21. Kapitel

Als sie nach mehreren Wochen wieder auf dem gebrochenen Bein auftrat, hätte Claire vor Schmerzen schreien können. Die Wirtin fand das nicht weiter schlimm, schien mit dem Erfolg ihrer Behandlung vielmehr zufrieden und meinte stoisch: »Es braucht eben eine Weile, irgendwann wird’s besser.«

Wieder hätte Claire schreien können – diesmal vor Wut über so viel Härte. Am liebsten hätte sie sich sofort ins Bett geflüchtet, um sich den Rest den Tages kein Jota zu rühren, doch dann ging ihr auf, dass sie sich selbst damit am meisten bestraft hätte. Die Sehnsucht, sich endlich wieder frei bewegen zu können, war größer als der Schmerz – die Sehnsucht auch, Hand in Hand mit Luis spazieren zu gehen. Also biss sie die Zähne zusammen, machte einen weiteren Schritt – und schrie diesmal nicht mehr ganz so laut auf. Und als Luis ängstlich fragte: »Geht es?«, nickte sie entschlossen.

Am ersten Tag schaffte sie an seiner Seite gerade mal ein Dutzend Schritte, am zweiten umrundete sie einmal die Poststation, am dritten waren die Schmerzen erträglich genug, um so weit zu gehen, bis sie weder die Poststation noch den Fluss sahen. Sie erfreute sich an den vielen Farbtupfern inmitten von hohem Gras, wildwachsenden Blumen und Sträuchern, die Blüten trieben. Mancherorts schlossen mächtige Agaven- und Kaktushecken die Felder und Wege ein, und Claire musterte interessiert den Blütenstand der Agave mit ihrer armleuchterartigen Verzweigung an der Spitze. Die Kakteen wiederum glichen mächtigen Säulen und trieben große Blüten hervor: außen weiß und innen fleischrot. Zum ersten Mal fühlte sich Claire stark genug, Luis’ stützende Hand loszulassen, auf einen zuzulaufen und mehrere Blüten zu pflücken. Leider verwelkten sie rasch wieder.

»Wie schade!«, bedauerte sie. »Ich hätte sie mir gerne ins Haar gesteckt.«

»Du brauchst doch keine Blume im Haar«, sagte Luis schnell. »Du bist auch so wunderschön.«

Noch nie hatte er ihr ein derart offenes Kompliment gemacht, und prompt errötete sie. Doch leider wurde sein Gesicht schon im nächsten Augenblick wieder ernst. Ach, es war so schwer, ihn zum Lächeln zu bringen oder ihn dazu zu bewegen, länger ihre Hand zu halten, als es unbedingt nötig war! Er stützte sie während der Spaziergänge, aber wenn sie zurückkamen und sie sich wieder setzte, wahrte er strikt Distanz.

Nach einigen Tagen, als sie beim Gehen kaum mehr Schmerzen fühlte, stand die nächste Herausforderung an: Um nach Montevideo zurückzukehren, würde sie demnächst entweder eine schrecklich rumpelnde Kutsche oder ein Pferd besteigen müssen. Letzteres schien ihr das geringere Übel, wenngleich sie nach ihrem Sturz schreckliche Angst davor hatte. Luis hatte das Pferd, das sie abgeworfen hatte, wieder eingefangen und behauptete, es wäre ein gutmütiges Tier, das nur wegen des Schusswechsels so panisch reagiert hätte. Claire blieb zunächst misstrauisch, doch als er sie an der Taille umfasste, war diese Berührung zu köstlich, um sich zu widersetzen. Und als sie erst einmal ritt und ihr der Wind ins Gesicht blies, genoss sie die Freiheit. Wie die Spaziergänge wurden auch die Ausritte mit jedem Mal länger.

»Wohin reiten wir?«, fragte sie eines Tages, als Luis so gar nicht ans Umkehren dachte.

»Lass dich überraschen.«

Sie kamen durch dichte Wälder, überwanden einen Höhenzug und ritten schließlich an den sumpfigen Ufern des Río Negro entlang, dessen klares Wasser, wie Luis erklärte, dafür bekannt war, hilfreich gegen syphilitische Leiden und Rheumatismus zu sein. Offenbar kam die heilende Wirkung von der Wurzel der Sarsaparille, die überreich am Ufer wuchs.

Fast überall trafen sie Trinkende und Badende an, die sich Linderung ihrer Krankheiten oder zumindest an heißen Tagen eine Erfrischung erhofften.

»Willst du auch im Fluss schwimmen?«, fragte Luis. »Das würde deinem Bein vielleicht guttun.«

Die Vorstellung, sich in die glitzernden Fluten zu stürzen, war verheißungsvoll, und überdies musste sie an den Tag denken, als sie sich kennengelernt hatten, aber plötzlich packte Claire ein schlechtes Gewissen.

»Ich weiß nicht«, murmelte sie, »in den letzten Tagen war ich so mit meiner Genesung beschäftigt, dass ich kaum mehr an Valeria dachte. Aber nun … Es ziemt sich doch nicht, dass ich mich vergnüge, während sie … während sie …«

Sie brach ab.

»Valeria ist nicht geholfen, wenn du an Schmerzen im Bein leidest oder auf eine Abkühlung verzichtest.«

»Gewiss, aber …«

Still fügte sie hinzu: Solange ich noch an Schmerzen leide – sind sie auch längst erträglich –, kann ich in dieser Art Niemandsland verharren, muss nicht nach Montevideo zurückkehren, meinem Vater alles erzählen … Ich kann die Zukunft warten lassen, düstere Gedanken verdrängen, die schönen Seiten des Lebens genießen.

Luis betrachtete sie nachdenklich und schien zu erraten, was in ihrem Kopf vorging. »Ich verstehe dich durchaus. Ich muss auch oft an meine vielen Landsmänner in Kriegsgefangenschaft denken. Nur wegen des Polizeidiensts war ich bislang vom Heeresdienst befreit.«

Claire erschrak. Was, wenn sich daran etwas änderte? Nicht auszudenken, dass sie nicht nur um Valerias Leben bangen müsste, sondern auch um das von Luis!

Plötzlich kam es ihr widersinnig vor, auf das Vergnügen eines Bades zu verzichten. In einer Welt, in der nichts sicher und nichts von Dauer schien, galt es, alle Augenblicke des Glücks auszukosten – waren sie noch so kurz und flüchtig.

»Nun gut«, stimmte sie zu, »aber ich werde nicht schwimmen, nur ein wenig im Fluss waten.«

Er lächelte, und sie erwiderte es, doch ihr entging der schmerzliche Ausdruck seiner Augen nicht und war gewiss, dass er den ihren spiegelte.

