34. Kapitel
Tabitha wäre am liebsten so lange wie möglich im Krankenhaus geblieben. Als sie noch mit Carlota beisammen war, erschien ihr der Rollentausch als hervorragender Plan, der alles zum Guten wenden würde. Sobald diese aber mit Tante Claire fortgegangen war, fühlte sie sich verlassen wie nie.
Sie versuchte, sich Josés Gesicht auszumalen, wenn sie ihm die Neuigkeiten überbrachte, und das hellte ihre Laune ein wenig auf, doch zugleich machte sie sich neue Sorgen um ihn: Wie hatte er wohl das Erdbeben überstanden?
Leider musste sie die Suche nach ihm aufschieben. Das Wichtigste war vorerst, zu ihrem neuen Zuhause aufzubrechen.
Carlota hatte ihr den Weg dorthin ganz genau beschrieben, aber es war etwas anderes, ihn nur in Gedanken zu beschreiten als in Wirklichkeit. Das Haus von Valeria und Valentín lag in der Ciudad Novissima, einem Viertel zwischen der Ciudad Nueva und dem Boulevard General Artigas. Es war relativ neu, erst vor etwa einem Jahrzehnt entstanden, als der Kernbereich aus Alt- und Neustadt nicht mehr ausreichend Platz für die vielen Bewohner Montevideos bieten konnte, Vororte eingemeindet und mit neuen Namen versehen wurden.
Tabitha hatte Leonora von jenem Stadtteil einmal reichlich verächtlich sprechen hören. Nur Pack und übles Gesinde würde dort leben. Anders als die Tante hatte Tabitha bis heute immer Mitleid mit armen Leuten gehabt, doch erst jetzt begriff sie, was Armut wirklich bedeutete. Sie ging zwar zunächst den Boulevard General Artigas entlang, der breit, halbwegs sauber und von ansehnlichen Häusern und Geschäften gesäumt war, aber als sie ihn verließ, wuchs ihr Entsetzen.
Carlota hatte sie gewarnt, doch sie war nicht ausreichend auf das Elend vorbereitet, das sie erwartete und das nach dem Erdbeben noch viel augenscheinlicher wurde.
Wie armselig die Lehmhütten waren, in denen vor allem Indios und Arbeiter wohnten! Viele waren vom Erdbeben zerstört worden, doch auch die, die unversehrt geblieben waren, waren in einem schrecklichen Zustand: niedrig, unverputzt, mit winzigen Fensterluken, die weder ausreichend Licht noch frische Luft spendeten. Das Schlimmste war die Lethargie, die sich über dieses Viertel gesenkt hatte. Anderswo hatte sie Menschen laut über die Zerstörung klagen hören – hier lungerten Männer, Frauen und Kinder inmitten von Schutt und Dreck und glotzten sie aus ausdruckslosen Gesichtern einfach nur an.
Nie hatte sich Tabitha so unwohl in ihrer Haut gefühlt – und das lag nicht nur an Carlotas Kleidung aus kratzendem Stoff, die sie angezogen hatte, oder weil ihr trotz kühlem Wind der Schweiß ausbrach, sondern an der unausgesprochenen Feindseligkeit, die in der Luft lag und jedem galt, der jung, gesund und gar hübsch war und damit bewies, dass das Leben mehr zu bieten hatte als Krankheit, Hunger und Not.
Mehrmals musste sie nach der Adresse ihrer Eltern fragen. Als sie der Straße immer näher kam, wurden die Häuser zwar etwas größer und stabiler, aber Tabitha war dennoch entsetzt. Die Straßen hatten kein Pflaster, sondern waren unebene, schmale Wege aus Lehm und Sand, auf denen Unrat verrottete, Hühner staksten und Hunde dösten. Kinder hockten in einem Kreis und schienen mit etwas zu spielen, doch als Tabitha sie erreichte, erkannte sie, dass sie in den eigenen Kot griffen.
Sie unterdrückte ein Würgen und hätte sich am liebsten an den Straßenrand gesetzt und ihre Augen vor dem Elend verschlossen, doch als sie beim Haus ihrer Eltern ankam, galt es, sofort eine erste Herausforderung zu meistern: Ein Grüppchen Menschen stand hier beisammen und blickte ihr entgegen. Offenbar kannten diese Leute Carlota, was bedeutete, dass sie sich selbst so verhalten musste, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, ihnen zu begegnen.
