14.
Judiths Herz machte einen Satz, als eine harte Hand auf ihren Mund schlug. Sie riss die Augen auf und starrte in das vertraute Gesicht, das auf sie hinunterblickte. Ihr Herz schlug in einem beschleunigten Rhythmus und tief in ihrem Inneren schmolz etwas, um ihn weich und feucht willkommen zu heißen, ehe sie etwas dagegen tun konnte.
»Du hast meine Anrufe nicht beantwortet.«
Thomas hob seine Hand nicht und daher nickte sie nur und sog seinen Anblick in sich ein. Das Haar fiel ihm zerzaust und äußerst attraktiv in die Stirn. Sie hätte es gern angefasst, es ihm aus dem Gesicht gestrichen, die seidige Beschaffenheit unter ihren Fingerspitzen gefühlt. Sie bekam kaum Luft – und das hatte nichts mit der Tatsache zu tun, dass seine Hand auf ihren Lippen lag.
»Es waren vier sehr lange Tage. Ich lasse nicht zu, dass du dich in deinem Haus verbirgst, hinter dem Tor und der Alarmanlage, und dem, was zwischen uns passiert ist, aus dem Weg gehst.«
Genau das hatte sie getan, aber er sollte zumindest in Betracht ziehen, sie miede ihn vielleicht, weil ihr bewusst war, dass er Levi kannte. Hinter ihm verbarg sich offensichtlich mehr als nur Thomas Vincent, der Geschäftsmann. Rechtschaffene Entrüstung funkelte in ihren Augen, als sie ihn ansah.
Er zog seine Hand so vorsichtig zurück, als könnte sie zubeißen. Auf den Gedanken war sie tatsächlich gekommen, aber sie nahm an, es sei würdelos, ihn zu beißen.
»Ich hatte die Alarmanlage angeschaltet. Doch anscheinend ist sie ziemlich nutzlos.« Da sie sich plötzlich sehr angreifbar fühlte und sich ihres Körpers unter ihrem Schlafanzug deutlich bewusst wurde, setzte sie sich auf und zog die Decke bis an ihr Kinn. »Was ist der Sinn einer sehr kostspieligen Alarmanlage, wenn sie nicht jeden fernhält?«
Sie zog entrüstet die Nase hoch. Musste er denn so unglaublich unwiderstehlich sein mit diesen erstaunlichen Augen und seinen verwegenen Narben und diesen strammen Muskeln überall? Sie war mit gutem Grund wütend auf ihn und, was noch schlimmer war, sie fürchtete sich vor dem, was er bei ihr bewirken konnte. Sie musste aufhören, auf ihn zu reagieren. Ihr Herz verweigerte ihr den Gehorsam und pochte, bis sie die Schläge wie Donner in ihren Ohren hören konnte. Durch ihre Adern jagte glühende Gier, so unaufhaltsam wie ein führerloser Zug. Sie hasste das Glück, das in ihr aufkeimte, obwohl sie sich bemühte, es zu zertreten. Er war zu ihr gekommen.
»Deine Alarmanlage ist von angemessener Qualität, aber sie ist nicht dazu gedacht, mich fernzuhalten.«
Judith schmeckte Leidenschaft. Sie wusste, dass sie ihn mit ihren Blicken in sich einsog und ihn verschlang, und dabei hätte sie ihn von sich stoßen, schreien oder sonst etwas tun sollen, um sich zu retten. »Geh weg, Thomas.«
Seine Augen verwandelten sich in geschliffene Aquamarine, klar und strahlend. Sie sah, wie die Dunkelheit über ihn strömte und jede Farbe seiner Aura überdeckte, bis er nur noch ein Schatten war. Der Atem stockte in ihrer Lunge und ihre Finger gruben sich in das Laken, um Halt zu finden.
»Ich heiße Stefan. Stefan Prakenskij. Levi ist mein Bruder.«
Er legte das Geständnis mit leiser Stimme ab und hielt mit seinen Augen ihren Blick gefangen. Sie war hypnotisiert von der immensen Kraft, die sie dort sah, und konnte den Blick nicht von ihm abwenden. Dieser Mann war kein Geschäftsmann. Die Aura, die ihn umgab, war mit Gefahr aufgeladen. Einen Moment lang glaubte sie, sie hätte nicht richtig gehört. Sie wusste, dass Levis Leben strengster Geheimhaltung unterlag und dass er ein sehr gefährlicher Mann war. Jetzt wurden die Bilder in den Erinnerungen von Thomas, nein, von Stefan, auf die sie flüchtige Blicke erhascht hatte, verständlicher. Sie schüttelte den Kopf, doch aus ihrer zugeschnürten Kehle drang kein Laut.
»Ich konnte dir nicht die Wahrheit sagen und damit sein Leben in Gefahr bringen. Du hättest dann sicher sofort dichtgemacht und mich aus deinem Leben ausgesperrt. Man will Levi aus dem Verkehr ziehen und ein Killer hält sich in Sea Haven auf.«
Er berührte den Kratzer auf seinem Kinn, der bereits verheilte. »Ich bin dem Todesschützen an dem Abend, an dem du mir die Galerie gezeigt hast, über den Weg gelaufen. Er war schon seit einiger Zeit hier. Ich war nach Sea Haven gekommen, um Levi zu finden. Ich wusste, dass er noch am Leben war, und ich wollte verhindern, dass ihn jemand umbringt. Sowie ich begriffen hatte, dass du die Frau bist, mit der ich den Rest meines Lebens verbringen will, und dass meine Gefühle für dich sehr echt sind, wollte ich dir die Wahrheit sagen. Aber ich konnte sein Leben nicht in Gefahr bringen und musste deshalb vorher mit ihm reden. Ich hoffe, das kannst du verstehen.«
Judith presste ihre Lippen aufeinander, da sie befürchtete, das Falsche zu sagen. Sie wusste nicht, was sie empfinden sollte. Sie war mit diesem Mann von einer Klippe gefallen, hatte Träume aufgebaut und ihre rigorose Selbstkontrolle aufgegeben, und jetzt hatte sie keine Ahnung, wer er in Wirklichkeit war. Unbewusst schüttelte sie den Kopf.
