18. Kapitel
Am nächsten Tag betraten sie erstmals argentinischen Boden, und nach einer knappen Woche überquerten sie den Río Paraná, um nach Paraguay zu gelangen. Auf den ersten Blick war das Land, in das sie verschleppt wurde, flach und karg wie Uruguay, doch die Wälder schienen nicht nur großflächiger, sondern auch feuchter. Wenn sie am Abend um das Lagerfeuer saßen, drangen durch die Stille Geräusche von Tieren, die Valeria noch nie gehört hatte. Neben dem Glöcklein der Madrina hörte man den klagenden Ruf des Rebhuhns, das Gurren der Nachteule, das Gebell eines Fuchses, schließlich ein eigentümliches Pfeifen, das, wie Valentín ihr erklärte, von einem Tapir stammte. Einmal ertönte beängstigendes Gebrüll.
»Womöglich ist das ein Jaguar«, murmelte Valentín.
Die vielen fremden Laute setzten ihr zu, doch das stete Schweigen, in das die Männer versunken waren, war fast noch schwerer zu ertragen.
Pablos Erschütterung über Jorges Verrat schien tief zu sitzen, auch wenn er sie zu verbergen versuchte und das strikte Verbot aufstellte, seinen Namen jemals wieder auszusprechen. Er wirkte nervöser als sonst, angespannt und gefährlich wie ein hungriges Raubtier, ließ sie aber immerhin in Ruhe. Tshepo und Ruben schienen ehrlich um Jorge zu trauern, denn ihre Augen glänzten oft feucht. Valentín wirkte blasser und nachdenklicher als sonst, und obwohl er es nicht offen aussprach – Valeria war sicher, dass sein Entsetzen nicht allein von Jorges Tod rührte als vielmehr von dem Anblick, den sie geboten hatte, als sie blutüberströmt unter ihm lag. Dieser hatte Erinnerungen geweckt, die ihn nun nicht mehr losließen, und wenn er abends nachdenklich in die Flammen starrte, schien er mit seinen Gedanken unendlich weit weg zu sein.
Wie traurig er aussieht, dachte Valeria manchmal – um sich gleich darauf zu ermahnen, dass sie sein Gemütszustand nichts anging, Mitleid mit einem wie ihm fehl am Platz war und sich ihre Sorge auf die eigene aussichtslose Lage beschränken sollte.
Eines Abends stierte er nicht in die Flammen, sondern zog einen hölzernen Gegenstand aus seinem Lederbeutel. Valeria erkannte erst nicht, was es war, aber dann vermischten sich mit den unheimlichen Rufen der Tiere plötzlich wunderschöne Laute. Sie klangen so weich, so zart, so sehnsuchtsvoll, und Valeria hatte das Gefühl, als würden geschmeidige Hände über ihre Seele streicheln.
Sie betrachtete das Instrument in seinen Händen. Es glich einer Gitarre, doch als Valentín ihren Blick bemerkte, ließ er es sinken und erklärte: »Das ist eine hölzerne Harfe, wie es sie nur in Paraguay gibt. Sie ist aus Zedernholz gemacht und zählt ganze sechsunddreißig Saiten.«
Mühelos fuhr er fort, diese zu zupfen, und nach einer Weile begann er, zu den Klängen zu singen. Manche Lieder trug er mit einer sehr stolzen, tiefen Stimme vor – es waren, soweit Valeria sie verstand, Hymnen aufs Vaterland –, andere, vor allem Liebeslieder, sang er flüsternd und voller Melancholie.
Valeria lauschte gebannt. Sie hatte sich nie für die Oper begeistern können, und die Klavierstunden im Pensionat waren ihr eine stete Qual gewesen, weil sie es hasste, still zu sitzen, aber diese Töne trafen sie im Innersten. Musik war eine Sprache, die jeder verstand – und kurz fühlte sie sich nicht schutzlos inmitten von Feinden, sondern mit Menschen vereint, die insgeheim die Hoffnung hegten, dass die Welt mehr zu bieten hatte als Kämpfe, Verrat und Tod und dass es sich noch lohnte, zu lieben und zu träumen. Sie bemerkte, dass alle zuhorchten: Die Augen des Schwarzen glänzten feucht, der grausame Zug um Pablos Mund glättete sich, der Indianer klatschte dann und wann mit seinen Händen im Rhythmus der Lieder. Ruben und Pío blickten so versunken aufs Feuer, wie es bisher nur Valentín getan hatte.
Auch wenn Valentín ihr seine Vergangenheit nur bruchstückhaft anvertraut hatte, war sie sich plötzlich sicher: Die toten Frauen, an die ihr Anblick ihn erinnert hatte, waren seine Mutter und seine Schwestern.