Gottlob blieben die Blicke nicht lange auf sie gerichtet, denn eben war eine heftige Diskussion entbrannt. Als sie zu ihnen trat, erkannte sie, dass die Menschen eine Wasserleitung umringten, die offenbar durchs Erdbeben zerstört worden war. Anscheinend teilten sich mehrere Häuser eine einzige Leitung.
Eine der Frauen fauchte sie an: »Wo kommst du denn jetzt erst her?«
Während Tabitha noch um eine Antwort rang, meldete sich eine andere zu Wort. »He Carlota! Es wird einiges auf dich zukommen mit deiner blinden Mutter! Nun musst du ganz allein nähen.«
Sie klang eher schadenfroh als mitleidig.
Valeria war blind? Das hatte Carlota ihr nicht erzählt. Sie hatte sie nur darauf vorbereitet, dass sie viel nähen müsste, und auch darauf, dass Valeria sehr darüber erbost sein würde, dass sie mitten in der Nacht weggelaufen war. »Du musst dir eben irgendeine Ausrede einfallen lassen«, hatte Carlota gesagt.
Tabitha hatte es auf die leichte Schulter genommen, fühlte sich nun aber immer unbehaglicher. Dennoch reckte sie das Kinn, ignorierte die fremde Frau und blickte sich verstohlen um. Welches der Häuser war denn nun ihr Elternhaus?
Carlota hatte sie nicht darauf vorbereitet, dass sie alle gleich aussahen: Zur Straße hin gab es nur eine winzige Tür und kein Fenster. Nirgendwo konnte sie eine Hausnummer erkennen. Sie wollte sich nicht anmerken lassen, wie verunsichert sie war, und ging entschlossen auf eine der Türen zu. Es war die falsche, denn prompt brüllte ihr eine andere Frau nach: »Wir teilen mit euch ganz gewiss nicht unser Essen. Du kannst dir das Anklopfen sparen.«
Das musste jene Nachbarin sein, vor der Carlota sie gewarnt hatte – sie hieß Mercedes, hatte eine unangenehme, schrille Stimme und war eine herzlose Frau, die ungern teilte, wenn sie selbst etwas besaß, aber ständig andere um Hilfe anflehte, wenn ihr Mann wieder einmal seinen Lohn versoffen hatte.
Tabitha drehte sich um. »Ein wenig Mitleid mit meiner blinden Mutter könntest du schon haben.«
Mercedes zeigte immerhin so etwas wie ein schlechtes Gewissen, denn sie zog den Schädel ein, sagte jedoch trotzig: »Bei uns ist nichts zu holen. Wir müssen selbst zusehen, wie wir über die Runden kommen.«
Tabitha nickte und ging schweigend aufs nächste Haus zu – diesmal offenbar das richtige, denn niemand schrie ihr etwas nach. Die erste Prüfung war geschafft, doch ihr Hochgefühl hielt nicht lange an, so trist, wie ihr neues Zuhause war.
Irgendwann einmal war die Tür grün angestrichen worden, aber mittlerweile war ein Großteil der Farbe vom morschen Holz abgeblättert. Als sie sie öffnete, landete sie in einem winzigen Zimmer, das sie erst nur für einen Vorraum hielt, das sie dann aber, als sich ihre Augen ans trübe Licht gewöhnten, als Küche ausmachte. Von hier ging eine zweite Tür in den Innenhof ab, wo sich ein Stall für Federvieh, Kaninchen und Schweine befand und eine windschiefe Treppe nach oben führte. Unter dem Dach, hatte Carlota erklärt, lag ihr Schlafzimmer und das ihrer Eltern. Nach dem Innenhof folgte noch ein weiterer Raum, der ihnen gehörte und als Vorratskammer diente. Wenn es regnete, konnte man nichts von dort holen, ohne nass zu werden.
Einstmals war das Haus eine Gastschenke gewesen. Tabitha konnte sich zwar nicht vorstellen, dass viele Gäste hier Platz gefunden hatten, doch in jedem Fall stank es immer noch nach abgestandenem Bratenfett – kein Wunder, da man den Raum nur durch die beiden Türen lüften konnte, aber jene, die zur Straße wies, wohl meistens geschlossen blieb.
Tabitha blickte sich in der Küche um. Das Mobiliar war schäbig und passte nicht zusammen. Großteils war es wohl selbst gezimmert worden – von jemandem, der kein sonderlich großes Talent für Tischlerarbeiten hatte. Die Stühle sahen aus, als würden sie gleich zusammenbrechen, die Tischplatte war völlig schief, die Decke schwarz vor Ruß. Ganz zu schweigen von der Treppe, die sie unmöglich besteigen konnte! Schon vor dem Erdbeben war sie wohl nicht sonderlich stabil gewesen, aber nun war obendrein ein Teil des Geländers weggebrochen.