»Tu das nicht. Verschließe dich jetzt nicht vor mir, Judith. Du tätest dasselbe für jede deiner Schwestern und das weißt du selbst. Levi weiß, dass ich mit dir rede. Du kannst ihn anrufen und dir von ihm alles, was ich sage, bestätigen lassen. Ivanov hat schon einmal Jagd auf ihn gemacht und er wird niemals aufhören. Nie. Er wird hoffen, dass ich ihn zu Levi führe, und dann wird er uns beide töten, falls sich ihm die Gelegenheit bietet.«
»Du musst Jonas verständigen.«
In seinen Augen blitzte etwas Tödliches auf, ein kurzes Aufflackern von Gefühlen, die ihr Angst einjagten. »Deine Lösung ist immer dieser Jonas. Ivanov ist um einige Nummern zu groß für ihn, Judith. Glaube mir, ich kenne Killer. Es mag sein, dass Jonas auf seinem Gebiet sehr gut ist, aber er wird durch Vorschriften behindert, die er befolgen muss, weil er gar keine andere Wahl hat. Er würde versuchen, Ivanov festzunehmen, und Ivanov brächte ihn um.«
»Was willst du mir damit sagen?« Judith zog die Decke enger an sich und wich vor ihm zurück. Sie befürchtete, genau zu wissen, was das bedeutete. Es war eine Sache, davon zu träumen, Jean-Claude leiden zu lassen und ihn sterben zu sehen, aber diese geballte Sprungkraft, die Stefan jetzt so deutlich anzusehen war, sagte ihr, dass er wirklich durchaus zu Dingen fähig war, die sie sich nicht einmal vorstellen konnte.
»Das heißt, du kannst Harrington sagen, dass Ivanov Jagd auf Levi macht, aber wenn du das tust, wird es den Mann wahrscheinlich das Leben kosten. Du bist drei Nächte lang nicht mehr im Bett gewesen, Judith.«
Sie sah ihn blinzelnd an. »Spionierst du mir etwa nach?«
»Ich wache über dich. Das ist ein Unterschied.« Er rieb sich den Nasensteg. »Okay. Vielleicht habe ich dir nachspioniert«, räumte er ein. »Ich musste wissen, dass dir nichts fehlt.«
Das Herz zog sich in ihrer Brust zusammen. Stefan Prakenskij hatte nichts Jungenhaftes an sich, weder in seinem Aussehen noch in diesem sanften, sinnlichen Tonfall, und doch klang er so erstaunt und selbstironisch, als könnte er sein eigenes Benehmen nicht recht glauben. Dieser Mann war noch disziplinierter und noch beherrschter als sie, wenn sie ihn richtig deutete, und doch schien er im Umgang mit ihr ein wenig überfordert zu sein, und sie reagierte gegen ihren Willen auf die Hilflosigkeit in seinem Tonfall.
»Ich habe keine Erfahrung mit Gefühlen, Judith. Ich werde alles falsch machen und Mist bauen. Ich habe nie wirklich eine echte Beziehung gehabt.«
Ihr Herz machte wieder einen Satz. »Nie?«
Er schüttelte den Kopf. »In meinem Metier sind Beziehungen unmöglich.« Er seufzte und fuhr sich mit einer Hand durchs Haar, bis die dichten Strähnen wüst zerzaust waren. »Ehrlich gesagt, hätte ich mich auch nicht für fähig gehalten, echte Gefühle für eine Frau zu entwickeln. Und dann habe ich dich gesehen und es ist, als hätte ich nichts mehr unter Kontrolle. Du hast das Heft in die Hand genommen und ich habe keinen Schimmer, wie ich damit umgehen soll, Judith.«
Er schien sich so unbehaglich zu fühlen, so vollständig ratlos, dass sie sich nicht vorstellen konnte, das, was er sagte, sei nicht wahr. »Ich weiß, dass das mit uns alles zu schnell ging, und wahrscheinlich habe ich es auch schon so gut wie verpatzt, stimmt’s?«
»Ich glaube, das waren wir beide, Stefan.« Judith würde ihn nicht die gesamte Schuld auf sich nehmen lassen. »Ich treffe meine eigenen Entscheidungen und das war ein bewusster Entschluss.«
Er schüttelte den Kopf. »Mir ging es um etwas Dauerhaftes und du hast gehofft, wir würden in Flammen aufgehen und das Verlangen würde erlöschen. Gib es zu, Judith. Eine Nacht war alles, was du mir geben wolltest.«
Sie lächelte ihn unwillkürlich an, voller Selbstironie. »Ich hatte vor, dich Traktor fahren zu lassen. Das war alles.« Er wirkte so geknickt, dass sie ihm etwas in die Hand geben musste. »Es fällt mir nicht leicht, dir zu widerstehen.«
Er stieß seinen Atem aus, als hätte er ihn lange angehalten. »In Russland haben sich meine Eltern gegen einen sehr mächtigen Mann gestellt. Bedauerlicherweise haben sie seine Fähigkeiten unterschätzt und er kam eines Nachts mit Soldaten und hat meine Eltern vor unseren Augen ermordet. Wir wurden voneinander getrennt und in verschiedenen militärischen Trainingslagern untergebracht. Ich bin dazu erzogen worden, Spion im eigenen Land zu sein, und ich kenne keine andere Lebensweise, Judith. Ich habe so lange in den Schatten gelebt, und dann habe ich dich gesehen und die Welt um mich herum hat sich verändert – sie wurde greifbar. Es lässt sich schwer in Worte fassen, aber ich weiß, dass das, was ich empfinde, echt ist.«
Stefan fühlte sich absolut unbehaglich und überhaupt nicht in seinem Element, als er dieser Frau seine Seele entblößte. Wenn sie ihn abwies, blieb ihm nichts mehr von sich selbst.
»In jedem Moment, den ich mit dir verbracht habe – ganz gleich, wie sehr ich mich angestrengt habe, Thomas Vincent zu sein, und ich habe Jahre darauf verwendet, diese Tarnung aufzubauen –, hat sich mein wahres Ich in den Vordergrund gedrängt, und das, Judith, ist mir in all den Jahren, die ich gearbeitet habe, nie passiert. Ich will Thomas Vincent für dich sein, ich will es wirklich, aber ich muss dir auch ehrlich sagen, wer ich bin – welche guten und schlechten Seiten ich habe. Und Letztere werden überwiegen.«
Er sagte die nüchterne, unbeschönigte Wahrheit darüber, wer er war, und betete, sie würde ihm eine Chance geben. Gleichzeitig wusste er, dass sie verrückt sein müsste, um sich an ihn zu binden.
»Du stellst es nicht gerade geschickt an, dich selbst anzupreisen. Du machst deine Sache sogar ganz miserabel. Und denk daran, dass ich im Moment etwas sauer auf dich bin.«
Stefan schüttelte den Kopf. »Ich versuche, so ehrlich wie möglich zu sein. Ich will nicht, dass du dich auf mich einlässt, ohne sämtliche Fakten zu kennen. Ich bin ziemlich sicher, dass Sorbacov sowohl für Levi als auch für mich sogenannte Ruhestandsbefehle erteilt hat. Selbst wenn es mir gelingt, Ivanov zu kriegen, könnte Sorbacov sehr gut jemand anderen schicken.« Er seufzte. »Die Wahrscheinlichkeit, dass er es täte, ist sehr groß.«
Judiths Blick glitt über sein Gesicht und musterte ihn anscheinend eine Ewigkeit. Zum ersten Mal legte sich ihre Furcht vollständig und ihn umgab heitere Ruhe. Er liebte ihren starken Geist und dass er alles in seiner Umgebung umschloss. Manchmal kam es ihm, so wie jetzt, vor, als hüllte sie ihn in eine Decke aus Frieden.
Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich und sie ließ abrupt die Decke fallen. »Komm. Keiner von uns beiden kann jetzt noch schlafen. Also können wir auch Tee trinken.« Sie schlüpfte unter der Decke heraus und kam gar nicht auf die Idee, dass er ihr nicht Platz machen und sie aus dem Bett lassen könnte.
Er konnte sich jedoch nicht von der Stelle rühren. Nicht wenn sie ein hauchdünnes, nahezu nicht vorhandenes T-Shirt aus Spitze und dazu knappe Shorts trug, die an den Hüften eng anlagen und ihre Rundungen betonten. Er wich nicht zur Seite und seine wesentlich größere Gestalt versperrte ihr den Weg. Da sie nach vorn gerutscht war, war ihr Körper nahezu unter seinen geglitten. Er beugte sich vor und seine Brust, die sich an ihre presste, zwang sie, sich zurückzulehnen. Ihre dunklen Augen weiteten sich schockiert, aber auch hilflose Gier und Verlangen flossen in ihren Gesichtsausdruck ein. Ihr üppiger Mund lockte ihn mit geöffneten Lippen an und ihre kleine Zunge glitt grazil über ihre Unterlippe.
Er nahm das Angebot an, halb zögernd, halb hilflos. Sein Mund bemächtigte sich erbarmungslos fordernd ihrer Lippen. So wie er sie berührt hatte und als seine Zunge erst einmal in der samtigen Glut versank, war er verloren. Er gab sich dem reinen Genuss hin, sie zu küssen. Ein Arm schlang sich um ihre Taille und er zog sie noch enger an sich. Einen Moment lang erwiderte sie seinen Kuss und verströmte sich in ihn; flüssiges Feuer floss in seinen Adern, raste direkt in seine Lenden und sammelte sich dort in einem erhitzten, übermächtigen Verlangen.
Judith zog sich zurück, legte ihren Kopf auf die Matratze und sah ihn forschend an. »Du weißt, was passieren wird, wenn wir noch weiter gehen, Stefan …«
Er presste seine Hand auf ihren Mund. »Du wirst mich vorläufig Thomas nennen müssen. Wenn Ivanov jemals Verdacht schöpft, dass ich dir die Wahrheit gesagt habe, wird er dich benutzen, um an mich heranzukommen, und glaube mir, moj padschij angel, es würde funktionieren.«
»Dann eben Thomas. Verstehst du, ich weiß noch nicht einmal, was ich davon halten soll, dich nicht bei deinem richtigen Namen nennen zu können. Ganz gleich, wie ich dich nenne, ich muss mir meiner Sache sicher sein. Aber ich traue mir nicht, wenn ich dir so nah bin.«
»Ich wäre ein Dummkopf, wenn ich dich jetzt gehen ließe, Judith.«
»Bitte, lass mich aufstehen. Ich muss mir meiner Sache sicher sein. Ich darf keinen weiteren Fehler machen. Du musst zugeben, dass alles viel zu schnell geht. Stört dich das denn gar nicht?«
Stefan schüttelte den Kopf und sein Magen schnürte sich zu. Sie war zur Flucht bereit. Sie wollte ihn, aber sie traute sich selbst nicht. Sie hatte sich nicht mehr getraut, seit sie mit Jean-Claude La Roux einen Fehler gemacht hatte. Es schien sich immer wieder um diesen Mann zu drehen. Er hätte ihm damals das Genick brechen sollen, und damit basta.
Er zwang seinen angespannten Körper, sich behutsam zurückzuziehen und ihr Bewegungsfreiheit zu geben, obwohl ihn alles dazu drängte, sie eng an sich zu pressen. »Glaube mir, Süße, wenn ein Mann sein ganzes Leben lang nie den übermächtigen natürlichen Drang – das Verlangen – verspürt hat, mit einer Frau zusammen zu sein, dann ist ihm ganz egal, dass es zu schnell geht. Er ist einfach nur dankbar. Ich dachte, ich sei unfähig, echte körperliche Anziehungskraft zu empfinden, von echten Gefühlen ganz zu schweigen.«
Judith setzte sich behutsam hin, als er ihr Platz machte. Stefan stand mit einem kleinen Seufzen auf und nahm ihre Hand, um sie auf die Füße zu ziehen.
»Du weißt nicht, was wahr ist, Thomas. Nicht wenn du eine Lüge lebst.«
»Mein bisheriges Leben ist nicht wahr gewesen, Judith. Es war schon nicht mehr wahr, seit ich aus meiner Familie herausgerissen wurde. Komisch. Ich habe meine Kindheit verdrängt, sowohl die guten als auch die schlechten Seiten, aber seit ich dir begegnet bin, kann ich mich daran erinnern, wie meine Mutter gelächelt hat und wie mein Vater im Haus, geschützt vor neugierigen Blicken, mit uns gespielt hat. Er war … magisch. Ich kann mich auch daran erinnern, wie sich all das leuchtend rote Blut im Schnee rosa verfärbt hat und trüb wurde, als die Soldaten meinen Vater erschossen hatten und sich meiner Mutter zuwandten. Mein ältester Bruder hat gegen sie gekämpft. Sie haben ihn geschlagen, bis er sich nicht mehr rühren konnte und sein Körper dort draußen im Schnee über dem Körper meiner Mutter lag. Ich konnte seine Augen sehen, die Wut, die darin stand, aber keine Kapitulation. Vielleicht ist das der Grund, weshalb ich überlebt habe – weil ich die Stärke und die Entschlossenheit meines Bruders gespürt habe.«
Stefan durchfuhr ein Ruck, und der Schock, der ihm anzusehen war, durchdrang auch sein Gehirn. Er gestattete es diesen Erinnerungen nie, an die Oberfläche zu kommen. Er hatte seit mehr als zwanzig Jahren nicht mehr an seinen ältesten Bruder gedacht. Es war einfacher gewesen, sich von ihnen allen zu lösen. Solange sie verschwommen und unscharf irgendwo in seinem Hinterkopf waren, weit weg, wo er glauben konnte, sie seien in Sicherheit und ihr Leben sei nicht so verlaufen wie seines, blieb er zurechnungsfähig.