Der Kummer um sie durchdrang jeden Ton. Wenn er im Streit seinem Bruder nachgab, erschien er ihr schwach und rückgratlos. Doch nun, da in seinen dunklen Augen so viel Sehnsucht stand, so viel Schmerz und so viel Einsamkeit, dachte sie, dass ein schwacher Mensch sich niemals so schonungslos seiner Trauer stellen würde. Ein solcher würde vor ihr davonlaufen – sie nicht besingen.
Seine Stimme war wandelbar, die Hände, die über die Saiten strichen, sanft und zart. Sie sahen nicht wie Hände aus, die Waffen gehalten und damit getötet hatten – eher wie Hände, die Frauen liebkost und Buchseiten umgeblättert hatten. Hatte er nicht erzählt, dass er hatte studieren wollen? Was war wohl sein liebstes Fach gewesen?
Als er den Kopf hob und ihren faszinierten, hingerissenen Blick bemerkte, brach er sein Spiel abrupt ab.
»Sing doch weiter!«, forderte sie ihn auf.
Er sah sie verwirrt an und zögerte eine Weile. Schließlich berührte er das Instrument, als wäre es ein lebendiges Wesen, das man durch Zärtlichkeiten gnädig stimmen müsse, ehe seine Hände wieder über die Saiten strichen und seine melodische, rauchige Stimme erklang. Diesmal sang er in einer fremden Sprache – in Guaraní, der Sprache der Indianer Paraguays. Es war ein langes Lied mit unzähligen Strophen.
»Wovon singst du?«, fragte Valeria, als es zu Ende war.
»Vom Leben in Paraguay, wie es vor dem Krieg war«, antwortete er sehnsuchtsvoll. »Ich singe von Asunción mit seinen roten Ziegeldächern, den mit Pilastern und Kolonnaden verzierten Häusern, den von Orangenbäumen gesäumten Straßen. Die Männer schaukeln in ihrer Hängematte, trinken Tee und gaffen den Frauen nach. Jung sind die Frauen und schön. Sie tragen ihre Haare so kurz, dass man den Nacken sehen kann, und unter ihren weißen Baumwollkleidern und den gebauschten Spitzenunterröcken ahnt man ihre Knöchel. Ihre Augen funkeln; während sie Zigarre rauchen wie die Männer, lächeln sie diesen kokett zu, und um die schmale Taille glänzt eine rote Schärpe. Sie sind anmutig, diese Frauen, lebenslustig und fröhlich …«
Er brach ab. Erst jetzt bemerkte Valeria, dass nicht nur sie gebannt seinen Worten gefolgt war, sondern auch die Männer. Nur Pablo hatte sich abgewandt, vielleicht, damit man nicht in sein Gesicht sehen und in seiner Rührung eine Schwäche vermuten könnte.
Valentín selbst fixierte weiterhin die Saiten und gab sich nun ganz und gar den Erinnerungen hin. »Im Sommer tragen die Frauen manchmal Spitzenblusen. Unsere Mutter … Sie konnte so wunderbar klöppeln, und sie war so stolz darauf. Vor einigen Jahrhunderten hatte es eine unserer Vorfahren von den Jesuiten gelernt, die diese Fertigkeit nach Südamerika gebracht hatten. Als Kind habe ich ihr oft stundenlang zugesehen, wie ihre Hände flink um die Nägel huschten. Es waren schmale, feine Hände.«
Er musterte seine eigenen, als gehörten sie nicht ihm, und Valeria ahnte, dass er ein Tor zu Erinnerungen aufgestoßen hatte, das er sonst wohlweislich geschlossen hielt. Und als er wieder zu spielen fortfuhr, stiegen auch bei ihr Erinnerungen hoch. Das Heimweh trieb ihr Tränen in die Augen, als sie an Deutschland dachte und das Leben im Haus der Gothmanns.
Gewiss, sie war oft unglücklich gewesen, hatte unter der Kälte der Eltern gelitten oder sich gelangweilt, aber nun dachte sie nur an das Gute, das ihr widerfahren war, an die leuchtenden, saftigen Wälder des Taunus, den würzigen Geruch nach feuchter Erde, an Frau Lore, die in der Küche stand und Pflaumenmus kochte, an Claire, mit der sie heimlich in der Speisekammer genascht hatte. Eigentlich hatte nur sie genascht, und Claire hatte Wache gestanden und sie ermahnt, sich zu beeilen. Sie dachte an Spaziergänge an lauen Sommerabenden, wenn das sattgrüne Gras unter ihren Füßen raschelte, und an Schlittenfahrten an eisigen Wintertagen, wenn der Schnee unter den Hufen der Pferde knirschte. Dick verschneit waren die spitzen Dächer der Dörfer, die sie passierten und deren Bewohner nach draußen stürzten, um die Herrschaften anzustarren. Manchmal hatten Claire und sie ihnen Süßigkeiten zugeworfen. Ob sie ihre Heimat jemals wiedersehen würde? Ob Claire überhaupt noch lebte?