Am liebsten hätte sie sofort wieder kehrtgemacht, aber dann hörte sie eine Stimme von oben. »Carlota? Bist du das?«
Sie atmete tief durch. Das musste ihr Vater sein. Bis jetzt hatte sie all ihr Trachten auf die Herausforderung ausgerichtet, ihre wahre Identität zu verschleiern. Jetzt ging ihr auf, dass sie zum ersten Mal ihren Eltern begegnen würde, die sie einst – aus welchem Grund auch immer – im Stich gelassen hatten. Das Herz pochte ihr bis zum Hals, ihre Hände wurden schweißnass, als sie nach oben stieg. Zu der Aufregung gesellte sich eine verräterische Erkenntnis: dass sie dankbar war, ohne Eltern, aber mit größerem Reichtum aufgewachsen zu sein.
Sie schämte sich dafür, verdrängte die Gedanken und kämpfte darum, ein möglichst ausdrucksloses Gesicht aufzusetzen. Auf diesen Augenblick kam es an. Von allen Menschen würden am ehesten ihre Eltern durchschauen, dass sie nicht Carlota war.
Als sie deren Schlafzimmer betrat, achteten beide gottlob nicht auf sie. Ihr Vater drehte sich nicht einmal um. »Funktioniert die Wasserleitung wieder? Wir brauchen dringend frisches Wasser!«
Tabitha zwang sich, ihn nicht neugierig anzustarren. »Nein, sie ist immer noch zerstört«, sagte sie leise. Ihre Stimme zitterte, aber er bemerkte es nicht.
Sein Blick war besorgt auf die Frau gerichtet, die im Bett lag – ihre Mutter. Tabitha trat näher. Auf dem Weg hierher war sie vielen armseligen Menschen begegnet, doch keiner bot einen so erbärmlichen Anblick wie Valeria Gothmann de la Vegas. Sie war zwar groß für eine Frau, aber schmal und ausgezehrt. Ihr Haar, irgendwann einmal eine volle, glänzende Mähne, hing strähnig über das Gesicht. Blut war aus einer Kopfwunde getropft und auf Stirn und Schläfe verkrustet. Die Augen lagen in tiefen Höhlen.
»Carlota? Carlota, bist du da?« Die Stimme klang verlöschend leise. Tabitha suchte nach Ähnlichkeiten, nach irgendetwas, was vertraut war und ihre Blutsverwandtschaft bewies. Doch diese Frau war für sie eine Fremde.
»Du musst von irgendwoher Wasser holen!«, befahl der Vater und sah sie immer noch nicht an.
»Ach Valentín, wir brauchen kein Wasser, das hilft mir nun auch nicht. Ich bin so froh, dass du wieder hier bist, Carlota. Wo warst du?«
Tabitha wusste nichts zu sagen, sondern setzte sich ans Bett und ergriff die Hand der Frau. Sie war kalt, aber der Druck fest. Valeria schien sich damit zu begnügen, denn sie bohrte nicht weiter nach. Ihre Augen waren weiterhin geschlossen – war sie wirklich blind?
»Was ist geschehen?«, fragte sie leise. Ihre Stimme zitterte immer noch.
»Sie hat einen Schlag auf den Kopf abbekommen«, erklärte Valentín. »Seitdem kann sie nicht mehr sehen.«
»Wart ihr schon im Krankenhaus?«
»Wo denkst du hin? Das ist doch viel zu weit!«
»Aber wenigstens sollte ein Arzt …«
»Du weißt doch, dass wir kein Geld haben, um uns einen Arzt zu leisten.« Er klang sehr wütend, und Tabitha zuckte zusammen.
»Nun lass sie doch in Ruhe«, schaltete sich Valeria wieder ein. »Ich bin sicher, es wird alles in Ordnung kommen, wenn ich nur ein wenig geschlafen habe.«
Tabitha war skeptisch – zugleich wuchs ihr Mitleid mit dieser Frau, die sich so tapfer gab, obwohl sie sich bestimmt elend fühlte.
Valentín ging nach unten. »Ich werde selbst Wasser holen«, rief er noch, »und etwas zu essen.«
Er verließ das Haus, ohne sie auch nur einmal gemustert zu haben, und Valeria fragte zwar wieder, wo sie gewesen war, zeigte aber keinerlei Misstrauen.
