16. Kapitel

Als Claire erwachte, wusste sie kurz nicht, wo sie war. Seit ihrer Ankunft in Montevideo musste sie sich am Morgen stets aufs Neue erinnern, dass sie nicht länger mit ihrem Vater in Hamburg lebte. Heute durchflutete sie ein noch freudigeres Gefühl als sonst, als sie im Hier und Jetzt ankam. Montevideo war nicht länger nur die fremde Stadt, die so viel Neues und Abenteuerliches verhieß – nein, es war Luis’ Stadt, und sie würde ihn bald wiedersehen!

Claire lächelte breit, doch ihr Lächeln schwand, als ihr Blick auf Valerias Bett fiel. Es war leer – und unberührt.

Ruckartig fuhr sie hoch.

Gestern Abend war sie gerade noch rechtzeitig während des Schlussapplauses in die Loge gehuscht. Als ihr Vater nach Valeria gefragt hatte, hatte sie auf Kopfschmerzen verwiesen, die diese geplagt und dazu veranlasst hätten, frühzeitig nach Hause zu fahren. Wie so oft hatte Carl-Theodor irritiert die Stirn krausgezogen, doch es war für ihn wenig überraschend, dass sich Valeria in der Oper langweilte, ganz offensichtlich eine Ausrede gesucht und einmal mehr ihre Cousine dafür eingespannt hatte. Claire hatte sich ihrerseits Sorgen gemacht, als während der Heimfahrt der Sturm losbrach, und noch mehr, als sie Valeria nicht in ihrem Zimmer angetroffen hatte. Doch während sie in ihrem Bett auf sie wartete, hatte sie der Schlaf übermannt. Wie es aussah, war sie die ganze Nacht nicht heimgekommen …

Voller Sorge verließ Claire das Zimmer und vergaß, einen Morgenmantel über das Nachthemd anzuziehen. Sie wurde sich dessen erst bewusst, als sie im Salon auf die versammelte Familie traf, doch wie sie hatten sich auch die anderen nicht angekleidet. Julio trug einen Schlafmantel, Leonora eine Schlafhaube, Isabella ein dünnes Nachthemd. Alejandro hatte sich über sein Schlafgewand einen Frack gezogen, was sehr lächerlich aussah. Doch Claire war nicht zum Lachen zumute. Als sie die ernsten, aufgeregten Gesichter sah, erfasste sie eisiger Schrecken: Gewiss war Valeria etwas Schlimmes zugestoßen!

Sie entdeckte ihren Vater, der am Fenster stand, und stürmte auf ihn zu.

»Vater, es tut mir so leid, dass ich dich gestern Abend angelogen habe, aber Valeria …«

»Nicht jetzt«, unterbrach er sie.

»Diese verfluchten Schweine!«, tobte Alejandro.

Wen, zum Teufel, meinte er?

Carl-Theodor war ihr verwirrter Gesichtsausdruck nicht entgangen.

»Eine Gruppe Paraguayer haben Waffen gestohlen, die Julio von französischen Händlern gekauft hat.«

»Schlangenbrut! Teufelssöhne!«, schrie Alejandro.

»Wie konnten sie sie einfach stehlen?«, fragte Claire geistesabwesend. Sie begriff nur langsam, dass all die Aufregung nichts mit Valeria zu tun hatte.

Anstatt zu antworten, sinnierte Carl-Theodor laut: »Die fehlenden Waffen sind die größte Schwäche der Paraguayer. Eigentlich stellen sie das beste Heer Südamerikas.«

»Diese Diebe, diese gemeinen Hunde!«, brüllte Alejandro.

Julio ging inzwischen unruhig auf und ab: »Die Masse der paraguayischen Infanterie ist mit uralten Steinschlossflinten aus der spanischen Kolonialzeit bewaffnet, sogar alte preußische Kuhfuß-Gewehre und französische Clarinettes sind noch in Gebrauch. Eine Schwadron des Kavallerie-Regiments, so hat man mir berichtet, führte überhaupt nur Lassos und Boleadoras, eine Schleuderwaffe, mit sich. Ihre schlechten Waffen waren immer der größte Vorteil unserer Allianz – aber nun haben sie meine.«

Er ballte seine Hände zu Fäusten.

»Dreckspack!«, schimpfte Alejandro.

»Aber wie konnten die Waffen denn gestohlen werden?«, fragte Claire bestürzt.

Alejandro und Julio beachteten sie nicht, aber Carl-Theodor erklärte leise: »Die Waffenlieferung ist erst kürzlich aus Frankreich eingetroffen und wurde in einer Halle nahe dem Hafen gelagert. Ich wusste nichts davon.«

Claire hatte in diesem Moment keinen Kopf für den missbilligenden Tonfall des Vaters, der mit Waffengeschäften anscheinend nichts zu tun haben wollte. Entsetzt schrie sie auf.

»Claire? Was hast du denn? Du bist ja kalkweiß im Gesicht!«

»Valeria … im Lagerhaus …«, stammelte Claire.

»Was redest du denn da?«

Claire atmete tief ein, ehe sie in knappen, wirren Sätzen erklärte, was geschehen war. Diesmal hörten ihr alle zu – doch kaum hatte sie berichtet, dass Valeria gestern Abend in besagte Lagerhalle aufgebrochen war, um Isabella Stoff für ein Kleid zu beschaffen, und nicht nach Hause gekommen war, redeten sie wild durcheinander.

»Die Bastarde werden es nicht wagen, sich an meiner Enkelin zu vergreifen!«, polterte Alejandro und bezeichnete Valeria zum ersten Mal so.

»O mein Gott!«, rief Carl-Theodor. »Ich trage doch Verantwortung für sie.«

»Wir müssen sofort die Polizei informieren«, sagte Julio kopfschüttelnd. »Was für ein dummes Mädchen!«

Aus Leonora platzte es ganz ohne üblichen Respekt heraus: »Lernt man in Europa nicht, wie man sich als junge Frau zu benehmen hat? Einfach aus der Oper verschwinden …«

»Und das alles nur meinetwegen«, klagte Isabella.

Nur Claire sagte nichts. Die Angst um ihre Cousine war so groß, dass sie sie nicht in Worte fassen konnte.

 

Valeria wusste nicht, wohin sie ritten. Zunächst war es stockdunkel, so dass sie kaum die Hand vor ihren Augen sehen konnte, und sie wertete das als Zeichen, dass sie die Stadt hinter sich gelassen hatten. Angestrengt lauschte sie auf das Meeresrauschen, das – so überreizt, wie ihre Sinne waren – wie Donnergrollen klang. Doch trotz des Sturms wurde es immer leiser und ebbte zu einem fernen Plätschern ab. Offenbar hielten sie auf das Landesinnere zu.

Staub und Sand prasselten ihr ins Gesicht, und sie schloss hastig die Augen. In den nächsten Stunden versuchte sie, sich einzig darauf zu konzentrieren, ruhig zu atmen. Als der Sturm endlich nachließ, ging die Sonne auf – ein rotglühender Ball, der das karge, flache Land beleuchtete. Sie blickte sich um. Die erste Wegstrecke hatte man sie wie einen Sack Mehl über das Pferd geworfen. Später wurde ihr erlaubt, sich aufzurichten, und sie saß nun wie ein Mann im Sattel – dicht an einen ihrer Entführer gepresst, der nach Schweiß und altem Leder roch. Sie fühlte seinen festen Griff, wagte es jedoch nicht, sich zu ihm umzudrehen, sondern musterte stattdessen die Pferde. Diese hatten nichts mit den edlen Rössern, wie ihr Vater Albert sie ritt, gemein, sondern waren dreckige Gäule. Statt einer Trense hatte man durch ihr Maul lediglich einen Strick gezogen, der mittels eines Knotens festgehalten wurde.

Eben zog der Mann, vor dem sie saß, daran. Bei einer kleinen Gruppe gedrungener Bäume, die von der Sonne verdorrt und vom Wind gebogen waren, legten sie eine Rast ein. Jetzt erst sah sie, mit wem sie geritten war – es war der Anführer der Truppe, Pablo. Nachdem er selbst abgestiegen war, machte er keine Anstalten, ihr vom Pferd zu helfen, und sie hatte keine Ahnung, ob sie sitzen bleiben oder es riskieren sollte, sich den Hals zu brechen. Schließlich trat der andere, der Valentín hieß, auf sie zu, und reichte ihr seine Hand. Sie nahm sie nur unwillig, schlug aber seine Hilfe nicht aus. Als sie auf festem Boden stand, betrachtete sie ihr Kleid, das zerrissen und staubig war. Die anderen waren ihrem Blick gefolgt, und Pablos breites Grinsen bekundete, dass er sich über ihre entsetzte Miene zu amüsieren schien.

»Mein Großvater und mein Onkel gehören zu den reichsten Männern Montevideos … Sie werden bereit sein, alles Geld der Welt zu zahlen, um mich wiederzubekommen!«, rief Valeria.

Pablo sagte nichts, aber Valentín nickte nachdenklich. »Sie hat recht – wir sollten so bald wie möglich Forderungen an die de la Vegas’ stellen.«

Anstatt ihm zu antworten, ließ Pablo seinen Blick gemächlich über ihren Körper wandern.