In den letzten Tagen hatte sie den Gedanken an sie verdrängt, doch nun konnte sie das nicht länger. Ihre Kehle wurde immer enger, und sie schloss die Augen, damit die vielen Tränen nicht über ihre Wangen perlten. So schluchzte sie lautlos, während Valentín weitersang.
Irgendwann hörte er mitten in einer Strophe zu spielen auf, und als sie die Augen aufschlug, sah sie seinen Blick auf sich ruhen. Er räusperte sich, schien wie aus einem Traum, einem schönen Traum, zu erwachen und wieder in die Wirklichkeit zurückzukehren.
»Vielleicht ist es besser, die Vergangenheit ruhenzulassen. Die Heimat, wie sie war, gibt es nicht mehr. Das Leben, wie ich es liebte, hat der Krieg zunichtegemacht.«
Seine harten, kalten Worte brachen den Bann. Valerias Tränen versiegten, die Männer wurden wieder zu Feinden, und als Pablo sich ihnen zuwandte, war seine Miene finster und bedrohlich wie eh und je.
»Ab morgen sind wir nicht länger per Pferd unterwegs, sondern auf dem Fluss«, verkündete er in die Stille.
Valeria verkniff es sich zu fragen, warum das so war, doch er verzichtete nicht darauf, ihr zuzusetzen.
»Ja, Püppchen, dazu bist du nicht erzogen worden – auf dem Río Paraguay zu reisen.«
Er war auf sie zugetreten, und Valeria duckte sich unwillkürlich. Aber ob es nun die Erinnerungen an ihr Zuhause waren oder ihr Stolz – sie wollte ihm ihre Furcht nicht zeigen.
»Woher weißt du, wozu ich erzogen wurde?«, fragte sie stolz.
»Es geht durch den Gran Chaco, das ist ein gefährlicher Dschungel, ein undurchdringliches Schilfdickicht, in dem Kannibalenstämme hausen und jede Menge Tiere: Pumas und Tapire, Krokodile und Heuschreckenschwärme, Tiger und Giftschlangen.«
Valentín hatte sein Instrument wieder eingepackt. »Halt den Mund!«, fuhr er seinen Bruder an.
Pablo runzelte irritiert die Stirn, schwieg jedoch.
Valentín wandte sich zu Valeria: »Hab keine Angst, dir wird nichts passieren. Wenn man sich im Dschungel nicht auskennt, ist es lebensgefährlich – aber wir … ich war oft dort.«
Sie erwiderte seinen Blick. »Ich habe keine Angst«, erklärte sie mit Bestimmtheit.
Das war nicht gelogen – nach all den Torturen und Ängsten, die sie durchzustehen hatte, nach dem schrecklichen Schusswechsel und den Tränen, die sie eben vergossen hatte, fühlte sie, dass etwas in ihr erwachte, das stärker, zäher und erwachsener als die Valeria von einst war – und trotz allem auch neugierig auf das bevorstehende Abenteuer.
Die Hitze wurde immer drückender, weil feuchter, und setzte Valeria von Tag zu Tag mehr zu, aber die Reise auf dem Río Paraguay war weniger anstrengend als zu Pferde: Wie Pablo verkündet hatte, bestiegen sie mitsamt den Tieren eine Chalana, ein kleines Boot mit zwei Masten und Segeln aus Häuten. Lautlos glitt es über das grünliche Wasser und geriet jedes Mal heftig ins Schaukeln, wenn sie an größeren Schiffen vorbeikamen. Sehnsuchtsvoll blickte Valeria diesen nach, denn der Mittelteil der meisten war bedacht, und die Passagiere waren – anders als sie – vor Wind, Sonne und manchmal Regen geschützt. Obwohl sie wusste, dass hier nur Paraguayer unterwegs waren und es wenig Sinn ergab, um Hilfe zu rufen, wurde der Drang, verzweifelt zu schreien, manchmal übermächtig. Doch sie sagte sich, dass diese Reisenden wohl kaum Mitleid mit einem entführten Mädchen hätten und ein jeder zu sehr bedacht darauf war, die vielen Gefahren der Flussfahrt zu bezwingen, als auf dieses zu achten. Der Wasserstand war niedrig; immer wieder galt es, seichte Stellen und Sandbänke zu umschiffen. Noch größere Gefahr drohte von den Bäumen, die einst am Ufer gestanden hatten, dann aber vom Hochwasser untergraben wurden und auf Grund gesunken waren. Im schlickigen Wasser konnte man sie nicht erkennen, doch rammte man gegen ihren Stamm, konnte das Schiff schwer beschädigt oder gar zur Seite geworfen werden.