»Ich wollte zu Claire«, sagte Tabitha kleinlaut, »aber dann bebte plötzlich die Erde, die Menschen sind in Panik geraten … Da waren so viele Verletzte … und Tote. Ich habe in einer Kirche Unterschlupf gefunden. Ach Mutter, es tut mir so leid, was dir zugestoßen ist …«
Das tat es tatsächlich, aber als Valeria ihr über die Wangen streichelte, musste sie sich eingestehen, dass ihr die Blindheit der Mutter ganz zupasskam. Ihre Täuschung war tatsächlich geglückt.
In den ersten Tagen rechnete Tabitha ständig damit, aufzufliegen, doch wider Erwarten konnte sie ihr Geheimnis wahren. Ihr kam zugute, dass Valentín voller Sorge um die Mutter war und sie kaum beachtete, und diese wiederum wollte sich nicht anmerken lassen, wie sehr sie mit ihrer Blindheit haderte und unter Kopfschmerzen litt.
Tabitha konnte es nicht fassen, dass kein Geld für einen Arztbesuch da war. Mehrmals stand sie kurz davor, zu den de la Vegas’ zu gehen, den Betrug aufzuklären und dafür zu sorgen, dass ihre Mutter eine ordentliche medizinische Behandlung erhielt. Doch das hätte bedeutet, dass sie auf eine Zukunft mit José hätte verzichten müssen. Also schluckte sie ihr Entsetzen über das Ausmaß von Valentíns und Valerias Armut hinunter und richtete ihre Aufmerksamkeit darauf, ihn zu finden.
Vor dem Erdbeben hatte sie ihn mit Isabellas Hilfe getroffen – doch damals hatte er nicht gesagt, wo er lebte, und jetzt fiel ihr niemand ein, den sie fragen konnte.
Der Zufall kam ihr zu Hilfe, denn eines Tages begegnete sie auf dem Weg zum Schneidersalon, für den sie die Näharbeiten verrichteten, einem Dienstmädchen der de la Vegas’. Es erledigte einfache Arbeiten im Garten und kannte José bestimmt. Zwar war es ein großes Risiko, es anzusprechen, aber Tabitha setzte darauf, dass man diesem Mädchen ohnehin nicht glauben würde, wenn es behauptete es, sie gesehen zu haben.
Sie lief auf die junge Frau zu und fragte unvermittelt, wo José Amendola lebte.
Das Mädchen musterte sie wie einen Geist. »Ich dachte, Sie wären in Deutschland, Niña Tabitha …«, stammelte sie verwirrt.
»Das tut nichts zur Sache. Weißt du, wo er lebt?«
»Nun, in der Ciudad Nueva.«
Das hieß, gleich in der Nähe von ihrem Viertel.
»Und wo genau?«
Das Mädchen zuckte die Schultern, sagte aber schließlich doch: »Ich denke, im südlichen Teil. Dort, wo sich die Massenquartiere für die Armen befinden und wo man die billigsten Unterkünfte findet.«
Tabitha war so erleichtert, einen Hinweis bekommen zu haben, dass sie gar nicht überlegte, was es wohl für José bedeutete, so tief gesunken zu sein. Hauptsache, sie konnte ihn finden!
Sie lief nach Hause, legte das Bündel Unterwäsche ab, das sie aus dem Schneidersalon abgeholt hatte, und überhörte geflissentlich Valerias Stimme, die von oben rief: »Carlota, bist du wieder da?«
Schon stürmte sie nach draußen und kam im Hof an Mercedes vorbei, die sie misstrauisch betrachtete. »Wohin so eilig, Mädchen?«
Tabitha ließ sie einfach stehen, besann sich dann aber anders, kehrte zurück und fragte nach dem Weg.
Mercedes musterte sie von oben bis unten. »Was immer du dort verloren hast – es ist selbst für ein einfaches Mädchen wie dich nicht der rechte Ort.«
Immerhin war sie bereit, ihr den Weg zu beschreiben, und sie stellte auch keine Frage, was sie dort wollte.
Tabitha lief mit schnellen Schritten zu der Siedlung, und erst als sie sie erreichte, überwog das Entsetzen über die Armut die Begeisterung, Josés Aufenthaltsort zu kennen. Sie stand vor einem trostlosen Häuserblock mit Einzimmerunterkünften, an den sich diverse zweigeschossige Bauten anschlossen, die über einen vom Obergeschoss wegführenden Rundgang zu erreichen waren. Es stank entsetzlich nach Unrat und Urin; die Wände waren nicht verkalkt, sondern von gelblichen Flecken übersät, und in den Ecken hockten Schimmel und Spinnweben. Vor manchen der Zimmer war Wäsche aufgehängt worden – zerrissen oder nur notdürftig geflickt.