 

Noch öfter ritten sie zum Fluss. Claire fühlte sich auf dem Pferderücken langsam wieder sicher, und zu Fuß war sie so schnell unterwegs wie früher. Das bedeutete allerdings, dass Luis sie kaum mehr an der Hand hielt, und sie vermisste diese körperliche Nähe schmerzlich und überlegte sich oft, wie sie ihn veranlassen könnte, sie zu berühren. Leider fiel ihr kein probates Mittel ein – bis es an einem Tag ganz leicht, ja selbstverständlich wurde, die Distanz zu überwinden.

Das Wetter war bis jetzt immer schön gewesen – nicht zu warm, nicht zu kalt –, doch während eines weiteren Ausritts zog ein Sturm auf, trieb erst Sand in ihr Gesicht und dann fast waagerecht Regentropfen. Innerhalb kürzester Zeit standen tiefe Pfützen auf dem Weg, und sie waren bis auf die Knochen durchnässt. Weit und breit war keine Gastwirtschaft zu sehen – nur eine winzige Scheune, in der sie hastig Zuflucht suchten.

Unter deren Dach waren sie vorm Regen geschützt, doch durch die Ritzen wehte weiterhin kalter Wind. Claire hatte noch gelacht, als das Unwetter aufgezogen war, und war von den dunklen Wolkentürmen, die sich am Himmel zusammenbrauten, fasziniert gewesen, nun jedoch zitterte sie am ganzen Leib.

Kurzentschlossen zog Luis sie an sich, um sie zu wärmen. Auch dicht an ihn gepresst, konnte sie nicht aufhören zu zittern – wenn auch nicht länger vor Kälte, sondern vor unterdrückter Erregung, ihm so nahe zu kommen. Eine Weile verharrte sie in seiner Umarmung und genoss sie einfach nur. Dann gestand sie unwillkürlich: »Ich bin so froh, dass du bei mir bist.«

Sie bemerkte, dass auch er erbebte. Er rang nach Worten, doch ehe er welche fand, hatte sie sich auf die Zehenspitzen gestellt und ihn auf die Wange geküsst, und als er nicht von ihr abrückte, sie lediglich verblüfft anstarrte, wurde sie noch mutiger und gab ihm einen zweiten Kuss – direkt auf den Mund.

Das Glück, das sie in diesem Augenblick empfand, fühlte sich ein wenig verboten an, gleich so, als würde sie auf einem Friedhof tanzen, aber sie konnte nicht anders, als den Kuss auszukosten.

Wie wunderbar es war, seine Lippen zu schmecken, die gar nicht so hart waren, wie sie oft anmuteten! Wie aufregend, seinen warmen Atem auf ihrem Gesicht zu fühlen! Welch ein Nervenkitzel, so lange ihre Lippen auf seine zu pressen, bis sie sich öffneten und ihre Münder verschmolzen!

Als sie sich voneinander lösten, war er hochrot im Gesicht – und seine Züge so weich und entspannt wie an jenem Morgen, als sie ihn im Schlaf betrachtet hatte. Und wenn sie es bisher noch geleugnet hatte, so schrie nun jede Faser ihres Körpers die Wahrheit: Ich liebe ihn. Ich liebe ihn so sehr. Ich will den Rest meines Lebens mit ihm zusammen sein.

 

Immer tiefer drang Pablos Truppe nach Paraguay vor. Nach der Reise auf dem Fluss ging es wieder mit den Pferden durch den Dschungel weiter. Allerdings mussten sie oft absteigen, weil der dichte Pflanzenwuchs ihnen den Weg versperrte und mit Macheten gefällt werden musste, bevor ein Durchkommen möglich war.

Wenn es von den Bäumen in ihren Nacken tropfte, Blätter an ihr kleben blieben und ihre Füße sich in Schlingpflanzen verhedderten, wähnte sich Valeria, in ein verwunschenes Land geraten zu sein, das an wirre Träume und dunkle Märchen denken ließ – ein Land, das nicht für Menschen, sondern für Fabelwesen gemacht worden war. Feindselig wurden sie hier als Eindringlinge gemustert – von tausend unsichtbaren Augen, die sich im Dickicht versteckten. Selbst die farbenprächtigen Blumen schienen lebendige Wesen zu sein: Dornige Akazien wucherten neben blühenden Jacarandabäumen, auf toten Baumstämmen, die von Stürmen gefällt worden waren und in Sümpfen verrotteten, sprossen rosafarbene Trompetenblumen und bunte, aber übelriechende Orchideen mit tellergroßen Blütenblättern.

Fremd wie der Anblick der Pflanzen waren die Geräusche – ob das Gequake von Baumfröschen oder der ferne Ruf von Kiebitzen und Truthahngeiern.

Der Dschungel faszinierte Valeria und jagte ihr zugleich Ängste ein, wie sie sie bisher nicht gekannt hatte. Immer wieder passierten sie kleine Seen und Lagunen voller Krokodile, Zitteraale und Piranhas. Nicht immer führte der Weg daran vorbei. Mehrmals mussten sie das Wasser überqueren, indem sie Brücken aus Buschwerk herstellten. Diese waren schmal und selten stabil, und bei jedem Schritt zitterte sie vor Furcht, das Gleichgewicht zu verlieren, ins Wasser zu fallen und einen grässlichen Tod zu sterben.

Valentín war immer zur Stelle, wenn sie ihn brauchte, reichte ihr die Hand oder hob sie über Hindernisse, verhielt sich ansonsten aber distanziert und wortkarg. Manchmal dachte sie, dass sie ihn nur im Traum geküsst hatte – warum sonst tat er so, als wären sie sich nie auch nur annähernd so nahegekommen? Manchmal vermeinte sie, noch die Berührung seiner Lippen zu spüren, und labte sich daran. Und manchmal wiederum war ihr, als läge der Kuss Jahre zurück – desgleichen ihr Leben in Montevideo. Ja, in jenem verwunschenen Reich schienen die Gesetze der Zeit nicht zu gelten. Wenn sie es je wieder lebend verlassen würde, war sie womöglich zur Greisin gealtert, voller Runzeln, den Rücken zum Buckel geneigt und mit schlohweißem Haar. Allerdings fühlte sie sich zugleich stark wie nie, ausdauernd und widerstandsfähig, wie es nur jungen Menschen zu eigen ist. Abends war sie zwar immer erschöpft und schlief tief wie nie, doch am nächsten Morgen harrte sie ungeduldig, dass ihr Abenteuer seinen Fortgang nahm.