Er wollte das Mitgefühl nicht, von dem er sich umgeben fühlte, und auch nicht das Mitleid in Judiths Augen. Er brauchte diese Dinge nicht. Sie schwächten einen. Er wandte sich abrupt von ihr ab und lief umher, da sich rastlose Energien in ihm aufstauten. Augenblicklich fühlte er diese beschwichtigende Ausstrahlung, die ihn umgab und ihm zusetzte, bis ihm gar nichts anderes mehr übrigblieb, als vor ihr zu kapitulieren.
Er hielt Judith den Rücken zugewandt, als er aus ihrem Schlafzimmerfenster blickte, erschüttert durch die Erinnerungen an seine Familie, die Kraft ihres Elements und die Macht seiner eigenen Gefühle. Über ihm glitzerten Sterne am Nachthimmel. Unter ihm wiegten sich weiße Siebensterne sanft in der Brise. Das führte dazu, dass er sich vom Universum umhüllt fühlte, während er um sich herum verschiedene Sternbilder sah. Die Wirkung war hypnotisch und beschwichtigend. Judith hatte hier eine perfekte Zufluchtsstätte geschaffen, diese Frau mit ihren erstaunlichen Gaben.
Er drehte sich zu ihr um und gestattete seinem Blick, über sie zu gleiten und ihren Anblick in sich aufzusaugen, sie in sich aufzunehmen. Er hätte sie bis in alle Ewigkeit anschauen können. Er fühlte sich, als erwachte er nach einem langen Schlaf, einem Winterschlaf vom wirklichen Leben. Er hatte nie daran teilgenommen, nur aus den Schatten zugesehen. Judith mit ihrer Leuchtkraft hatte ihn ins Licht hinausgezogen. Ihn entblößt. Er stand vor ihr, verletzbar und im Grund genommen nackt.
Sie stand aufrecht da, ihr Körper fest und kurvenreich, und diese glitzernde Goldkette sprang ihm ins Auge und lenkte seine Aufmerksamkeit auf ihre schmale Taille und ihren verlockenden Nabel. Ihr schimmerndes Haar und ihre dunklen Augen waren exotisch und faszinierend und all diese zarte entblößte Haut lockte ihn an. Körperlich war sie perfekt für ihn, aber weit darüber hinaus ging dieser Geist, der ihn umgab, ihm Hoffnung gab und Dinge aus ihm herausholte, die er vor langer Zeit vergessen oder nie gekannt hatte.
»Mich zurückzuweisen kommt nicht in Frage, Judith. So ist es nun mal. Offensichtlich machst du dir keinen wirklichen Begriff davon, was du getan hast, aber das bewahrt dich nicht vor den Folgen.«
Ein bedächtiges Lächeln verzog ihren weichen Mund und schlich sich in ihre Augen ein. »So, so, eine Abweisung kommt also nicht in Frage?«
Er nickte. Vollkommen ernst. Es gab keinen Ort, an den er noch gehen konnte, nachdem sie zerstört hatte, wer und was er jahrelang gewesen war. Es gab nur noch … Judith. »Genau so ist es.«
»Ich habe das getan?«
Er nickte wieder und wusste, dass er nichts mehr in der Hand hatte. Er bat sie, ihn zu retten … seine Seele zu retten … diesen kleinen Teil des wahren Stefan Prakenskij zu retten, den er so lange beschützt hatte. Sie hatte die Schleusen für die Liebe geöffnet – und für den Schmerz. In all den Jahren hatte er den Schmerz verdrängt, doch jetzt fühlten sich die Erinnerungen wie frische Wunden und allzu wirklich an. Nah. So nah, dass er fast das Gefühl hatte, als verlöre er den Verstand. Sie hatte ihn vier endlose Tage und drei Nächte lang allein gelassen.
»Ich kann der Mann sein, den du brauchst, Judith – für alles. Ich kann dieser Mann sein. Du kannst mich nicht aussperren, weil du dich davor fürchtest.«
Er musste sie in seinen Armen halten. Es gab keinen Ausweg für ihn. Er war viel zu tief eingestiegen. Er kam sich vor, als sauste er im freien Fall durch das All, ohne eine Ahnung zu haben, wo er landen könnte. Das war der Typ Frau, der zu ihm stehen würde, ganz gleich, was passierte, falls sie sich an ihn band. Sie würde für immer zu ihm stehen. Auch für sie würde es kein Zurück geben. Sie hatte sich die Phantasie gestattet, sie hatte sogar ein paar Annäherungsversuche gemacht, aber sie hielt sich immer noch in Schach, beherrscht und vorsichtig. Aus Furcht davor, an den Ort zu gelangen, an dem er sich bereits befand.
Judith neigte von ihrem Naturell her zu zügelloser Leidenschaft und sie befürchtete, die Kontrolle zu verlieren, die es ihr möglich machte, die Menschen um sie herum vor dem Auf und Ab ihrer intensiven Gefühle zu bewahren.
»Du verstehst das nicht, Thomas.« In ihrer Stimme drückte sich Schmerz aus. Verlangen und Lust.
Sie zuckten beide zusammen, als sie seinen angenommenen Namen murmelte.
Judith schüttelte den Kopf. »Das Leben ist nicht ganz so schwarz und weiß. Ich kann nicht immer alles tun, was ich will. Ich habe eine Familie, die ich liebe. Menschen, die mir wichtig sind. Diese Frauen haben mir das Leben gerettet und mir den Glauben an mich selbst zurückgegeben. Sie haben mir Hoffnung gegeben.«
»Wie du es für mich getan hast«, bemerkte er mit ruhiger Stimme.
Sie blickte abrupt in seine Augen auf und schluckte schwer. »Bevor du hier aufgetaucht bist, habe ich mich wie auf Eis gelegt gefühlt. Das ist wahr, Thomas.« Diesmal sprach sie seinen Namen mit fester Stimme aus. »Ich hatte das Gefühl, es würde nie Liebe in meinem Leben geben, nicht die Liebe eines Partners – eines Mannes, den ich für mich allein habe. Ich hatte keine Hoffnung auf eine eigene Familie. Auf Kinder und Gelächter, auf Liebe Tag für Tag. Und dann habe ich dich gesehen, und ehe ich Atem holen konnte, war ich schon so in dir aufgegangen, dass ich keine Luft mehr bekam. Ich lasse keine Menschen in mein Leben ein. Ich kann es nicht. Du machst dir keine Vorstellung davon, wie gefährlich das sein kann, und ich will keinen falschen Schritt unternehmen. Ich beschütze dich ebenso wie meine Familie und mich.«
Er hielt ihr seine Hand hin. Sie wirkte so verloren, unfähig, diesen Schritt auf ihn zuzugehen. Sie blickte auf seine Hand und Tränen traten in ihre Augen. Sie schüttelte den Kopf.