Zu ihrem Entsetzen gesellte sich das schlechte Gewissen: Ihretwegen hatte José seine Anstellung verloren, keine andere gefunden und musste an einem so grässlichen Ort leben. Und sie würde mit leeren Händen vor ihm stehen und hatte nichts anderes zu bieten als ihre Liebe zu ihm und die Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft.
Sie schüttelte den Gedanken ab. Das Wichtigste war, dass sie ihn fand – und das war schwer genug: Schließlich hatte sie keine Ahnung, wo sie ihre Suche beginnen sollte. Nach einigem Zögern entschied sie, an einer der Türen zu klopfen, und als niemand antwortete, öffnete sie sie und geriet in einen winzigen Raum, in dem man kaum aufrecht stehen konnte. Dennoch lungerten gleich mehrere Männer auf den Pritschen herum, doch anstatt das Mädchen, das da plötzlich auftauchte, überrascht und neugierig zu mustern, starrten die, die gerade nicht schnarchend schliefen, blicklos durch sie hindurch. Der Gestank war hier noch durchdringender als im Gang. Tabitha wich zurück und schloss die Tür schnell wieder. Kurz lehnte sie sich an die Wand, um dem Schwindel Herr zu werden, der in ihr aufstieg. Am liebsten wäre sie geflohen, aber sie ging tapfer weiter – an den Gemeinschaftstoiletten, den Wasserzapf- und Kochstellen, den vielen weiteren winzigen Zimmern vorbei. Alles war zu klein, zu schäbig, zu eng. Die Farbe bröckelte ab, gelüftet war seit Ewigkeiten nicht mehr worden, und wenn hier einer krank wurde, hustete gewiss das ganze Stockwerk. Wenigstens hatte das Erdbeben kaum Spuren hinterlassen.
Sie hatte schon fast die letzte Tür im Gang erreicht und niemanden getroffen, den sie nach José fragen konnte, als plötzlich laute Stimmen erklangen. Sie stammten von einer Familie aus der letzten Wohnung, die gerade dabei war, ihre Habseligkeiten einzupacken und aus dem Haus zu tragen. Der Sprache nach zu schließen, waren es Italiener – ein Ehepaar mit einem halbwüchsigen Sohn und ein paar kleineren Kindern, die so dürre Beine hatten, dass Tabitha sich fragte, wie sie überhaupt laufen konnten.
Sie wirkten ungezügelt, aber freundlich, und als sie zögernd näher trat, sprach der Mann sie an.
»Was machst du hier, Mädchen? Das hier ist kein guter Ort für eine wie dich. Es gibt zu viele unverheiratete Männer, die dir lästig werden könnten.«
Tabitha zuckte nur müde mit den Schultern – all das Elend hatte sie nach der kurzen Zeit bereits so sehr abgestumpft, dass sie den Gedanken nicht mehr beängstigend fand wie noch vor wenigen Tagen.
»Wir selbst ziehen endlich fort, haben nun ein kleines Häuschen außerhalb der Stadt. Wird zwar nun länger dauern, um zur Arbeit zu kommen, aber draußen gibt’s noch billige Grundstücke.«
Er wirkte sichtlich stolz, weswegen er es wohl auch so freimütig erzählte, und sie fasste den Mut, nach José zu fragen.
»Amendola, sagst du, heißt er? Nun, dann suchst du wohl unseren Nachbar – er wohnt gleich im Zimmer neben uns.«
Tabitha war fassungslos, dass ein Ehepaar mit so vielen Kindern in einem der winzigen Zimmer lebte, aber dann sagte sie sich, dass das nicht ihre Sorge sein sollte.
Sie hastete auf die Tür zu, in deren Richtung der Italiener gewiesen hatte. Auch deren Holz war morsch, und als sie daran klopfte, bekam sie keine Antwort. Sie rief mehrmals Josés Namen – immer noch nichts. Schließlich atmete sie tief durch, öffnete die Tür und trat ein.
Zunächst war es so dunkel, dass sie kaum etwas erkennen konnte. Die einzige Luke, die das Zimmer hatte, war mit einem Balken zugenagelt worden, wohl um Hitze und Gestank von der Straße fernzuhalten. Die Wände waren voller Schimmel, der Boden war aus gestampftem Lehm, in dem Pfützen standen – wohl Regenwasser, das durch die Holzritzen getropft war. Immerhin gab es hier nur eine Pritsche und eine leere Transportkiste für alle Habseligkeiten.
Auf der Pritsche rührte sich plötzlich etwas. Schlaftrunken fuhr José hoch, rieb sich die Augen, erkannte sie aber nicht.