Zwei Seelen wohnten in ihrer Brust. Sie hasste den Dschungel – und fand den Marsch durchs Dickicht dennoch spannend und erregend. Sie verging vor Heimweh – und war dennoch froh, der Langeweile und Eintönigkeit, die ihr Leben bislang geprägt hatten, zu entkommen. Sie fühlte sich einsam wie nie – und dachte zugleich, dass sie keinem Menschen je so nahegekommen war wie Valentín. Stundenlang grübelte sie, ob er es auch so empfand und ob er sich nur so abweisend gab, weil er den anderen Männern etwas beweisen wollte, oder ob er tatsächlich so gleichgültig war.

Sie schämte sich der vielen Gedanken, die sie an ihn verschwendete, und sagte sich immer wieder, dass er ihr Feind war, ihr Entführer, den ihre Familie zu Recht am liebsten tot oder streng bestraft gesehen hätte. Doch zugleich sah sie in ihm den Mann mit den traurigen Augen und der melodischen Stimme, den Mann, dessen Ernsthaftigkeit mit einer tief sitzenden Sehnsucht gepaart war, der zupackte, gar roh wirken konnte, und der doch die Gewalt scheute und sich insgeheim nichts mehr wünschte, als in der Hängematte zu liegen und Harfe zu spielen. Was immer er durchgemacht hatte – die Gewalt, der er ausgesetzt war, hatte seine Seele nicht zerstört wie die seines Bruders, und an seiner Seite entdeckte sie auch in sich etwas, was sich als widerstandsfähig, zäh und stolz erwies. Das Mädchen, das sie vor der Entführung gewesen war, war ihr plötzlich fremd – sein Blick auf die Welt so oberflächlich, sein Trachten, seinen Platz im Leben zu finden, so ziellos. Gefunden hatte sie diesen Platz zwar auch jetzt nicht – im Gegenteil: Sie schien weiter entfernt davon als zuvor, wusste sie doch nicht, wer sie war, und noch weniger, wer sie sein wollte. Aber an Valentíns Seite war sie sich plötzlich sicher, dass sie es herausfinden und zu einer starken Frau reifen könnte.

Sie war enttäuscht, wenn er sie ignorierte – und umso glücklicher, wenn er sich um sie kümmerte, sie mit seinem Poncho zudeckte, ihr Matetee reichte oder etwas zu essen gab: Nicht länger mussten sie sich mit getrocknetem Fleisch begnügen, sondern sie genossen Gebratenes von den Schnepfen, Wildenten und Rebhühnern, die die Männer in den Sümpfen erjagten und deren Fleisch unerwartet saftig und wohlschmeckend war.

Im Gegensatz zu den ersten Tagen aß Valeria inzwischen mit gutem Appetit, doch etwas anderes wurde zur steten Qual – die vielen Mücken, Moskitos und Vinchucas nämlich, beißende und stechende Ungeziefer, die sich auch vom Zigarettenrauch nicht vertreiben ließen. Bald war sie am ganzen Körper von roten Quaddeln übersät. Sandflöhe gruben sich in die Augen der Pferde und mussten herausgeschnitten werden, und einer der Männer drohte, das Gleiche könnte auch ihr passieren, wenn sie nicht achtgab.

Valeria verging vor Angst, fuchtelte stets mit den Armen herum und konnte nachts nicht mehr schlafen. Doch als sie sich wieder einmal unruhig auf dem Lager wälzte, hockte sich plötzlich Valentín zu ihr und reichte ihr ein Fläschchen: »Reib dich damit ein, das hält das Ungeziefer fern.«

»Was ist das?«

»Eau de Cologne. Es hilft auch gegen die Rote Milbe, die in den Wiesen hinter dem Dschungel herumkriechen.«

»Eau de Cologne?«, rief Valeria verblüfft. »Und so etwas schleppst du durch den Dschungel?«

»Es hat meiner Mutter gehört. Mein Vater hat es ihr zu einem Hochzeitstag geschenkt. Es war sehr teuer, und man bekommt es nur in Asunción. Es heißt, dass es die Geliebte des Diktators auch verwendet …«

Ihm musste etwas an ihr liegen, wenn er es ihr gab und zuließ, dass ihr Duft ihn an seine Mutter erinnerte. Heißes Glücksgefühl durchströmte sie, doch ehe sie ihm danken konnte, hatte er sich schon wieder abgewandt und war zu seiner eigenen Schlafstatt zurückgekehrt.

Nach einigen Tagen war das Dickicht nicht mehr ganz so undurchdringlich, und wenig später endete der Dschungel. Valeria fühlte sich vom blauen Himmel und dem weiten Horizont fast erschlagen. Immer noch war es schwül, aber ihre Kleidung trocknete zum ersten Mal seit langem wieder.

Von nun an ritten sie über Wiesen, kamen an Feldern mit grünen, rosageäderten Maniokblättern vorbei und an hübschen, strohgedeckten Häuschen, die oft am Ufer eines Flusses errichtet worden waren. Neben Maniok wurden auch Mais und Zuckerrohr angebaut, und an den Rändern der Äcker wuchsen Zitronenbäume.

Es wirkte so friedlich, als hätte der Krieg hier nie gewütet, wie auch Valentín eines Tages feststellte. »Man könnte meinen, die Welt wäre noch in Ordnung«, murmelte er.

»Das ist ein Zeichen, dass es weiterhin keine neuen Kampfhandlungen gibt«, sagte Valeria, »wer weiß – vielleicht haben die verfeindeten Länder schon endgültig Frieden geschlossen. Vielleicht könnt ihr auf die Plantage eurer Eltern zurückkehren und sie wieder aufbauen.«

Valentín schwieg nachdenklich. »Ich fürchte, ich habe nie wirklich zum Bauern getaugt«, wiegelte er schließlich ab.

»Nun, aber du könntest deinen Traum verwirklichen – nach Europa gehen und dort studieren!«, rief sie eifrig.

»Dafür fehlt mir wiederum das Geld.«

»Aber Pablo will mich doch freipressen. Die de la Vegas’ werden gewiss teuer für mich bezahlen – und falls keine Waffen mehr notwendig sind, habt ihr genug Geld, um euch eine neue Existenz aufzubauen.«

Valentín musterte sie verblüfft: »Du klingst so begeistert, als würdest du es gutheißen, wenn wir deinem Großvater so viel Geld wie nur möglich aus der Tasche ziehen.«

»Mein Großvater wird nicht so schnell bankrottgehen«, sagte sie leichtfertig. »Aber du hast so viel verloren, und wenn du nur ein wenig davon zurückbekommst, hast du es reichlich verdient.«

Wieder schwieg er lange. »Die Vergangenheit ist unwiderruflich vorbei«, meinte er dann, »und wenn jemand etwas verdient, so du, dass du wieder heimkehren und dein behütetes Leben weiterführen kannst.«

Sie wusste nicht recht, was in sie fuhr, aber plötzlich nahm sie seine Hand und drückte sie. »Ich weiß gar nicht mehr, ob ich das überhaupt noch will.«

Rasch entzog er ihr seine Hand. »An unserer Seite musst du schreckliche Torturen und Ängste durchleiden!«

»Das auch, aber …«

Aber zugleich habe ich mich noch nie so lebendig gefühlt, dachte sie.

