31. Kapitel
Aua!«, entfuhr es Carlota zum wiederholten Mal.
Sie hasste die Näharbeit. Ständig stach sie sich in den Finger, die Nähte gerieten ungerade, was zur Folge hatte, dass es ihr trotz aller Mühen doch nur Tadel einbrachte, und am schlimmsten war, dass sie nebenan meist ihre Eltern streiten hörte.
Was heute der genaue Anlass für ihre Auseinandersetzung war, wusste sie nicht, aber im Grunde ging es immer um dasselbe. Der Vater kam von der Arbeit heim und beklagte sich darüber. Die Mutter hörte eine Weile zu, wurde dann aber seiner Klagen überdrüssig und hielt ihm entgegen: »Ich und Carlota haben ebenfalls schwer zu schuften.«
»Ihr näht – ich hingegen schlachte Tiere. Das ist ein Unterschied!«
»Wärst du glücklich, wenn wir auch Tiere schlachten und den ganzen Tag in ihrem Blut waten müssten?«, fragte die Mutter dann bissig.
Ihr Vater arbeitete in einem der Saladeros, und Carlota, die ihn von dort schon häufig abgeholt hatte, wusste, was ihm so sehr zu schaffen machte, auch wenn er stets beteuerte, dankbar für die Arbeit dort zu sein. Schließlich war er über lange Jahre arbeitslos gewesen, ehe jene Betriebe wie Pilze aus dem Boden schossen und die Geschäftsführer händeringend nach kräftigen Männern suchten, ohne zu fragen, woher sie kamen und womit sie bisher ihr Brot verdient hatten. Es zählte nur, dass sie zupacken konnten und sich von den schrecklichen Bedingungen nicht abhalten ließen. Zu Beginn des Jahrhunderts war in jenen Saladeros nur in kleinen Mengen Trockenfleisch erzeugt worden: Man hatte ein paar Rinder geschlachtet, das Fleisch leicht gesalzen und an der Luft trocknen lassen und es nach Brasilien verkauft, wo die Sklaven davon lebten. Doch dann waren die Engländer in das Geschäft eingestiegen und hatten in Montevideo und Buenos Aires aus den bisherigen Familienbetrieben riesige Schlachthöfe gemacht, in denen täglich Dutzende von Tieren getötet, ausgeweidet und enthäutet wurden.
Bis jetzt hatte der Vater jede Stelle nach wenigen Monaten wieder verloren, weil er – wie ihre Mutter sagte – den Mund nicht halten konnte oder weil er – wie er selbst behauptete – Ungerechtigkeit nicht ertrug und nicht zusehen konnte, wie man einfache Leute ausbeutete, doch in den Saladeros sah man darüber hinweg, wenn er nur seine Arbeit machte, denn das war eine, um die sich wahrlich niemand riss. In der Luft hing der abscheuliche Geruch faulender Eingeweide, der Aasgeier und andere Vögel anlockte, und die Tiere, die geschlachtet wurden, brüllten entsetzlich, wenn sie den Gestank wahrnahmen. Bis ins Letzte wurde alles, was sie herzugeben hatten, in etwas Nützliches umgewandelt: Aus der Haut wurde Leder gemacht, aus dem Fett Seife, aus den Knochen Dünger. Das Fleisch wurde nicht nur getrocknet, sondern noch frisch auf große Kühlschiffe oder in Fabriken gebracht, die Corned Beef herstellten. Hauptsächlich wurden Rinder verarbeitet, aber manchmal waren auch Pferde darunter, und ihrem Vater, der diese Tiere so sehr liebte, brach es das Herz, sie töten zu müssen. Carlota liebte wiederum ihren Vater und empfand tiefes Mitleid mit ihm, aber insgeheim verstand sie auch, warum ihre Mutter oft so ungehalten reagierte. Schließlich war ihr Leben mühsam genug, auch ohne sich abends seine endlosen Klagen anzuhören, die wie eben im Streit mündeten.
»Du klingst so vorwurfsvoll, als wäre ich an allem schuld«, keifte die Mutter.