»Wer da?«, knurrte er.
»José, ich bin es … Tabitha.«
Schlagartig wurde er wach und sprang auf. »Was, zum Teufel, machst du hier?«, rief er entgeistert.
Im fahlen Licht wirkte er blass und dünner, als sie ihn in Erinnerung hatte. Sie musste ebenfalls einen verlotterten Anblick bieten, denn er musterte sie mit wachsendem Entsetzen.
»Wie kommst du hierher? Wie siehst du überhaupt aus? Und was …«
Er brach ab.
»Ich …«, setzte sie hilflos an.
Erst wusste sie nicht, was sie sagen sollte, dann brach alles zusammenhangslos aus ihr heraus: wie sie das Erdbeben erlebt hatte und der bislang fremden Schwester begegnet war, wie sie von den totgeglaubten Eltern erfahren und mit Carlota die Rollen getauscht hatte, wie sie das Krankenhaus verlassen und das Haus von Valentín und Valeria gesucht hatte – und das alles nur, um eine Zukunft mit ihm zu haben.
»Und nun … nun bin ich eben hier.«
Ihre Stimme war immer leiser, immer verzagter geworden, zumal er nichts sagte, sondern sie nur fassungslos ansah.
»Du hast mit den de la Vegas’ gebrochen?«
»Nun ja, nicht wirklich – schließlich lebt Carlota jetzt an meiner statt bei ihnen. Vielleicht ist sie schon nach Deutschland aufgebrochen.«
»Aber wie konntest du nur auf all diesen Reichtum verzichten?«, rief er bestürzt.
»Reich zu sein ist doch nicht so wichtig. Hauptsache, ich bin mit dir zusammen. José, ich … ich liebe dich doch …«
Ihre Stimme brach.
Er erwiderte nichts, sondern schüttelte nur den Kopf.
Die Enttäuschung überwältigte sie. Sie ertrug den Anblick nicht länger, ertrug auch dieses erbärmliche Loch nicht. Sie eilte hinaus und stolperte tränenblind den Gang entlang. Von der italienischen Familie war nichts mehr zu sehen – nur aus weiter Ferne ertönte noch das Geschrei der Kinder.
Der Weg bis zum Haupteingang kam ihr endlos vor. Als sie ihn endlich erreicht hatte, hörte sie Schritte hinter sich.
»Tabitha, so warte doch!«
Immer noch verschleierten Tränen ihren Blick. Sie sah José nicht, fühlte nur, wie er sie zurückriss.
»Ich habe doch alles nur für dich getan«, schluchzte sie.
Kurz blieb er unschlüssig vor ihr stehen, dann zog er sie an sich. »Das weiß ich doch …«
Dass er es auch guthieß, sie dafür bewunderte, ihr dankbar war, sagte er nicht, aber das war nicht mehr so wichtig. Wichtig war nur, dass er sie nun küsste, sie seine harten Lippen spürte, seinen betörenden Geruch einsog. Dass sie nicht länger den schrecklichen Gestank roch, nur ihn, der nach Weite und Wind und Sonne duftete.
»Meine kleine Tabitha. Meine dumme, kleine Tabitha.«
Er hielt sie für dumm? Nun, immerhin zog er sie mit sich zurück in das Zimmer.
»Was … was wird denn nun?«, fragte sie. Erst jetzt konnte sie sich eingestehen, dass sie sich nicht nur erhofft hatte, bei ihm Liebe zu finden, sondern eine Lösung, wie sie das Elend bei Valentín und Valeria hinter sich lassen konnte. Sie hatte nicht ausreichend bedacht, dass er in noch größerem Elend lebte.
Er zuckte die Schulter und blieb die Antwort schuldig, aber er küsste sie wieder. Etwas anderes hatte er nicht zu bieten, also musste sie sich damit begnügen, das zu nehmen – das und noch mehr.
Sie wehrte sich nicht, als er sie zur Pritsche zog, seine Lippen immer tiefer wanderten, erst über ihren Hals, dann übers Dekolleté.
Sie wusste, was er tat, würde keine anständige Dame mit sich machen lassen, doch das war sie ohnehin nicht mehr. Sie hatte alles über Bord geworfen, warum jetzt nicht auch noch ihre Erziehung und ihr Schamgefühl?
Außerdem tat es gut, sich ganz seinen Händen zu überlassen – kundigen Händen, die ihren Körper streichelten, sich bis in verborgenste Stellen vorwagten, Verlangen entfachten, das ihr fremd war und vor dem sie sich fast ein wenig fürchtete.