Valentín sorgte weiterhin dafür, dass niemand ihr zu nahe kam und sie genug zu essen hatte, und er hielt den Bruder offenbar davon ab, sie wegen des Fluchtversuchs mit Jorge zu bestrafen. Nachdem sich die erste Erschütterung gelegt hatte, musterte der sie zwar oft grimmig, ließ sie ansonsten jedoch in Ruhe. Nur einmal, als sie zum Ufer blickte, drohte er: »Wenn du uns Schwierigkeiten machst, werfe ich dich ins Wasser – dort wimmelt es von Krokodilen.«
Valeria erschrak. Insgeheim war sie sich zwar sicher, dass das nur eine leere Drohung war – als Geisel war sie schließlich viel zu kostbar, um leichtfertig ihr Leben aufs Spiel zu setzen –, aber ihr Schiff war sehr schmal. Was, wenn es kenterte?
Valentín erriet ihre Sorgen: »Du musst keine Angst haben – Krokodile gehen den Schiffen meist aus dem Weg.«
Statt der Krokodile sah sie viele andere fremde Tiere – so Papageien, die in großen Schwärmen bis zu hundert Tieren das Boot umkreisten und den Himmel so bunt wie eine Blumenwiese färbten. Ihr Gekreisch war ohrenbetäubend – gänzlich still dagegen waren die Hundertschaften von Wasserschlangen und Kaimanen, die auf den Sandbänken lagen und die hastig flohen, wenn man ihnen zu nahe kam.
Valeria ekelte sich vor den Schlangen, doch Valentín meinte, dass sie nicht giftig und darum ungefährlich wären. »Viel bedrohlicher sind die Rayas: Das sind Fische, die man an seichten Stellen vorfindet. Mit den sägeförmigen Stacheln ihres Schwanzes können sie einem empfindliche Wunden zufügen. Nicht sonderlich angenehmer ist eine Begegnung mit Palometas – das ist eine kleine, gefräßige Fischart, die Menschen in Finger und Zehen beißt.«
Bei der Erwähnung der vielen Tiere musste Valeria an Claire denken, die sich so für die Flora und Fauna des Landes interessiert und das naturwissenschaftliche Museum in Montevideo besucht hatte. In diesem Augenblick hätte sie ihr Leben gegeben, nur um zu wissen, wie es ihr ging. Tränen traten in die Augen, die sie verstohlen fortwischte, Valentín jedoch nicht entgangen waren. Er musterte sie sichtlich bestürzt, doch anstatt sie zu trösten, versuchte er, sie abzulenken, indem er von weiteren Fischen erzählte – den Piranhas, die einen Dominikanermönch, der hier im Fluss badete, einst so schwer verletzt hatten, dass er das Gelübde der Keuschheit – selbst wenn er es gewollt hätte – fortan nicht mehr hätte brechen können.
Sie wusste nicht, ob er nur einen Scherz mit ihr trieb – seine Miene war auf jeden Fall todernst, und wie so oft wurde sie nicht schlau aus ihm. Sie beobachtete ihn häufig, und meist war sein Gesicht verschlossen – nur wenn er sang, standen Schmerz und Sehnsucht in seinen Zügen.
Fast jeden Abend griff er nun zu seiner hölzernen Harfe, sobald sie angelegt und am Ufer Feuer gemacht hatten. Und fast jedes Mal setzte sich Valeria in seine Nähe, lauschte gebannt und fragte hinterher, wovon seine Lieder handelten, trug er die meisten doch im unverständlichen Guaraní vor. Manchmal antwortete er nichts – manchmal erzählte er ausufernd von seiner Heimat, die er besang.
»Paraguay …«, sagte er, »allein der Name klingt wie Musik. Er bedeutet so viel wie ›Federfluss‹ oder ›Farbenpracht‹ und kündet davon, wie reich das Land an bunten Vögeln und Blumen ist.«
»Du klingst, als würdest du vom Paradies sprechen.«
»Es ist das Paradies … war es zumindest vor dem Krieg. Als meine Eltern und meine Schwestern noch lebten …«
Er schien gar nicht bemerkt zu haben, dass er die Worte laut aussprach – aber sie konnte nicht umhin, die Möglichkeit zu nutzen, mehr über ihn zu erfahren.
»Sie sind tot, nicht wahr? Deine Eltern … deine Schwestern … an sie habe ich dich erinnert, als ich blutüberströmt unter Jorge lag. Wie … wie sind sie gestorben?«
Er sah auf. Kurz schien er es zu bereuen, dass er seine Familie erwähnt hatte, aber ihm entgingen wohl nicht das ehrliche Mitgefühl in ihrem Blick und das aufrichtige Interesse an seinem Schicksal.