Sie sagte es nicht laut, nicht nur weil seine Miene so nachdenklich wurde, sondern weil Pablo zu ihnen aufschloss und plötzlich spottete: »Ist das traute Paar am Schäkern?«

Seine Stimme klang noch giftiger als sonst. Valentín erwiderte finster seinen Blick, sagte jedoch nichts, und auch die weitere Wegstrecke legten sie schweigend zurück.

 

Das Land, durch das sie während der nächsten Tage kamen, war sumpfig, flach und vom kräftigen Fuchsschwanzgras übersät, das zurzeit blühte. Die Straßen wurden breiter, standen aber unter Wasser.

Valentín schwieg weiterhin, und Valeria entging es nicht, dass nicht nur sie ihn stets beobachtete und sich fragte, was wohl hinter der gerunzelten Stirn vorging, sondern auch sein Bruder. Offenbar witterte er dessen wachsenden Widerstand. Gegen Abend hin wurde er immer gereizter, die Befehle an die Männer immer schroffer, aber noch eskalierte die angespannte Stimmung nicht.

Zum ersten Mal seit Wochen machten sie an diesem Abend nicht im Freien Rast, sondern in einer Herberge. Sie war heruntergekommen und wurde von einer ängstlichen Frau bewirtschaftet, die den Männern wohl am liebsten die Tür vor der Nase zugeworfen hätte, dies aber nicht wagte und stattdessen rasch einen Eintopf aufsetzte. Der schmeckte fade, das Fleisch darin war zäh und das Gemüse wässrig, doch nach all dem gebratenen Fleisch war es eine willkommene Abwechslung.

Auch wenn die Gaststube völlig verdreckt war – Valeria genoss es, endlich wieder einmal ein Dach über ihrem Kopf zu haben, wo sie von Ungeziefer und wilden Tieren geschützt war.

Als sie überdies nicht auf dem harten Boden liegen musste, sondern auf einer Pritsche, fühlte sie sich wie im Paradies.

Die Wirtin hatte keine Fragen gestellt, wer sie waren und woher sie kamen, aber sie schien zu ahnen, dass Valeria mit keinem der finster wirkenden Männer verheiratet war, und hatte ihr angeboten, bei ihr unter dem Dach zu schlafen.

Sosehr Valeria Valentíns Gesellschaft mittlerweile genoss – so lieb war es ihr, nicht länger Pablos Blicken ausgeliefert zu sein. Anstatt weiter über die Brüder zu grübeln, legte sie sich hin, zog die Decke hoch und labte sich an der Stille und der Wärme. Kurz überlegte sie, ob sie der Wirtin anvertrauen sollte, dass sie gewaltsam verschleppt worden war, verwarf den Gedanken jedoch: Sie war hier im Feindesland, und die Frau stand gewiss auf der Seite ihrer Landsmänner – überdies konnte sie, selbst wenn sie bereit gewesen wäre, Valeria zu helfen, nichts gegen ein Rudel Männer ausrichten. Es war großzügig genug, dass sie mit ihr die Dachkammer teilte.

Wenig später war sie tief und fest eingeschlafen.

Als sie erwachte, war es stockdunkel. Unwillkürlich spannte sie sich an, glaubte sie sich doch zurück in den Dschungel versetzt und verstand kurz nicht, warum keine Moskitos surrten und kein Feuer knisterte. Dann vernahm sie das Schnarchen der Wirtin, und ihr fiel wieder ein, wo sie war. Sie wollte die Augen schließen, als sie plötzlich – von den Holzwänden gedämpft – Stimmen hörte. Diese waren es wohl auch gewesen, die sie geweckt hatten.

Sie spitzte die Ohren, verstand aber zu wenig, so dass sie schließlich zum Fenster schlich, die kleine Luke öffnete und nach draußen spähte. Die Stimmen gehörten Pablo und Valentín, die nicht weit vom Haus miteinander stritten.

 

Valentín hatte auf der Pritsche einmal mehr nicht schlafen können. Lange Zeit hatte er sich so sehr nach einem Dach über dem Kopf gesehnt, doch nun fühlte er sich im geschlossenen Raum nicht geborgen, sondern gefangen. Nachdem er nach draußen getreten war, stellte er fest, dass es nicht nur ihm so ging.

Pablo stapfte auf und ab und erstarrte, als er Valentín kommen hörte. Eine Weile standen sie sich stumm gegenüber und belauerten einander. Das Gefühl der Entfremdung hatte Valentín in den letzten Wochen nur schleichend überkommen, doch nun tönte in seinem Kopf laut wie nie der Gedanke: Was mache ich nur an seiner Seite? Warum habe ich mich ihm mit Haut und Haar unterworfen? Vor dem Krieg, vor dem Massaker an unserer Familie hatten wir uns doch nie nahegestanden. Kann Nähe, aus Blut geboren, denn eine echte, tiefe sein?

Pablo schien zu fühlen, was in ihm vorging. Während seine Feindseligkeit meist hinter Hohn verborgen war, offenbarte seine angespannte Miene sie nun unverhohlen.

»Vater wusste immer, dass du verweichlicht bist«, brachte er gepresst hervor.

Valentíns Kiefer mahlten. Er wusste nicht, woher der plötzliche Mut kam, seinem Bruder zu trotzen, sich gar mit ihm anzulegen – vielleicht von Valeria, die so tapfer war, vielleicht, weil er endlich entschieden hatte, sein Leben nicht nur der Trauer über Verlorenes zu opfern. In jedem Fall schluckte er den Tadel seines Bruders nicht, wie er es so oft getan hatte. Eisig erklärte er: »Mag sein. Aber Vater hat mich immer gewähren lassen. Er wusste die Menschen so zu nehmen, wie sie sind. Er zwang ihnen nicht seinen Willen auf wie du.«

Pablo reckte herausfordernd sein Kinn, als er auf ihn zutrat. »Er hätte es getan, wenn er den Krieg erlebt hätte!«, schrie er. »Im Krieg zählen keine Launen mehr, im Krieg zählt nur unser Land, und dem haben wir zu dienen mit allem, was wir auf die Waagschale werfen können. Doch du bist ein denkbar schlechter Soldat. Ich ahne es schon seit geraumer Zeit: Für dieses Mädchen bist du bereit, alles zu verraten.«

Sie maßen sich angespannt. Noch hielten sie den letzten Abstand von einigen Schritten aufrecht, aber unmerklich hatten sie beide begonnen, sich zu umkreisen.