»Warum diesen Goldvogel gleich wieder fliegen lassen?«, fragte er gedehnt. »Er kann uns viel mehr einbringen als einen einmaligen Betrag.«

»Hast du den Verstand verloren? Es war schon gefährlich genug, nach Montevideo zu reiten – mit ihr an unserer Seite werden wir sicher verfolgt. Alejandro de la Vegas ist ein einflussreicher Mann, der nicht ruhen wird, bis er seine Enkeltochter wiederhat. Wir müssen zusehen, dass wir sie loswerden.«

Obwohl der eine so höhnisch wirkte, der andere besorgt, war die Ähnlichkeit der beiden unverkennbar: Ihre etwas gedrungene, kräftige Statur glich sich ebenso wie die dunklen Augen, die Adlernase und das stolze Kinn. Sie waren offenbar Brüder – und die Rädelsführer der Bande. Der Rest der Männer beobachtete sie mit ausdruckslosem Gesicht und schien an Meinungsverschiedenheiten gewöhnt.

»Gar nichts müssen wir!«, rief Pablo. »Denkst du, mir geht es um Geld?«

»Worum denn dann?«

Pablo deutete auf die gestohlenen Waffen, die sie teils umgebunden um den Körper trugen oder in den Satteltaschen verstaut hatten.

»Wir brauchen in den nächsten Jahren noch mehr Waffen – und Alejandro oder Julio wird sie uns besorgen.«

Er sprach von Jahren? Sie wollten sie tatsächlich so lange gefangen halten? Valeria kämpfte mühsam um Fassung.

Valentín indes schnaubte. »Wie stellst du dir das denn vor? Wie sollen diese Waffen denn künftig übergeben werden? Julio de la Vegas wird sie kaum nach Paraguay liefern können – und wir tun gut daran, wenn wir die Banda Oriental so schnell wie möglich verlassen.«

»Sei nicht so ein entsetzlicher Hasenfuß!«

»Und sei du ein wenig vernünftig!«

Die Brüder maßen sich mit eisigen Blicken, aber es fiel kein Wort mehr. Nach einer Weile wandte sich Pablo ab, scharrte mit den Füßen in der Erde und befahl, Feuer zu machen – offenbar ein Zeichen, dass der Streit vertagt wurde.

Valeria war erleichtert, dass er sie nicht weiter beachtete. Bald prasselte rauchspuckend das Feuer, und die Männer holten trockenes Fleisch aus ihren Taschen, spießten es auf Stäbe und hielten es darüber, bis es an den Rändern kohl war und das Fett zischend auf die Flammen tropfte.

Valeria verspürte keinerlei Hunger, aber als Valentín ihr ein Stück Fleisch reichte, nahm sie es. Sie ließ es auskühlen, setzte sich auf den Boden und nahm vorsichtig einen Bissen. Es war zäh wie Leder, und sie kaute gefühlte Ewigkeiten daran, bis sie es schlucken konnte. Währenddessen musterte sie die Männer unauffällig aus den Augenwinkeln. Was immer ihr bevorstand – es war wichtig, so viel wie möglich über diese Bande herauszufinden.

Einer von ihnen war gänzlich dunkler als die anderen, nicht nur weil seine Haut schmutz- und schweißverklebt war, sondern von Geburt an. Valeria konnte ihn kaum verstehen, als er etwas zu den Brüdern sagte, da er mit einem starken Akzent sprach.

Ihr dröhnte der Kopf, dennoch versuchte sie, sich daran zu erinnern, was sie von den vielen Gesprächen über den Krieg mitbekommen hatte: Demnach hasste Francisco Solano Lopez die Brasilianer, wie Alejandro mehrmals schreiend verkündet hatte, weswegen er die dortigen Negersklaven aufgerufen hatte, für ihn in den Krieg zu ziehen. Allerdings ging auch das Gerücht um, dass Lopez nicht nur die Brasilianer, sondern auch die Neger selbst hasste und sie massakrieren ließ, wenn sie keinen Nutzen mehr erfüllten.

Ob dieser Schwarze das wusste? Und ob sie darum vielleicht bei ihm auf Gnade hoffen konnte?

Allerdings, selbst wenn dieser nicht auf Lopez’ Seite stand – es hieß, dass die Uruguayer und Brasilianer sich noch mehr hassten und nur der Zufall die alten Feinde zu Verbündeten gemacht hatte.

Nicht weit von dem Schwarzen entfernt hockte eine andere furchterregende Erscheinung. Auch die Haut von diesem Mann war dunkel, wenngleich nicht ins Schwarze gehend, und sein Gesicht mutete fremdländisch an, nicht zuletzt aufgrund des Lippenpflocks, den er trug, und wegen der Vogelflügel, die von seinen Ohrläppchen baumelten. Valeria erschauderte. Wahrscheinlich war er ein Indianer Paraguays, ein Payaguá. Von diesen hatte sie nicht nur aus Alejandros Mund, sondern einst auch von Espe gehört. Obwohl diese selbst von Indianern abstammte, hatte sie schaurige Geschichten von den Payaguás erzählt, so, dass es keinen Menschenschlag auf Erden gab, der so viel Schmerz ertragen konnte wie diese – und dass sie zugleich für ihre Folterungen bekannt waren. Alejandro hatte behauptet, dass sie besonders treu zum Diktator standen, und Julio wiederum hatte während eines Abendessens, da er sich selbst am Rinderbraten labte, angewidert erzählt, dass sie sich vorzugsweise vom Fleisch der Krokodile ernährten.

Pablo nannte ihn Pinon, doch als er mit ihm redete, verstand Valeria kein Wort. Wahrscheinlich sprachen sie nicht Spanisch, sondern Guaraní, die Sprache der Indianer – und die beherrschte sie nicht. Nun, sie wollte ohnehin nicht mit ihm reden, denn von ihm war Mitleid wohl am wenigsten zu erwarten.

Dann waren da noch drei weitere Männer, hellhäutiger diese und Paraguayer vom Schlage Valentíns und Pablos. Sie hießen, wie sie im Laufe ihres kargen Mahls herausfand, Ruben, Pío und Jorge. An ihren Gürteln hingen nicht nur gestohlene Waffen, sondern noch mehr Beute – wahrscheinlich hatten sie diese im Krieg toten Soldaten abgenommen: Messer mit kunstvoll geschnitzten Griffen, Taschenuhren, die in der Sonne glänzten, und klapperndes Kochgeschirr. Sie warfen ihr verstohlene Blicke zu, die man bestenfalls für neugierig halten konnte, schlimmstenfalls für anzüglich, und die ganz sicher nicht freundlich gemeint waren.

Das waren wohl Männer, über die ihr Großvater behauptete, dass sie mit dem Schlachtruf »Quiero morir« in den Krieg zogen: Ich will sterben. Sie kannten keinen Mittelweg zwischen Siegen und Untergehen, und auf die Aufforderung, sich zu unterwerfen, antworteten sie ohne Umschweife: Dazu habe ich keinen Befehl.

Von diesen drei hatte sie gewiss ebenso wenig Hilfe zu erwarten wie von dem Schwarzen oder dem Indianer. Sie blickte wieder auf das Bruderpaar. Beim Essen hatten sie noch einträchtig beisammengesessen, nun stritten sie erneut miteinander, wenngleich nur flüsternd und auf das Feuer starrend.

»Du willst sie doch nicht ernsthaft nach Paraguay mitnehmen«, sagte Valentín eben kopfschüttelnd.

»Verstehst du nicht – wir müssen jede Möglichkeit nutzen, den Krieg zu unseren Gunsten zu wenden!«, hielt Pablo ihm trotzig entgegen. »Wir brauchen Waffen!«

»Sie ist eine Frau – und Krieg ist Männersache.«

»Wie viele Frauen wurden von der Allianz abgeschlachtet? Und wer wüsste das besser als wir?«

Düsternis senkte sich über Valentíns Züge. »Aber denkst du nicht …«, setzte er dennoch an.

»Kein Wort mehr«, unterbrach Pablo ihn harsch. »Ich bin der Älteste und nach dem Tod unseres Vaters das Oberhaupt der Familie. Ich entscheide, dass wir sie mitnehmen. Wir werden nach Asunción zurückkehren und von dort aus Kontakt zu den de la Vegas’ aufnehmen. Es mag schwer werden, aber ich finde einen Weg – in unserem Land gibt es genügend Schmuggler, die wir für diesen Zweck einspannen können. Und keiner unserer Heerführer wird etwas dagegen haben, dass wir ihn regelmäßig mit Waffen beliefern, und auch wenn wir sie billig anbieten, verdienen wir ein nettes Sümmchen. Ja, so wird’s gemacht. Wenn du etwas dagegen hast, kannst du gehen.«

Valeria sah, wie es hinter Valentíns Stirn arbeitete, aber schließlich starrte er auf seine Hände und sagte kein Wort mehr. Sie war froh, dass zumindest einer für sie eingetreten war – und verärgert und enttäuscht, dass er so schnell klein beigegeben hatte.

Asunción … Sie wollten sie in die Hauptstadt Paraguays bringen, bestimmt eine lange Wegstrecke voller Gefahren.

O Gott, wie kam sie je wieder heil aus dieser Sache heraus?

Tränen stiegen hoch, doch sie schluckte sie so entschlossen hinunter wie das zähe Fleisch. Wenn sie jetzt der Verzweiflung nachgab, würde sie zusammenbrechen, und das würde nichts an ihrer Lage ändern. Also klammerte sie sich an die Hoffnung, dass die Männer sie am Leben lassen und sie halbwegs gut behandeln würden, solange sie sie brauchten – und dass sich auf dem langen Weg nach Paraguay vielleicht die Möglichkeit zur Flucht bot.

