Historische Anmerkung

Ich war noch ein kleines Kind, als ich gemeinsam mit meinen Großeltern Das Haus in Montevideo – den berühmten Film mit Heinz Rühmann – gesehen habe. Damals hatte ich noch keine Ahnung, wo Uruguay genau lag. Für mich war Montevideo jedoch der Inbegriff einer unglaublich fernen, exotischen Stadt.

Als ich mich später ausführlicher mit der Geschichte dieser Stadt befasst habe, habe ich festgestellt, dass sie gar nicht so exotisch, sondern vielmehr stark europäisch geprägt ist: Viele der Gebäude aus dem 19. Jahrhundert, die noch heute das Stadtbild prägen, sind nach französischem Vorbild gebaut worden. Die Wirtschaft des Landes wurde seit den Unabhängigkeitskriegen vor allem von den Briten bestimmt. Und bis heute gilt Uruguay als eines der stabilsten, wohlhabendsten Länder Lateinamerikas – eine Tatsache, die ihm nicht zuletzt den Titel »Die Schweiz Lateinamerikas« eingebracht hat. (Ohne geographische Kenntnisse könnte das irrtümlich zum Schluss führen, dass das an hohen Bergen liegt; in Wahrheit ist das Landesinnere weitgehend flach und von der eintönigen Steppenvegetation geprägt. Es ist also vielmehr das Bankwesen, das zum Vergleich mit dem Alpenstaat einlädt.)

 

Doch auch wenn es nicht so spektakulär wie seine Nachbarländer erscheint, blieb meine Faszination für dieses Land ungebrochen – nicht zuletzt aufgrund seiner wechselhaften Geschichte: Obwohl es von den Spaniern und Briten zunächst nur als Pufferstaat zwischen Brasilien und Argentinien betrachtet wurde, ist es Uruguay doch gelungen, sich seine Eigenständigkeit und nationale Identität zu bewahren. Eine innere Einheit ließ sich damit allein allerdings nicht gewährleisten. Im 19. Jahrhundert war das Land nicht nur von britischer Bevormundung geprägt, sondern von sozialen Spannungen: Die Kluft zwischen Arm und Reich ging ebenso tief wie jene zwischen Land- und Stadtbevölkerung (Colorados und Blancos), und nicht selten trieben bürgerkriegsähnliche Zustände den Staat an den Rand des Abgrunds und seine Präsidenten zur Abdankung. Dennoch blieb es attraktiv für Einwanderer aus Europa – für Bauern und Handwerker ebenso wie für Kaufleute, die für rege interkontinentale Handelsbeziehungen sorgten und zugleich viele europäische Errungenschaften ins Land brachten. Auch im 19. Jahrhundert zog es schon Touristen nach Uruguay, u.a. Hermann Burmeister, dessen Reiseschilderungen für meinen Roman unverzichtbar waren, insbesondere wenn es um die Szenen geht, da Claire und Luis das Land erforschen oder Valeria mit Pablo und seiner Truppe unterwegs ist.

 

Einer der dunkelsten Flecke der Geschichte Uruguays ist ohne Zweifel der verheerende Tripelallianz- bzw. Dreibundkrieg, den es mit Brasilien und Argentinien gegen Paraguay führte. Anders als der fast zeitgleich stattfindende Bürgerkrieg in den USA ist er in Europa nahezu in Vergessenheit geraten und findet sich in hiesigen Geschichtsbüchern so gut wie gar nicht. Beschäftigt man sich allerdings näher damit, stößt man auf erschreckende Fakten: Jener Krieg gilt als der blutigste in Lateinamerika nach den Unabhängigkeitskriegen. Gemessen an den Opfern Paraguays im Verhältnis zu dessen Gesamtbevölkerung, ist er wohl gar einer der verlustreichsten Kriege der Weltgeschichte. Wenn man bedenkt, wie gnadenlos der Diktator sein Volk in den Kampf trieb, kommen einige Historiker zu der Schlussfolgerung, dass es der erste totale Krieg der modernen Geschichte war.

Der Kriegsverlauf war höchst kompliziert und ist zum Teil nicht genau überliefert. In diesem Buch habe ich etliches verkürzt dargestellt. Dennoch hoffe ich, mit diesem Roman den Blick zumindest ein wenig auf die zahlreichen Opfer zu lenken, die ansonsten bestenfalls eine Fußnote der Geschichte sind.

 

Für dieses Buch habe ich nicht nur viel über Südamerika und Uruguay recherchiert, sondern mich auch intensiv mit meiner Wahlheimat Frankfurt am Main beschäftigt. Vieles war mir bereits vage bekannt, doch nun konnte ich mein Wissen vertiefen, z.B. wenn es um Frankfurts Bedeutung als Bankenstadt und als Zentrum der Märzrevolution ging, um das reiche, kulturelle Leben der Stadt oder den vorherrschenden liberalen Geist unter den Bürgern, die hart daran zu knabbern hatten, als 1866 die Preußen die Stadt besetzten. Dem Selbstbewusstsein der Frankfurter hat es langfristig keinen Abbruch getan, was ich ebenso faszinierend finde wie die Tatsache, dass man dort erstaunlich viele emanzipierte, politisch interessierte und gebildete Frauen fand, die die Stadtgeschichte ebenso prägten wie ihre Männer. Interessant erscheint mir überdies, dass jedoch auch schon zur damaligen Zeit – gemessen an Wien, Berlin und Paris – Frankfurt oft unterschätzt wurde und ihm Ortskundige gerne das Siegel einer reinen Bankenstadt aufdrückten. Auch heute wird die Lebensqualität in der Stadt von ihren Bewohnern ungleich höher bewertet als von Einwohnern aus anderen deutschen Großstädten.