10. Kapitel
Rosa wusste nicht genau, was sie nicht schlafen ließ. Bald war es Mitternacht, aber sie fand keine Ruhe. Eigentlich lag ein gewöhnlicher Tag hinter ihr, der aufwühlende Vorkommnisse entbehrte. Nun gut, Albert hatte beim gemeinsamen Abendessen etwas angespannt gewirkt, doch das tat er oft. Ob es nun mit der Politik im Allgemeinen oder der Bank im Besonderen zu tun hatte – es gab immer etwas, das ihm Kopfzerbrechen verursachte, und Rosa hatte sich längst abgewöhnt, danach zu fragen. Sie verstand ja doch nichts von diesen Dingen, und nach solchen Gesprächen war er ihr noch fremder als sonst.
Sie wälzte sich unruhig hin und her, erhob sich schließlich und warf den Morgenmantel über. Auf Zehenspitzen schlich sie über den Gang zum Kinderzimmer. Claire und Valeria lagen dort eigentlich in zwei Bettchen, doch immer wieder – so auch heute – kam es vor, dass sich ein Mädchen zum anderen legte. Sie schliefen beide aneinandergekuschelt, zwei Engeln gleichend, friedlich und entspannt.
Es war ein Anblick, der Rosa rührte und ihr zugleich weh tat. So inniglich, wie sich die Kinder im Schlaf aneinanderklammerten, hatte sie ihre Tochter selten liebkost. Eine Weile blieb sie stehen und betrachtete die Kinder, ehe sie sich seufzend abwandte. Den beiden ging es gut, davon konnte ihre Unruhe nicht rühren.
»Frau Gothmann?«
Sie ging soeben zurück, als die Stimme sie traf. Wie so oft fühlte sie sich nicht angesprochen, denn in Uruguay behielten die Frauen die Namen ihrer Eltern. Erst als sie jemanden schnellen Schrittes kommen hörte, drehte sie sich um. Else lief auf sie zu.
»Du bist noch wach? So spät? Es ist doch …«
»Frau Gothmann, wissen Sie, wo Ihr Mann ist?«, unterbrach Else sie aufgeregt.
Rosa war verwirrt. Sie kannte keine Standesdünkel wie Antonie, aber ob sie die Nächte mit Albert verbrachte oder nicht, war doch Privatsache der Herrschaften und wollte sie nicht von der Dienerschaft beredet wissen.
»Wahrscheinlich schläft er längst.«
»Wenn es so wäre!«, stieß Else aus.
»Was meinst du?«
Die nächsten Worte waren so wirr, dass Rosa sie erst nicht verstand, doch nach einer Weile bekam sie es mit der Furcht zu tun. Von Fabien war die Rede, von einem Streit und wüsten Vorwürfen, von Eifersucht und schließlich …
»Gott, was redest du da?«, herrschte Rosa das Mädchen an. Erst jetzt sah sie, dass Else vor Aufregung zitterte.
»Herr Gothmann glaubt, er müsse seine Ehre wiederherstellen. Das hat mir Franz erzählt – Sie wissen, wer das ist …«
»Gewiss. Einer der Reitknechte.«
»Und obendrein zuständig für die Wartung der Jagdwaffen!«, rief Else.
Rosa wurde eiskalt. Die Ehre wiederherstellen … Dergleichen war ihr nicht fremd. In Montevideo gab es Fehden, die über Generationen Familien entzweiten, immer wieder zu neuen Ausbrüchen von Gewalt führten und später nicht minder grausam gerächt wurden. Aber hier in Alberts zivilisierter Welt?
Sie packte Else an den Schultern. »Was ist passiert?«
»Franz hat angedeutet, dass sie sich zu Mitternacht treffen. Und darum wollte ich wissen, ob Herr Gothmann schon das Haus verlassen hat.«
»Um diese Zeit?«
»Nun, eigentlich ist es verboten …«
»Zum Teufel, was denn?«
Else seufzte. »Ein Duell«, verkündete sie düster. »Herr Gothmann hat von Fabien Satisfaktion verlangt …«
Rosa stürzte noch im Schlafrock die Treppe hinunter. An deren Ende wartete Espe, die entweder instinktiv geahnt hatte, dass ihr Schützling in Aufregung war, oder von den Stimmen geweckt worden war. Sie stellte keine Fragen, doch als sich Rosa an ihr vorbeidrängte und zur Tür stürzte, hielt sie sie fest. »Du hast keine Schuhe an.«
Rosa starrte verwirrt auf ihre nackten Füße.