»Ich kann es nicht, Thomas. Ich kann es dir nicht erklären, aber du bist ohne mich besser dran.«
Je aufgewühlter sie wurde, desto mehr negative Energien drängten sich im Raum, bis sie die Wände pulsieren ließen. Anfangs schlug das bedrückende Gefühl brutal auf ihn ein und unterminierte seine Entschlossenheit und seine Zuversicht, dass sie perfekt zusammenpassten, doch als ihre Ängste größer wurden, verstärkte sich seine Entschlossenheit, und Ruhe senkte sich herab.
»Moj prekrasnij padschij angel.« Er legte die Entfernung zwischen ihnen zurück und nahm ihre Hand. »Schlösser halten mich nicht auf. Ich kann gehen, wohin ich will. Es ist unmöglich, einen Mann wie mich auszusperren. Du hast keine Geheimnisse vor mir. Ich kann nicht damit leben und du brauchst sie nicht.« Er sah ihr fest in die Augen und wollte sie dazu bringen, dass sie verstand, was er ihr sagte.
Ihre Augen wurden groß. Der Atem stockte in ihrer Kehle. Finstere Wut breitete sich im Raum aus. Er ließ ihre Hand nicht los, selbst dann nicht, als sie sich anspannte und sie ihm zu entreißen versuchte. Er hielt sie an sich gekettet, während sich Wut wie ein Krebsgeschwür ausbreitete und der Boden unter seinen Füßen Wellen schlug. Die Kraft nahm zu und die Fenster klapperten. Er hielt sie weiterhin fest und blieb ruhig, das Auge des Orkans, rührte sich nicht und wandte keinen Moment lang den Blick von ihr ab.
»Atme jetzt einfach, Judith«, sagte er und achtete darauf, dass seine Stimme ruhig klang. »Ich bin dem Sturm ebenso sehr ausgesetzt wie du und wir stehen immer noch, er hat uns nicht umgeweht. Ich stehe immer noch bei dir. Und zu dir. Deine schlimmsten Seiten sind nicht der Rede wert, Liebling. Jeder wird ab und zu zornig und fühlt Wut und sogar Hass. Du bist ein Geistelement, und daher können leider auch andere diese finsteren Emotionen fühlen, wenn du sie herauslässt. Aber die Gefühle sind normal. Sie machen dich nicht zu einem fürchterlichen Menschen.«
Ihr Blick wich ihm aus und sie schlug die Augen nieder. Schuldbewusstsein und Scham ließen ihre Schultern herabsacken. Er wusste, dass ihr Schuldbewusstsein nicht durch ihre Wut oder durch ihre finsteren Wünsche ausgelöst wurde. Die Scham rührte daher, dass sie es nicht fertigbrachte, ihren Bruder zu rächen.
Stefan trat näher zu ihr, dicht genug, um ihr etwas von seiner Körperwärme abzugeben, ohne ihre Rundungen physisch zu berühren. Er zog ihr Kinn zu sich hoch und zwang sie, ihm in die Augen zu sehen. »Meine Scham, Judith, rührt daher, dass ich voll und ganz dazu fähig bin, anderen Menschen ohne Gnade und ohne jedes Gefühl schreckliche Dinge anzutun. Wenn du mich auffordern würdest, diesen Mann für dich leiden zu lassen oder ihn für dich zu töten, dann würde ich es erledigen. Du wolltest eine Waffe und ich stehe vor dir und bin bereit, alles für dich zu tun. Wenn du mich darum bätest, wäre es betrüblicherweise die einfachste Übung, die du jemals von mir verlangen wirst.«
Er sah ihr fest in die Augen, als er dieses Geständnis ablegte, denn er wollte, dass sie die schreckliche, hässliche Wahrheit seiner Worte hörte, fühlte und sah. Sie musste ihn kennen – den echten Stefan, nicht den erfundenen Thomas. Stefan war ein Mann der Tat und diese Taten würden nicht immer erfreulich sein. Seine Ausbildung saß tief. Bei ihr konnte er nichts anderes sein als das, was er wirklich war. Er wollte, dass Judith ihn so sah, wie er war, sich in ihn verliebte und sich an ihn band.
»Ich brauche keinen Mann, der mich errettet.«
»Kommt es dir so vor, Judith? Wie eine Rettung? Mir macht es nichts aus, dir zu sagen, dass ich dich brauche. Kann ich ohne dich leben? Selbstverständlich. Ich habe es jahrelang getan, aber kann ich nachts schlafen? Richtig durchatmen? Glück empfinden? Ich weiß es nicht, denn ich war noch nie glücklich, und da ich jetzt weiß, was es heißt, glücklich zu sein, wird es mir vielleicht schwerer fallen, ohne das Glück zu leben. Ich wünsche mir eine echte Partnerschaft mit dir. Ich möchte deine Freude in meinem Leben haben. Dein Gespür für das, was Spaß macht. Die leuchtenden Farben, die du in mir zum Leben erweckst. Ich glaube, du bist hier diejenige, die mich rettet, nicht umgekehrt.«
Sie presste ihre Lippen aufeinander und stand vollkommen still, weil sie eine Bewegung in jede Richtung fürchtete.
»Es ist nur eine Frage der Zeit, bis du gelernt hast, dein Element zu beherrschen. Du hast schon mehr als die Hälfte des Weges dahin bewältigt. Du hast die dunklere Seite unterdrückt, aber du weißt, dass du das auf Dauer nicht aufrechterhalten kannst. Zum einen fehlt diese Seite in deinen Gemälden und du brauchst sie. Jeder braucht einen Ausgleich. Wenn du erst einmal gelernt hast, dein Element zu beherrschen, warum solltest du dann noch Rettung brauchen, Judith? Ich bin um meinetwillen hier. Um dich anzuflehen, dass du mich so siehst, wie ich bin. Ich halte meine Seele in meinen Händen und bitte dich, mich zu retten.«
Judith fühlte, wie sich ihr Herz zusammenschnürte. Konnte dieser Gesichtsausdruck unecht sein? Nach Jean-Claude war sie so lange Zeit kaputt gewesen. Innerlich zerbrochen. Ihre Schwestern hatten die Teile wieder zusammengeklebt, doch die Sprünge waren noch zu sehen. Dieser Mann stand vor ihr und entblößte ihr seine Seele, gab seine Sünden preis und vertraute ihr sein Leben an. Was auch immer er war und was auch immer er in seinem Leben getan hatte – er hatte Gutes in sich.
Andererseits war er in ihr Haus eingebrochen, in ihr verschlossenes Studio, und hatte ihr nachspioniert. War das nicht die Mentalität eines Stalkers? Er hatte keine Spur von Reue an den Tag gelegt und sie glaubte auch nicht, dass er Reue verspürte. Sie atmete aus, ein langsames sehnsüchtiges Zischen.