»Pah!«, machte Valentín. »Wenn wir sie freilassen und darauf verzichten, neue Waffen einzufordern – was wäre dann schon verloren? Es würde den Verlauf des Krieges nicht ändern. Dazu ist sie zu unbedeutend. Und du, Pablo, du bist es auch.«

Pablo wurde weiß vor Wut. »Francisco Lopez würde das anders sehen. Er hat Menschen wegen weit geringerer Vergehen hinrichten lassen!«

»Weil er ein Diktator ist, wahnsinnig und grausam! Und das weißt du auch. Nur sprichst du es nicht aus, traust dich nicht, es auszusprechen. Wer von uns ist also der größere Feigling?«

»Du wagst es …«

Valentín sah, wie Pablo die Faust ballte und sich sein Körper anspannte. Ein Wort noch, und er würde auf ihn losstürzen wie ein Tier, und diesmal war keiner der anderen Männer zugegen, um sie zu trennen. Diesmal würde Pablo ihn grün und blau schlagen, ihn würgen, ihn vielleicht sogar töten. Valentín wusste: Auch wenn er ihm ein paar schmerzhafte Schläge zufügen konnte – Pablo war stärker als er. Und grausamer. Ja, er traute ihm zu, dass er den eigenen Bruder mit bloßen Händen ermordete – und es machte ihm keine Angst. Kurz frohlockte er beinahe über die Aussicht, in dieser Nacht zu sterben. So oft hatte er sich gewünscht, dass ihn in jener Nacht das gleiche Schicksal wie seine Eltern und Schwestern ereilt hätte, dass er nicht mit dem entsetzlichen Wissen weiterleben hätte müssen, sie nicht gerettet zu haben.

Aber als er den Mund aufmachte, um Pablo zu provozieren, ging ihm plötzlich auf: Wenn er sie schon nicht hatte retten können, wenn Mercedes, Margarita und Micaela nur in seinen Erinnerungen fortleben durften – Valeria konnte er helfen. Und deswegen durfte er nicht sterben. Deswegen durfte er nicht einmal zulassen, zusammengeschlagen zu werden.

Er duckte seinen Kopf und hob abwehrend die Hände. Die Entscheidung, was zu tun war, fiel in Sekundenschnelle.

»Es tut mir leid, Bruder«, sagte er kleinlaut. »Lassen wir es gut sein. Die Wahrheit ist: Wir beide haben uns nicht sonderlich gemocht, und es ist sinnlos, etwas anderes zu heucheln. Aber ebenso sinnlos ist es, unsere Kräfte zu vergeuden, indem wir streiten und uns aneinander aufreiben.«

Pablo, der wohl auf eine neue Beleidigung gefasst gewesen war, ließ verwirrt seine Fäuste sinken. Seine Muskeln, eben noch so straff und zum Losschlagen bereit, erschlafften. »Und wie willst du sie dann nutzen – deine Kräfte?«, fragte er halb ungläubig, halb ärgerlich. »Etwa beim Singen und Bezirzen von Mädchen?«

Valentín schüttelte den Kopf. Er blickte auf seine Hände, saubere Hände – vorhin hatte er sie zum ersten Mal seit Wochen gründlich gewaschen –, und doch rauhe, schwielige Hände. Die eines Mannes. Auch die eines Soldaten?

»Ich weiß es nicht«, brach es aus ihm heraus. »Ich weiß es wirklich nicht, aber … aber ich werde es herausfinden.« Er machte eine kurze Pause, ehe er den Blick hob und entschlossen hinzufügte: »Allein.«

Er sah gleichermaßen Verwirrung und Enttäuschung in Pablos Zügen aufblitzen. Vielleicht, weil er sich insgeheim auf die Prügelei gefreut hatte, um die Anspannung der letzten Tage abzureagieren. Vielleicht, weil er trotz allem den Bruder an seiner Seite wissen wollte.

»Du sagst dich von mir los?«, fragte er entsetzt.

Valentín rang sich ein Lächeln ab. »Warum so dramatisch, Bruder? Ich gehe meinen Weg, und du gehst deinen. In den letzten Monaten haben sich diese Wege gekreuzt – und jetzt führen sie eben wieder in verschiedene Richtungen. Wir müssen uns nicht bekriegen, nur weil wir nicht einer Meinung sind. Es gibt ohnehin zu viel Hass auf dieser Welt.«

Pablo schluckte schwer. »Du bist ein Träumer und wirst es immer sein.« Er klang verächtlich und ein klein wenig neidisch. »Aber wenn du gehst«, fuhr er hitzig fort, »bleibt das Mädchen hier. Du magst denken, dass es ein Leichtes ist, auf das zu verzichten, was sie uns einbringen kann. Aber ich werde das nicht tun.«

Valentín fiel es schwer, eine gleichmütige Miene zu wahren. Wieder mahlten seine Kiefer, dennoch rang er sich ein leichtfertiges Lächeln ab. »Nur weil es der Anstand gebot, mich um sie zu kümmern, werde ich nicht mit dir um sie kämpfen.«

Pablo wirkte ehrlich verblüfft, wollte es jedoch ganz offensichtlich nicht eingestehen. »Dann ist es ja gut«, knurrte er knapp. Er wandte sich ab, und erst als er fast die Herberge erreicht hatte, ließ er kaum merklich seine Schultern hängen.

»Willst du dich nicht von mir verabschieden?«, rief Valentín ihm nach und fühlte trotz aller Entschlossenheit den Schmerz darüber, auch noch den letzten Verwandten zu verlieren. Er ahnte: Wenn sie jetzt voneinander schieden, würden sie sich vielleicht niemals wiedersehen.

»Nein«, sagte Pablo unerwartet hart. Er betrat das Haus, verharrte zwar kurz auf der Schwelle, drehte sich aber nicht mehr nach Valentín um.