»Sie haben den Verstand verloren!«, rief sie panisch. »Sie wollen sich doch tatsächlich duellieren!« Sie brach in Tränen aus. »Ich muss es unbedingt verhindern.«
Trotz der Entschlossenheit konnte sie keinen weiteren Schritt machen – als wären ihre nackten Füße, nun, da sie nicht mehr darüber hinwegsehen konnte, ein unüberwindbares Hindernis. Espe erwiderte nichts, sondern holte rasch ein Paar Schuhe und einen warmen Mantel, und Else half Rosa hinein.
»Weißt du, wo sie sind?«
»Irgendwo am Waldrand. Johann, sein Leibdiener, begleitet Herrn Gothmann – wen Fabien bei sich hat, weiß ich nicht.«
Sie verließen das Haus, der Garten lag in völliger Stille und Dunkelheit vor ihnen. Die Dienstboten schliefen längst in ihrem eigenen Trakt, und auch im Haupthaus waren schon fast alle Lichter gelöscht worden.
Rosa hastete los und vernahm nun doch etwas – das Zirpen von Grillen, das Rascheln der Grashalme unter ihren Schritten, doch keinerlei Stimmen … oder Schüsse.
»Wohin?«, fragte sie.
Else zuckte die Schultern. »Ich bin mir nicht sicher – vielleicht in diese Richtung?«
Sie deutete auf den Wald, eine dunkle Wand, vor der keinerlei Menschen auszumachen waren. Wieder ließ sich nichts vernehmen – nur die eigenen Schritte und die von Espe, die langsamer und schwerfälliger folgte und immer noch keine Fragen stellte.
Rosa rief sich ins Gedächtnis, was sie über Duelle wusste. Obwohl sie offiziell verboten waren, fanden sie häufig statt, denn kein Mann, der Wert auf Rang und Ansehen legte, lehnte eine Aufforderung ab – schon gar nicht, wenn er bei der Armee war. Dort wurde man gar entlassen, verweigerte man sich der Forderung um Satisfaktion. Selbst wenn bei einem Duell ein Todesopfer zu beklagen war, war für den Mörder oft keine Strafe zu erwarten. Was Rosa stets am meisten entsetzt hatte, war die Planmäßigkeit, mit der man zur Sache ging: Die Waffen wurden sorgsam gewählt, die Entfernung vor dem Schuss genau festgelegt, und jeder Duellant hatte einen Begleiter bei sich, der die Rechtmäßigkeit zu überwachen hatte.
Nun, irgendwie passte es zu Albert, in einen so nüchternen Kampf zu gehen, anstatt spontan die Fäuste sprechenzulassen. Dennoch: Sie konnte sich ihn unmöglich mit einer Pistole in den Händen vorstellen. Und noch weniger Fabien, dessen feine Hände doch einzig dafür gemacht schienen, übers Klavier zu huschen!
Sie kam immer näher an den Wald, erkannte in der Dunkelheit einzelne Bäume, durch deren Blätterwerk das silbrige Mondlicht fiel, und hörte aus der Ferne Stimmen. Gott sei Dank!, dachte sie, solange sie noch miteinander sprachen, würden sie sich nicht abknallen.
Jetzt sah sie auch die Gestalten im Schatten jener Fackel, die Johann hochhielt, doch es war zu dunkel, in den Mienen zu lesen. Wahrscheinlich waren sie grimmig entschlossen, nun, da die beiden Duellanten auseinandergingen und Johann laut die Schritte zählte. Wenn sie ausreichend Entfernung zwischen sich gebracht hatten, würden sie sich umdrehen und schießen.
»Nicht!«, schrie Rosa. Sie keuchte nach dem Laufen, und ihre Stimme war gepresster als erhofft – doch immerhin laut genug, um die beiden zum Innehalten zu bewegen.
Sie lief auf Albert zu, aber ehe sie ihn erreichte, stolperte sie und fiel zu Boden. Das harte Gras, das hier kniehoch stand, schnitt ihr in die Hände. Als sie hochblickte und sich gedankenverloren das schmerzende Knie rieb, hatte sich Fabien über sie gebeugt – eine Pistole in der rechten Hand.