»Meine Familie besaß eine große Plantage nicht weit von der brasilianischen Grenze entfernt«, begann er. »Getreide wurde angebaut, auch Maniok. Viele Schwarze arbeiteten bei uns – nicht als Sklaven, sondern gegen einen gerechten Lohn. Als das brasilianische Heer im ersten Kriegsjahr die Grenze überschritt, haben sie die Schwarzen gegen uns aufgehetzt. Tshepo stand treu zu uns, aber alle anderen …« Er machte eine Pause und schluckte. »Eines Nachts sind sie ins Haus eingedrungen und haben die ganze Familie massakriert. Nur Pablo und ich konnten fliehen.«
Seine Worte klangen nüchtern, doch in seinem Blick standen all die durchlittenen Ängste, die Ohnmacht und die Trauer. Valeria glaubte, es mit eigenen Ohren zu hören: die Schreie der Frauen, die verzweifelten Versuche der Männer, sich zu wehren, Schüsse, Kampfgeschrei, brechendes Holz, das Knistern von Flammen.
Valerias Blick wanderte unmerklich zu Tshepo.
»Er hat versucht, unsere Schwestern zu schützen, denn er wusste, dass die Brasilianer nicht im Geringsten am Wohl von seinesgleichen interessiert waren – im Gegenteil. Als das Massaker vorbei war, haben die brasilianischen Soldaten jeden einzelnen Schwarzen erschossen. Nur er konnte mit uns flüchten. Später kämpften wir im Krieg Seite an Seite, lernten dort Pinon kennen und auch die anderen.«
Abermals ließ er vieles unausgesprochen, was Valeria nur aus seiner Miene lesen konnte – so auch, dass er diese Gemeinschaft nun als neue Familie ansah, aber dass ihm diese dennoch nicht wiederbringen konnte, was er verloren hatte: das gemächliche Leben auf der Plantage, die Zuversicht, dass das Leben es gut mit einem meinte, wenn man fleißig arbeitete, die Liebe seiner Mutter.
Das nächste Lied, das er sang – diesmal auf Spanisch –, handelte von ihr. Es hatte mehrere Strophen, war offenbar von ihm selbst gedichtet worden und eine Hymne auf jene freundliche Frau. Ihr Gesicht war kaum faltig, ihre Haare waren trotz ihres Alters schwarz und glänzend, die Hände kräftig. Sie konnten zupacken, aber auch liebevoll streicheln und vor allem die leckersten Speisen zaubern. Clarabella war eine großartige Köchin, ihre Chipas waren heißbegehrt: Für dieses Gebäck wurde Maniok mit geschmolzenem Käse, Fett, Salz und Anis verknetet, und daraus wurden liebevoll Laibe geflochten. Sie bereitete aber auch Sopa Paraguaya, eine Art Maisbrot, zu, Manioksuppe, dick wie Pudding, oder Dulce, in Zuckersirup getränkte Guaven.
Selbst lange nachdem Valentín sein Lied beendet hatte, blieb er in Erinnerungen versunken. »Manchmal hat sie mir einen Granatapfel zugesteckt«, flüsterte er. »Wie saftig seine Kerne waren und wie süß. Wir hatten nicht viele davon, es war ein großer Luxus und Pablo immer neidisch, wenn ich einen zugesteckt bekam und er nicht.«
»Wieso hat sie ihn dir gegeben und nicht ihm?«
»Nun, weil ich für sie gesungen habe …«
Valeria sah kurz zwei Knaben vor sich, streitlüsterner und stärker der eine, sanfter und gemütvoller der andere. Sie konnte sich auch ihre Mutter vorstellen, besorgt, liebevoll und warmherzig – alles, was Rosa nie gewesen war. So heftig ihre Sehnsucht nach der Heimat aufgeflammt war, nach Claire, nach Onkel Carl-Theodor oder Frau Lore – ihren Eltern hatte sie nicht gegolten, und kurz neidete sie es Valentín, dass er, auch wenn er sie auf grausame Weise verloren hatte, zumindest die Geborgenheit einer Familie erlebt hatte.
Voller Sehnsucht lächelte er. So weich war sein Gesicht noch nie gewesen, und zum ersten Mal fiel ihr auf, wie ebenmäßig seine Züge waren. »Wenn ich an sie denke«, sagte er leise, »versuche ich, das Bild zu verdrängen, wie sie tot vor mir lag. Stattdessen male ich sie mir aus, wie sie Zitronen pflückt, Limonade macht und mir zur Hängematte bringt.«
»Was ist denn eine Hängematte?«
»Oh, man sagt uns nach, ein faules Volk zu sein. Wir bauen Maniok, Zitronen, Korn und Yerba an, aber all das braucht nicht viel Arbeit, sondern wächst von selbst. Darum verbringen wir viel Zeit in einem Tuch, das zwischen zwei Bäumen aufgehängt wird. Als Kind habe ich dort Limonade getrunken, später Zigaretten geraucht, gerade an heißen Tagen, auch wenn Hitze hierzulande nie wirklich unerträglich wird.«
»Du hast in der Hängematte vor allem viel gelesen«, schaltete sich Pablo plötzlich ein.