Der dachte schon, dass er sich nun endgültig Pablos Hass und Verachtung zugezogen hätte, doch was sein Bruder dann sagte, war ihm ein Zeichen, dass nicht alles in Pablo verroht und erkaltet war. »Wenn du dich wirklich nach einem besseren Leben sehnst«, sagte er heiser, »wenn du Frieden suchst und Schönheit, Zärtlichkeit und Liebe – dann dreh dich besser nicht nach mir um, wenn du gehst.«

 

Nach dem Streit der Brüder schlich Valeria zurück zu ihrer Pritsche und lag dort bis zum Morgengrauen wach. Sie hatte fast jedes Wort gehört, konnte jedoch nicht glauben, dass Valentín tatsächlich einfach fortgegangen war und sie im Stich gelassen hatte. Sie musste etwas falsch verstanden haben, gewiss würde sie morgen früh als Erstes in sein Gesicht sehen. Trotz ihrer Beschwörungsversuche, dass alles gut werden würde, wuchs das Unbehagen. Es raubte ihr den Schlaf, und als sie schließlich doch noch einnickte, wurde sie von einem dunklen Traum gepeinigt. Mit einem Schrei auf den Lippen fuhr sie hoch, um festzustellen, dass die Wirklichkeit noch bedrohlicher als der Traum war. Sie rieb sich eben schlaftrunken und mit vagen Kopfschmerzen die Augen, als sich die Tür öffnete und Pablo im Rahmen erschien. Sonst sah er sie immer höhnisch und herausfordernd an, diesmal konnte sie seinen Gesichtsausdruck nicht deuten. In jedem Fall wirkte er müde, mitgenommen und gerade deswegen so … gefährlich. Quälte es ihn, dass sein Bruder sich von ihm losgesagt hatte?

Valeria wollte es immer noch nicht glauben. Sie erhob sich hastig, ging wortlos an Pablo vorbei und blickte sich suchend nach Valentín um. Doch er saß nicht am Tisch, wo eben etwas Maisbrei als Frühstück aufgetischt wurde. Vielleicht war er draußen bei den Pferden, vielleicht war er nur …

»Er ist fort«, erklärte Pablo plötzlich scharf.

Valeria unterdrückte die Panik, senkte den Kopf, um zu verbergen, wie sehr ihr seine Worte zusetzten, und nahm schnell am Tisch Platz. Sie versuchte, etwas zu essen, denn sie musste bei Kräften bleiben, und sie gab auch weiterhin vor, dass ihr Valentíns Verschwinden nichts ausmachte, aber während der ganzen Entführung hatte sie sich nie so elend gefühlt wie in diesen Augenblicken. Es war nicht einfach nur die Furcht vor Pablo, die ihr zu schaffen machte, oder das Gefühl, von Gott und der Welt verlassen worden zu sein, sondern die Kränkung über einen Verrat, den sie nicht hatte kommen sehen, und die Enttäuschung, auf den Falschen gesetzt zu haben.

Sie war sich sicher gewesen, irgendetwas in Valentín tief zu berühren, so wie die Begegnung mit ihm sie unweigerlich verändert hatte, doch in Wahrheit konnte sie ihm nicht viel wert gewesen sein, sonst hätte er sie niemals seinem Bruder und dessen Männern ausgeliefert. Am liebsten hätte sie geweint, stundenlang, tagelang, bis sie keine Kraft und Tränen mehr hatte – aber sie wusste: Sie durfte sich keine Blöße geben und Pablo gar nicht erst auf den Gedanken bringen, sie zu verhöhnen und seine schlechte Laune an ihr auszulassen. Also verhielt sie sich so unauffällig wie möglich und hob ihren Blick erst, als sie fortritten.

Bis jetzt hatte sie vor Valentín im Sattel gesessen, doch der hatte schließlich sein Pferd mitgenommen, und sie hoffte darum, dass sie fortan mit Tshepo oder Pinon reiten würde. Nicht dass sie ihnen vertraute. Aber von allen Blicken waren ihre die dumpfsten, folglich am wenigsten anzüglich. Doch zu ihrem Schrecken nahm ausgerechnet Pablo sie vor sich aufs Pferd.

Sie machte sich so steif wie möglich, konnte aber dennoch die Berührung seines Körpers nicht vermeiden. Seinerseits schien ihm diese gar nicht so unangenehm zu sein. Anfangs geschah es eher zufällig, dann wurde es immer augenscheinlicher, dass er mit voller Absicht über ihren Körper strich und durch ihr Haar fuhr. Anders als sonst hatte sie keinen Sinn für die Landschaft. Selbst wenn sie an blühenden Wiesen vorbeigeritten wären, hätten diese doch wie ein finsteres Tal angemutet. Je länger sie vor Pablo saß, desto unbedeutender wurde ihre Enttäuschung über Valentíns Verrat, und zurück blieb nackte Angst. Selten hatte Pablo seine Züge so unter Kontrolle gehalten wie an diesem Tag, aber genau das war ein alarmierendes Zeichen, weil es umso heftiger in ihm brodelte.

Als sie zu Mittag rasteten, rückte sie so weit wie möglich von ihm ab. Zunächst schien er sie nicht länger zu beachten, aber dann stellte er sich plötzlich vor sie und brüllte: »Mitkommen!«

Sie erstarrte, und da sie nicht gleich reagierte, packte er sie brutal am Arm. Sie schrie auf – doch keiner der Männer regte sich, um einzuschreiten. Sie starrten stumpfsinnig ins Feuer oder machten sich über ihr Mittagsmahl her, während Pablo sie fortzerrte.

Valeria blickte sich hektisch nach Hilfe um, doch weit und breit war kein Haus zu sehen, nur Felder, ein Tümpel und ein Wäldchen. Als sie den Schatten der Bäume erreichten, ließ er sie los, und kurz war es eine Wohltat, nicht länger seinen schmerzhaften Griff zu fühlen. Doch im nächsten Augenblick wuchs ihre Angst und schnürte ihr die Kehle zu.

Breitbeinig stand Pablo vor ihr – und seine Miene war nicht mehr kalt, sondern voller Wut und … Schmerz.

»Erklär es mir!«, schrie er. »Erklär mir, was in meinem Bruder vorgeht!«

Hilflos blickte sie zu ihm hoch.

»Ich habe ihn nie verstanden, und jetzt noch weniger als zuvor!«

Pablo hieb heftig die Füße in den Boden. Erdkrümel regneten auf ihr Gesicht. Sie duckte sich, doch plötzlich fasste er sie erneut am Arm. Seine Bewegung war so ungestüm, dass sie glaubte, er würde ihr die Schulter ausrenken. Er presste sie gegen den Baumstamm, und die rauhe Rinde zerkratzte ihr die Kopfhaut. Noch unerträglicher war, seinen Körper zu fühlen, wie er sich an sie drückte.

»Ich dachte immer, er wäre viel zu weich, zu schwach, zu feige. Aber warum hat ihn dann unsere Mutter so sehr geliebt? Sie war keine Frau, die Schwächlinge mochte, sonst hätte sie nie und nimmer meinen Vater genommen. Und wie beglückt sie Valentín immer angesehen hat, wenn er seine Lieder sang und ihr Geschichten erzählte! Ich habe auf der Plantage gearbeitet, bis meine Hände voller Blasen waren, mein Rücken krumm und meine Füße blutig, aber mich hat sie nie so angesehen, kein einziges Mal!«

Seine Speicheltröpfchen benetzten Valerias Gesicht. Kurz wurde sein Griff locker, aber als sie sich losmachen und an ihm vorbeihuschen wollte, packte er sie wieder, diesmal an der Kehle.