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Aber du denkst es, nicht wahr? Du denkst, alles wäre leichter, wenn du nicht Frau und Kind ernähren und obendrein in der Fremde leben müsstest. Du denkst, du hättest bei deinem verfluchten Bruder Pablo bleiben sollen.«
»Hör endlich auf, mir etwas in den Mund zu legen, was ich so nie sagen würde!«
»Du bist doch derjenige, der ständig darauf pocht, dass man die Mühsale des Lebens leichter erträgt, wenn man offen darüber redet. Warum sonst führst du ständig Klagen? Früher hast du wenigstens noch gesungen, wenn etwas auf deiner Seele lastete.«
»Es tut mir leid, dass mich die Jahre verändert haben.«
»Kleinlicher Trotz ist aber ein ausnehmend schlechter Tausch gegen Stolz.«
Carlota hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten, doch das konnte sie nicht. Sie musste sich ja den Näharbeiten widmen, und weil sie unaufmerksam gewesen war, stach sie sich zum wiederholten Male in den Finger. Blut tropfte auf den Stoff.
»Verflucht!«, schrie sie.
Sie rieb verzweifelt den Stoff, aber der Fleck wurde dadurch nur noch größer.
Wann genau hatte das Elend angefangen?, fragte sie sich. Seit wann lagen die Eltern ständig im Streit miteinander?
Vage erinnerte sie sich daran, dass es auch glücklichere Zeiten gegeben hatte. Die ersten Jahre nach ihrer Geburt hatten sie auf dem Land verbracht, und wenn vieles davon auch im Dunkeln lag – Carlota wusste noch ganz genau, dass der Vater sie damals oft auf den Schultern hatte sitzen lassen, dass sie selbst laut gejauchzt und die Mutter gelacht hatte. Sie hatte sich geborgen gefühlt, und das Leben war als so leicht erschienen. Doch dann waren sie in die Stadt gezogen. Ihr Vater hatte nur selten Arbeit gefunden, und wenn, dann immer nur für eine kurze Zeit, und Carlota hatte die Weite des flachen Landes vermisst. Immerhin war ihre Mutter noch zufrieden gewesen: Sie hatte an der deutschen Schule in der Nähe der Calle Sarandí eine Anstellung gefunden – was dem Umstand zu verdanken war, dass sie fließend Deutsch und ein wenig Französisch sprach, Klavier spielen, singen und sticken konnte. Sie hatten nicht weit von der Schule gelebt, und auch wenn das Haus einfach gewesen war, lag es doch in einer angesehenen Wohngegend.
Vor zehn Jahren hatte langsam, aber sicher ihr Abstieg begonnen: Viele staatliche Schulen waren neu gegründet worden, und die wenigen deutschen Auswanderer hielten nicht länger an Sitten und an der Sprache ihres Herkunftslandes fest, sondern schickten ihre Kinder lieber dorthin. Die Schülerzahlen an der Deutschen Schule waren daraufhin rapide gesunken – und für Valeria war bald nichts mehr zu tun gewesen. Eine Zeitlang hatte sie noch am Deutschen Gymnasium in der Calle del Cerron gearbeitet, doch schließlich hatte man dort nur noch männliche Lehrer eingestellt.
Carlota rieb nach wie vor an dem Fleck, der sich mittlerweile bräunlich verfärbt hatte. Im Moment stritten die Eltern nicht, sondern schwiegen sich nur eisig an. Das war noch schwerer zu ertragen – für Carlota, aber auch für die Streithähne selbst. Valeria war die Erste, die die Stille nicht mehr ertrug und erklärte: »Wenn es für dich tatsächlich so unerträglich ist, im Saladero zu arbeiten, müssen wir eben eine Weile von den Näharbeiten leben und uns einschränken.«
»Über kurz oder lang würdest du mir ja doch nur Vorwürfe machen.«
»Das stimmt doch gar nicht«, widersprach sie. »Wann habe ich es denn je getan?«
»Nicht mit Worten, aber mit Blicken oft genug.«
»Was soll ich denn sonst tun? Darf ich nicht manchmal zeigen, dass ich müde bin und Rückenschmerzen habe? Willst du, dass ich dir ein Theater vorspiele?«
»Nein, aber erklär mir nicht, du würdest damit leben können, wenn ich kein Geld verdiene.«
Das Gespräch drehte sich im Kreis und rührte wie so oft an etwas, das Carlota nicht recht begriff. Es hatte offenbar mit der Vergangenheit zu tun, in der ihre Mutter ein besseres Leben geführt hatte. Sie hatte darauf verzichtet, als sie sich aus Liebe für Valentín entschieden hatte, doch mit den Jahren war die Liebe geschwunden und die Verbitterung gewachsen.