»Bist du verrückt geworden?«, herrschte sie ihn an.
Das Mondlicht fiel auf ihn und ließ sein Gesicht noch blasser, stolzer und schöner wirken. Doch ehe sie sich in diesem Anblick verlieren konnte, hatte sie auch Albert erreicht und drängte den Musiker zur Seite.
»Wagen Sie es nicht, meine Frau anzufassen!«
Bis jetzt hatte bei Rosa blankes Entsetzen geherrscht, nun packte sie die Wut. Seit langem hatte nicht mehr ein so heftiges Gefühl in ihr getobt.
»Was heißt hier – deine Frau? Seit Monaten, nein, seit Jahren hast du nur Sinn für deine Bankgeschäfte, die Politik, die feinen Familien Frankfurts! Und nun willst du Fabien töten, um deine Ehre zu wahren?«
Sie blickte auf seine Pistole, und auch in seinen Händen wirkte sie wie ein Fremdkörper. Sie hatte Männer gesehen, die bei der Jagd regelrecht mit ihrer Waffe zu verschmelzen schienen, doch Albert hatte nie dazu gehört.
Sein Gesicht war ausdruckslos. »Geh wieder zurück ins Haus!«, befahl er streng.
»Damit ihr euch in Ruhe totschießen könnt?«, rief sie. »Nie und nimmer! Dieser Wahnsinn muss sofort ein Ende haben. Legt die Waffen ab!«
Keiner der beiden machte nur die geringsten Anstalten, ihrem Befehl zu folgen.
»Mag sein, dass ich zu wenig Zeit für dich hatte, aber das gab dir kein Recht, mich mit ihm zu betrügen«, murrte Albert bissig und zutiefst gekränkt zugleich.
Eine vernünftige Stimme in ihr sagte, dass sie sofort beteuern sollte, ihn nie betrogen zu haben und Fabien nicht zu lieben, aber ihre Wut war lauter. »Du hast mich in dieses fremde Land gebracht, du hast mich deiner Welt ausgeliefert und dann im Stich gelassen. Die einzigen glücklichen Stunden der letzten Zeit verlebte ich mit ihm!«
»Du gibst es also zu? Du liebst ihn?«
Rosa schwieg verstockt. Die Wut erkaltete – aber die Verbitterung wuchs. »Du hast mir nach unserer Hochzeit versprochen, dass wir bald wieder meine Heimat besuchen, aber das haben wir nie getan. Du bist doch froh, wenn du dich an deinen Schreibtisch flüchten kannst, um mir zu entgehen.«
»Es ist meine Pflicht, unser Bankhaus zu leiten – so wie auch du Pflichten hast. Und wenn auch ich dich nicht glücklich machen kann – warum dann nicht unsere kleine Tochter?«
»Bei deren Geburt du mir nicht beigestanden hast – er schon!«
Kurz schob sich eine Wolke vor den Mond und verdunkelte sein Gesicht. Als das silbrige Licht ihn wieder beschien, wirkte er nicht länger kalt und entschieden, sondern hilflos und verzweifelt – Gefühle, die ihr vertraut waren, desgleichen wie sein Unmut, dass er sie nicht glücklich machen konnte, ähnlich groß wie ihrer war, ihn nicht zu verstehen … nie verstanden zu haben.
Eine Weile starrten sie sich schweigend an, ehe sich Fabien, der sich bis jetzt zurückgehalten hatte, zu Wort meldete.
»Komm, Rosa!«, sagte er sanft. »Ich bringe dich ins Haus. Du hast ja recht – diese ganze Sache hier ist tatsächlich Irrsinn. Ich hätte mich nie darauf einlassen dürfen.«
Albert hatte eben noch durchaus erleichtert gewirkt, diesen Kampf nicht ausfechten zu müssen. Doch als Fabien Rosa nun am Arm nahm und wegführte, stieß er einen wütenden Schrei aus.
»Sie lassen mich nicht einfach so stehen!«
»Was wollen Sie denn dagegen tun? Mir in den Rücken schießen?«
Mit einem neuerlichen Wutschrei stürzte Albert auf ihn zu und riss ihn zurück. Rosa bekam einen Ellbogen zu spüren, wusste jedoch nicht, wem er gehörte. Die beiden gingen rangelnd zu Boden, und im bleichen Mondlicht konnte sie weiterhin nicht bestimmen, welche Hand wem gehörte. Sie sah nur, dass die Männer immer noch beide eine Pistole hielten, während sie aufeinander einschlugen.