Valeria zuckte zusammen; so auf Valentín konzentriert, hatte sie gar nicht bemerkt, dass sein Bruder sie seit geraumer Zeit beobachtete. Auch in seinem Gesicht stand ein Lächeln, aber es war nicht warm, sondern verächtlich.
Valeria fühlte sich ertappt, Valentín machte wieder ein finsteres Gesicht. Kurz schien er Pablo heftig widersprechen zu wollen, doch dann verkniff er sich jedes Wort, rückte lediglich von Valeria ab. An diesem Abend sang er nicht mehr.
Er mag seinen Bruder ja gar nicht, dachte Valeria. Nicht so wie seine Mutter, nicht so wie die Schwestern, aber nach dem Verlust der übrigen Familie war niemand anderer da, um ihn zu lieben. Und in diesen gefühlvollen Augen stand jede Menge Liebe, die verzweifelt ein Ziel suchte, Sehnsucht auch nach einem besseren, friedlichen Leben, nach einer Welt ohne Blutvergießen und Gewalt.
In dieser Nacht lag Valeria lange wach und fragte sich, was schlimmer war: erlebt zu haben, wie sich Glück anfühlte, und es zu verlieren – oder durch die Welt zu wandeln, ohne genau zu wissen, wohin der Weg führen sollte, was einem fehlte, und Entscheidungen oft nur aus Trotz und Rebellion zu treffen. War sie wirklich nach Montevideo gereist, weil sie das fremde Land kennenlernen wollte oder vielmehr, um eine möglichst große Distanz zwischen sich und ihre Eltern zu bringen?
Unweigerlich musste sie wieder an Claire denken, die geliebte Cousine, auf die sie sich ungleich mehr hatte verlassen können als auf Albert und Rosa, doch sie schluckte die Erinnerungen hinunter, denn sie wusste: Wenn sie sich ihren Sorgen hingab und der Vergangenheit nachhing, würde sie das, was auch immer bevorstand, nicht ertragen können.
Die ersten Tage nach dem Sturz vom Pferd versank Claire immer wieder in Ohnmacht. Jedes Mal war sie erleichtert, sich in die gnädige Schwärze flüchten zu können, denn kaum erwachte sie daraus, litt sie an den schlimmsten Schmerzen ihres Lebens. Sie war überzeugt, dass sie sterben würde, vor allem, wenn sich Luis’ Gesicht über sie beugte – nicht ausdruckslos und beherrscht wie meist, sondern voller Sorgen und Pein. Auch andere Menschen traten dann und wann zu ihrem Krankenbett, doch für diese hatte sie keinen Kopf.
Erst nach einigen Tagen blickte sie sich um und stellte fest, dass sie in einem einfachen, aber sauberen Zimmer lag. Sie tastete unter sich, fühlte eine Matratze und ein Betttuch aus Leinen. Vorsichtig hob sie den Kopf an – und wurde sofort wieder mit scheußlichen Schmerzen bestraft. Immerhin reichte ein kurzer Blick, um zu erkennen, dass ihr rechter Fuß auf einem Kissen ruhte und rechts und links zwei Stücke Holz festgebunden waren. Es sah so merkwürdig aus, dass sie unwillkürlich lachen musste – und gleich noch heftigere Schmerzen fühlte, die nicht nur im Bein, sondern auch im Kopf tobten. Sie griff sich an die Schläfen, und Luis kam an ihr Bett geeilt. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass er in der Ecke des Raums gesessen hatte.
»Wo … wo bin ich?«
»Geht es dir besser?«, fragte er zurück.
Claire leckte sich über die Lippen; sie waren rauh, vielleicht sogar wund gebissen. Sie nickte vorsichtig. »Valeria …«
Er senkte den Blick. »Leider gibt es keine Spur von ihr … Die Paraguayer haben die Grenze mittlerweile wohl überschritten, vielleicht sogar schon Argentinien verlassen, indem sie den Río Paraná überquerten … Und die Soldaten sind wieder nach Montevideo zurückgekehrt, sie konnten nichts für sie tun …«
Claire schloss die Augen. »O mein Gott …«
»Immerhin – ich glaube nicht, dass sie während des Schusswechsels getroffen wurde … Und dass die Männer sie am Leben gelassen haben, zeigt doch, dass sie gewiss Verhandlungen mit den de la Vegas’ aufnehmen wollen, wahrscheinlich von Asunción aus. Wie auch immer – du musst dich auf dich konzentrieren und gesund werden!«
Sie hob erneut kurz ihren Kopf und sah skeptisch auf das verbundene Bein. Ob sie jemals wieder laufen konnte? Immerhin, der Schmerz war ein Beweis, dass es nicht gefühllos war, tatsächlich konnte sie sogar ihre Zehen bewegen.
