14. Kapitel
Während der ersten verheißungsvollen Tage in Montevideo erwachte Valeria jeden Morgen mit der Hoffnung, dass ihr Leben nun ein unwiderruflich anderes sein würde und im fremden Land ein großes Abenteuer auf sie wartete. Doch mit der Zeit musste sie erkennen, dass der Alltag auch hier einer strengen Routine unterworfen und vieles davon schrecklich langweilig war. Zwar war sie keinen missmutigen Lehrerinnen ausgeliefert, die ständig an ihr herumnörgelten, aber Leonora nahm sie unter die Fittiche – was bedeutete, dass sie sie kaum aus den Augen ließ und ständig bequatschte. Wie schrecklich öde die vielen Gespräche waren, die stets um eins kreisten: die europäische Lebenskultur!
Valeria kam sich oft wie in einem Verhör vor, so viele Fragen musste sie beantworten. Leonora wollte wissen, wie man in Deutschland lebte, was man dort aß, wie man sich kleidete, und vor allem, wie man sich einrichtete. Ständig führte sie Valeria durchs eigene Haus und heischte um die Bestätigung, dass der hiesige Standard durchaus mit denen Europas verglichen werden konnte.
Aus reiner Höflichkeit tat Valeria ihr den Gefallen und bewunderte das Mobiliar. Ja, die seidenen Vorhänge waren edel, desgleichen die mit Elfenbein eingelegten Vitrinen. Wie prächtig dieser Spiegel im Florentiner Rahmen anzusehen war, welche Zierde diese seltenen Bronze- und Porzellangefäße!
Leonoras Gesicht wurde immer röter, und falls Valeria vergaß, einen ihrer Schätze zu erwähnen, tat sie es selbst: »Die leinenen Tischtücher stammen selbstverständlich aus Belgien, die Gläser sind echte Baccarat, und sieh doch nur die großen Sträuße mit blühenden Orangenzweigen!«
Valeria war die Einrichtung herzlich egal. Auch die Hoffnung, Leonora endlich mundtot zu machen, wenn sie nur oft genug betonte, wie luxuriös die de la Vegas’ lebten, erfüllte sich nicht. Zwar war das Thema Mobiliar irgendwann abgehakt, doch Leonora hörte nicht auf, Fragen zu stellen und Lob einzufordern.
»Die Engländer behaupten ja immer, dass die Morgentoilette von uns Spanierinnen nicht sehr gründlich ausfällt, aber in meinem Fall stimmt das nicht«, verkündete sie eines Tages stolz. »Ich nehme jeden Tag ein Bad.«
Valeria wollte sich die wuchtige Herrin des Hauses lieber nicht in der Badewanne vorstellen, aber sie lächelte höflich.
»In deinem Bett wirst du nie eine Wanze finden, und Dienstboten, die Läuse haben, werden sofort entlassen«, fuhr Leonora fort.
Dies nun fand Valeria grausam, aber sie ließ sich lieber nicht auf eine Debatte ein und lächelte weiterhin. Leider regte das Leonoras Redefluss nur noch an, und zu Valerias Überdruss begnügte sie sich nicht länger damit, die eigene Kultiviertheit herauszustreichen, sondern Valerias Erscheinen vor ihrer Tochter anzupreisen. Isabella folgte ihnen wie ein lautloser Schatten und fühlte sich am wohlsten, wenn sie schweigend zuhören konnte. Als ihr Name fiel, errötete sie – umso mehr, als Leonora sie wegen ihrer Schüchternheit zu tadeln begann.
»Sieh sie dir an, unsere Valeria!«, rief sie. »Du solltest sie dir zum Vorbild nehmen.«
Isabella duckte sich, als hätte sie eine Kopfnuss abbekommen, und Valeria tat sie schrecklich leid. Es klang fast so, als schämte sich Leonora ihrer Tochter, und Valeria konnte all dem Lob nichts Gutes abgewinnen, wenn es denn nur den Zweck erfüllte, Isabella zu erniedrigen und Leonora in ihrem Trachten, die anderen Damen der Gesellschaft auszustechen, zu bestätigen.