Carlota befeuchtete den Fleck mit Speichel, doch auch wenn er etwas blasser wurde – er verschwand nicht. Was sollte sie nur tun? Sie arbeiteten für ein Geschäft, das Unterwäsche, Mieder und Unterkleider herstellte, und hatten den Vorteil, dass sie ihre Tätigkeit zu Hause verrichten konnten. Doch sie wurden stückweise bezahlt – und mit diesem Fleck würde das Unterhemd nie und nimmer akzeptiert werden. Sie musste ihn auswaschen!
Carlota blickte sich um – hatten sie hier oben irgendwo Kernseife? Unten in der Küche auf jeden Fall, aber sie wollte ihren Eltern aus dem Weg gehen. Also begann sie, die Schubladen zu durchstöbern, und wurde dabei immer mutloser … und missmutiger. Sie selbst besaß so gut wie gar keine Kleider, kein einziges Mieder, nur einen Haarkamm, dessen Zinken fast alle abgebrochen waren, und keinerlei Schmuck.
Wie schön das Leben sein könnte, wenn sie ein wenig mehr Geld hätten! Wie schön, die Eltern dann nicht mehr streiten zu hören! Sie müsste nie wieder nähen, sich nicht mehr den Finger blutig stechen, nie mehr vergebens nach Kernseife suchen!
Carlota trat zu einer Kommode im Schlafzimmer der Eltern gleich neben ihrer Kammer. Der Vater hatte sie gezimmert, weswegen sie entsetzlich schief war. Überdies klemmte die unterste Schublade und quietschte beim Öffnen. Carlota glaubte nicht recht daran, ausgerechnet dort Kernseife zu finden, aber als sie die Schublade nur zur Hälfte öffnen konnte und danach auf Widerstand stieß, packte sie Wut. Kurz vermeinte sie, dass sie ihr Leben nur in den Griff kriegen könnte, wenn es ihr gelänge, diese Schublade aufzuziehen und solcherart zu beweisen, dass die Arbeit ihres Vaters doch zu etwas taugte, ganz gleich, was ihre Mutter sagte. Sie umklammerte den Griff und zog ihn mit ganzer Kraft zurück. Wieder ein Quietschen, dann gab der Widerstand nach, so plötzlich, dass Carlota zurückfiel. Hastig rappelte sie sich wieder auf. Wie vermutet: In der Schublade befand sich keine Kernseife, sondern nur eine fleckige Schürze – und darunter ein Bündel Briefe.
Carlota betrachtete die Briefe und stellte erstaunt fest, dass sie allesamt geöffnet, danach aber wieder zusammengefaltet und in den Umschlag gesteckt worden waren. Noch zögerte sie, doch schließlich besiegte die Neugierde ihre Skrupel. Sie zog einen hervor und las zunächst die erste und letzte Zeile: Liebe Valeria!, stand da geschrieben … und darunter: Deine Claire.
Der Name kam Carlota vage bekannt vor. Irgendwann einmal war er während eines Streits ihrer Eltern gefallen. Offenbar war sie eine Freundin oder Verwandte ihrer Mutter.
Carlota ließ den Brief kurz sinken, um ihn dann ins Licht zu halten und zu entziffern. Das Papier war ziemlich gelblich und von Flecken übersät, einzelne Worte waren verblasst. Diese Briefe mussten viele Jahre alt sein – und waren darum nur bruchstückhaft zu lesen.