»Als unsere Mutter und Schwestern starben, hatte er keine Zeit mehr, Lieder zu singen«, fuhr Pablo knurrend fort. »Wir kämpften Seite an Seite im Krieg, wir töteten Feinde, wir wollten sie beide rächen, obwohl sie ihn mehr geliebt hat als mich. Doch nun … nun hat er alles verraten. Nicht nur mich, sondern auch sie. Er begreift nicht, dass er ihr letztlich so viel mehr schuldig war als ich.«

»Vielleicht …«, setzte Valeria mit heiserer Stimme an, »vielleicht wünscht sich eure Mutter nicht Rache, sondern dass ihr glücklich werdet. Und vielleicht hat Valentín das erkannt und ist deswegen gegangen.«

Einen Augenblick blickte Pablo sie verwirrt an, fast so, als wüsste er nicht, was Glück bedeute. Dann hob er seine Hand und schlug ihr ins Gesicht. Sie duckte sich, so dass er nur die Schläfe traf, nicht ihre Lippen, aber dennoch war die Wucht des Schlages so heftig, dass sie erst gegen den Baum prallte, dann auf den Waldboden fiel und dort einmal um die eigene Achse rollte. Als sie sich aufrappeln wollte, stand er über und drückte sie nieder.

»Du warst es!«, brüllte er. »Du hast seine Erinnerungen an unsere Mutter geweckt. An deiner Seite wurde er wieder jener weiche Mann von einst. Ich frage mich: Kannst du das aus mir auch machen? Einen Mann, der noch fühlen kann?«

Er schüttelte sie, bis ihr Haar ins Gesicht fiel und sie nichts mehr sah. Ihr Kopf dröhnte, und sie schmeckte Blut – sie hatte sich wohl auf die Lippen gebissen. Völlig wehrlos lag sie unter ihm, als er unvermittelt begann, an ihrer Kleidung zu zerren.

»Nicht … bitte nicht.«

Er hörte nicht auf, sondern öffnete nun auch seine Hosen. Dass er nichts mehr sagte, war kein Trost – im Gegenteil. Sie schüttelte sich die Haare aus dem Gesicht und sah in seinem Gesicht nicht einmal Lust oder Gier, nur Verbissenheit.

Grimmig knetete er ihre nackte Haut und hinterließ rote Flecken. Sie wehrte sich hartnäckig, als er ihre Beine auseinanderdrückte, und als er sich auf sie legte, zerkratzte sie sein Gesicht. Er zuckte nicht einmal zurück, presste sie nur noch brutaler zu Boden und hob abermals die Hand, um auf sie einzuschlagen.

Sie schloss die Augen, wappnete sich gegen den Schmerz, glaubte, das Klatschen schon zu hören, noch mehr Blut zu schmecken.

Doch der Schlag blieb aus. Statt des Klatschens erklang ein dumpfes Poltern.

 

Als Pablos schwerer Leib reglos auf ihren sank, wuchs ihre Panik. Sie dachte schon, unter ihm zu ersticken wie damals unter Jorge, strampelte mit den Beinen, konnte sich aber nicht von der Last befreien. Doch dann wurde der Körper zur Seite gerollt, und Valentíns Gesicht beugte sich über ihres. Er hielt ein Messer in der Hand, mit dessen Knauf er auf den Bruder eingeschlagen hatte. Er schien ihn an der Schläfe getroffen zu haben, wo der Schlag einen roten Fleck hinterlassen hatte.

»Mein Gott, ist er etwa …?«

»Nein, er atmet noch und kommt sicher bald zu sich. Wir müssen schleunigst weg von hier.«

Er zog sie an den Armen hoch und riss sie mit sich. Verspätet durchflutete sie die Erleichterung, dass sie gerettet war, vor allem aber, dass er sie nicht im Stich gelassen hatte.

»Ich dachte, du hättest mich einfach …«

Wieder fiel er ihr ins Wort, ehe sie den Satz zu Ende bringen konnte: »Ich musste Pablo vorspielen, dass ich ohne dich ginge. Nur auf diese Weise konnte ich euch unauffällig folgen und nun die Gelegenheit nutzen. Los, beeilen wir uns, selbst wenn Pablo nicht so bald erwacht, könnten die anderen auf uns aufmerksam werden.«

Nicht weit von der Stelle, wo Pablo über sie hergefallen war, hatte Valentín sein Pferd angebunden. Er half ihr beim Aufsteigen, setzte sich hinter sie und gab dem Tier die Sporen. Valeria fühlte sich noch ganz benommen nach den Schlägen, dem Gerangel und dem ausgestandenen Schrecken, doch der Wind, der ihr ins Gesicht blies, vertrieb die schlimmen Erinnerungen. Wie sie da vor Valentín im Sattel saß, fühlte sich ihr Körper, dessen Glieder eben noch geschmerzt hatten, mit einem Mal ganz leicht an, ganz so, als würde sie fliegen. Pablos grobe Berührungen waren ihr unerträglich gewesen, aber an Valentín klammerte sie sich ohne Scheu. Nichts Fremdes, Beängstigendes verhieß er, nur die tröstliche Gewissheit, dass er ihr Beschützer war, dass er sich gegen seinen Bruder entschieden hatte und dass er ihretwegen seinem Lebensweg eine neue Richtung gegeben hatte – genauso wie sie dem ihren. Sie wusste nicht, wohin er führen würde, wusste nur, dass sie nichts in ihrem Leben je so genossen hatte wie diesen Ritt, die Freiheit, die er versprach, die Ungebundenheit, das Abenteuer. Nie wieder wollte sie darauf verzichten.

Nach einer Stunde hielten sie an einem Bach, auf dessen glitzernde Oberfläche hohe Bäume ihre Schatten warfen, und tranken, bis ihr Durst gestillt war. Nach all der Aufregung und Anstrengung hatte Valeria das Gefühl, nie etwas so Köstliches geschmeckt zu haben wie dieses klare, kalte Wasser.

Als sie sich erhob und den Mund abwischte, merkte sie, dass Valentín sie anstarrte. Seine Wangen waren gerötet, seine Miene war ernst – und ernst klangen auch die Worte, die er so unbeirrbar vortrug, als spräche er einen Schwur. »Es war ein Fehler, es nicht schon früher getan zu haben, aber nun werde ich nicht länger zögern, dich in deine Heimat und zu deiner Familie zurückzubringen.«

Wochenlang hatte sie genau darauf gehofft, aber nun fühlte sie keine Freude – nur Sorge. »Aber wenn du uruguayischen Boden betrittst, bringst du dich in Gefahr!«

»Sei’s drum – dieses Wagnis will und muss ich eingehen. Ich fürchte nur, dass du weitere Strapazen auf dich nehmen musst, bis wir es geschafft haben.«

Sie trat zu ihm. »Das macht mir nichts aus, solange wir nur zusammen sind.«

Eine Weile blieb er steif stehen, schien ihre Nähe, die Wärme ihres Körpers zu genießen, doch dann trat er kopfschüttelnd zurück. »Du wirst besser dran sein, wenn du mich endlich los bist«, murmelte er.