»Ja, schau nur!«, ließ Leonora nicht locker. »Wie Valeria sich kleidet, wie sie geht, wie selbstbewusst sie ist!«
Auch wenn sie es nicht sagte, zwischen den Zeilen war deutlich herauszuhören, dass Isabella eine graue Maus war. Und dass die sich verlegen wand, machte sie nicht gerade hübscher. Am meisten bestürzte es Valeria, dass sie nicht nur ihre Mutter, sondern auch Valeria selbst entschuldigend anlächelte. Sie selbst wäre wahrscheinlich wütend auf das Mädchen gewesen, das man ständig als Vorbild hochhielt, und hätte mit Trotz reagiert, doch Isabella wollte offenbar nicht nur die ständig tadelnde Mutter zufriedenstellen, sondern von Herzen ihre Freundin sein.
Nun, Leonora ließ sich nicht gnädig stimmen, aber Valeria bemühte sich fortan, so freundlich wie nur möglich zu ihrer Cousine zu sein, auch wenn sie oft nicht wusste, was sie mit ihr reden sollte. Isabella antwortete auf Fragen, wenn überhaupt, nur einsilbig, und richtete kaum das Wort an sie.
Einmal kam sie jedoch in ihr Zimmer geschlichen, als Valeria gerade ihr Haar kämmte, beobachtete sie eine Weile hingerissen und strich dann ehrfürchtig über ihre dicken Locken.
»Wie wunderschön du bist!«, rief sie.
»Das bist du doch auch!«, gab Valeria hastig zurück. Diese Heuchelei erschien ihr allerdings denn doch zu offensichtlich, also verbesserte sie sich rasch: »Ich meine, das kannst du auch sein.«
Isabella deutete auf ihre eigenen Haare. »Das glaube ich kaum. Meine Haare haben die Farbe einer Maus, und sie sind so glatt und dünn.«
Valeria musterte sie nachdenklich. An den Haaren war in der Tat wenig Gutes zu finden. Sie machten sie älter, als sie war – ein Eindruck, der nicht zuletzt durch das graue Kleid, das sie trug, unterstrichen wurde. »Aber es würde schon genügen, wenn du etwas hellere Kleider trägst«, schlug sie vor. »Organza oder Seide würde dir gut stehen. Am besten in Pastelltönen.«
Isabella schüttelte den Kopf. »Vater würde niemals so viel Geld für Stoffe ausgeben. Nicht, wenn sie für mich bestimmt wären. Sie sind sehr teuer, und er beklagt jetzt schon oft genug, dass meine Mutter so viel Geld verschwendet.«
Valeria sah sie ungläubig an. In diesem Haus wurde Luxus doch großgeschrieben – und ausgerechnet Isabella wurde knappgehalten?
Isabella erriet, was in ihr vorging, und zuckte die Schultern: »Ich glaube, ich bin für meinen Vater eine große Enttäuschung. Er hat sich so sehr einen Sohn gewünscht, aber nach meiner Geburt konnte meine Mutter keine weiteren Kinder bekommen.«
»Aber das ist doch nicht deine Schuld!«
Wieder zuckte sie mit den Schultern. »Ich glaube, er würde am liebsten vergessen, dass es mich überhaupt gibt. Und meine Mutter wiederum ist insgeheim wohl ganz froh, dass ich so hässlich bin – weil sie dann als die Schönere gilt.«
Valeria konnte sich nicht vorstellen, dass die Eltern sich tatsächlich als so lieblos und gleichgültig erwiesen, doch in den nächsten Tagen beobachtete sie sie aufmerksam und kam zu dem Schluss, dass Isabella recht hatte. Leonora hatte ständig etwas an ihr auszusetzen, um ihre eigenen Vorzüge umso dreister hervorzustreichen, und Julio war gänzlich blind gegenüber der eigenen Tochter.
In Valeria erwachte Empörung. Sie selbst hatte nicht das beste Verhältnis zu den Eltern, aber diese hatten sie zumindest nie ihre Verachtung spüren lassen, und Valeria hatte insgeheim geahnt, dass Rosa und Albert auch einen Sohn ähnlich unterkühlt behandelt hätten. In ihr reifte der Wunsch, Isabella etwas Gutes zu tun. Die Aufmerksamkeit ihres Vaters konnte sie natürlich nicht erzwingen, aber vielleicht konnte sie ihr zu einem schönen Kleid – und etwas mehr Selbstbewusstsein – verhelfen.