… von Maria, der Köchin, erfahren, dass Du wieder in Montevideo lebst … kann mir nicht vorstellen, dass Du ein gutes Leben führst … Deine Eltern sind nach Deutschland zurückgekehrt …
Carlota runzelte die Stirn. Sie hatte oft vermutet, dass Valeria aus Deutschland stammte, sonst würde sie diese Sprache nicht perfekt beherrschen und hätte sie unterrichten können. Aber wenn sie sie danach fragte, verdüsterte sich stets ihr Gesicht, und sie verweigerte jede Auskunft.
Carlota nahm den nächsten Brief, der etwas besser zu lesen war:
Warum antwortest Du nicht auf meine Briefe? Geht Dein Trotz so weit, dass Du nicht nur mit Deinen Eltern, mit Julio und Leonora gebrochen hast, sondern auch mit mir nichts mehr zu tun haben willst? Denkst Du, Du kannst gutmachen, was geschehen ist, wenn Du mich vergisst? Ich habe Deinetwegen viel geopfert, und Dein Schweigen macht alles noch schlimmer.
Julio und Leonora.
Carlota kannte auch diese Namen – nicht von einem Streit, sondern aus der Zeitung. Dort waren regelmäßig Artikel über die de la Vegas’ zu lesen – eine der einflussreichsten und wohlhabendsten Familien der Stadt. Hatte ihre Mutter irgendetwas mit ihnen zu tun?
Sie nahm den nächsten Brief.
Ich schreibe Dir zum letzten Mal. Wenn Du Hilfe brauchst, wende Dich an mich – auch mein Vater würde Dir sicher gern helfen. Aber ich bin es leid, darum zu kämpfen, dass Du Deine Sturheit endlich überwindest. Du strafst mit dem Schweigen nicht Leonora und Julio, sondern am meisten Dich selbst. Ich kann mir überdies nicht vorstellen, dass Du Deiner kleinen Tochter das Leben bietest, das sie verdient.
Carlotas Herz pochte schneller. Vieles verstand sie nicht – jedoch, dass es offenbar in all den Jahren einen Ausweg aus dem Elend gegeben hätte. Und dass Valeria diesen offensichtlich nicht genutzt hatte – dieser Brief war nämlich der letzte.
Sie erhob sich und stürmte nach unten. Ihre Mutter saß am Küchentisch und rieb sich die Schläfen. Von ihrem Vater war nichts zu sehen. Wahrscheinlich war er aus dem Haus geflohen und wie so oft am Abend zum Meer gegangen, dessen Anblick ihn beruhigte. Manchmal begleitete Carlota ihn, und auch für sie verhießen die schaumgekrönten Fluten ein Gefühl von Freiheit und Gelassenheit. Doch heute suchte sie keinen Seelenfrieden.
Sie hielt der Mutter anklagend die Briefe vors Gesicht. »Wie konntest du nur, Mutter, wie konntest du!«
Eine Weile starrte Valeria sie nur wortlos an, dann wanderte ihr Blick zu den Briefen, und sie wurde merklich blass. »Woher hast du das?«
»Das tut nichts zur Sache!«, rief Carlota erbost. »Wer ist diese Claire? Warum hast du ihr nie geantwortet? Sie hat dir doch offenbar Geld angeboten!«
Valeria sprang auf und wollte ihr die Briefe wegnehmen, doch Carlota trat rechtzeitig zurück.
»Weiß Vater davon?«
Valeria ließ ihre Hand sinken, aber um ihren Mund erschien ein trotziger Zug. »Auch dein Vater wäre zu stolz gewesen, vor den de la Vegas’ auf dem Boden zu kriechen.«
Es stimmte also: Irgendwie war sie mit den de la Vegas’ verwandt. »Vorhin hast du Vater noch vorgeworfen, er hätte seinen Stolz durch Trotz ersetzt.«
»Du solltest nicht lauschen.«
»Liebend gerne würde ich euch nicht beim Streiten zuhören. Aber ihr seid nun mal so laut, und das Haus so klein …« Carlotas Stimme kippte. Sie konnte wortkarg sein wie ihre Mutter, aber wenn der Zorn sie erst einmal übermannte, war ein Ausbruch wie dieser unvermeidlich. »Ja, wir leben in einem schrecklich kleinen, schrecklich armen Haus, was offenbar nicht notwendig ist. Wer bist du, Mutter? Warum verzichtest du auf den Reichtum, der dir offenbar zusteht?«
Wieder versuchte Valeria, ihr die Briefe abzunehmen – und diesmal gelang es ihr. Doch dass Carlota nun ihren Inhalt kannte, ließ sich nicht mehr rückgängig machen.