Sie konnte nichts dafür. Er hatte nie jemanden gehabt. Die flüchtigen Blicke, die sie auf sein Leben erhascht hatte, die Kleinigkeiten, die er ihr erzählt hatte, waren herzerweichend. Jemand musste diesen Mann lieben. Sie machte sich nicht vor, es würde einfach sein. Sie würde sich keineswegs auf ein Märchen einlassen. Er war ein dominanter Mann. Levi hatte dieselben Charakterzüge, aber für Rikki war es unerlässlich, dass ihre Welt so und nicht anders war. Levi kapierte das und liebte sie genug, um sich ihren Bedürfnissen zu fügen, und er war immer, wirklich immer, sanft, wenn er sie dazu drängte, ihre Grenzen weiter zu stecken.
Stefan – Thomas – würde nicht dieselben Beweggründe haben. Er würde Befehle erteilen und die Fragen hinterher stellen. War sie stark genug, um mit dieser Form von Druck zu leben? Mit einem Mann, der immer um Dominanz ringen würde? Einem Mann, dem verschlossene Türen nicht im Weg standen? Er würde immer eine Kraft in ihrem Leben sein, die Druck auf sie ausübte. Er würde aber auch ein starker Anker sein.
Sein Flehen appellierte an ihr Mitgefühl. Sie feuchtete ihre Lippen an. »Wie kann es keine Frau in deinem Leben gegeben haben, Thomas? Du bist ein sehr sinnlicher Mann.«
Er zog ihre Hand auf seinen Brustkorb und öffnete ihre Finger so, dass ihre Handfläche auf sein Herz passte. »Ich habe nicht gesagt, es hätte keine Frauen gegeben. Ich arbeite für einen Mann namens Sorbacov. Er ist ein sehr gefährlicher Mann, der in unserer Regierung immer hinter den Kulissen tätig ist, aber sein Einfluss und seine Macht sind enorm. Es gibt natürlich diverse Ebenen zwischen Sorbacov und Männern wie mir, aber wenn er mir den Auftrag gegeben hat, eine Frau zu verführen, dann habe ich es jedes Mal getan.«
Sie hörte den Abscheu aus seiner Stimme heraus und das half dabei, die Stiche zu lindern, die sie in ihrem Herzen spürte.
»Ich bin dazu ausgebildet worden, im Bedarfsfall einsatzbereit zu sein und den Akt in die Länge zu ziehen, um eine Frau durch sexuelle Leistungsfähigkeit an mich zu binden.«
Er wählte seine Worte offensichtlich mit größter Sorgfalt und war ihr gegenüber qualvoll ehrlich, obwohl es ihm eindeutig lieber gewesen wäre, nicht über dieses Thema zu sprechen.
»Männer wie ich haben keine Beziehungen, Judith. Wir bringen die Information, die wir brauchen, an uns, wir benutzten die Frau, damit sie uns hilft, und dann sind wir verschwunden.« Er zögerte und seine Finger schlossen sich um ihre Hand. »Wenn die Frau Agentin für eine andere Regierung ist, geht es manchmal darum, wer den anderen zuerst tötet.«
»Das ist ja furchtbar.«
Er zuckte die Achseln. »Es ist das einzige Leben, das ich jemals gekannt habe, und daher ist es für mich normal. Frauen wie du sind kein Bestandteil des Lebens, das ich führe.«
»Und Levi hat das Gleiche getan?«
»Wir wurden in verschiedenen militärischen Trainingslagern ausgebildet und ich bin nicht sicher, für welche Form von Arbeit er eingesetzt wurde. Was ich weiß, ist, dass er, ebenso wie ich, als austauschbar angesehen wird, und da er sich Sorbacovs Kontrolle entzieht, ist er entbehrlich – wie auch ich es sein werde.«
Ihr Herz machte einen Satz, um zu protestieren. »Die Welt hält den russischen Agenten, der an Bord der gesunkenen Yacht war, für tot. Es ist nicht bekannt, dass Levi ebendieser Mann ist. Sorbacov muss wissen, dass du Thomas Vincent bist.«
»Nicht unbedingt. Bei verdeckten Ermittlungen verschwinde ich für längere Zeit aus dem Raster. Ich habe viel Zeit und Mühe darauf verwendet, Thomas Vincent zu erschaffen. Dahinter steckte der Gedanke, ich könnte ihn benutzen, wenn ich verschwinde. In meinem Metier braucht man immer einen Ausweichplan, auf den man im Notfall zurückgreifen kann. Sorbacov weiß, dass ich in Sea Haven bin, aber sonst nichts. Ivanov wird sich nicht die Mühe machen, ihm Genaueres mitzuteilen.«
»Du bist mit dem Gedanken hergekommen zu verschwinden, wie Levi es getan hat?«
Er nickte. »Wenn Ivanov Jagd auf meinen Bruder macht, dann liegt es daran, dass Sorbacov es ihm befohlen hat. Ich werde nicht zulassen, dass es dazu kommt, und das bedeutet, ich stelle mich offen gegen Sorbacov. Dasselbe hat mein Vater getan und er hat ihn töten lassen. Als ich hierhergekommen bin, wusste ich, dass ich der Nächste auf der Abschussliste sein werde, wenn ich es tue.«
»Aber du hast es getan.« Es war eine Aussage, keine Frage. Judith konnte die Entschlossenheit in seinen Augen sehen. Er wäre selbst dann hergekommen, wenn ihn hier ein Exe-kutionskommando erwartet hätte, und das konnte ihn zu Hause immer noch erwarten. Trotzdem … war er hergekommen.
»Er ist mein Bruder. Sorbacov hat meine Eltern getötet. Mehr Blut bekommt er nicht von meiner Familie.«
Judith erschauerte. Es mochte zwar sein, dass sie das Geistelement war und ihre eigenen Emotionen und die Gefühle von Menschen in ihrer Nähe verstärkte, doch sie fühlte genau seine unerschütterliche Entschlossenheit und seine Mordlust.
»Ich brauche eine Tasse Tee, Thomas. Komm mit mir in die Küche und lass uns dort weiterreden.« Wenn sie sich selbst gegenüber vollkommen ehrlich war, traute sie sich nicht zu, ihm zu widerstehen – schon gar nicht dann, wenn seine Loyalität gegenüber seinem Bruder für ihn selbst lebensbedrohlich war. Und auch nicht, wenn sie sah, wie er vor ihr stand und ihr Dinge über sich enthüllte, von denen sie wusste, dass er sie nie einem anderen Menschen erzählt hatte.