 

Sie ritten immer weiter vom Meer fort Richtung Nordwesten. Valeria wusste nicht, wie groß das Heimatland ihrer Mutter war, und wie lange es dauern würde, bis sie es durchquert hatten, und irgendwann war sie zu erschöpft, um darüber nachzudenken. Alle Knochen taten ihr weh, weil sie es nicht gewohnt war, so lange zu reiten, und jedes Mal, wenn sie Pausen einlegten und sie vom Pferd stieg, wurde der Schmerz so groß, dass sie hätte schreien können. Sie verbiss es sich, denn sie wollte die Aufmerksamkeit der Männer nicht auf sich ziehen, dennoch stiegen ihr immer wieder Tränen in die Augen. Ihr salziger Geschmack vermengte sich mit dem des zähen Dörrfleisches, das man ihr zu essen gab und das ihren Magen füllte, ohne sie richtig satt zu machen. Am Abend sank sie stets in einen tiefen, traumlosen Schlaf, und wenn sie am nächsten Morgen erwachte, hatte sie für einen kurzen, gnädigen Moment lang vergessen, was ihr zugestoßen war. Sie streckte sich wohlig aus, wähnte sich daheim im Taunus, im Pensionat oder im Haus der de la Vegas’. Doch dann spürte sie den harten, sandigen Boden, verkrampften sich die wehen Muskeln, sie roch den Schweiß der Männer, und ihr Entsetzen wurde übermächtig – bis die körperlichen Strapazen aufs Neue sämtliche Gefühle und Gedanken ausmerzten.

Anfangs hatte sie die Männer genau beobachtet und sich ihre Namen und Gesichter eingeprägt. Später richtete sie ihr Augenmerk auf die Landschaft, um im Fall des Falles, dass ihr die Flucht gelang, den Weg nach Montevideo zurückzufinden – sicher kein leichtes Unterfangen, weil sie selten ein so eintöniges Land gesehen hatte: Zuerst waren sie über endlos weite Wiesen und Steppen geritten, vorbei an mal überschaubaren, mal riesigen Viehherden. Nach den vielen Stunden unter stechender Sonne war sie erleichtert, schließlich einen Wald zu erreichen, wo riesige Rebora-hacho-Bäume und eine Akazienart, die Algarrobos, Schatten spendeten. Die frische Luft, die sie einsog, musste allerdings zu dem Preis erkauft werden, dass Dornenbüsche die Füße zerkratzten, sobald sie vom Pferd stieg. Schwül wurde es in der Sumpflandschaft, die folgte, von riesigen Fächerpalmen durchsetzt und von gewaltigen Bäumen – Cedros und Lapachos – begrenzt, deren Stämme von Kletterpflanzen überwuchert waren. Schweiß tropfte ihr andauernd vom Gesicht, und sie schloss nun meist müde die Augen. Unmöglich wurde es, sich jeden Baum zu merken, und manchmal gestand sie sich verzagt ein, dass sie niemals durch diese Einöde hindurch allein nach Montevideo zurückfinden würde. Sie war dem wilden, unwegsamen Land ebenso rettungslos ausgeliefert wie der Übermacht an Männern.

Keiner von ihnen zeigte je Mitleid, und Valentín, auf den sie anfangs ihre größte Hoffnung gesetzt hatte, verlangte von seinem Bruder nicht noch einmal, sie freizulassen. Nach einigen Tagen wurde sie blind für die eintönige Umgebung, zunehmend schwächer und ergab sich schließlich ihrem Schicksal, anstatt sich dagegen aufzubäumen.

Eines Abends jedoch – sie waren mittlerweile eine Woche unterwegs und machten wieder einmal Rast im Schatten einiger Bäume – entdeckte sie in der Ferne Lichter, die inmitten des bislang menschenleeren Landes die Existenz weiterer Menschen verrieten. Vielleicht stammten sie von Reisenden wie sie, vielleicht von einem Bauernhof oder einer Poststation. Die Männer, die ansonsten jegliche Siedlung mieden, sahen davon offenbar keine große Gefahr ausgehen: Pablo starrte zwar eine Weile in die Richtung, entschied dann aber ungerührt, hier die Nachtruhe einzulegen.

Trotz ihrer Erschöpfung konnte Valeria nicht schlafen. Fiebrige Aufregung packte sie, je länger sie auf die Lichter starrte. Seit der zweiten Nacht hatten ihre Entführer darauf verzichtet, sie abends zu fesseln, da ohnehin einer der Männer immer Wache hielt – heute war es der schwarze Brasilianer, der, wie sie mittlerweile wusste, Tshepo hieß. Valeria tat so, als würde sie zusammengerollt schlafen, hielt aber die Augen einen winzigen Spalt geöffnet, um ihn zu beobachten.

Anfangs wanderte auch sein Blick immer wieder zu ihr, doch schließlich stierte er versunken aufs Feuer und summte etwas vor sich hin – vielleicht ein Lied, das er als Kind gelernt hatte. Es war schwierig, sich vorzustellen, dass diese rohen Männer jemals unschuldige Kinder gewesen waren, die auf dem Schoß der Mutter deren Liedern gelauscht hatten …

Irgendwann verstummte das Summen, und es war nur noch das Surren von Mücken, das Rauschen von Blättern und das Schnarchen der Männer zu hören.

Der Schwarze wippte mit seinem Oberkörper vor und zurück, sein Kopf sank dabei immer tiefer.

Ob er eingeschlafen war?

Valeria wagte es, sich aufzusetzen. Die Männer schnarchten weiterhin, der Schwarze regte sich nicht. Vorsichtig begann sie, vom Feuer fortzurobben. Ihr Atem ging schneller, das scharfe Gras raschelte unter ihrem Gewicht, doch der Schwarze rührte sich nicht. Endlich hatte sie einen Baum erreicht und zog sich an einem der Äste hoch. Das Holz war trocken, und der Ast knackte, aber niemand wurde wach.

Eine Weile blieb sie stehen und konnte sich nicht entscheiden, ob sie einfach losrennen sollte, was deutlich mehr Lärm verursachen würde, oder lieber langsam und möglichst lautlos davonschleichen. Die Brust tat ihr entsetzlich weh, noch ehe sie überhaupt zu laufen begonnen hatte, und ihr Herz dröhnte. Schließlich machte sie, den Blick weiterhin starr auf den Schwarzen gerichtet, die ersten Schritte. Je weiter sie sich von den Männern entfernte, desto größer wurde ihre Erregung – und schließlich gab es kein Halten mehr, und sie stürmte los. Der Boden fühlte sich unter ihren dünnen Schuhen uneben an, und mehrmals stolperte sie fast über eine Wurzel, aber davon ließ sie sich nicht bremsen. Ihr Kleid blieb an einer Ranke hängen und zerriss, doch sie hastete weiter. Und wenn sie am Ende nackt ankäme – Hauptsache, sie war in Sicherheit! Nun erkannte sie, dass es ein einzelnes Haus war, von dem das Licht kam, aber auch, dass es weiter entfernt war als gedacht. Sie verließ den Wald, überquerte eine endlos erscheinende Fläche mit dunklen, gedrungenen Silhouetten, die in der mondklaren Nacht große Schatten warfen – vielleicht Rinder, Steine oder einzelne Bäume. Anstatt es zu ergründen, blickte sie beharrlich auf das Licht und sah endlich den Zaun um jenes einsame Gehöft.

Als sie ihn erreichte, hielt sie zum ersten Mal inne. Seit Beginn ihrer Flucht fühlte sie sich irgendwie verfolgt, doch nun verstärkte sich das Unbehagen. Ihre Nackenhaare sträubten sich, eine Gänsehaut breitete sich über die Unterarme aus. Jemand beobachtete sie …

Sie fuhr herum, glaubte, eine Gestalt dort zu sehen. Aber nein, es war nur ein Baum. Sie atmete tief durch, wandte sich wieder nach vorne. Da! Eine Bewegung!

Dort stand jemand hinter der Fensterluke. Da der Raum beleuchtet war, konnte sie kein Gesicht erkennen, nur Konturen, die einer Frau … oder vielmehr die eines Knaben.

Warum stand er so steif dort? Warum kam er nicht heraus, um ihr zu helfen? Er musste doch aufgrund ihres hellen Kleides erkennen, dass sie eine Frau und daher nicht gefährlich war!

Sei’s drum. Sie konnte nicht warten, bis der Knabe sich einen Ruck gab – nur darauf hoffen, dass er ihr die Tür öffnen würde. Doch um zu dieser zu gelangen, musste sie erst einmal den Zaun überwinden.

Wo war bloß das Gatter?

Eine Weile lief sie am Zaun auf und ab, aber sie erspähte keines. Als sie wieder nach der Gestalt am Fenster Ausschau hielt, erkannte sie, dass der Knabe nicht länger stocksteif dastand, sondern heftig winkte. Sie war sich nicht sicher, ob es eine Aufforderung war, sich zu beeilen, oder eine Drohung, fernzubleiben, kletterte aber einfach über das Gatter.

Als sie das Holz bereits umklammert hatte, einen Fuß darauf setzen und den anderen darüber schwingen wollte, hörte sie hinter sich ein Knacken, und ehe sie sich umdrehen konnte, packte sie plötzlich eine Hand und riss sie zurück. Verspätet begriff sie, warum der Knabe nicht ins Freie gekommen war, um ihr zu helfen, und warum er ihr so aufgeregt zugewinkt hatte. Er musste gesehen haben, dass ihr jemand dicht auf den Fersen gewesen war.

Mit ganzer Wucht fiel sie zu Boden, drehte sich einmal um die eigene Achse, und als sie einen Schrei ausstoßen wollte, schluckte sie Sand. Trockenes Gras stach ihr ins Gesicht, die Handinnenfläche wurde von spitzen Steinen aufgescheuert – ein nichtiger Schmerz, gemessen an jenem, als sie an den Haaren hochgerissen und zurück zum Wald gezerrt wurde.