»Claire Gothmann ist meine Cousine«, gestand Valeria widerwillig. »Und mit den de la Vegas’ bin ich mütterlicherseits verwandt. Doch sie haben fast deinen Vater auf dem Gewissen. Sie hätten mir nie gestattet, dass ich ihn heirate, da er Paraguayer und folglich ein Feind war. Als ich schwanger wurde, wollten sie dich mir gleich nach der Geburt wegnehmen. Mir blieb gar nichts anderes übrig, als zu fliehen. Seitdem halten sie mich für tot, und das ist gut so.«
Carlotas Zorn schwand, denn mit dieser Geschichte hatte sie nicht gerechnet.
»Aber diese Claire weiß, dass du lebst, und sie klingt doch freundlich …«, hielt sie etwas kleinlauter entgegen.
»Claire hat mir sehr geholfen, dabei jedoch ihre große Liebe verloren. Damals habe ich nicht darüber nachgedacht, aber später ist mir aufgegangen, wie groß ihr Opfer war. Ich dachte, es wäre leichter für sie, wenn alle Brücken abgerissen blieben, sie mich nicht wiedersehen und somit nicht an ihren Verlust erinnert werden würde. Ich dachte auch, das wäre leichter für mich …«
Offenbar war das ein Irrtum gewesen, denn Carlota sah Tränen in Valerias Augen schimmern.
Doch auch wenn sie nun die Beweggründe verstand, warum sie diese Briefe unbeantwortet gelassen hatte – die Folgen dieser Entscheidung konnte sie nicht einfach hinnehmen.
»Wir könnten ein besseres Leben führen!«, klagte sie.
»Wir haben ein Dach über dem Kopf, genug zu essen und alle Arbeit«, sagte Valeria streng. »Es gab Zeiten, da hatten wir nicht einmal das.«
»Und dennoch …«
»Nichts dennoch – ich will kein Wort mehr davon hören.«
Der Ausdruck ihres Gesichts wurde eisig, und Carlota hatte dem nichts entgegenzusetzen. Valeria war zwar nie eine strenge Mutter gewesen, doch manchmal legte sie etwas so Hartes, Kaltes an den Tag, das Carlota tief verstörte. Rührte es vom Verzicht auf ein Leben in Wohlstand? Oder von einem noch größeren Opfer?
Plötzlich stand da nicht nur Härte in ihrer Miene, sondern auch Trauer, namenlos und tief. Carlota scheute sich, im Bodensatz von diesem Gefühl zu wühlen, und erhob darum keinen Einwand, als Valeria die Briefe in den Herd warf.
Wortlos starrten die beiden auf die Flammen, die das Papier rasch vertilgten. Valeria war offenbar in Erinnerungen versunken – während Carlota nur die Zukunft im Sinn hatte.
Warum wartete sie eigentlich darauf, dass sich endlich etwas ändern würde, anstatt ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen? Warum ließ sie – die sie mit zwanzig Jahren längst erwachsen war – immer noch ihre Eltern über Wohl und Wehe entscheiden? Wenn sie hier nicht versauern wollte, musste sie etwas tun – und während sie auf die Flammen blickte, kam ihr eine Idee.
Sie brauchte die Briefe eigentlich nicht mehr, schoss es ihr durch den Kopf. Sie kannte ja jetzt Claires Nachnamen – Gothmann. Das sollte genügen, um ihr Vorhaben umzusetzen.