Sie schlang ihre Finger um seine, zog leicht daran und führte ihn zur Tür. Sie litt mit ihm. Sie war als Kind in Japan von einer liebenden Mutter und einem liebenden Vater großgezogen worden. Als ihr Vater in die Vereinigten Staaten zurückkehren wollte, hatte ihre Mutter nicht gezögert, sondern war mit ihrem Vater gegangen und hatte die Reise zu einem Vergnügen und einem Abenteuer gemacht. Ihre Mutter hatte ihr Haus zu einem Ort der Liebe und des Friedens gemacht und sie mit ihrer Heiterkeit und ihrer Liebe zum Gärtnern umgeben. Ihr älterer Bruder war liebevoll gewesen und hatte ihr gegenüber starke Beschützerinstinkte entwickelt. Sie hatte eine wunderbare Kindheit gehabt. Sogar nach dem Unfalltod ihrer Eltern, als sie ein Teenager war, hatte sie immer noch Paul gehabt. Er war in die Rolle eines Elternteils geschlüpft und hatte über sie gewacht und dafür gesorgt, dass ihr Leben möglichst beständig blieb.
Wie war die Kindheit für Thomas gewesen? Sie hatte gesehen, dass ihr Bruder gefoltert und getötet wurde, und da war sie eine erwachsene Frau gewesen. Wie musste es sein, als Kind zu sehen, wie beide Elternteile ermordet wurden, und anschließend von seinen Brüdern getrennt zu werden? Ihr Herz schnürte sich zusammen, als sie mit dem kleinen Jungen litt. Wenn sie Thomas ansah, konnte sie ihn sich nicht als Kind vorstellen. Diese grausamen, brutalen Männer, die ihn »ausgebildet« hatten, mussten den kleinen Jungen schnell ausgemerzt haben.
Stefan folgte Judith durch den Flur in ihre Küche. Sie hatte die Lichter nicht angeschaltet, aber durch all die Fenster warfen die Sterne und der Mond einen schwachen Schein, der den Raum ausreichend erhellte. Ihr langes Haar fiel ihr so tief über den Rücken, dass es seinen Blick auf den Schwung ihrer Hüften und auf ihre langen, schlanken Beine zog.
Das Aufblitzen von Schmerz in ihren Augen, wenn er ihr einige seiner Erinnerungen erzählte, war ihm beinah unerträglich. Sie war zu mitfühlend und er war ohne sie nicht mitfühlend genug. Er sollte sie nicht so sehr brauchen. Andererseits wusste er, dass er sich schon jetzt verändert hatte und mit der Zeit gut darin werden würde, mit ihr zusammen zu sein.
»Judith.« Sein Bedürfnis, sie zu überzeugen, war so groß, dass seine Stimme gequält klang. »Ich werde nicht so tun, als sei ich jemals ein guter Mensch gewesen. Verdammt noch mal, ich kann ja nicht mal von mir behaupten, wirklich ein Mensch gewesen zu sein. Ich bin ein Werkzeug, ein verflucht gutes Werkzeug. Ich kenne keine andere Lebensform, aber ich will anders leben. Ich weiß, dass ich gut darin sein könnte, mit dir zusammen zu sein. Für mich gibt es nur dich. Ich wüsste, wann du etwas bräuchtest, wann du traurig oder fröhlich bist. Und ich kann dich gegen die Gefühle anderer Menschen abschirmen und es leichter für dich machen, wenn du in der Öffentlichkeit bist. Aber vor allem bin ich fähig, andere gegen deine Gefühle abzuschirmen. Schon allein das bedeutet für dich die pure Freiheit.«
Er kam sich vor wie ein Anwalt, der im letzten Moment versucht, einem Mann das Leben zu retten.
Judith warf ihm über ihre Schulter einen Blick zu, einen vollkommen natürlichen Blick, den er sexy fand. Trotz seiner unbeugsamen Selbstbeherrschung regte sich sein Körper. Er würde jedoch auf keinen Fall Sex ins Spiel bringen. Sie musste ihn wollen, weil sie zusammenpassten, nicht nur weil die Chemie zwischen ihnen explosiv war – obwohl …
»Tu das bloß nicht«, warnte sie ihn leise, aber ohne große Überzeugung.
Er heftete diese Information ab, um sie gegebenenfalls später hervorzuholen. Sie war mehr als anfällig für Verführungskünste, und das war etwas, was er verdammt gut beherrschte. Er bedachte sie mit einem matten Lächeln. »Ich kämpfe um uns, Judith.«
Sie füllte den Teekessel mit Wasser und stellte ihn auf den Herd. »Dein Leben ist so anders verlaufen, Thomas. Ich kann mir nicht mal die Orte vorstellen, an denen du gewesen bist, oder mir die Situationen ausmalen, in die du geraten bist. Ich habe in den letzten Jahren ein ruhiges Leben geführt. Wir sind hier in einer Kleinstadt – eigentlich ist es mehr ein Dorf. Die Menschen sind sehr tolerant, aber wir sind alle auch ein bisschen eigenartig. In unserem Ort geht es friedlich zu und viel los ist hier auch nicht. Falls jemand mal in Schwierigkeiten gerät, gibt es den Sheriff, der sich darum kümmert. Hier stirbt man aufgrund seines Alters oder im Meer beim Tauchen oder dergleichen. Wie könnte ein Mann wie du hier etwas interessant finden?«
Er ließ sich Zeit, da er instinktiv wusste, dass sie ihn nachdenklich machen wollte, doch er brauchte sich überhaupt keine Gedanken zu machen. »Ich hatte nie ein eigenes Leben, kein echtes Leben, mit einer Familie, und ich kann, ehrlich gesagt, nicht über längere Zeiträume unter Menschen sein. Ich habe außerhalb der Zivilisation gelebt und kenne die Regeln nicht. Ich kann mich überall anpassen, wenn es nötig ist, aber ich bin dann nie ich selbst. Bisher spielte ich immer eine Rolle, und all das nur, um irgendein Ziel zu erreichen. Jetzt wünsche ich mir Frieden, ich brauche einen Ort, an dem ich den Rest meiner Tage in Freiheit verbringen kann, und Sea Haven erscheint mir ideal dafür. Thomas Vincent würde sich dafür begeistern, eine Galerie und eine Ehefrau zu haben, die malt und ganz erstaunliche Kaleidoskope herstellt.«
Judith hielt ihm den Rücken zugekehrt und beschäftigte ihre Hände damit, losen Tee in den Einsatz der Teekanne zu füllen. »Was ist mit Stefan Prakenskij? Ich interessiere mich mehr für ihn und dafür, was er will.« Jetzt drehte sie sich zu ihm um, lehnte sich an die Anrichte und sah ihm erst forschend ins Gesicht und dann fest in die Augen. »Was will Stefan?«
»Ich will dich, Judith. Ich will mit dir leben und dich lieben. Ich will alles sein, was du brauchst.«
Er legte eine Hand auf ihre Wange, denn er konnte es nicht lassen, sie zu berühren. Sein Daumen glitt über all diese glatte, zarte Haut, der er nicht widerstehen konnte. Er fand sie wunderschön – ihren Körperbau, ihre exotischen Augen, ihren Mund, diese kleine, gerade Nase und ihre faszinierenden Grübchen. Doch das, was sich aus ihrem Innern ergoss, war es, was eine besondere Freude durch seine Adern strömen ließ.