Ihre Kopfhaut schien zu brennen, und jene Qual war so unerträglich, dass sie weder ihr Scheitern beklagte noch sich vor Strafe ängstigte. Als sie schon meinte, dass ihr sämtliche Haare ausgerissen wurden, wurde sie wieder zu Boden geschleudert. Und kurz fühlte sie nur Erleichterung, dass der Schmerz vorüber war. Sie rieb sich den Kopf und kämpfte gegen die Tränen an. Als sie endlich wieder klar sehen konnte, erkannte sie, dass nun alle Männer wach waren und sie anstarrten. Offenbar war es der Schwarze gewesen, der sie zurückgebracht hatte, denn er lächelte als Einziger triumphierend. In Pablos Gesicht dagegen stand Ärger.

»Du Idiot! Wie konntest du sie so weit entkommen lassen? Nur wenige Augenblicke später …«

Nun, da sie den schmerzhaften Griff nicht länger erdulden musste, überkam sie die Verzweiflung. Nur wenige Augenblicke später – dann wäre sie in Sicherheit gewesen … frei …

Pablo begnügte sich nicht, Tshepo zu maßregeln, sondern hob die Faust und schlug ihm ins Gesicht. Das Klatschen war deutlich zu vernehmen, doch aus dem Mund des Schwarzen kam kein Laut.

Valeria hingegen schrie auf, als Pablo sie hochzerrte. Er war noch grober als der Schwarze und riss ihr das Haar büschelweise aus.

»Versuch das nicht noch einmal, Mädchen, sonst bist du tot!«

Trotz aller Angst regte sich Empörung in ihr. »Wenn ich tot bin, nutze ich euch nichts mehr«, presste sie zwischen ihren Lippen hervor.

Wieder ballte Pablo seine Hand zur Faust, schlug zu und traf diesmal mit ganzer Wucht ihr Gesicht. Sie glaubte, ihr Kopf würde zerplatzen, schmeckte Blut, taumelte und ging zu Boden. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie er erneut die Faust erhob und ein zweites Mal auf sie eindreschen wollte.

Das überlebe ich nicht, dachte sie, das überlebe ich nicht …

Doch da ging Valentín dazwischen und riss die Faust seines Bruders zurück.

»Lass sie in Ruhe! Du bringst sie ja um!«

Benommen nahm Valeria wahr, wie die Brüder miteinander rangelten. Das Blut rauschte ihr so laut in den Ohren, dass sie nicht hörte, was sie sich einander im Streit an den Kopf warfen. Als der Schmerz endlich etwas nachließ, hatte Valentín von Pablo abgelassen und saß über sie gebeugt.

»Wie geht es dir?«

Sein Blick schien ehrlich besorgt. In ihrer Lippe pochte es; das Blut war über ihr Kinn gelaufen und verkrustete langsam. Sie fror in ihrem zerrissenen Kleid und fühlte sich elend wie nie, aber als er seine Hand nach ihr ausstrecken wollte, um ihr aufzuhelfen, schlug sie sie fort.

»Lass mich in Ruhe, du elender Bastard!«, rief sie keuchend.

Auch wenn sie ihm allein zu verdanken hatte, nicht noch mehr Schläge einstecken zu müssen, konnte sie sich die bösen Worte nicht verkneifen. Doch als er zurückzuckte und plötzlich murmelte, es tue ihm leid, das hätte sie nicht verdient und er sie künftig davor zu bewahren versuchen würde, da glaubte sie ihm.

 

Claire ging unruhig auf und ab. Sie war froh, endlich von Leonoras schriller Stimme verschont zu werden, die ständig in den grässlichsten Bildern ausmalte, was Valeria wohl gerade durchmachte, sich heute aber wegen all der Aufregung so schwach fühlte, dass sie im Bett geblieben war. Auch wenn sie von ihrer enervierenden Gegenwart erlöst war, kam Claire nicht umhin, sich Valerias Leiden vorzustellen. Dass sie ganz allein mit ihren Gedanken war, machte es sogar noch schlimmer, und kaum erträglicher als die Gedanken an die Cousine waren ihre Schuldgefühle.

Ich hätte es verhindern müssen, ging es ihr wieder und wieder durch den Kopf. Ich hätte sie nicht in die Lagerhalle gehen lassen dürfen. Ich hätte mich von Luis nicht ablenken lassen sollen.

Mittlerweile waren mehrere Tage seit Valerias Verschwinden vergangen – und es fehlte immer noch jede Spur von ihr.

Am Anfang hatte die Familie noch gehofft, die Paraguayer würden bald Geld für ihre Geisel fordern, doch bis jetzt hatten sie nichts von den Entführern gehört.

Julio erklärte ganz nüchtern: »Sie werden wohl zuerst die Grenze nach Argentinien überschreiten und danach in ihr Heimatland zurückkehren. Zuvor werden sie sich hüten, einen Hinweis zu geben, wo Valeria steckt.«

Ihr Vater war verzweifelt und wusste nicht, was er Rosa und Albert berichten sollte. Einerseits hatten sie das Recht, die Wahrheit zu erfahren – andererseits war Uruguay noch nicht ans Telegraphennetz angeschlossen. Es würde Wochen dauern, bis die Nachricht sie erreichte, und in der Zwischenzeit kam Valeria womöglich heil zurück, während die Eltern noch grundlos bangten. Aus diesem Grund entschied Carl-Theodor, vorerst zu warten, doch Claires Hoffnung, dass er damit die richtige Wahl traf und Valeria bald wieder nach Hause kommen würde, schwand von Tag zu Tag – auch wenn sie das gegenüber ihrem Vater nicht zugeben wollte.

Sie zuckte zusammen, als es an der Tür klopfte, aber anstelle eines Familienmitglieds war es nur ein Hausmädchen, das durch den Türspalt lugte und ihr knapp mitteilte, sie hätte Besuch erhalten.

Claire war überrascht und konnte sich nicht vorstellen, wer sie zu sehen wünschte. Als sie in den Empfangsraum eilte und Luis dort stehen sah, packte sie das schlechte Gewissen.

»Luis! Oh, es tut mir unendlich leid, aber ich habe ganz vergessen, unsere Verabredung abzusagen. In all der Aufregung …«

Er hob abwehrend die Hände, um sie zum Schweigen zu bringen. »Sie müssen sich nicht rechtfertigen, Niña Claire. Ich bin hier, um Ihnen zu sagen, wie unendlich leid es mir tut. Ich habe gehört, was mit Ihrer Cousine passiert ist, und wollte schon früher nach Ihnen sehen, aber wir waren alle mit der Suche beschäftigt.«

Natürlich, Julio hatte ja die Polizei informiert.

»Haben Sie irgendetwas über ihren Verbleib herausgefunden?«, fragte sie hoffnungsvoll.

Er senkte den Blick. »Eigentlich darf ich Ihnen das nicht sagen.«

So glücklich Claire auch war, ihn zu sehen, wurde sie plötzlich doch wütend. »Zur Hölle mit Ihrem Pflichtbewusstsein!«, brach es aus ihr hervor.

Er senkte den Blick noch tiefer, und sie nagte an ihren Lippen. »Entschuldigen Sie, ich wollte nicht so unbeherrscht sein.«

Unwillkürlich trat er auf sie zu und nahm ihre Hand. Seine war ebenso warm wie groß und schloss sich um ihre. »Ich bin mir sicher, dass Sie schreckliche Ängste ausstehen. Aber glauben Sie mir, es wird alles getan.«

»Das genügt mir nicht! Ich will selbst etwas tun!«

»Aber das ist nicht möglich.«

»Doch!«, bestand sie. »Ich will selbst durchs Land reisen und sie suchen. Wer weiß – vielleicht kann ich mehr in Erfahrung bringen als bewaffnete Männer in Uniform, die den meisten Menschen doch viel zu sehr Furcht und Respekt einflößen, um sie zum Sprechen zu bringen.«

»Aber …«

»Nichts aber!« Sie stampfte auf. »Ich bin fest entschlossen! Wenn Sie sich Sorgen um mich machen, kommen Sie eben mit mir.«

Der Entschluss war ganz spontan gereift, doch nun, da sie ihn ausgesprochen hatte, gab es kein Zurück.

»Aber …«, setzte erneut an.

Ihr war selbst ein wenig mulmig zumute, doch das wollte sie sich nicht anmerken lassen. »Teufel noch einmal, nun hören Sie auf, mir zu widersprechen!«, rief sie.

»Nicht schon wieder fluchen!«, bat er sie bestürzt, um kleinlaut hinzuzufügen: »Ich helfe Ihnen ja!«

Sie musste wider Willen lächeln. Und trotz ihrer Sorge um Valeria empfand sie tiefe Freude, als er dieses Lächeln auf seine ihm eigentümliche, etwas schüchterne Art erwiderte.

 

Sie brachen am nächsten Tag frühmorgens auf. Claire hatte kurz überlegt, allen zu verschweigen, was sie plante, und nur einen Brief zu hinterlassen, aber dann hatte ihr schlechtes Gewissen sie davon abgehalten. Ihr Vater machte sich schon genug Sorgen, sie wollte ihm keine weiteren bereiten.

Natürlich regte sich sofort sein Protest. Er sah zwar ein, wie wichtig es ihr war, etwas zu tun, anstatt zu warten, bestand jedoch darauf, mitzukommen und sie auf der Suche nach Valeria zu unterstützen.

»Nein, du musst hierbleiben, falls eine Botschaft von den Entführern kommt«, entgegnete Claire. »Und schließlich bin ich nicht allein.«

Als sie ihm Luis vorstellte, erweckte sie zunächst das Misstrauen ihres Vaters, aber Luis überzeugte mit tadellosem Aufzug, festem Händedruck und dem mit ernster Miene vorgetragenen Versprechen, gut auf Claire aufzupassen. Auch Carl-Theodor schien auf Anhieb zu erkennen, was Claire schon beim ersten Treffen aufgefallen war – dass Luis Silveira ein überaus korrekter, pflichtbewusster Mann war.