Sie wollte schreien, aber ihr Mund war zu trocken. Der einzige Laut, der schließlich ertönte, war ein ohrenbetäubender Knall.
Adele schreckte aus dem Schlaf hoch. Nur vage war die Erinnerung, was sie geträumt hatte, aber es musste etwas Schreckliches gewesen sein, denn sie fühlte sich vor Angst wie gelähmt. Eine Weile konnte sie sich nicht rühren, dann stieß sie einen spitzen Schrei aus.
Jetzt wusste sie es wieder – sie hatte geträumt, dass sie in einem Sarg gefangen lag, wo es dunkel und kalt war. Was, wenn es allen Toten so erging – dass nämlich nur ihre Leiber verstorben waren, ihr Geist aber hellwach blieb? Was, wenn Gerda und ihr Mann so ausharren mussten – ewiglich gefangen und zur Untätigkeit verbannt? Was, wenn dieses grausame Schicksal auch sie selbst ereilte, wenn sie selbst tot war?
Sie schüttelte den Kopf. Was für ein unsinniger Gedanke!
Als sie sich allerdings umblickte, ahnte sie, was die Panik in ihr heraufbeschworen hatte. Die Kerzen, die stetig brannten, waren erloschen. Es war stockdunkel in ihrem Schlafgemach – und sie fühlte sich elend. Dieser schreckliche Druck im Kopf machte alles noch schlimmer, denn er gab ihr das Gefühl, sie würde auch dann nichts sehen, wenn es taghell wäre.
»Frau Lore?«
Keine Antwort – natürlich: Es war ja mitten in der Nacht, und Frau Lore schlief im anderen Trakt. Aber Albert war in ihrer Nähe – und Rosa. Kurz packte sie die Reue, dass sie ihn auf deren vertrauliches Verhältnis zu Fabien aufmerksam gemacht hatte. Nur zu gerne hätte sie sich jetzt von Rosa helfen lassen wollen.
Sie rief erst ihren Namen, dann den des Sohnes. Wieder ertönte keine Antwort, so dass ihr nichts anderes übrigblieb, als aufzustehen. Der Kopf schien zu zerspringen, ihr Hals schmerzte.
Ach, wenn Frau Lore da wäre – sie wüsste ein Mittel: Sie könnte ihr ein Bad aus Heusamen bereiten oder einen Fencheltee. Sie könnte ihr in Kampferessig getränkte Tücher auf die Stirn legen oder ihr Tabak aus getrockneten Maiblumen zum Schnupfen geben.
Je länger sie allerdings darüber nachdachte, desto augenscheinlicher wurde, dass sie weniger an ihren Kopfschmerzen litt als an dieser durchdringenden Kälte. Hier auf dem Land war es immer viel kälter als in der Stadt. Warum nur hatte sie Frankfurt bloß verlassen? Als Kind hatte sie auch viel zu oft gefroren. Ihre Eltern waren zwar reich gewesen, hatten aber beim Feuerholz gespart. Einmal hatte sie gemeinsam mit ihrer Schwester ein Feuer gemacht … was, wenn Gerda in ihrem Grab tatsächlich noch lebte und dort entsetzlich fror?
Sie schüttelte den Kopf. Seit Jahren hatte sie nicht selbst ein Feuer entfacht, aber nun blieb ihr gar nichts anderes übrig. Denn als sie das Zimmer verließ und wieder Rosas und Alberts Namen rief, blieb es weiterhin finster und still.
Irgendwo in der Nähe mussten die beiden kleinen Mädchen schlafen, aber die waren keine Hilfe.
Adele tastete sich nach unten.
Oh, es war schwer, ein Feuer zu machen, ging ihr auf, es war regelrecht eine Kunst! Man bedurfte dazu eines Stückes Feuerstein, Schwefelfadens und einer nach unten mit Blech geschlossenen Abteilung Zunder, der meist aus alten Strumpfsocken hergestellt war. Dann schlug man Stahl und Feuerstein über dem Zunderkästchen zusammen, bis ein Funken hineinfiel.