Wie sie das anstellen sollte, wusste sie jedoch noch nicht. Am besten wäre es vielleicht, mit Carl-Theodor zu sprechen, aber sie traf ihn so gut wie nie allein an. Die Männer saßen stundenlang beisammen, rauchten viel, tranken Whiskey, sprachen über die Geschäfte und noch mehr über den Krieg. Meist schotteten sie sich völlig ab. Nur beim Mittag- und Abendessen nahmen auch die Frauen teil, aber selbst dann bot sich kaum eine Möglichkeit, die Gespräche zu lenken. Wann immer Valeria den Mund aufmachte, um etwas zu sagen, schrie Alejandro irgendetwas über zurückliegende Schlachten.
Valeria verstand nicht, warum Claire so aufmerksam lauschte. Wie sollte sie nur das Thema auf Mode bringen?
»Wir haben es den Paraguayern gezeigt!«, dröhnte Alejandro einmal mehr. »Wie geprügelte Hunde sind sie in Estero Bellaco vom Schlachtfeld geschlichen.«
»Mag sein«, murmelte Julio. »Aber die meisten Opfer haben wir erlitten. Die Schlacht bei Tuyutí hat allein dreizehntausend Menschenleben gefordert.«
Obwohl Valeria all das Gerede über den Krieg so langweilig fand, erschauderte sie. So viele Tote! Und hier in Montevideo merkte man gar nichts davon!
»Manchmal gilt es, für Siege seinen Preis zu zahlen«, beharrte Alejandro stur.
»Wir haben aber nicht nur Siege eingefahren, sonst wäre der Krieg längst zu Ende.«
Alejandro tobte los: »Es gibt zu wenig echte Männer hier! Als ich noch jung war, hätten wir den Hurensöhnen längst den Garaus gemacht!«
»Du kannst unserem Heer kaum anlasten, dass viele unserer Soldaten von Seuchen hingerafft wurden.«
Alejandro sah so aus, als würde er auch das gerne der heutigen Jugend vorwerfen, doch ausnahmsweise fehlten ihm die rechten Worte, und in sein Schweigen hinein sagte Valeria plötzlich zu Julio: »Du musst erleichtert sein, keinen Sohn zu haben. Sonst müsstest du schreckliche Sorgen ausstehen.«
Alle Blicke ruhten verwundert und auch ein wenig peinlich berührt auf ihr. Alejandro sah sie wie ein lästiges Insekt an, war er es doch nicht gewohnt, dass sich Frauen an den Gesprächen beteiligten, und Julio stimmte ihr nicht wie erhofft zu, sondern erklärte düster: »Ein Mann ohne Sohn ist wie ein General ohne Heer, wie ein Soldat ohne Waffe oder wie ein Bauer ohne Pflug.«
Isabella stiegen Tränen in die Augen, so verlegen war sie, und Claire schüttelte kaum merklich den Kopf, offenbar eine Warnung, nicht noch mehr zu sagen. Das hatte Valeria ohnehin nicht im Sinn. Es tat ihr unendlich leid, mit ihren unbedachten Worten alles noch viel schlimmer gemacht zu haben.
Nach dem Essen entschuldigte sie sich bei Isabella, aber diese winkte ab. »Es ist nicht deine Schuld. Ich glaube, Vater erwartet wohl von mir, dass ich mich endlich verlobe. Aber so viele junge Männer sind im Krieg. Auch jetzt während des Waffenstillstands gibt es kaum Feste – und selbst wenn es anders wäre. Ich bin ja doch zu hässlich, um einen Bräutigam zu finden.«
»Das ist nicht wahr!«, widersprach Valeria energisch. »Du könntest durchaus etwas aus dir machen. Lass mich überlegen – meine verstorbene Tante Antonie hat immer französische Modehefte gelesen: Le journal des Demoiselles oder La France élégante. Vielleicht kann ich eines davon auch hier …«
»Lass es gut sein«, meinte Isabella und wandte sich ab.