»Der Polizeidirektor selbst hat mich auf Wunsch von Señor de la Vegas vom Dienst freigestellt, damit ich Ihre Tochter begleiten kann«, erklärte Luis.

»Meinetwegen«, gab Carl-Theodor schließlich widerstrebend nach, wandte sich dann aber noch einmal an die Tochter. »Ich verstehe ja, dass du die Ungewissheit nicht länger erträgst«, ermahnte er eindringlich. »Aber was immer du tust, bring dich nicht in Gefahr!«

»Du weißt doch, Vater – von uns beiden war es im Zweifelsfall immer Valeria, die sich in Gefahr brachte, niemals ich.« Claire versuchte zu lächeln, aber stattdessen stiegen ihr Tränen in die Augen.

Sie verließen Montevideo über die Altstadt. Die Straße, auf die man auf Höhe der Markthalle abbog, führte über einen steilen, kahlen Felshang zu einer Sandebene hin. Hier wurden öfter die Pferderennen veranstaltet, die Julio de la Vegas so liebte, doch heute war der Platz verwaist. Auf dem sandigen Küstenrand standen aneinandergereiht einfache, heruntergekommene Häuser, ein Großteil davon Schankstuben. Morgens waren sie zwar allesamt verschlossen, dennoch hing der unangenehme Geruch nach Branntwein in der Luft, den auch die salzige Brise, die vom Meer her wehte, nicht vertreiben konnte.

Claire hatte eine Kutsche bestiegen – eine sogenannte Diligence: Es war ein solide gebauter Wagen mit Cabriolet, Coupé und Rotunde, in dem eigentlich zwölf Personen Platz fanden, der nun aber nur zur Hälfte besetzt war. Luis ritt neben der Kutsche her.

Claire blickte häufig aus dem Fenster und suchte seinen Blick, doch er gab vor, nur auf den Weg zu achten, und sie betrachtete ihrerseits mit gewisser Neugierde die Landschaft. Das Meer spiegelte den Cerro de Montevideo, in der Ferne lag die von Gischt umtoste kleine Isla dos Ratos. Auf das flache Sandufer folgte eine hohe Sandterrasse, und hier nahm eine gerade Straße ihren Anfang, die zur Vorstadt von Montevideo führte. Etwa eine Stunde nach ihrem Aufbruch erreichten sie die Landhäuser mit den üppigen Gärten, Quintas genannt, wo die Reichen ihren Sommersitz hatten. Manche waren halb verfallen, andere neu erbaut; die Wege, die sie verbanden, waren staubig und voller Sand. Claire erinnerte sich, dass sich auch Julio des Besitzes eines solchen Hauses gerühmt und Leonora einen Ausflug dorthin in Aussicht gestellt hatte, doch nun war alles anders gekommen.

Claire seufzte. Wie gerne wäre sie mit Valeria hier! Wie gerne würde sie mit ihr dieses fremde Land erkunden!

Auf das letzte Haus folgte eine öde, mit niedrigem Gras bewachsene, baumlose Ebene, wo nichts als Unkraut wie Fenchel und Kardendistel wuchs. Scharen von rotbrüstigen Staren stoben in die Luft, wenn ihr Gefährt vorbeirollte, große Herden Rindvieh und Pferde glotzten ihnen nach. Der Großteil des Landes lag brach, nur selten stießen sie auf kleine Gehöfte, an denen sich eingezäunte Flächen anschlossen – Gemüsegärten, in denen Erbsen, Schnittbohnen und Kartoffeln, Kohl, Salat und Mohrrüben angebaut wurden.

So farblos, grau und eintönig das Land auch anmutete – Claire war von der Weite und Einsamkeit fasziniert, doch alsbald wurde ihr der Blick aus dem Gefährt verleidet: In der Nähe der Stadt hatten sie noch Straßen befahren, doch hier verkamen sie zu immer schmaleren Wegen, von denen die meisten mit Gras überwuchert waren. Auch wenn sie nur selten auf Hindernisse stießen, die es mühsam zu überrunden galt – große Äste und Steine –, war der Boden uneben. Es rüttelte entsetzlich, Claire musste sich festhalten, um nicht durch die Kutsche zu fliegen, und ihr Gesäß fühlte sich bald an, als hätte sie eine Tracht Prügel erhalten. Die Diligence war zwar schneller als ein Ochsenkarren oder die Reisechaise – so legte man mit diesem den Weg von Montevideo nach Mercedes, einer größeren Stadt im Westen, in drei Tagen zurück –, aber dafür furchtbar unbequem.

Zunehmend unerträglich wurde überdies das Geschrei, das sie auf der Reise begleitete: Insgesamt sieben Pferde zogen das Gefährt – vier in der ersten Reihe nebeneinander, zwei davor und eins an der Spitze –, und während sie schaumspuckend trabten, wurden sie von einem Knecht, der auf dem vordersten ritt, mit stetem Rufen angetrieben. Er zögerte auch nicht, mit der großen Hetzpeitsche nahezu pausenlos auf die Tiere einzudreschen.

Claire war inzwischen darüber erbost, wie schlecht man mit den Pferden umging, umso mehr, als sie bei ihrer ersten Rast sah, dass die Tiere Schaum vor dem Maul hatten.

»Wie kann man Pferde so behandeln?«, fragte sie empört. »Es sind so schöne, edle Tiere!«

»Die meisten Menschen hier in der Banda Oriental sind gnadenlos«, sagte Luis, »man kennt kein Mitleid mit einem Tier.«

Offenbar war das bei ihm anders. Das Fell des Pferdes, das er ritt, glänzte; er gab ihm zu trinken, redete behutsam auf das Tier ein und streichelte über seine Mähne – ein Anblick, bei dem Claire unwillkürlich lächeln musste.

Trotz aller Empörung war sie froh, dass es bald weiterging. Sie legten pro Stunde zwei Leguas zurück, etwa zwei deutsche Meilen, und kamen so bald zur ersten Poststation: Hier wurden die Pferde ausgewechselt, und in einem Haus konnte man übernachten und Abendbrot und Frühstück einnehmen.

Claire begann, jeden Fremden, dem sie begegnete – den Wirt ebenso wie die Gäste –, sofort nach Valeria zu befragen. Nicht dass sie damit rechnete, dass die Entführer hier haltgemacht hätten, aber Luis hatte ihr erklärt, dass das Leben auf dem Land so einsam war, ein jeder sich über Abwechslung freute und noch der nebensächlichste Tratsch weitergetragen wurde. Sollte den Bauern auf den Gehöften etwas Ungewöhnliches aufgefallen sein, hatte es sich sicher bis hierher herumgesprochen. Doch auf den ersten beiden Raststationen wurde ihre Hoffnung enttäuscht. Niemand hatte etwas von einer Frau gehört, auf die Valerias Beschreibung passte, niemand auch eine Truppe Männer gesehen, die schweres Geschütz transportierten.

Am Nachmittag kamen sie an einigen Ranchos vorbei – Verkaufsständen, in denen Kleiderstoffe und Pferdegeschirre, Acker- und Landbaugeräte, Teller und Gläser, Schnaps, Wein und trockene Süßwaren angeboten wurden.

Wieder fragte Claire aufgeregt nach ihrer Cousine – wieder konnte ihr niemand etwas sagen.

Obwohl sie darauf gefasst gewesen war, nicht gleich am ersten Tag etwas über den Verbleib ihrer Cousine herauszufinden, war sie bitter enttäuscht.

»Du darfst die Hoffnung nicht verlieren«, murmelte Luis.

Am liebsten wäre sie die ganze Nacht weitergefahren, aber die Kutsche machte bei einer der Poststationen Rast, und Luis überzeugte sie davon, dass sie sich unbedingt ausschlafen musste, um bei Kräften zu bleiben. Er organisierte eine winzige Kammer, wo sie allein die Nacht verbringen konnte.

»Und wo schläfst du?«, fragte sie.

»Draußen bei den Pferden.«

Allein um ihm eine Freude zu machen, langte sie beim Abendbrot kräftig zu. Wie überall auf dem Land gab es jede Menge Rindfleisch, das scharf angebraten wurde und saftiger war und würziger schmeckte als jeder Braten, den Claire je in Deutschland gegessen hatte. Später zog sie sich zurück und versuchte zu schlafen. Es glückte nur für wenige Stunden, schon beim ersten Morgengrauen fuhr sie auf und wurde von Unrast gepackt. Sie kämmte sich, kleidete sich an und lief hinaus zu den Pferden.

Luis schlief auf dem bloßen Boden, nutzte seinen Sattel als Kopfkissen und hatte sich mit einem Poncho zugedeckt. Im Schlaf hatte sich sein strenger Zug um den Mund entspannt; er wirkte sanft und verletzlich. Eine Strähne seines Haars war in die Stirn gefallen und verbarg das übliche Runzeln.

Claire kam nicht umhin, ihn liebevoll zu betrachten. Sie wusste so gut wie nichts über ihn und hatte dennoch das Gefühl, ihn seit Ewigkeiten zu kennen und ihm blind vertrauen zu können. Sein Anblick schenkte ihr mehr Zuversicht als das köstlichste Essen und das weichste Bett.

Allzu bald schlug er seine Augen auf und fuhr hoch. »Du bist schon wach?«, fragte er erschrocken, und prompt wurde seine Miene wieder distanziert.