In der Zeit mit José hatte Tabitha vor Glück nichts essen können, jetzt war es der Kummer, der ihre Kehle eng und das Herz schwer machte. Leonora verzichtete zwar darauf, sie einzusperren – dennoch verließ Tabitha ihr Zimmer kaum, vergrub sich im Bett und fluchte auf Gott und die Welt.
Von ihrem Versprechen, José eine neue Anstellung zu verschaffen, war nichts übrig geblieben als die Einsicht, dass sie hier trotz ihrer Herkunft und ihres feinen Namens ein Niemand war: Die wenigen Bekanntschaften mit Montevideos reichen Familien konnte sie nicht nutzen, galt deren Loyalität im Zweifel doch ihrem Onkel Julio statt ihr.
José schien ohnehin keine großen Erwartungen zu hegen. Zu ihrem einzigen Treffen in der Nähe der Rennbahn, wo sie vor kurzem noch unter seiner Anleitung geritten war, kam er mit düsterem Gesicht und erklärte, ohne ihr in die Augen zu sehen, dass seine Ersparnisse nicht lange reichen würden, um über die Runden zu kommen, und dass er demnächst Montevideo verlassen müsste, um wieder Arbeit zu finden.
Anstatt sie zu küssen, ging er einfach davon. Tabitha lief ihm hinterher und nestelte am Verschluss der Kette, die sie trug. Es war ein Geschenk ihrer Großmutter und gewiss von hohem Wert.
»Hier!«, sagte sie und hielt das Schmuckstück hoch. »Wenn du sie verkaufst, dann kannst du etwas länger in Montevideo bleiben.«
Er musterte erst die Kette, dann sie. »Ich bin kein Bettler, der auf Almosen angewiesen ist«, erwiderte er und ließ sie erneut stehen.
Sein Stolz, seine Wildheit und seine Ungezügeltheit waren das, was sie stets am anziehendsten gefunden hatte, doch als sie ihm nachblickte, hatte sie das Gefühl, geschlagen worden zu sein.
Isabella, die sie zur Rennbahn begleitet hatte, fand auf dem Heimweg viele tröstende Worte – doch vergebens. Nach Josés Rausschmiss hatte Tabitha sie noch verdächtigt, sie bei Julio verpetzt zu haben, war sie doch vermeintlich die Einzige, die von ihrer Liaison ahnte. Aber Isabella hatte ihr berichtet, dass die Köchin sie mit José gesehen hatte und sofort zu Tante Leonora gelaufen war.
»Es ist so ungerecht!«, rief Tabitha. »José ist ein Mann mit aufrichtigem Herzen. Er liebt die Pferde mehr als jede Münze. Warum blickt Onkel Julio verächtlich auf ihn herab, während er Mimosen wie Alonso preist?«
Der war mittlerweile mehrmals zum Abendessen zu Gast gewesen, und nicht jedes Mal hatte Tabitha eine gute Ausrede gefunden, sich den Treffen zu entziehen.
»Es betrübt mich, dass du so leidest«, erwiderte Isabella, »aber zugleich denke ich mir, dass das Leid nun mal die Kehrseite des Glücks ist – und dass man beides nur erlebt, wenn man liebt. Und es ist immer noch besser zu lieben, als vor Langeweile zu vergehen.«
Bis jetzt war Tabitha so mit ihrem eigenen Schmerz beschäftigt gewesen, dass sie keinen Gedanken daran verschwendet hatte, wie Isabella über ihre Liebe dachte. Nun studierte sie aufmerksam ihr Gesicht, das wehmütig und verklärt zugleich wirkte.
»Hast du denn deinen Mann geliebt?«, fragte sie.
»Ach wo!«, meinte Isabella mit wegwerfender Geste. »Vater war verzweifelt auf der Suche nach einem geeigneten Mann, der mich von der Schande befreite, altjüngferlich zu sterben. Sebastian hat mich nur geheiratet, weil er in den Krieg ziehen würde und dort Erinnerungen brauchte, um sich daran zu laben. Und gemessen an Blut und Tod, war wohl jede Erinnerung schön – auch die an mich.«
»Sag so etwas nicht! Bestimmt hatte er dich gern.«
Sie war sich nicht sicher, ob das der Wahrheit entsprach. Isabella war mit ihrer fahlen Haut, dem mittlerweile grauen Haar und dem schmalen Gesicht keine Frau, deren Anblick die Herzen der Männer höherschlagen ließ. Allerdings war sie so freundlich, geduldig, hilfsbereit …
Nun schwieg sie in Gedanken versunken.