Aber Valeria wollte es nicht gut sein lassen! Sie überlegte, mit Claire zu reden, aber die war noch nie an Mode interessiert gewesen. Wenn sie Geld gehabt hätte, hätte sie alles für Bücher ausgegeben, ganz sicher nicht für feine Stoffe. Am besten, sie sprach doch noch einmal mit Onkel Carl-Theodor.
Sie plante, ihn am nächsten Tag vor Julios Arbeitszimmer abzupassen, wo wie immer dick der Zigarettenrauch hing. Valeria hatte noch nie so viele Menschen rauchen gesehen wie hier in Uruguay: Nicht nur die Männer zündeten sich immer wieder aufs Neue eine Zigarette an – auch die Damen, ja, selbst die Kellner in den Gasthäusern, während sie die Speisen auftrugen.
Sie unterdrückte ein Husten und lauschte, ob sie Carl-Theodors Stimme vernehmen konnte. Von ihm war jedoch nichts zu hören – Julio schien in ein Gespräch mit einem Fremden vertieft.
»Wann ist mit der Lieferung aus Frankreich zu rechnen?«, fragte er eben.
»Noch innerhalb der nächsten Woche.«
»Und es ist wirklich alles dabei, was ich bestellt habe?«
»Wie versprochen – nur die allerbeste Ware! Wer, wenn nicht die Franzosen, könnte so etwas herstellen.«
»Großartig!«
Die beiden Männer lachten zufrieden.
Valeria runzelte die Stirn. Allerbeste Waren aus Frankreich? Was konnte damit gemeint sein? Sie wusste, dass Franzosen viel von Mode verstanden – oft genug hatte sie Tante Antonie prahlen gehört, dass sich nur ihre Landsleute anständig kleiden könnten. Und Carl-Theodor hatte einmal erwähnt, dass Parfüme und Seifen aus Paris nach Montevideo exportiert wurden. Womöglich hatte Julio diese Geschäftsbeziehungen intensiviert und noch mehr Luxusartikel, vielleicht sogar Stoffe, aus Frankreich kommen lassen.
Und seine Tochter bekam nichts davon ab!
Valeria schlich wieder davon. Ehe sie mit Carl-Theodor reden würde, wollte sie noch mehr über diese mysteriöse Lieferung herausfinden.
Claire hatte sich zunächst in ihre Bücher verkrochen, doch bald hatte sie alle wiederholt gelesen, und im Haus der de la Vegas’ gab es zu ihrem Bedauern keine Bibliothek. Sie beschäftigte ihren wachen Geist fortan, indem sie von einem Hausmädchen Spanisch lernte. Schon als Kind hatte sie es oft mit dem Vater geübt und die Fremdsprache darum besser beherrscht als Französisch, das ihnen auf dem Pensionat eingebleut worden war. Hier nun sprach sie es bald flüssig, und je besser sie sich verständigen konnte, desto größer wurde ihr Wunsch, die Stadt zu erforschen.
Natürlich machten Leonora und Isabella mit Valeria und ihr Ausflüge, aber diese fielen immer viel zu kurz aus, und schnell gab es dabei kaum mehr etwas Neues zu entdecken. Nach einem Monat kannte Claire die wichtigsten Straßen in- und auswendig: Die Calle de Sarandí, die längste Straße der Stadt, die direkt auf den Marktplatz und die Markthalle zuführte, welche wiederum aus einem der beiden ursprünglichen Forts errichtet worden war. Die Calle del 25 Mano, der eleganteste und belebteste Boulevard Montevideos. Und schließlich die Avenida 18 de Julio, die vom Plaza de la Independencia wegführte, das Hauptscharnier zwischen Ciudad Vieja und Ciudad Nueva bildete und die bedeutendste Geschäftsstraße Montevideos war.