Allerdings – Adele war nun unten angekommen –, hatte Frau Lore ihr nicht irgendwann einmal gesagt, dass es mittlerweile leichter geworden sei, eine Flamme zu entzünden, dank der Erfindung des Schwefelhölzchens nämlich?
Irgendwo musste sie doch welche finden – dann konnte sie Kerzen anzünden, den Kamin beheizen und in angenehmer Wärme und mildem Licht den Gedanken an Gerda im Grab abschütteln.
Auch im Salon war alles ruhig. Sie tastete sich bis zum Kamin vor, und tatsächlich lag auf dem marmornen Vorsprung ein Kästchen mit Schwefelhölzchen. Vor Erleichterung hätte sie am liebsten geweint. Sie entzündete eines, hielt es hoch und genoss es, wie das Licht aus einer bedrohlichen Welt eine vertraute machte. Mit dem zweiten Hölzchen entzündete sie die Kerzen. Eigentlich hätten einige wenige ausgereicht, um die Finsternis zu bannen, doch als sie erst einmal damit begonnen hatte, konnte sie nicht aufhören, sondern zündete jede Kerze an, die sie fand. Der Raum war nun beinahe taghell, doch der Druck im Kopf kehrte trotzdem wieder. Nicht die Finsternis machte ihr länger zu schaffen – sondern die Einsicht, dass sie trotz der vielen Kerzen schrecklich einsam war. Und ihr war nach wie vor kalt. Sie beugte sich zum Kamin und wollte ein Holzscheit ergreifen, als der Druck im Kopf immer schlimmer wurde. Es fühlte sich an, als würde sie einen Schlag erhalten, die Haut darunter platzen, die Knochen brechen. Sie griff blind nach etwas, um sich festzukrallen, spürte die Platte eines Tischchens, hatte jedoch nicht die Kraft, sich aufrecht zu halten. Sie hörte einen dumpfen Knall, als erst das Tischchen umkippte, dann sie selbst.
Als sie nach einer Weile die Augen aufschlug, war es nicht mehr kalt, vielmehr umgab sie sengende Hitze und noch mehr Licht. Ihr Verstand fasste nicht, was sie sah – so viele Flammen, rötliche, hungrige Flammen.
Auf dem umgekippten Tisch hatten mehrere Kerzen gestanden, die erst den Teppich, dann die Seidentapeten, zuletzt die Holzvertäfelung erfasst hatten.
Für einen kurzen Moment war Adele glücklich. Wie warm es war, wie licht!
Doch als sie keuchend einatmete und ihre Kehle vom Rauch verätzt wurde, war beides kein Segen mehr. Es brannte lichterloh, und sie konnte nichts dagegen tun. Ihr Körper war gelähmt, sie konnte ihre Hände nicht heben, geschweige denn aufstehen, sie konnte nicht einmal um Hilfe schreien. Sie würde nie in einem kalten Grab liegen, denn ihr Körper würde zur Unkenntlichkeit verbrannt werden. Und sie starb nicht nur mit dem Wissen, dass nichts anderes als Asche von ihr bleiben würde, sondern dass sie ihre beiden Enkeltöchter nicht würde retten können.
Der Schuss war verklungen, auch das dumpfe Geräusch, als ein Körper leblos zu Boden sackte. Rosa stand wie erstarrt da, begriff nicht, wer von wem getroffen wurde und fiel. Dann blickte sie in Alberts schreckgeweitetes Gesicht. Er hatte seine Pistole fallen lassen, die – verglichen mit Fabiens Körper – ungleich leiser auf dem Boden landete.
Rosa sank kraftlos neben den Musiker. Sie spürte Feuchtigkeit durch ihre Kleider dringen – und war sich nicht sicher, ob es Tau oder Blut war.
Im fahlen Licht wirkte das Blut pechschwarz, und kurz verfiel sie der irrwitzigen Hoffnung, dass niemand tot sein könnte, wer nicht kräftig rot blutete.
Doch Fabien war tot – daran bestand kein Zweifel. Seine Augen waren weit aufgerissen und starr, immer mehr Flüssigkeit – weiterhin wie Pech – drang aus seinem Brustraum. Noch war das Blut warm, aber da war kein Herzschlag zu spüren, kein Atem zu vernehmen.