»Die Diligence ist schrecklich unbequem«, klagte sie, »mir tun sämtliche Glieder weh – und wir kommen auf diese Art auch nicht schnell genug voran. Besser wäre es, ich reite wie du. Du kannst doch sicher ein Pferd für mich beschaffen?«

Er blickte zweifelnd. »Aber das würde bedeuten, dass wir beide ganz allein unterwegs wären. Und das gehört sich eigentlich nicht.«

Sie schnaubte. »Pah! Ich habe andere Sorgen als eine fehlende Anstandsdame. Du musst auch keine Angst haben, ich werde dir schon nicht zu nahe treten.«

»Ich mache mir nicht um mich Sorgen, sondern …«

Sie hob die Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. »Die Einzige, um die wir uns Sorgen machen sollten, ist Valeria. Sie ist nicht mit einem Mann allein unterwegs, sondern mit einer ganzen Horde.«

Sie erschauderte, als sie sich das vorstellte, und Luis legte ihr flüchtig seine Hand auf die Schulter. Ehe sie die Berührung genießen konnte, zog er sie schon wieder fort.

»Kannst du überhaupt reiten?«, fragte er skeptisch.

»Schwimmen kann ich etwas besser«, erwiderte sie.

Röte stieg in sein Gesicht. Offenbar erinnerte er sich an die erste Begegnung, doch er ging nur ohne ein weiteres Wort davon, um ein Pferd für sie zu organisieren.

Wenig später kehrte er wieder, jedoch nicht mit einem Tier, sondern in Begleitung eines Knaben.

»Soll ich etwa auf ihm reiten?«, fragte Claire spöttisch. Doch dann bemerkte sie Luis’ ernsten Gesichtsausdruck und betrachtete den Knaben genauer. Ein Schrei entfuhr ihr.

»Du hast Valeria gesehen!«

Der Knabe blieb stumm, Luis jedoch nickte. »Es scheint so zu sein. Ich habe heute Morgen noch einmal alle Gäste nach Valeria befragt – dieser Junge ist spätabends mit seinem Vater hier angekommen.«

Claire beugte sich zu ihm und packte ihn an den Schultern. »Wer bist du? Wo hast du sie gesehen?«

Der Knabe antwortete sehr zögerlich und einsilbig, und es dauerte Ewigkeiten, bis Claire die wichtigsten Informationen verstand. »Stammen aus dem Landesinneren … leben von der Schafzucht … sehr einsam, besonders in der Nacht … zwei Mal im Jahr geht’s nach Montevideo, um Wolle zu verkaufen.«

Das war nun offenbar der Fall.

»Doch vor eurem Aufbruch hast du Valeria gesehen!«, rief Claire aufgeregt.

Wieder dauerte es lange, bis der Knabe stammelnd antwortete: »Mein Vater schlief schon. Ich fand keine Ruhe … stand am Fenster.« Ein kurzes Zögern folgte, der Knabe sah Luis ratsuchend an, und erst als der aufmunternd nickte, berichtete er der immer ungeduldigeren Claire von der Frau im hellen Kleid, die sich dem Haus genähert hatte, im letzten Moment aber von einem Verfolger eingeholt und wieder verschleppt worden war.

»Gütiger Himmel!« Claire wurde heiß und kalt zugleich.

»Wir können nicht vollends sicher sein, dass es Valeria war«, warf Luis skeptisch ein.

»Wie viele Frauen sind wohl mit Männern im Landesinneren unterwegs?«

»Der Knabe hat nur einen Mann gesehen.«

»Aber er hat von einem hellen Kleid gesprochen! Und genau so eins trug Valeria in der Oper, ehe sie entführt wurde! O mein Gott, wir müssen sofort dorthin.«

»Das Ganze ist vor zwei Tagen passiert. Wenn es tatsächlich Valeria war, die der Knabe gesehen hat, haben sie die Männer längst von dort fortgebracht.«

»Trotzdem … es ist ein erster Anhaltspunkt.«

Endlich widersprach Luis nicht länger. »Ich werde Verstärkung anfordern und dorthin aufbrechen. Es wäre besser, wenn du einstweilen hierbliebest.«

Er senkte den Kopf, als rechnete er schon mit Widerstand, und tatsächlich begehrte Claire auf: »Ich denke gar nicht daran! Natürlich komme ich mit! Verschaffst du mir nun endlich ein Pferd?«

Luis seufzte, verkniff sich aber die Worte, die ihm offenbar auf den Lippen lagen, und ging schweigend fort.

Während er ein Pferd besorgte, bestürmte Claire den Knaben nach weiteren Details. Er verriet nichts, was sie nicht schon wusste, aber mit jedem seiner gestammelten Worte wuchs ihre Bestürzung.

Valeria schien so kurz davor gewesen zu sein, sich ins Gehöft zu retten – und war im letzten Augenblick gescheitert. Sie konnte nur hoffen, dass jene Ausgeburten der Hölle, mit denen sie unterwegs war, ihren Fluchtversuch nicht allzu streng bestraft hatten.

 

Valentín Lorente hatte Reisen eigentlich immer geliebt – tagsüber mit dem Pferd zu verschmelzen und den Wind im Gesicht zu spüren und abends am Lagerfeuer zu sitzen und in die knisternden Flammen zu starren. Als Kind war er oft mit seinem Vater und Pablo unterwegs gewesen, und auch wenn es manchmal hart war, dass der Vater von den Kindern gleiche Zähigkeit abverlangte wie von erwachsenen Männern – weder hatte er ihnen häufigere Pausen zugestanden noch ein weicheres Nachtlager –, so hatte er damals viel gelernt: über das Land, die Menschen – und über Pferde. So genügte es, abends die Madrina, die Leitstute, anzubinden, während die übrigen Pferde und Maulesel frei weiden durften, würden sich diese doch nie zu weit von ihr entfernen.

Und wie sehr er sich nach dem langen Ritt, der so hungrig machte, stets auf die erste richtige Mahlzeit des Tages gefreut hatte! Dann wurde ein Stück Braten aus frischem oder getrocknetem Fleisch mit einem Stock durchbohrt und über das Feuer gesteckt. Und während das Fleisch briet und das Fett zischend in die Flammen tropfte, wurde die Caldera, ein kleiner Wasserkessel, auf die Glut gesetzt, um Matetee zuzubereiten, der später herumgereicht wurde. Wenn Valentín dieses Gefäß entgegennahm, hatte er sich immer sehr erwachsen gefühlt. Zum Fleisch hatte es zwar kein Brot gegeben, aber Maiskuchen, den seine Mutter gebacken hatte, und obwohl der ohne Salz gemacht war und darum eigentlich fade schmeckte, konnte er sich kein köstlicheres Mahl vorstellen. Es gab kein besseres Gewürz als den Geschmack des Abenteuers.

Nun lag ihm das Essen stets wie ein Stein im Magen. Vielleicht war es auch gar nicht das Essen, sondern die schweren Gedanken, die ihn umtrieben. Als Kind hatten Pablo und er oft gestritten, und dass sie später gemeinsam in den Krieg gezogen waren, hatte es nicht besser gemacht, doch nie schien die Kluft so tief wie jetzt. Nie hatte Valentín auch gesehen, wie Pablo eine Frau geschlagen hatte.

Valerias Gesicht war am Tag nach ihrem Fluchtversuch geschwollen und blau verfärbt gewesen. Mittlerweile erinnerte zwar nur noch der etwas grünliche Ton der Haut an die Verletzung, und sie schien keine Schmerzen zu leiden, aber ihm entging nicht, wie erschöpft und verzagt sie war. Eben schlug sie wild nach den Moskitos um sich, die um ihrer aller Köpfe surrten. Seine eigene Haut war so gegerbt, dass er die Stiche kaum noch spürte – ihre jedoch so weich und dünn, dass das stete Jucken zur Qual wurde.

Valentín wartete ab, bis sie eine Rast einlegten, hockte sich dann zu ihr und bot ihr eine seiner Zigaretten an.

»Was soll ich damit?« Ihre Augen blickten wie so oft flehentlich auf ihn, doch ihre Stimme war kalt.

»Der Rauch vertreibt die Tiere«, erklärte er knapp.

Sie bedankte sich nicht, aber als er ihr Feuer gab, nahm sie einen Zug. Prompt bebten ihre Nasenflügel, und wenig später musste sie schrecklich husten.

»Ich hätte dich warnen müssen«, entschuldigte er sich, »In Paraguay lässt man die Tabakblätter länger am Stengel reifen, die Zigaretten sind darum viel stärker, als du sie gewohnt bist.«

Valeria kämpfte gegen den Husten an. Obwohl ihr Tränen in die Augen gestiegen waren, zog sie trotzig ein zweites Mal an der Zigarette. Wieder begann sie zu husten, doch sie schluckte beharrlich, und bald rauchte sie mit dem stoischen Gesichtsausdruck eines Mannes.

Die Moskitos quälten fortan die Pferde, nicht mehr sie, doch Valentín war nicht lange froh, dass er sie zumindest von diesem Ungemach befreit hatte.

Wäre ich ein ganzer Mann, dachte er, würde ich sie nicht bloß vor Insekten, sondern vor meinem Bruder schützen …

Aber wie sollte er sich ausgerechnet gegen den Mann stellen, der die Truppe zusammenhielt, der ihn im Krieg manches Mal vor dem Tod bewahrt hatte und der der Einzige war, mit dem er die Erinnerung an seine Familie teilte – und an das Leben vor dem Krieg?

Nach der kurzen Rast ritten sie weiter, und als sich die Nacht über das Land senkte, suchten sie sich eine kleine Baumgruppe, um ihr Lager aufzuschlagen. Valeria aß fast nichts – wahrscheinlich hatten ihr die Zigaretten den Appetit genommen – und er selbst kaum mehr, weil ihm das schlechte Gewissen ihr gegenüber die Kehle zuschnürte.