Leonora ging dort vorzugsweise einkaufen, während Isabella sehnsuchtsvoll die Auslagen betrachtete, aber niemals wagte, um etwas für sich zu bitten. Valeria hatte sich offenbar zum Ziel gesetzt, ihr zu einem neuen Kleid zu verhelfen, doch auch sie schwieg bei diesen Anlässen, hatte sie doch offenbar anderes im Sinn, um Isabellas geheimen Wunsch zu erfüllen, als die Konfrontation mit Leonora zu suchen. Claire entschied, besser nicht nachzufragen. Sie selbst wollte viel lieber mehr über die Stadt erfahren und sie eigenmächtig erkunden! Anfangs war die Furcht, sich zu verlaufen, größer als die Neugierde, aber eines Morgens entschied sie, einfach das Haus zu verlassen. Ihr Vater hatte ihr immer viele Freiheiten zugestanden, so dass sie seine Zustimmung voraussetzte, und Leonora gegenüber fühlte sie sich zu keiner Rechenschaft verpflichtet: Heute wollte sie endlich einmal keine Einkaufsstraße entlangflanieren, sondern das Nationalmuseum besuchen, das dem Publikum während der ganzen Woche zur Benutzung offen stand. Claire las grundsätzlich alles, was ihr in die Finger kam, aber die Naturwissenschaften hatten es ihr ganz besonders angetan. Begeistert studierte sie die umfangreiche Sammlung wertvoller Knochen von urweltlichen Tieren und einheimischen Vögeln wie der Nachtschwalbe, dem Cocoireiher oder dem Trauertyrann. Die irritierten Blicke, die auf sie fielen, weil sie nicht nur allein unterwegs war, sondern überdies oft begeistert aufschrie, merkte sie gar nicht. Die Zeit verging wie im Flug, und als sie das Museum verließ, war es Mittag und ihr Fehlen im Haus der de la Vegas’ wohl längst aufgefallen. Dennoch drängte nichts sie zur raschen Heimkehr. Sie schlenderte ganz beseelt von den Eindrücken aus dem Museum durch die Straßen und hoffte, irgendwann auch einen Ausflug ins Umland unternehmen zu können, um die Tierwelt des Landes noch weiter zu studieren.
Obwohl das rechtwinklige Straßennetz die Orientierung eigentlich erleichterte, verirrte sie sich. Anstatt zum Hafen zu gelangen, wie sie es vorgehabt hatte, landete sie bei der englischen Protestantischen Kirche, die direkt am Meer lag. Sie glich mit ihren vier Säulen einem griechischen Tempel, den Claire interessiert in Augenschein nahm. Noch mehr aber als dieses Gebäude fesselte sie der Anblick der vielen Frauen in weißen Badehemden, die einen kleinen Strand, nicht weit von der Kirche entfernt, bevölkerten. Einige spazierten am Wasser entlang, andere genossen die warme Sonne, einige wenige wagten es, in die Fluten zu waten.
Vage erinnerte sich Claire daran, dass Leonora – in einer Mischung aus Sensationsgier und Unverständnis – erzählt hatte, dass das Schwimmen im Meer zunehmend in Mode käme und sich in der Nähe der englischen Kirche der Lieblingsbadeplatz der Frau befände. Sie selbst würde bei einem solch schamlosen Treiben natürlich niemals mitmachen!
Claire konnte sich die wuchtige Leonora auch nur schwer in einem der weißen Badehemden vorstellen und musste bei dem Gedanken an ihre Worte grinsen.
Neugierig ging sie auf den Strand zu. Leonora hatte auch berichtet, dass stets mehrere Polizeibeamte darüber wachten, dass die Frauen vor aufdringlichen Blicken beschützt waren, doch das war – wie so vieles, was sie vollmundig verkündete – reichlich übertrieben. Claire sah nur einen Beamten am Strand stehen – einen großgewachsenen Mann, dessen rotblondes Haar für diese Breitengrade ungewöhnlich hell war und in starkem Kontrast zu seinem dunkel gebräunten Gesicht stand. Er trug eine graue Uniform, kniehohe Stiefel und stand steif wie eine Marmorstatue. Als einziger Mann in der Gegend trafen ihn viele neugierige Blicke, doch der Polizist tat so, als würde er weder sie noch das aufgeregte Tuscheln bemerken, sondern blickte starr aufs Meer, um aller Welt zu bekunden, dass er sich vom Anblick leichtbekleideter Frauen nicht davon abhalten lassen würde, Ertrinkende zu retten.
Nun, so schnell würde hier keine ertrinken, da die meisten Frauen nur knietief im Wasser spazierten. Es war unerwartet klar und funkelte in der Mittagssonne türkis, und als Claire die salzige Meerluft einsog, merkte sie, wie sie geschwitzt hatte. Wie herrlich wäre es, hier zu baden!