Sie wehrte sich dennoch nicht, als er erst sie, dann sich selbst entkleidete, ihre Beine spreizte, sich auf sie legte. Heiß rann das Blut durch ihre Adern, doch zugleich fühlte sie sich seltsam unbeteiligt, so, als sähe sie aus weiter Ferne zu, wie er sich in ihren Körper schraubte, etwas in ihr zu zerplatzen schien, ein stechender, brennender Schmerz sie zerriss. Sie hörte ihn stöhnen, als er immer schneller in sie zu stoßen begann. Der Schmerz verging, doch jener Anflug von Lust, den sie zuvor empfunden hatte, kam nicht wieder. Hoffentlich gefällt es ihm, dachte sie.
Hinterher fühlte sie sich verklebt und schmutzig. Das Blut raste nicht länger durch ihre Glieder. Stattdessen fror sie unter seinem und ihrem Schweiß. Es war so dunkel, dass sie nicht in seinen Zügen lesen konnte. Er sagte auch nichts – nicht, dass er sie liebte, nicht, wie es weitergehen sollte. Immerhin streichelte er zärtlich über ihren Arm, und fürs Erste wollte sie sich damit begnügen.
Claire ging lange vor dem Haus auf und ab. Dass sie überhaupt hier war, erschien ihr wie ein kleines Wunder, denn jeder einzelne Schritt hatte sie unendlich viel Überwindung gekostet: Luis’ Adresse herauszufinden, die Quinta zu verlassen, sich von Claudio zu ihm kutschieren zu lassen. Mehrmals hätte sie ihr Vorhaben am liebsten abgebrochen, und jetzt am Ziel drohte sie der Mut endgültig zu verlassen.
Ich kann es einfach nicht, dachte sie.
Sie wusste nicht, was ihr schwerer fiel: sich den eigenen Erinnerungen auszusetzen oder seinem womöglich verächtlichen Blick. Allerdings – die Erinnerungen waren ohnehin allgegenwärtig, und sein Blick war, als er auf ihr geruht hatte, zwar ein bisschen ausdruckslos, aber ganz sicher nicht verächtlich gewesen. Und es war ja auch nicht so, dass sie auf seine Vergebung hoffte – nur auf ein paar kurze Worte.
Anstatt endlich anzuklopfen, ging sie jedoch weiterhin vor dem Haus auf und ab, bis plötzlich ein junger Mann den Kopf aus dem Fenster steckte: »Kann ich Ihnen helfen, Doña?«
Sie fuhr herum, musterte den Mann – und zuckte zusammen. Er sah aus wie Luis, nur jünger, nicht so streng, und sein Lächeln war breiter und offener.
»Sie müssen sein Sohn sein!«, brach es aus ihr hervor.
Luis hatte eine Familie …
Sie wusste nicht, ob sie bestürzt sein sollte oder erleichtert – bestürzt, weil es sie daran erinnerte, auf was sie selbst verzichten musste, erleichtert, weil er trotz allem glücklich geworden war.
Der Kopf des Mannes verschwand, und kurze Zeit später trat er auf die Straße. »Ja«, sagte er, »wenn Sie Luis Silveira meinen – ich bin sein Sohn. Antonio …«
Claire stockte das Herz. Ihr einstiges Gespräch kam ihr in den Sinn, als Luis ihr anvertraut hatte, dass er sich nur Töchter wünschte und sie nach seiner Mutter nennen würde. Sie wiederum hatte von Antonie erzählt und Hoffnungen auf einen Sohn geäußert.
»Ein kleiner Antonio …«, hatte er damals gesagt.
War es Zufall, dass er seinen Sohn so genannt hatte?
»Wollen Sie zu meinem Vater?«, fragte er nach langem Schweigen. »Oder vielleicht zu meinen Schwestern?«
»Sie haben Schwestern?«
»Zwei. Monica und Dolores.«
Drei Kinder.
Sie schloss die Augen. Gewiss, sie freute sich ehrlich für ihn, aber zugleich wurde dieser Druck auf ihrer Brust immer schmerzhafter … Ach, sie hätte nicht herkommen sollen! Luis hatte wahrscheinlich schon seit Jahren keinen Gedanken mehr an sie verschwendet und lebte zufrieden mit seiner Familie, während sie …
Sie war eine Träumerin, obwohl sie wissen sollte, dass auf dieser Welt Träume keinen Bestand hatten! Besser, sie ersparte Luis ihren Anblick!
Wortlos wandte sie sich ab und eilte die Straße entlang, an deren Ende Claudio mit der Kutsche wartete.