»Du hast dir einen üblen Beinbruch zugezogen und außerdem eine Gehirnerschütterung. Aber der Knochen ist nicht durch die Haut gedrungen, und es genügte, das Bein zu schienen. In zwei, drei Wochen kannst du vielleicht wieder aufstehen.«
»Zwei, drei Wochen?«, rief Claire entsetzt. »So lange muss ich im Bett liegen? Mein Vater wird vor Sorge vergehen …«
»Mach dir keine Gedanken, die Soldaten werden ihm die Nachricht überbringen und ihm auch versichern, dass ich mich um dich kümmern werde.«
Claire blickte sich wieder um. »Du hast mir immer noch nicht gesagt, wo wir sind.«
»Zuerst habe ich dich zum nächsten Gehöft gebracht und von dort aus weiter hierher. Es ist eine der Poststationen. Weit und breit gibt es hier keinen Arzt, aber die Wirtin ist eine tüchtige Frau. Hier in der Einöde hat sie schon manchen Verwundeten zusammengeflickt … während des Krieges oder nach Unfällen. Sie meint, du wärst jung und kräftig und würdest alles gut überstehen.«
Luis deutete auf den Trinknapf, der neben dem Bett stand. »Sie hat irgendein Mittel in den Matetee gemischt, das dich schlafen und die Schmerzen erträglicher sein lässt.«
Claire konnte sich nicht vorstellen, wie schlimm die Schmerzen ohne dieses Getränk gewesen wären. Als Luis den Napf an ihre Lippen setzte, nahm sie dankbar ein paar heiße, bittere Schlucke und schlief bald darauf wieder ein.
Von nun an war sie öfter und länger wach. Die Schmerzen – vor allem die im Bein – waren ein steter Begleiter, aber irgendwann hatte sie sich daran gewöhnt, abrupte Bewegungen zu vermeiden. Sie zwang sich, zu essen und nicht zu viel an Valeria zu denken. Luis verbrachte viel Zeit bei ihr, las ihr jeden Wunsch von den Augen ab und lenkte sie so gut wie möglich ab, vor allem, als Claire eines Tages verlangte, aufzustehen.
»Das ist viel zu früh!«
»Ich werde verrückt, wenn ich hier noch länger ruhig liegen muss!«
»Dennoch – der Bruch ist nicht geheilt. Du könntest ein krummes Bein bekommen, wenn du zu früh aufstehst.«
Sie sah ein, dass er recht hatte, fügte sich jedoch nur widerwillig.
»Wenn du auch nicht aufstehen kannst, gibt es doch ein anderes Mittel zur Zerstreuung«, meinte Luis vielsagend.
Wenig später kehrte er mit Würfeln aus Kuhknochen wieder, und von nun an spielten sie stundenlang damit.
Meistens schwiegen sie dabei, nur einmal erwähnte Luis gedankenverloren: »Früher habe ich mit meinem Vater gewürfelt.«
Claire musste daran denken, was er ihr erzählt hatte: dass er als Kind mit ihm oft durch die Pampa geritten war, ein glückliches Leben gehabt hatte, aber viel zu früh Waise geworden war.
»Du musst nach dem Tod deiner Eltern oft einsam gewesen sein«, murmelte sie.
Er schluckte, rang sich aber dann ein Lächeln ab. »Nun, irgendwann werde ich eine eigene Familie haben. Eine Frau und hoffentlich viele Töchter.«
»Keinen Sohn?«, fragte sie verdutzt. »Männer wollen doch alle Söhne!«
»Ach was«, wiegelte er ab. »Männer sind so grob, Frauen hingegen viel gefühlvoller. Ja, ich will nur Töchter, und ich werde sie nach meiner Mutter nennen.«
»Wenn du mehrere Töchter hast, wird ihr Name nicht reichen.«
»O doch, meine Mutter trug nämlich gleich mehrere: Maria Immaculata Monica Catalina … Meine Großmutter war sehr fromm, musst du wissen. Sie wollte, dass möglichst viele Heilige sie beschützen.«
Claire musste das erste Mal seit Wochen lachen. »Ich weiß gar nicht, ob meine Mutter auch mehrere Namen hatte. In jedem Fall hieß sie Antonie.« Kurz sah sie das klare, etwas strenge Gesicht ganz deutlich vor sich. Es war ihr gegenüber nicht immer nur abwesend gewesen. Gewiss, als Kind hatte Antonie nichts mit ihr anfangen können, aber als Claire älter geworden war, hatte sie viele vernünftige Gespräche mit ihr geführt. Ihrer Mutter gefiel es, dass sie so gerne Bücher las und klug und wissenshungrig war. Liebkost hatte sie sie allerdings nicht, und obwohl Claire nie gedacht hatte, dass ihr etwas gefehlt hätte, stellte sie sich jetzt plötzlich vor, selbst ein Kind zu haben, es in die Luft zu werfen, es jauchzend aufzufangen, es zu streicheln … Wie gerne wäre sie auch Luis durchs Haar gefahren, bis es wirr nach allen Seiten abstand und er von Herzen lachte!