Sie war seit Jahren eine begeisterte Schwimmerin. Im Pensionat hatte man zwar diesen Sport als unzüchtig verdammt, doch in allen großen Städten waren Badeanstalten in Mode gekommen – auch für Frauen.
Sie blickte zum strahlend blauen und wolkenlosen Himmel. Gewiss würde das gute Wetter noch für einige Stunden halten – was bedeutete, dass sie in ihrer Unterwäsche schwimmen gehen und diese hinterher von der Sonne trocknen lassen konnte.
Ehe ihr Zweifel kamen, ob es nicht doch besser wäre, wieder nach Hause zurückzukehren, suchte sie sich ein windgeschütztes Plätzchen und legte ihre Kleidung ab.
Der Winter war eben erst zu Ende gegangen und das Wasser darum noch eiskalt. Dennoch zögerte sie nicht, sondern tauchte – anders als die anderen Frauen – gleich mit dem ganzen Körper hinein. Kurz blieb ihr die Luft weg, aber sie machte rasch ein paar kräftige Stöße, um ihre Glieder zu erwärmen, und als Arme und Beine wohlig zu kribbeln begannen, konnte sie der Versuchung nicht widerstehen, ins Meer hinauszuschwimmen. Das Wasser brannte auf ihrer Haut, doch solange sie nicht innehielt, vermochte die Kälte ihre Glieder nicht zu lähmen.
Wie herrlich es war, im Meer zu schwimmen, ein größeres Vergnügen noch als in einem Schwimmbecken! Selten hatte sie sich so frei von allen Lasten gefühlt, so lebendig, so abenteuerlustig. Unwillkürlich riss sie die Hände hoch und jauchzte, bevor sie noch weiter ins offene Meer schwamm. Jedes Mal, wenn sie sich umdrehte, hatte sie eine neue Perspektive auf die Stadt. Der Strand wurde immer kleiner, die Menschen wurden immer winziger. Was sie jedoch gut erkennen konnte, war, dass plötzlich sämtliche Frauen, die eben noch träge in der Sonne gelungert hatten, am Ufer zusammenströmten und aufgeregt aufs Meer deuteten. Claire sah sich um, konnte aber nichts Ungewöhnliches erkennen. Was war nur los?
Erst nach einer Weile begriff sie, dass sie alle in ihre Richtung wiesen und wild durcheinanderschrien. Claire konnte die Worte nicht verstehen, aber sie veranlassten den Polizisten, der den Strand beaufsichtigte, hektisch seine Stiefel und Uniform abzulegen und mit einem Hechtsprung von einem Steinmäuerchen ins Wasser zu springen. Es war ein höchst eleganter Anblick, wie er mit kräftigen Zügen das Wasser durchpflügte, doch Claire verstand immer noch nicht, warum er direkt auf sie zugeschwommen kam.
»Niña, alles in Ordnung mit Ihnen?«, rief er ihr prustend zu, kaum hatte er sie erreicht.
Ehe sie antworten konnte, überwand er die letzte Distanz, packte sie an den Händen und zog sie an sich. Und bevor sie ihrer Verblüffung Herr wurde und sich dagegen wehrte, griff er ihr schon unter den Kopf und zog sie mit sich Richtung Strand. Ihre nackten Füße stießen unter Wasser gegeneinander, und Claire erschauderte. Nie hatte sie ein Mann, überdies ein Fremder, so vertraulich berührt.
»Gütiger Himmel!«, stieß sie aus. »Was tun Sie denn da?«
»Nun, ich rette Sie vor dem Ertrinken!«
Sie lachte laut auf, und der Polizist war so verwirrt, dass sich sein Griff lockerte. Claire machte sich los. »Wie kommen Sie bloß auf die Idee, ich würde ertrinken?«
»Aber es haben doch alle gesagt …«
Sie spähte zum Strand, wo die Badenden immer noch heftig gestikulierten, und begriff erst jetzt, dass man ihr Jauchzen als Hilfeschrei ausgelegt hatte. Als sie überdies begeistert die Arme in die Höhe gerissen hatte, hatte man vermutet, sie würde verzweifelt um ihr Leben kämpfen.
Sie konnte gar nicht anders, als wieder zu lachen, doch als sie sah, wie verlegen der Mann wirkte, verstummte sie.