Rosa blickte hoch, brachte jedoch kein Wort hervor. Auch Albert konnte zunächst nichts sagen, ehe er nach einigem Stammeln schließlich doch verzweifelt rief: »Das habe ich nicht gewollt! Der Schuss hat sich einfach gelöst … Ich weiß nicht einmal, aus welcher Pistole.«
Was sie nun tun sollten, sagte er nicht.
Später dachte Rosa, dass sie – wäre sie allein mit ihm beim Toten gewesen – bis zum Morgengrauen dort gehockt und auf Alberts hilfloses Stammeln gehört hätte. Doch es war auch Espe da – und Espe war nicht erschüttert wie sie, sondern übernahm das Kommando.
»Steh auf, Rosa«, befahl sie mit ruhiger, fester Stimme. »Atme ein paar Mal tief durch. Wenn du dich beruhigt hast, gehst du ins Haus und kleidest dich um. Die blutigen Kleider werden wir später verbrennen. Und wer immer dich danach fragt – du hast heute Nacht nichts gesehen und gehört, sondern tief und fest in deinem Bett geschlafen.«
»Aber …«
Espe ging nicht auf den Widerspruch ein, sondern wandte sich an Albert. »Sehen Sie zu, dass die Pistolen verschwinden, am besten vergraben Sie sie irgendwo.«
Wie Rosa starrte Albert sie verständnislos an. Indessen kamen die beiden Männer näher, die das Duell bezeugen sollten. Fabiens Gefährte war ein dünnes Männlein, das eher befremdet als betroffen auf den Toten blickte.
Rosa hörte Espe mit ihm sprechen, verstand aber kaum etwas, nur dass es um Geld ging. Sie begriff erst nicht, warum ausgerechnet jetzt darüber gesprochen wurde. Erst als der Mann ging, verstand sie, dass Espe ihn bestochen hatte, damit er den Todesfall nicht meldete.
Nun wandte sich Espe Johann zu, Alberts Leibknecht. Bei ihm war nicht von Geld die Rede, sondern von Treue gegenüber den Gothmanns. Der Mann nickte und wollte offenbar gehen.
»Bleiben Sie!«, herrschte Espe ihn an. »Wir müssen den Leichnam irgendwo verschwinden lassen, und Sie müssen uns dabei helfen. Und du, Else«, wandte sie sich an das Dienstmädchen, »du auch.«
Else sagte nichts. Sie war zwar blass wie die anderen Beteiligten, bückte sich aber sofort bereitwillig nach dem Toten.
Wollten sie Fabien etwa hier begraben?
Erstmals regte sich Protest in Rosa – und Entsetzen. Ihr Fabien, so schön, feinsinnig und mit den geschmeidigen Händen, sollte einfach in der Erde verscharrt werden, auf dass nichts mehr an den Mann erinnerte, der so wunderbar Klavier gespielt und sie zum Lachen gebracht hatte?
Sie brach in Tränen aus.
Doch Espe sagte ungewohnt streng zu ihr: »Tu endlich, was ich dir gesagt habe. Geh ins Haus, wasch dich und leg dich ins Bett.«
Sie wandte sich an Albert: »Und Sie auch. Falls jemals Fragen auftauchen – Sie waren bis spätabends im Arbeitszimmer. Ich hoffe, Señor Ledoux wird nicht vermisst. Er hat gewiss nicht viele Freunde in Frankfurt, da er doch die meiste Zeit hier verbrachte, nicht wahr, Rosa?«
Rosa bebte am ganzen Körper. »Wir können doch nicht einfach …«
»Ihr müsst sogar!«
»Du hast ihn getötet!«, schrie Rosa schrill, ging auf Albert los und schlug auf seine Brust. Sie fühlte sich seltsam leblos an, als wäre auch er tot.