»Ich glaube, ich wünsche mir lieber einen Sohn«, sagte sie leise und dachte insgeheim: einen Sohn wie dich – nur dass er länger Kind bleiben und mit seinem Vater durchs Land reiten darf.
»Den kleinen Antonio …«
Sie wollte schon widersprechen, dass sie ihr Kind nicht nach ihrer Mutter benennen würde, es vielmehr nur ihr gehören sollte – und Luis –, doch dieser Gedanke erschien ihr so anmaßend, dass sie vor Schreck gar nichts sagte und errötete.
Sei vernünftig!, ermahnte sie sich. Er ist ein Fremder, du kennst ihn erst seit wenigen Wochen.
Aber was immer sie sich einzureden versuchte – sie konnte sich des Gefühls nicht erwehren, schon ihr halbes Leben an seiner Seite verbracht zu haben und nie wieder darauf verzichten zu wollen. Und als Luis laut darüber nachdachte, wie der kleine Antonio wohl aussehen würde, lagen ihr die Worte auf der Zunge: Ich hoffe, so wie du!
Im letzten Augenblick presste sie die Lippen zusammen, nahm die Würfel und eröffnete die nächste Spielrunde.
Je mehr Tage ins Land zogen, desto größer wurde Claires Unrast. Mehrmals untersuchte die Wirtin ihr Bein, stellte fest, dass es noch bläulich verfärbt, aber nicht geschwollen war, dass der Knochen gut zusammenwuchs, aber noch nicht die Zeit gekommen war, aufzustehen. Anfangs ertrug Claire dieses Urteil stoisch, doch eines Tages rief sie ungeduldig: »Ich brauche frische Luft, sonst sterbe ich!«
Die Wirtin ließ sich nicht erweichen, Luis dagegen war immerhin bereit, sie nach draußen zu tragen.
Gierig sog Claire die Luft ein und sah sich um. Die Landschaft wirkte fremd. Waren sie vor dem Schusswechsel und ihrem Sturz vom Pferd durch dichtes, baumloses Grasland geritten, sah sie nun, dass die Poststation unmittelbar an einem Fluss lag, an dessen Ufer mächtige Bäume wuchsen: Urundays, Lapachos, Weiden und Akazien. Die Äste neigten sich so tief, dass sie das Wasser berührten und kleine Strudel um sie entstanden.
Am ersten Tag war Claire damit zufrieden, auf einer Bank vor dem Haus zu sitzen. Doch schon am nächsten bestand sie darauf, dass Luis sie in den Schatten der Bäume trug. Dort studierte sie die mächtigen Gewächse, die wenig mit den Buchen, Eichen und Ahornbäumen von den saftigen Taunuswäldern gemein hatten. Besonders fasziniert war sie von den großen, roten Blüten, die an einem Baum wuchsen.
»Das ist der Ceibo«, erklärte Luis. »Dieser Baum wächst nur an den Ufern des Río de la Plata oder in sumpfigen Gebieten.«
»Wie wunderschön seine Blüten sind!«
»Nun, aber noch schöner sind die Passionsblumen. Sie sind nach einem Märchen benannt.«
»Was für ein Märchen?«
»Das Märchen von einem Mädchen, das sich nach der Ermordung ihres Indio-Geliebten selbst tötet und aus dessen Wunde diese Blume wuchs.«
»Was für eine traurige Geschichte!«, rief Claire.
»Ja, aber sie sagt auch, dass aus etwas Traurigem etwas Schönes hervorgehen kann.«
Das galt auch in ihrem Fall. Es war unendlich traurig, dass Valeria verschleppt worden war, aber schön, dass sie mit Luis zusammen war – Luis, mit dem sie gut schweigen konnte, aber auch gut reden. Was sie in diesen Wochen durchmachte, hätte sie ihrem ärgsten Feind nicht gewünscht, aber bei allem Üblen konnte sie sich keinen besseren Gefährten vorstellen.
»Ich bin dir so dankbar«, murmelte sie und legte zaghaft ihre Hand auf seine.
Sanfte Röte stieg ihm ins Gesicht. »Das ist doch selbstverständlich. Es ist meine Pflicht, dir zu helfen.«
Sie studierte seine Miene genauer und hoffte so sehr, darin nicht nur Pflichtgefühl zu lesen, sondern tiefe Zuneigung zu ihr. Doch viel zu schnell wurde sein Blick ausdruckslos, und er zog seine Hand zurück.