Wenigstens musste er nicht mehr lange die grünlichen Flecken in ihrem Gesicht mustern. Wie immer währte die Dämmerung nur kurz, schon verschluckte der schwarze Himmel die letzten mageren Sonnenstrahlen. Der Schein des Feuers reichte nicht weit, und er bereitete sich sein Nachtlager fast im Stockdunkeln. Wie immer legte er zuerst eine Ochsenhaut auf den Boden, die tagsüber den Proviant bedeckte, machte aus dem Sattel ein Kopfkissen und legte seinen Poncho ab, um ihn als Bettdecke zu nutzen. Er wollte sich schon hinlegen und zudecken, als er stutzte. In den letzten Tagen hatte er nicht darauf geachtet, wie sie schlief, doch nun sah er Valeria zitternd an einem Baum hocken. Tagsüber vermochte ihr zerrissenes Kleid sie kaum vor der Sonne zu schützen – und nachts nicht vor der Kälte. Er erhob sich, kniete sich zu ihr und reichte ihr den Poncho. Obwohl es finster war und er nicht in ihrer Miene lesen konnte, spürte er, dass sie sein Angebot am liebsten zurückgewiesen hätte.

»Nimm ihn!«, befahl er. »Du frierst sonst die ganze Nacht und kannst nicht schlafen, und dann wird morgen der Weiterritt zur Qual.«

Sie knurrte ein unwilliges Danke.

Während sie sich in den Poncho kuschelte und bald eingeschlafen war, starrte er stundenlang auf den Sternenhimmel und konnte kein Auge zutun.

Wohin führt das alles nur?, dachte er.

Es hatte wie ein großes Abenteuer geklungen, als Pablo vor einigen Wochen vorgeschlagen hatte, Waffen aus Uruguay zu stehlen. Gewiss, dieses Unternehmen war lebensgefährlich, aber nach dem Grauen der letzten Jahre war ihm alles lieber, als zu kämpfen und Männer zu ermorden. Wie hätte er auch ahnen können, dass er am Ende dabei mitmachen musste, ein unschuldiges Mädchen zu entführen?

Seine Gedanken wurden immer schwerer, seine Lider gottlob auch. Irgendwann sank er in einen unruhigen Schlaf.

Am nächsten Morgen stand er als Erster auf, um Matetee anzusetzen und die Pferde feucht abzureiben. Wie so oft waren sie in der Früh blutüberströmt, waren sie doch in der Nacht von Fledermäusen angegriffen worden. Die anderen schliefen noch, aber Valeria war von den Geräuschen erwacht, rieb sich erst schlaftrunken die Augen und beobachtete ihn dann. Die blauen Flecken waren noch mehr verblasst. Keine Verachtung stand mehr in ihrem Blick – nur die flehentliche Bitte: Lass mich frei!

Valentín wandte sich rasch ab und fühlte sich unwohler als je zuvor. Nie hatte er jede Regung ihres Körpers so deutlich gespürt wie in den kommenden Stunden. Seit Pablo sie fast totgeschlagen hatte, ritt sie nicht mehr auf dessen Pferd, sondern auf seinem. Und während er bisher hartnäckig ignoriert hatte, wie zart ihr Leib war, wie weich ihre Haut, setzte ihm heute jede Berührung zu. Obwohl ein scharfer Wind wehte, wurde ihm immer heißer. Wäre er allein unterwegs gewesen, er hätte sich hoffnungslos verirrt, da er keinen Kopf mehr für die Umgebung hatte.

Als Pablo plötzlich verkündete, dass die Grenze nach Argentinien nicht mehr weit war, sie von dort bald wieder heimatlichen Boden betreten würden, und er laut von Paraguay zu schwärmen begann, konnte er sich nicht einmal richtig freuen.

Valeria hingegen verkrampfte sich.

»Verfluchtes Land!«, zischte sie.

Die anderen hatten sie nicht gehört – Valentín aber nur zu deutlich. Erst kniff er die Lippen zusammen, weil es ihm ratsamer schien, sie zu missachten, doch schließlich platzte die Frage aus ihm heraus: »Warum ist das Land verflucht?«

Valeria drehte ihren Kopf etwas zu ihm um. »Nun, es wird von einem Teufel regiert«, erklärte sie trotzig.

»Und das bedeutet, dass das ganze Land verflucht ist?«

»Dann leugnest du es also nicht, dass euer Diktator Francisco Lopez ein Teufel ist?«

Er ahnte, dass es besser wäre, sich nicht auf ein Streitgespräch einzulassen, aber mit ihr zu reden, schien erträglicher, als schweigend zu reiten und bei jedem Schritt des Pferdes nur allzu deutlich ihren Körper zu spüren.

»Selbst wenn er es wäre«, erwiderte er, »ihm allein ist dieser Krieg ganz gewiss nicht anzulasten.«

»Wem dann?«, begehrte sie auf. »Mein Großvater hat gesagt, er sei größenwahnsinnig. Ginge es nach ihm, sollte Paraguay das bedeutendste und mächtigste Land von ganz Südamerika werden, dem sich alle anderen La-Plata-Länder unterwerfen. Er würde dann Präsident werden, nein, mehr noch, ein Herrscher vom Status des französischen Kaisers.«

Wieder konnte er nicht widersprechen – jedoch etwas hinzufügen: »Du darfst nicht vergessen, dass Francisco Lopez auch viel für sein Volk tut. Er will eine Bibliothek bauen, eine Oper und ein Theater, gepflasterte Avenuen, Parks mit hohen Bäumen …«

Sie schien ihm gar nicht recht zuzuhören, ihre Miene wurde immer finsterer. »Mein Großvater sagt, dass sich Lopez und seine Familie wie Monarchen benehmen!«

»Na und?«, gab Valentín zurück. »So schlimm kann es unser Volk mit ihm als Herrscher nicht getroffen haben – wäre Paraguay vor dem Krieg sonst das reichste Land dieses Kontinents gewesen und seine Bevölkerung regelrecht überhäuft von den Gaben des Wohlstands?«

Nun geriet Valeria ins Nachdenken. Verwirrt blickte sie ihn an.

Er konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. »Was weißt du eigentlich über Paraguay, außer dass dort der Teufel regiert?«, fragte er spöttisch.

Beschämt senkte sie ihren Blick, offenbar, um nicht zuzugeben, dass sie wohl nichts weiter über das Land wusste als das, was andere ihr gesagt hatten, dass sie sich folglich nie selbst ein Bild gemacht und kritische Fragen gestellt hatte.

Eine Weile wollte es Valentín beim Schweigen belassen, doch ihre Vorwürfe waren ihm Stachel im Fleisch genug, um sich ausführlich zu rechtfertigen: »Ja, Paraguay war bis vor kurzem ein reiches Land. Mag sein, dass wir uns dem Außenhandel verschlossen haben, aber nicht, weil wir so rückständig sind, sondern weil die Güter der einheimischen Fabriken durch Zölle geschützt werden sollten. Unter Lopez muss keiner Hunger leiden, es gibt ein gut ausgebildetes Heer und ein geordnetes Schulwesen. In ganz Paraguay wirst du kein Kind finden, das nicht lesen und schreiben kann. Wir haben nicht nur ein Telegraphennetz und eine Eisenbahnlinie, sondern eine beträchtliche Anzahl Fabriken, wo Töpferwaren, Schießpulver sowie Ponchos, Papier, Tinte und Baumaterial hergestellt werden. Gewiss, die Nachbarländer haben das auch – aber sie alle stehen in der Schuld der Briten. Wir nicht. Und es ist auch nicht so, dass wir wie Gefangene im eigenen Land gehalten werden, wie oftmals behauptet wurde. Viele junge Universitätsstudenten werden dank Stipendien von Lopez nach Europa geschickt. Wenn der Krieg nicht ausgebrochen wäre, wäre ich wohl selbst darunter.«

Er konnte es nicht verhindern, dass seine Stimme, eben noch hart und stolz, einen sehnsuchtsvollen Klang angenommen hatte. Bis jetzt hatte Valeria so getan, als hätte sie nicht zugehört, doch nun kam sie nicht umhin, sich ihm erneut zuzuwenden und ihn zu mustern. Sie hatte wohl nicht damit gerechnet, dass unter den wilden Männern gebildete waren. »Du tust ja gerade so, als wäre deine Heimat das Paradies.«

»Verglichen mit Uruguay, ist sie das auf jeden Fall. Euer Land ist geschwächt. Ständig wechseln die Präsidenten, und ein tiefer Riss geht durch die Gesellschaft. Hätten die Briten es nicht verhindert, es wäre schon des Öfteren ein Bürgerkrieg zwischen Colorados und Blancos ausgebrochen. Warum gibt es bei euch viel weniger Schulen als bei uns? Wieso besucht an manchen Orten nur ein Kind von drei Dutzend die Schule?«

Valeria runzelte die Stirn. »Dennoch, Lopez hätte sich nicht in uruguayische Angelegenheiten einmischen sollen. Das war doch der Beginn des Krieges.« Trotz der entschlossenen Worte wirkte sie etwas unsicher.

»Die Einzigen, die sich nicht hätten einmischen sollen, sind die Engländer«, knurrte er.

»Was haben denn die Engländer mit dem Krieg zu tun?«, fragte sie erstaunt.