»Doña?«, rief Antonio ihr hinterher. »Soll ich etwas ausrichten?«
Claire antwortete nicht, sondern hastete weiter, den Kopf auf den Boden gerichtet, so dass sie gar nicht sah, wohin sie lief. Sie blieb erst stehen, als plötzlich eine Stimme ertönte. »Claire, was machst du denn hier?«
Sie blickte hoch – und direkt in Luis’ Gesicht. Er kehrte gerade von seinem Dienst heim, denn er trug eine Uniform, die nach einem langen Tag völlig verstaubt war – offenbar war er immer noch damit beschäftigt, das Chaos nach dem Erdbeben zu beseitigen.
Sein Blick wanderte über sie, während Antonios nach wie vor fragend auf sie gerichtet war.
»Du hast Antonio kennengelernt?«, erkundigte er sich schließlich gedehnt.
Sie fühlte sich, als hätte sie etwas Verbotenes getan. Rasch versuchte sie, den Verdacht auszuräumen, sie hätte ihm nachspioniert. »Ich wollte mich bedanken«, sagte sie, »für deine Hilfe im Krankenhaus. Und ich habe dir etwas mitgebracht … ein Glas selbstgemachtes Pfirsichkompott … Ich baue in meinem Garten viel Obst und Gemüse an. Ich habe einen großen Garten, musst du wissen, etwas außerhalb von Montevideo, und …«
Sie brach ab. Mit jedem Wort wuchs ihre Verlegenheit. »Ich wollte dich ganz sicher nicht belästigen«, fuhr sie hastig fort. »Und noch weniger deine Familie. Sag das auch deiner Frau, die gewiss …«
»Mein Frau ist seit Jahren tot«, fiel er ihr ins Wort.
»Oh!«
»Sie ist bei Dolores’ Geburt gestorben.«
Sie wusste nichts zu sagen und blickte betreten auf das Glas Kompott, das sie aus der Tasche gezogen hatte. Sie war sich nicht sicher, ob sie es ihm reichen sollte, und er machte keine Anstalten, es zu nehmen. Vor Verlegenheit wäre sie am liebsten im Boden versunken, doch plötzlich trat Antonio näher und streckte die Hand nach dem Glas aus.
»Die beiden Mädchen werden sich sicher darüber freuen«, erklärte er begeistert. »Meistens koche ich, und das mehr schlecht als recht. Da ist es gut, wenn wir einmal einen leckeren Nachtisch bekommen.«
Claire lächelte, aber es geriet etwas gequält, und Luis blieb weiterhin stumm.
»Sind Sie eine Freundin meines Vaters?«, fragte Antonio, nachdem er ihr das Glas abgenommen hatte.
»Sei nicht so neugierig, Antonio!«, rügte Luis ihn. Seine Stimme klang belegt – als ob er den gleichen Druck wie sie auf seiner Brust fühlte.
»Ja, das bin ich«, murmelte Claire, »ich sollte nun wieder gehen.«
»Wollen Sie nicht zum Abendessen bleiben?«
»Antonio!«, mahnte Luis.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, wirklich nicht, ich störe sicher nur, ich muss auch wieder nach Hause …«
Sie eilte davon, doch zu ihrer großen Beschämung stolperte sie schon nach wenigen Schritten über die eigenen Füße und fiel auf die Knie.
Luis war sofort an ihrer Seite und streckte seine Hände nach ihr aus. Kurz berührten sie sich, doch sie zuckte zurück und erhob sich ohne seine Hilfe.
»Ich … ich wollte dich wirklich nicht belästigen«, wiederholte sie heiser. »Ich hätte nicht herkommen sollen.«
Kurz wurde Luis’ Miene abweisend, und sie wollte schon weitereilen, aber dann verzogen sich seine Lippen zum Anflug eines Lächelns.
»Danke für dein Geschenk. Antonio hat recht – die Mädchen werden sich sehr darüber freuen. Und vielleicht kannst du wirklich einmal zum Abendessen kommen, nicht heute, aber in den nächsten Tagen.«
Er wirkte etwas unschlüssig, und sie war es auch. »Ich denke darüber nach«, erwiderte sie, ehe sie mit hochrotem Gesicht davonlief. Als sie die Kutsche erreichte, konnte sie kaum noch atmen. Sie zitterte am ganzen Leib, und als Claudio losfuhr und sie einen letzten Blick auf Antonio und Luis warf, die vor dem Haus standen und ihr nachblickten, musste sie vor Aufregung lachen und weinen zugleich.