Da spürte sie plötzlich Espes Hände um sich, die sie zurückrissen, und anders als Alberts Körper waren diese warm und kräftig. »Mein Mädchen, du musst die Fassung bewahren. Wenn dein Mann als Mörder verurteilt wird, dann schadet das nicht nur dir, sondern vor allem Valeria. Du musst an deine Tochter denken!«
Rosa konnte an nichts denken, sondern nur zittern. Immerhin – in Espes Armen verflüchtigte sich das Beben etwas. Irgendwann war sie bereit, sich zum Haus ziehen zu lassen. Sie drehte sich nicht um, um nachzusehen, ob Albert ihr folgte oder ob er Johann und Else half, den Leichnam fortzuschaffen. Kurz wurde es ganz still in ihrem Kopf – da war kein Platz für Vorwürfe, nicht gegenüber Albert, weil er Fabien erschossen hatte, nicht gegenüber sich selbst, weil es nie so weit gekommen wäre, wenn sie Fabien nicht als Gesangslehrer engagiert und sich heimlich darüber gefreut hätte, dass er in sie verliebt war. All das würde morgen über sie hereinbrechen, jetzt noch nicht: Jetzt senkte sich nur diese große Stille über sie – oder nein, doch keine Stille. Denn plötzlich waren lautes Knistern, Krachen und Geschrei zu vernehmen. Sie hörte, wie Espe scharf den Atem einsog und offenbar Gleiches befürchtete wie sie: Das Unglück ließ sich nicht vertuschen, die Nachricht von Fabiens Tod hatte schon die Runde gemacht.
Doch plötzlich stieg Rauch in die Nase, und der Garten wurde hell erleuchtet.
Nun würde Fabiens Blut nicht länger pechschwarz wirken, sondern rot. Das Haus der Gothmanns brannte lichterloh.
Diesmal konnte sich Rosa früher aus ihrer Starre lösen; diesmal erfasste sie das Schreckliche nicht quälend langsam, sondern blitzschnell. Das Haus brannte, und ihre Tochter befand sich ebenso noch darin wie die kleine Claire. Sie stürzte auf das Haus zu, doch Espe stellte sich ihr in den Weg und hielt sie wie vorhin fest. Sosehr sich Rosa auch gegen ihren Griff wehrte, sie konnte sich nicht befreien.
Wie die Dienstboten, die aus ihrem Trakt gelaufen kamen, musste sie zusehen, wie die Flammen die Wände hochkletterten und den Dachstuhl erfassten. Die Männer kämpften noch darum, das Feuer einzudämmen, doch die Löschgerätschaften, die ihnen zur Verfügung standen – Feuerhaken, Löscheimer und Feuerleiter –, waren keine Hilfe. Wind fuhr ins brennende Gebälk und ließ Funken sprühen.
Der Brand musste im Salon seinen Ausgang genommen haben und hatte sich über die Holztreppe in den ersten Stock ausgebreitet. Aus sämtlichen Fenstern drang mittlerweile Rauch.
»Valeria!«, brüllte Rosa hilflos, aber sie kam nicht gegen den Lärm an – weder gegen das Knistern der Flammen noch gegen das Geschrei der Dienstboten.
Albert schrie nicht, als er zu ihr aufgeschlossen hatte. Kalkweiß stand er neben ihr.
»So tu doch etwas!«, kreischte Rosa.
Er wirkte uralt und gebeugt, als er geradezu traumwandlerisch auf das Haus zutrat. Er hatte das Portal noch lange nicht erreicht, als er vor der sengenden Hitze zurückwich und die Hände schützend vor den Kopf hob.
»So tu doch etwas!«, brüllte sie ein zweites Mal.
Endlich entkam sie Espes Armen und lief selbst auf das Haus zu. Anders als ihr Mann scheute sie die Hitze nicht, doch Albert packte sie und riss sie zurück. Obwohl er so alt und kraftlos gewirkt hatte – sein Griff war noch fester als der von Espe.
»Nicht, Rosa! Wir können nichts tun!«
Sie spürte seine Hände, seinen Körper, seinen warmen Atem. Sie konnte sich nicht erinnern, wann er sie das letzte Mal berührt hatte. In diesem Augenblick war er ihr einfach nur widerwärtig. Sie wollte ihn treten, kratzen, schlagen, ja, wollte auf ihn schießen, doch sie konnte ihn nicht einmal anschreien: Eine Woge Rauch traf sie, verätzte ihre Kehle, und sie hustete, bis sie tränenblind war. Als sich das Bild endlich klärte, lief alles merkwürdig langsam vor ihr ab, als hätte jemand die Welt angehalten, und als würde sich diese danach nur holprig weiterdrehen.