»Aber das will ich doch gar nicht!«, begehrte sie auf. »Ich war früher nicht glücklich, zumindest nicht so wie jetzt … Ich will nicht, dass wir eines Tages voneinander scheiden. Ich will an deiner Seite leben, und …«

Ein Ausdruck von Rührung huschte über sein Gesicht, aber auch von Zweifel und Schmerz. »Für jemanden wie dich und mich gibt es unmöglich eine gemeinsame Zukunft!«, rief er gequält. »Zu viel steht zwischen uns. Zu viel trennt uns.«

Sie rang nach Worten, um ihm zu widersprechen, doch ihr fielen keine ein. Sie musste ihn anders überzeugen. Wieder trat sie auf ihn zu, und ehe er erneut zurückweichen konnte, umarmte sie ihn. Zärtlich strich sie über seine muskulösen Arme, seine von der Sonne gegerbte Haut, seine rauhen, gleichwohl weichen Lippen. Sie hörte, wie sein Atem immer schwerer ging.

»Valeria …«

Sie umklammerte ihn noch fester. »Jetzt in diesem Augenblick steht nichts zwischen uns«, flüsterte sie, und bevor er noch etwas sagen konnte, presste sie ihre Lippen auf seine. Kurz verharrten sie so, ehe er seinen Mund öffnete, ihre Zungen miteinander verschmolzen und ihre Zähne wegen der Hast und Gier aneinanderschlugen.

Als sie wenig später auf die feuchte Erde sanken, sie ungeduldig an seinem Gewand zu zerren begann, er nicht minder ungestüm ihre Hosen öffnete und seine schwieligen Hände über ihre Oberschenkel wanderten, dachte sie, sie müsse wahnsinnig sein, dies nicht nur zuzulassen, sondern selbst zu fordern. Aber die Heftigkeit ihrer Gefühle und ihres Verlangens vertrieb jedes Zögern. Sie wollte ja wahnsinnig sein, sie wollte alle Vernunft ablegen wie ihre Kleidung, sie wollte sich diesem blinden Rausch ganz und gar überlassen. Sie wollte nichts denken – weder an die Bedrohungen, die hinter ihr lagen, noch an die, die noch kommen würden, weder an den Krieg, der die Länder ihrer Vorfahren entzweite, noch den Hass, den nicht nur Pablo, sondern alle Welt ihnen entgegenbrachte – sie wollte nur fühlen: die würzige Erde unter ihrem Rücken, die rauhe Rinde des Baums, die gegen ihren Kopf scheuerte, das kalte Wasser des Bachs, das ihre Füße umspülte. Vor allem wollte sie seinen Körper spüren, so schwer und doch so weich, so wild und doch so zärtlich. Als er über die Spitzen ihrer Brüste streichelte, wähnte sie Feuerzungen auf der Haut tanzen, die erst ihren Bauch entflammten, dann das verborgene Dreieck zwischen ihren Schenkeln. Als seine Hände jenem Kribbeln folgten, stockte ihr der Atem. Jetzt fühlte sie weder Erde noch Rinde noch Wasser, nur seine Haut auf ihrer, als würden sie zu einem Leib verschmelzen. Während seine Hand immer tiefer wanderte, die intimste Stelle ihres Körpers berührte und in ihrer Feuchtigkeit badete, erforschte sie auch seinen Körper, fühlte das gekräuselte Haar auf der rissigen Haut, fühlte die Muskeln seines Bauches, fühlte schließlich, nach kurzem Zögern, sein heißes, hartes Geschlecht, dessen Spitze warm und feucht war. Sie lächelte, als er stöhnte, und befürchtete nicht länger, er könnte im letzten Augenblick zurückweichen. Nein, sein Wille war von der Lust gebrochen, die er suchte – und fand. Als er sich auf sie legte und sich in sie grub, fühlte sie einen spitzen Schmerz, der sich in kleinen Wellen über den ganzen Körper ausbreitete, doch als sie verebbt waren, kehrten jenes Kribbeln und jene Hitze zurück, die sie die Welt vergessen ließ. Wieder vernahm sie ein Stöhnen, diesmal kam es aus dem eigenen Mund. Es klang fremd wie der keuchende Atem, die spitzen Schreie, das leise Klatschen, als sich ihre Körper im Gleichtakt voneinander lösten und wieder zusammenfanden. Nur als sie den Gipfel der Lust erklommen, wurde es plötzlich ganz still. Sie riss die Augen auf, starrte ihn an und versank in das dunkle, warme Braun seiner Iris.

Als sie später nebeneinanderlagen und er über ihre Schultern streichelte – bedächtiger nun und zärtlich –, hielt jene Stille an. Erst als er sich von ihr löste und sich aufrichtete, wagte er es, sie zu brechen. »Ich habe von der Wirtin in der Herberge erfahren, dass es neue Kampfhandlungen gibt«, sagte er heiser. »Nach der kurzen Waffenpause scheint der Krieg wieder neu auszubrechen.«

Ihr Körper, eben noch so warm, fühlte sich plötzlich klamm an. »Willst du für dein Land kämpfen?«, fragte sie leise.

»Ich will, dass du in Sicherheit bist.« Er trat in den Bach, um sich zu waschen, ehe er sich ankleidete, und sie tat es ihm gleich. Sie bedauerte, seinen Geruch abzuwaschen, doch das kalte Wasser belebte sie.

Später nahm er ihre Hand, um ihr ans Ufer zu helfen, und sie genoss diese Berührung. Doch ihrem Blick wich er aus.

»Wir dürfen keine so langen Pausen mehr einlegen – womöglich verfolgt uns Pablo. Je eher wir erst Argentinien, dann Uruguay erreichen, desto besser.«

Nichts lag in seiner Stimme, das von dem Schmerz kündete, seinen Bruder zu verlassen und seine Heimat zu verraten. Doch Valeria wusste, wie groß das Opfer war, das er für sie brachte, das ihn zu ihrem Helden werden ließ, in seinem Land aber zum feigen Deserteur. Kein Fleckchen auf dieser Welt gab es nun, auf dem er willkommen und sicher war – nur in ihren Armen.

Dieses Opfer muss sich lohnen, dachte sie, ich verspreche dir – es muss sich für dich … für uns beide lohnen.