»Ich kann gut darin sein, radost’ moja, dich glücklich zu machen. Für deine Sicherheit zu sorgen. Dich zu lieben. Das alles kann ich tun.«
Als sie etwas sagen wollte, schüttelte er den Kopf und legte ihr einen Finger auf die Lippen.
»Aber du musst dir deiner Sache sicher sein. Es gibt kein Zurück. Du musst wissen, was für eine Art von Mann ich gewesen bin und was ich getan habe, Judith. Du musst dir darüber klar werden, dass du keinerlei Ähnlichkeit mit mir hast. All diese dunklen Orte in dir sind normal, die hat jeder. Ich aber bin diese dunklen Schatten, ihre Verkörperung. Kannst du mit einem Mann zusammenleben, der innerlich und äußerlich voller Narben ist? Menschen wie ich genesen nicht. Uns sind gewisse Dinge in Fleisch und Blut übergegangen und wir können uns nicht ändern. Du musst in der Lage sein, mein wahres Ich zu lieben.«
Der Teekessel begann zu pfeifen und Judith wirbelte herum, um das heiße Wasser in die Teekanne zu gießen. Stefan trat nicht zurück, um ihr mehr Bewegungsfreiheit zu geben, sondern blieb stattdessen dicht hinter ihr stehen, atmete tief ihren Duft ein und wollte sie dazu bringen, dass sie ihn verstand. Er kannte sich und wusste, dass er ein harter Mann war, in den Feuern der Hölle gestählt. Aber nicht nur das, sondern wahrscheinlich hatte er auch die meiste Zeit im Höllenfeuer verbracht, verloren in den Rängen der Verdammten, doch er sah einen Ausweg. Genau hier. Und jetzt. Obwohl Ivanov Jagd auf ihn machte. Obwohl Sorbacov in Panik geriet, weil ein Journalist begonnen hatte, brisante Informationen über militärische Trainingslager für Kinder auszugraben.
Stefan wusste, dass sich die Außenwelt darunter in erster Linie kleine Kinder vorstellte, die darauf vorbereitet wurden, als Schläferzellen in die Vereinigten Staaten, nach Großbritannien und in einige andere Länder geschickt zu werden. Diese wenigen Menschen, die im Licht der Öffentlichkeit lebten, heirateten und Kinder bekamen, würden wahrscheinlich nie auf den Plan gerufen werden, und wie viel echten Schaden könnten sie tatsächlich anrichten? Die anderen waren es – diejenigen, die dazu ausgebildet worden waren, in den Schatten zu leben, Mörder und Verführer, Männer und Frauen, die innerhalb von Sekunden töten und verschwinden konnten, als seien sie nie da gewesen –, die diese Länder fürchten mussten. Und diese Menschen waren es auch, von denen Sorbacov befürchtete, ihre Existenz könnte ans Licht kommen.
Sorbacovs Methoden waren brutal gewesen, und nur den zähesten Kindern mit dem stärksten Willen war es gelungen, sie zu überleben. Wenn ans Licht kam, wie er Kinder hatte foltern lassen, wenn die wahrhaft tödliche Natur dieser kleinen Armee von Agenten ans Tageslicht kam, dann würden der Mann und seine politische Karriere zerstört sein, und das wusste er. Er konnte es sich nicht leisten zuzulassen, dass diese Information an die Öffentlichkeit kam.
Judith schenkte zwei Tassen Tee ein und drehte sich mit den Tassen in den Händen zu ihm um. »Wir brauchen Milch. Im Kühlschrank dort drüben.« Sie wies mit ihrem Kopf in die Richtung.
Sein Herz setzte einen Schlag lang aus. Die Milch für den Tee zu holen war eine so häusliche Geste. Er zwang sich zu langsamen Schritten und war weiterhin entschlossen, ihr so viel wie möglich von der Wahrheit zu sagen. »Wenn du dich für mich entscheidest, Judith, wird es nicht reibungslos abgehen. Deine Schwestern werden versuchen, mich dir auszureden«, sagte er. »Ich kann es ihnen nicht einmal verübeln. Sie werden es aus Liebe zu dir tun, weil sie befürchten, du tätest etwas Verrücktes, wenn du dich an mich bindest. Es wird schwierig sein, nicht auf sie zu hören, Judith, weil die Dinge, die sie sagen, höchstwahrscheinlich der Wahrheit entsprechen werden. Ich bin kein anständiger Mensch und das werden sie hervorheben. Ich habe Menschen getötet und sie werden es wissen. Ich bin dazu fähig, meine wahre Aura zu verbergen, und demnächst werden sie auch das wissen. Sie werden Angst um dich haben.«
Er goss die Milch in beide Tassen und nahm zur Kenntnis, dass Judith mehr Milch in ihrem Tee wollte als er. Sie trank einen Schluck und betrachtete ihn über den Rand ihrer Teetasse hinweg.
»Mach ein Kaleidoskop mit mir.«
Er sah sie finster an. »Judith, ich muss wissen, ob du zu mir hältst oder nicht.«
»Ich weiß es noch nicht. Mach ein Kaleidoskop mit mir. Genau das brauche ich. Jetzt sofort. Heute Nacht. Komm mit mir in mein Studio und fertige das Kaleidoskop an.«
»Ist das eine Art Test?«
Sie nickte bedächtig. »Was dich betrifft, kann ich meinen Instinkten nicht trauen. Ich will aber auch nicht nur auf meine Schwestern hören. Ich kann mich noch nicht einmal auf meine Fähigkeit verlassen, die Aura von Menschen zu deuten. Somit bin ich auf meine eigene Wahrheit angewiesen. Wirst du es tun? Das Kaleidoskop herstellen? Du musst dir deiner Sache ganz sicher sein, Thomas, denn du wirst es nicht schaffen, dich vor mir zu verbergen«, warnte sie ihn.
Er hatte sich niemals jemandem gegenüber geöffnet, aber wenn er das Kaleidoskop selbst anfertigte, würde sie in sein Inneres blicken – ebenso wie er in ihr Inneres geblickt hatte, als er in ihr finsteres Kaleidoskop geschaut hatte. Sie gab ihm diese eine Chance. Er wusste, dass er für sie mit geschlossenen Augen den Schritt von der Klippe machen würde. Er hielt ihr seine Hand hin und nickte.