»Nun, alles. Die britischen Kaufleute befürchteten, dass unser Beispiel – nämlich wirtschaftlich ganz und gar unabhängig zu sein – Schule macht. Nicht nur, dass wir keine Waren exportieren, wir kaufen auch keine vom Ausland, folglich von den Briten. Auf diese Weise sind wichtige Absatzmärkte verlorengegangen – ob für Matetee und Quebracho-Holz, auch Mahagoni und andere seltene Holzarten aus dem Chaco. Kein Wunder, dass die Briten auf militärische Gewalt setzen. Sie machen sich zwar nicht selbst die Hände schmutzig, aber womit, glaubst du, finanziert die Tripelallianz den Krieg? Durch Anleihen bei englischen Banken. Und warum, glaubst du, sind Argentinien und Brasilien in den Krieg eingestiegen? Weil sie bei England stark verschuldet waren. Im Grunde führen wir nicht mit ihnen Krieg, sondern mit den Kaufleuten von Liverpool, Bristol, London und Glasgow. Nur dank der Briten werden der Tripelallianz Waffen und Munition so schnell nicht ausgehen.«

Valeria wirkte nun regelrecht bestürzt. »Das … das kann ich nicht glauben.«

»Es wurde schon ausgehandelt, wie man nach dem Krieg das Land aufteilt. Die Grenzmächte erhoffen sich weite Landstriche im Osten und Süden – und die britischen Handelshäuser gieren nach den Rohstoffen Paraguays.«

Er überlegte, was er ihr noch entgegenhalten konnte, sah dann aber ein, dass es weiterer Argumente nicht bedurfte. Sie starrte ihn in einer Mischung aus Ratlosigkeit und Betroffenheit an, ehe sie kleinlaut murmelte: »Das wusste ich nicht.«

Fast war er enttäuscht, dass der Widerspruch, gegen den er sich schon gewappnet hatte, ausblieb. Widerwillig musste er sich eingestehen, dass es ihm durchaus imponierte, wie ernst sie ihn nahm, anstatt ihm trotzig Parolen der Propaganda an den Kopf zu schmeißen. Sie hasste ihn bestimmt nach all dem, was sie ihr angetan hatten, doch das hinderte sie nicht daran, ihren Verstand zu benutzen. Er hatte gelehrtere, vernünftigere Männer erlebt, die sich ungleich schwerer taten, Gefühle hintanzustellen.

Sein Bruder Pablo hätte nicht einmal geglaubt, dass der Himmel blau und das Feuer heiß war, wenn es ein Feind behauptet hätte.

Pablo war es auch, der nun zu ihm aufschloss: »Was hast du mit ihr zu schwatzen?«, brummte er ärgerlich.

Für gewöhnlich hätte Valentín klein beigegeben. Doch noch erhitzt vom Eifer des Gesprächs, hielt er ihm trotzig entgegen: »Du gibst hier die Befehle, Bruder – aber mit wem ich worüber rede, ist allein meine Sache.«

»Schön und gut, aber lass dir von ihr kein schlechtes Gewissen machen.«

»Ich lass mir bestimmt nichts einreden«, gab Valentín barsch zurück. »Denn ich kann meinen Kopf zum Denken benutzen. Das solltest du auch und dringend überlegen, wie wir weiter vorgehen.«

»Das habe ich doch schon beschlossen. Wir bringen unser Goldvögelchen nach Asunción, was denkst du denn?«

»Und dort? Wo soll sie leben, während wir die de la Vegas’ erpressen? Wer sorgt für sie?«

»Darüber also machst du dir Gedanken? Dass es dem Mädchen an nichts fehlt – und nicht etwa, wie dringend unsere Soldaten die Waffen brauchen?«

Valentín blickte kurz zu Boden, sah dann jedoch entschieden auf. »Ich stelle mich nicht gegen deinen Plan, aber ihr wird kein Haar gekrümmt.«

Pablo schnaubte verächtlich. »Was wir in Asunción mit ihr machen, werden wir später entscheiden. Noch müssen wir überhaupt dort ankommen, die Reise dorthin ist lang und anstrengend. Wollen wir doch mal sehen, ob unser Püppchen das durchsteht und ob du sie heil durch alle Gefahren geleiten kannst.«

Er gab seinem Pferd die Sporen und stob davon, ehe Valentín die Gelegenheit hatte, etwas dazu zu sagen.

 

Etwas hatte sich nach dem Gespräch mit Valentín verändert, obgleich Valeria nicht sicher war, was genau. Auch wenn sie nicht trotzig auf ihren Argumenten beharren konnte, sondern ihm in manchem recht geben musste, war sie nicht bereit, ihm und den anderen zu verzeihen. Allerdings konnte sie nun nicht mehr verhindern, sich Gedanken über die Männer zu machen: Nicht nur – wie bislang – darüber, wie sie hießen und wie treu sie zu Pablo standen, sondern auch, was genau sie antrieb und wie viel Menschlichkeit hinter der rauhen Schale stecken mochte. Bei Valentín war es wohl mehr, als sie gedacht hatte, und sie musste sich selbst ermahnen, sich davon nicht milde stimmen zu lassen. Was nützte ihr, einen verletzlichen Kern zu ahnen, wenn er sie nicht freiließ!

Gegen Abend verbat sie sich strikt, sich weiterhin den Kopf darüber zu zerbrechen, und als sie das Nachtlager aufschlugen, senkte sie ihren Kopf und stellte sich ihm gegenüber blind. Einmal mehr war auf ihre Erschöpfung Verlass, und sie schlief rasch ein, doch anders als in den vorangegangenen Nächten erwachte sie bald wieder und richtete sich auf.

Sowohl das Knacken des brennenden Holzes hatte sie geweckt als auch ein Blick, der auf ihr ruhte, nicht Valentíns Blick, wie sie zunächst vermutet hatte, sondern der von Jorge, der heute Nachtwache hielt und sie nachdenklich betrachtete. Er wirkte nicht eigentlich drohend … eher abschätzend, dennoch fühlte sie sich zunehmend unwohl.

Anstatt das Unbehagen einzugestehen, sah sie ihm trotzig in die Augen.

»Ich werde nicht noch einmal zu fliehen versuchen«, erklärte sie.

Jorge blickte sich um, und als er sich sicher war, dass alle anderen schliefen, sagte er zu ihrer Überraschung plötzlich: »Eigentlich schade.«

Valeria glaubte, sie hätte sich verhört. »Aber …«

Jorge erhob sich langsam und ließ sich knapp neben ihr nieder. Seine Nähe war ihr unangenehm, am liebsten wäre sie zurückgewichen, aber sie beherrschte sich, und tief in ihr erwachte neue Hoffnung.

»Ich bin ungeduldig«, sagte er plötzlich. Valeria konnte mit diesen Worten nichts anfangen und wartete schweigend, dass er fortfuhr. Er tat es sehr bedächtig … zögerlich. »Ich meine, was Pablos Plan anbelangt, von dem halte ich nicht viel … Es wird viel Zeit vergehen, bis wir Asunción erreichen, und von dort aus ist es sehr schwierig, Verhandlungen mit deinem Großvater zu führen.«

Valeria ahnte, worauf er hinauswollte, war sich allerdings nicht sicher, ob er sie nur prüfen wollte. Sei’s drum – es war ihre einzige Chance.

»Du wärst bereit, mich zu meinem Großvater zurückzubringen, nicht wahr?«, sagte sie eifrig. »Und anstelle von weiteren Waffen würdest du mit Geld vorliebnehmen.«

Jorge schwieg vielsagend.

»Mein Großvater ist reich, sehr reich. Er würde bestimmt …«

Mit einer hektischen Bewegung schnitt er ihr das Wort ab. Sie hatte zu laut gesprochen, und erst als er wieder die anderen taxiert und festgestellt hatte, dass sie nicht erwacht waren, fügte er hinzu: »Das weiß ich bereits …«

Was er offenbar nicht wusste, war, wie er diesen Plan umsetzen sollte.

Valeria überlegte fieberhaft … Jorge schien nicht der Hellste zu sein, und um ihn dazu zu bewegen, ihr zur Flucht zu verhelfen, musste sie ihm einen Vorschlag unterbreiten. »Wenn du wieder einmal Nachtwache hältst so wie heute, dann könnten wir doch heimlich dein Pferd losbinden und fortschleichen. Bis die anderen wach sind, hätten wir längst einen Vorsprung …«

Jorge blickte zweifelnd. So weit hatte er wohl schon gedacht. Fraglich war, was danach kam.

»Hier gibt es jede Menge einsame Gehöfte … Du könntest mich an einem absetzen. Ich meine, ohne Pferd und ganz auf mich gestellt, würde ich es nie zurück nach Montevideo schaffen. Du hingegen kehrst dorthin zurück und verrätst meiner Familie meinen Aufenthaltsort nur gegen entsprechende Bezahlung. Bis sie mich dann tatsächlich gefunden haben, bist du längst über alle Berge.«

»Hm«, machte Jorge, ehe er nach längerem Zögern hinzufügte: »Es könnte klappen …«

Valeria sah in die dunkle Nacht. »Warum wollen wir es nicht gleich jetzt wagen?«

Jorge schüttelte den Kopf. »Besser, wir warten, bis wir kurz vor der argentinischen Grenze sind, wenn Pablo sich sicher fühlt.«

Er stand auf und hockte sich wieder an seinen Platz. Nicht länger starrte er Valeria an, sondern die Flammen. Sie selbst legte sich hin, konnte aber nicht wieder einschlafen. Was sollte sie nur davon halten?

Unwillkürlich wanderte ihr Blick zum schlafenden Valentín. Anders als Jorge hätte sie diesem sofort vertraut, und kurz überlegte sie, ihm von Jorges geplantem Verrat an der Truppe zu erzählen. Du Närrin!, schalt sie sich allerdings alsbald. Von ihm kannst du ein wenig Fürsorge erhoffen – keine echte Hilfe!

Auch wenn Valentín kein Ungeheuer wie sein Bruder war – wenn sie ihre Freiheit wiedererlangen wollte, tat sie gut daran, auf Jorge zu setzen.