich kann seinen Wagen noch nicht sehen, aber er muss einen haben. Wenn er es bis zu seinem Fahrzeug schafft, kann ich ihm den Weg abschneiden, ehe er das Tor erreicht oder auf den hinteren Teil des Anwesens zu gelangen versucht. Diese hinteren Hektar Land sind eingezäunt.
Er könnte einen Zaun durchbrechen, hob Stefan hervor.
Lev musste teilweise blind fahren, wenn er mit den Eulen in Verbindung stand, doch seine Informationen waren für Stefan von allergrößter Bedeutung. Das Wissen, dass seine Beute davonlief, erlaubte es Stefan, den kürzesten Weg zu wählen und seine Deckung zu vernachlässigen. Er änderte seinen Kurs, scherte aus dem Garten aus und lief diagonal durch eine Wiese von wild wachsenden Blumen, die ihn den Hang hinaufführte.
Geh ins Haus, Judith, befahl er. Halte dich dicht über dem Boden und schalte um Gottes willen dein Sicherheitssystem ein. Falls jemand versucht einzubrechen, rufst du den Sheriff an.
Er erwartete von ihr, dass sie ihn mit Fragen und Forderungen bombardierte, doch sie tat keines von beidem. Er fühlte ihr stummes Einverständnis und riskierte einen Blick über seine Schulter, der ihm zeigte, dass die Balkontüren energisch geschlossen wurden.
Ich erwarte, euch beide heil und gesund wiederzusehen, erwiderte sie leise. Und ich erwarte eine gute Erklärung von euch.