»Vermisst du ihn?«, fragte Tabitha.
Isabella zuckte die Schultern. »Ich vermisse die Liebe. Und manchmal stelle ich mir vor, wie mein Leben an seiner Seite verlaufen wäre. Vielleicht wäre ich einmal nach Europa gereist: Die Menschen sind dort eleganter gekleidet, mit Seide statt Wolle, die Straßenbahnen fahren schneller, die Parks sind größer. Zumindest habe ich mir das sagen lassen. Montevideo mag noch so sehr Städten wie Paris nacheifern – es wird doch nie an dortigen Prunk heranreichen.«
Ihre Stimme nahm einen schwärmerischen Tonfall an, und aus jedem Wort sprach die Sehnsucht, aus Montevideo fortzukommen.
»Besuch uns doch einmal im Taunus – Großpapa hat bestimmt nichts dagegen.«
»Ach was, die Reise dauert viel zu lange. Und ich bin viel zu alt.«
Sie sah nicht alt aus – vielmehr hatte Tabitha den Eindruck, sie hätte sich seit ihrer Kindheit kaum verändert.
»Aber wenn du doch so über Langeweile klagst, musst du etwas dagegen tun!«, rief Tabitha und konnte nicht verstehen, warum die andere nicht für ihre Träume kämpfte. Vielleicht, weil sie dann herausfinden würde, dass Städte wie Paris kein Schlaraffenland waren, sondern es auch dort Dreck und Armut gab?
»Du kommst doch so gut wie nie aus dem Haus!«, fügte sie hinzu.
»Das ist nicht wahr«, sagte Isabella schnell. »Ich besuche des Öfteren deine Tante Claire. Auch sie lebt zurückgezogen, fühlt sich oft einsam und freut sich über jede Abwechslung. Sie erzählt mir viel über Europa, und obwohl sie seit langem hier lebt, ist sie sehr belesen.«
Isabellas Augen glänzten ehrfürchtig.
Tabitha lehnte sich zurück.
Isabella war herzensgut, aber sie konnte ihr letztlich nicht helfen. Trotz allem stand sie treu zu ihrer Familie und hätte nie gewagt, sich Leonoras Einflussbereich zu entziehen. Wer sie bedingungslos unterstützt hätte, wäre Espe – der gute Geist ihrer Kindheit, der erst Rosa, später Valeria, schließlich sie selbst aufgezogen hatte. Espe war immer zur Stelle gewesen, wenn man sie brauchte, hatte sich jedoch nie von sich aus eingemischt oder ihre Meinung ungefragt geäußert. Tabitha war sich sicher: Sie würde auch jetzt nichts Abfälliges über José sagen, sondern ihre Liebe vorbehaltlos unterstützen. Doch Espe war vor zwei Jahren gestorben. Nie hatte sie ihre Großmutter so herzzerreißend weinen gesehen wie damals – und ihr selbst wurde die Kehle eng, wenn sie daran dachte. Sie schüttelte den Kopf. Noch bedrückender als die Erinnerung an Espe war der Gedanke an die Zukunft. Wer konnte ihr helfen?
Isabella hatte Tante Claire erwähnt …
In diesem Jahr hatte sie sie erst ein Mal besucht, aber als Kind war sie häufiger in ihrer Quinta zu Gast gewesen. Sie hatte sie immer gemocht, denn Claire wusste spannende Geschichten zu erzählen und war herrlich unkonventionell: Sie ging halbnackt baden, behandelte das Personal wie ihre Familie und besuchte ohne männliche Begleitung die Oper.
Tabitha lächelte plötzlich. Ja, Tante Claire war ihre Rettung! Sie würde José gewiss nicht verachten.