Sie sah, wie die Männer ihre Löschversuche einstellten, stattdessen die Pferde aus dem nahen Stall retteten und wie eines der Tiere panisch wiehernd stieg. Sie sah, dass Frau Lore hemmungslos weinte, dass Espe sich bekreuzigte und dass Else ihre Hände vors Gesicht schlug. Und plötzlich sah sie auch, wie sich das Portal öffnete und aus dem Rauch eine Gestalt auftauchte, die inmitten der grauen Schwaden so unwirklich schien, als wäre sie ein Geist. Das Gesicht war rußgeschwärzt, so dass sie den Mann nicht erkannte, doch die beiden Mädchen, die er rechts und links hielt und die aus Leibeskräften brüllten, waren gewiss kein Trugbild.
Albert ließ sie los, und sie stürzte auf ihre Tochter zu. Valeria schrie immer noch, als sie sie an sich zog – Claire dagegen verstummte und blickte mit großen Augen um sich.
»Ich kam im letzten Augenblick …«
Der Mann, der die Kinder gerettet hatte, war Carl-Theodor.
Die Erleichterung fühlte sich wie ein schmerzhafter Schlag an; die Luft blieb ihr weg, als sie mit Valeria im Arm auf den Boden sank.
Anders als sie fasste sich Albert früher.
»Was machst du hier?«, rief er. »Ich dachte, du wärst in Hamburg.«
»Ich bin heute Abend zurückgekehrt – gerade noch rechtzeitig, wie mir scheint. Wie kommt es, dass die Kinder allein im Haus waren, ihr aber hier draußen?«
Valeria brüllte noch lauter, strampelte und hinterließ blutige Kratzer auf ihrer Wange. Rosa fühlte keinen Schmerz, aber auch nicht länger Erleichterung, dass die Mädchen noch lebten. Um ein Haar wären sie gestorben – Alberts und ihretwegen. Und Fabien war tatsächlich tot.
Sie hörte Espe neben sich etwas murmeln. »Den Brand können wir gut gebrauchen, um das Duell zu vertuschen. Johann soll den Leichnam hierherschaffen – wir können angeben, dass Señor Ledoux in den Flammen umgekommen ist.«
Rosa wusste, dass Espe das alles tat, um sie und Valeria zu schützen, dennoch packte sie die Wut.
»Wie kannst du so etwas sagen!«, schrie sie. »Fabien ist …«
Alberts Hand legte sich auf ihren Mund, um sie am Sprechen zu hindern. »Still, so sei doch still!«, rief er und deutete panisch auf Carl-Theodor, der ihren Worten verwirrt lauschte.
Sie wusste, auch er tat gut daran, den Unfall … den Mord zu vertuschen, doch der Hass auf ihn war noch größer als der Zorn auf Espe. Sie schlug seine Hand weg. Sie würde sich nie wieder von ihm berühren lassen.
Zwar sprach sie Fabiens Namen nicht noch einmal aus, aber sie sagte kalt: »Du bist an allem schuld.«
Albert wirkte erschöpft und verzweifelt. »Du«, stammelte er, »du hast mich doch mit ihm betrogen.«
Sie stritt es nicht einmal ab. Selbst wenn es so gewesen wäre, dachte sie, hätte er dennoch kein Recht dazu gehabt, den Nebenbuhler herauszufordern und jene Kette an Unglücksfällen in Gang zu bringen. Sie setzte zu einer wütenden Entgegnung an, doch Carl-Theodor trat zwischen sie.
»Mutter«, stammelte er, »ich kann Mutter nirgendwo sehen. Offenbar ist sie noch im Haus.«
Im Haus, dessen Dachstuhl jetzt unter lautem Ächzen nachgab und dessen Wände unter dem Gewicht zusammenbrachen wie ein Kartenhaus. Eine Wolke aus Rauch, Ruß und Holzteilen verschluckte sie. Blind begann Rosa zu laufen. Als sie endlich stehen blieb, war die Luft nicht mehr so heiß und etwas klarer, aber ihre Kehle schmerzte, als hätte sie Glasscherben geschluckt. Obwohl sie Valeria an sich gepresst hielt, klang ihr Schreien so, als käme es von weit her.
Rosa wusste später nicht mehr, wer ihr das Kind abnahm, die beiden Mädchen fortbrachte und was sie und Albert bis zur Dämmerung taten.
Als die Morgensonne aufstieg, das Ausmaß der Zerstörung offenbar wurde und das Feuer endlich erlosch, wusste sie nur, dass nicht zuletzt ihretwegen zwei Menschen in dieser Nacht gestorben waren – und mit ihnen ein großer Teil ihrer Seele.