»Ich wollte Sie nicht in Ihrem Stolz treffen«, sagte sie rasch.
»Und ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten, Niña. Aber hier schwimmen Frauen nicht so weit hinaus. Und sie gehen auch nicht allein zum Schwimmen.«
Er wirkte fast ein wenig gekränkt. Offenbar war er jemand, der seine Pflichten ganz genau nahm und sich nun lächerlich gemacht fühlte.
»Auf jeden Fall danke ich Ihnen«, sagte Claire beschwichtigend. »Es ist beeindruckend, dass Sie keine Sekunde gezögert haben, eine Frau in Not zu retten. Und ich muss zugeben – ich bin weiter hinausgeschwommen, als ich es vorhatte. Das Wasser hier ist kalt, die Strömungen gewiss nicht ungefährlich. Wenn ich ehrlich bin, bin ich ziemlich erleichtert, dass ich nicht allein zurück ans Ufer schwimmen muss.«
Wahrscheinlich entging ihm nicht, dass sie maßlos übertrieb, aber er war dankbar, dass sie ihn sein Gesicht wahren ließ, und nickte ernsthaft.
Schnell schwammen sie zurück, und Claire warf immer wieder verstohlene Blicke auf ihn. Die Frauen mochten hierzulande nicht sonderlich gut schwimmen – die Männer aber umso besser. Er war eine überaus elegante Erscheinung, seine Schwimmzüge waren kraftvoll und geschmeidig. Sie konnte ihren Blick selbst dann nicht von ihm lassen, als sie das Ufer erreichten. Seine Hosen hatte er anbehalten, doch sein muskulöser Oberkörper war nackt, und das Wasser perlte von seiner glatten Haut. Er selbst hielt die Augen gesenkt, als sie den Fluten entstieg, und sie rechnete es ihm hoch an, war doch ihre helle Unterwäsche etwas durchsichtig.
Erst als sie sich beide angekleidet hatten – aufgrund seiner Nähe verzichtete sie darauf, erst wieder ganz trocken zu werden –, richtete er erneut das Wort an sie: »Wie gesagt, ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten. Es ist nicht meine Art, eine Situation wie diese auszunützen und eine Frau unsittlich zu berühren.«
Er bückte sich hastig, um seine Stiefel überzustreifen.
»Da Sie mich gerettet haben – darf ich Ihren Namen erfahren?«
»Ich habe Sie nicht gerettet.«
»Und deswegen darf ich nicht wissen, wie Sie heißen?«, fragte sie belustigt.
»Doch, natürlich. Mein Name ist Luis Silveira.«
»Und ich heiße Claire Gothmann.«
»Sie sind also Ausländerin? Ich habe es mir wegen Ihres Akzents schon gedacht.«
Sie nickte. »Ich komme aus Deutschland.«
Bis jetzt hatte er seine Augen immer noch sittsam gesenkt gehalten, doch als er auch seinen zweiten Stiefel angezogen hatte, glitt sein Blick verstohlen über ihren Körper. Gewiss bemerkte er, dass sich unter dem feuchten Stoff ihre Glieder abzeichneten. Sanfte Röte stieg ihm ins Gesicht, wenngleich er schon im nächsten Augenblick streng verkündete: »Nun, hier wie in Deutschland gilt, dass man besser nicht alleine schwimmt.«
Mit diesen Worten wandte er sich ab, nahm wieder seine Position als Beobachter ein und tat so, als würde er niemanden bemerken – am allerwenigsten sie.
Claire setzte sich auf einen Stein und ließ sich von der Sonne wärmen. Mehrmals drehte sie sich nach ihm um, aber er verzog keine Miene, und sie bedauerte es zutiefst, obwohl sie nicht recht sagen konnte, warum.
Schließlich wandte sie sich zum Gehen. Sie hatte den Strand schon fast verlassen, als sie sich ein letztes Mal zu ihm umwandte. Ihr entging nicht, dass er ihr nun doch nachsah, und unwillkürlich musste sie grinsen. Vielleicht war es nur eine Täuschung, aber auch seine Mundwinkel schienen zu zucken.
»Luis Silveira«, murmelte sie auf dem Heimweg immer wieder. »Luis Silveira …«