40. Kapitel
Carlota bereute noch am selben Abend, was sie getan hatte. Warum nur, haderte sie mit sich, hatte sie sich nur wieder einmal von ihrer Wut hinreißen lassen, ihre Sachen gepackt, den Brief geschrieben und das Haus verlassen, anstatt nüchtern zu überlegen, was sie tun sollte? Gleiche Wut hatte sie oft im ärmlichen Alltag bei Valeria und Valentín überkommen, doch damals hatte es nicht viel gegeben, das sie zerstören konnte, bot das Leben doch nahezu nichts.
Nun aber hatte sie mit einem Schlag die mühsam errungenen und so genossenen Annehmlichkeiten aufgegeben, und zur Wut gesellte sich Furcht.
Vom Haus aus war sie zunächst ins kleine Gartenhäuschen geflohen, aber dort war ihr rasch kalt geworden, und das Zittern ihres Körpers war nicht gerade hilfreich, wenn es zu entscheiden galt, was sie nun tun sollte. Gewiss, sie könnte zu Nicolas nach Frankfurt gehen, aber der Weg dorthin war – insbesondere bei Nacht und Kälte – weit, und überdies wollte sie ihm nicht mit dem Eingeständnis gegenübertreten, dass sie sich vorschnell von ihren Großeltern losgesagt hatte, nun aber keinen Plan hatte, wie es weitergehen sollte. Ebenso wenig wollte sie ihn demütigen, indem sie ihm offen ins Gesicht sagte, dass ihr Großvater ihn nicht als geeignete Partie betrachtete. Das konnte er sich zwar auch selbst denken, aber ihr widerstrebte es, ihm solcherart die Verantwortung für ihr Leben aufzubürden und ihre zarte Liebe mit der Last ihres Opfers zu beschweren.
So verging Stunde um Stunde, in der sie zitternd auf und ab ging. Es wurde kälter, der Himmel schwärzer und ihre Sehnsucht nach ihrem gemütlichen Zimmer immer größer. Kurz war sie geneigt, ihren Trotz hinunterzuschlucken und Abbitte zu leisten, aber wann immer sie das Gespräch mit ihrem Großvater heraufbeschwor, erwachte ihr Stolz. Nein, sie konnte nicht klein beigeben!
Mit der Zeit sehnte sie sich nicht nur nach wohliger Wärme und Geborgenheit, sondern auch nach ihren Eltern. Gewiss, sie hatte sich so oft über sie geärgert, aber nun ahnte sie, was ihre Mutter angetrieben hatte, als die sich von ihrer Familie losgesagt hatte. Niemals, so war sie sich sicher, würde jemand wie Valeria auf einen Mann nur wegen seines niederen Rangs in der Gesellschaft herabblicken – im Gegenteil. Sie selbst hatte der Liebe zu ihrem Vater alles geopfert, und was Carlota bislang als Riesendummheit erschienen war, deren Zeche nicht zuletzt sie selbst zu bezahlen hatte, erschien ihr nun plötzlich heroisch und vorbildlich.
Nein, so schnell würde sie sich, die Tochter ihrer Eltern, nicht geschlagen geben!
Als der Morgen graute, zitterte sie noch immer, fasste aber einen Entschluss, und nachdem sie sich mehrmals umgeblickt hatte, verließ sie das Gartenhaus und machte sich in Richtung Stall auf. Sie wusste, dass die Dienstboten allesamt ihren Großeltern treu ergeben waren – aber bei einem konnte sie darauf hoffen, dass seine Bewunderung für sie die Loyalität gegenüber den Gothmanns übertraf: Moritz, der Kutscher, der sie stets hingerissen ansah, wann immer er ihr begegnete. Insgeheim fand sie, dass er mit seinen Glupschaugen einem Frosch glich, aber es hatte ihr stets geschmeichelt, mit welch schwärmerischem Unterton er ihren Namen Tabitha aussprach.
Der Schnee dämpfte ihre Schritte, bei jedem Atemzug stieg eine graue Wolke von ihrem Mund hoch. Im Stall war es etwas wärmer, und während sie noch ihre Hände aneinanderrieb und darauf hauchte, hatte sie Moritz schon entdeckt.
»Fräulein Tabitha!«, rief er begeistert.
Einmal mehr glich er einem Frosch, doch das hielt sie nicht davon ab, ihr hinreißendstes Lächeln aufzusetzen.
»Kannst du die Pferde anspannen lassen?«
»Sie wollen so früh am Morgen schon weg?«, gab er zurück.
»So ist es«, murmelte sie und schlug kokett die Augen nieder, »und es ist wichtig, dass es mein Großvater nicht erfährt.«
Er blickte sie zweifelnd an, kommentierte ihr Ansinnen aber nicht weiter. »Und wohin soll es gehen?«
»In der Nähe von Falkenstein besitzen die Gothmanns doch eine kleine Jagdhütte.«
Moritz runzelte die Stirn. »Aber jetzt im Winter wird sie nicht benutzt. Der Weg ist gewiss völlig verschneit, und in der Hütte ist es eiskalt.«
»Nun, es gibt dort doch sicher einen Kamin, um sie zu beheizen.«
»Aber es ist schrecklich einsam dort.«
»Eben!«, rief Carlota und hob ihren Blick. »Genau aus diesem Grund will ich dorthin.«
»Warum hast du nicht mit mir darüber geredet? Warum hast du sie eigenmächtig zur Rede gestellt?«
Rosa war wütend wie schon lange nicht mehr, ihre Beherrschung ebenso dahin wie das übliche Gleichmaß der Tage. Dass sie sich überdies schrecklich sorgte, machte die Sache nicht besser. Derart aufgewühlt, war sie blind dafür, dass Albert schuldbewusst wirkte, zerknirscht den Kopf einzog und, wie das Zittern seiner Unterlippe verriet, ihre Sorgen teilte. Die Liebe zur Enkeltochter war für gewöhnlich das, was sie einte, nun funkelte Rosa ihn feindselig an.
»Ich wollte nicht, dass du dich aufregst«, stammelte Albert hilflos.
»Warum sollte ich? Weil meine Enkeltochter einen Musiker liebt? Es gibt Schlimmeres, zum Beispiel, dass diese Enkeltochter davonläuft und wir nicht wissen, wo sie Unterschlupf gefunden hat.«
»Wahrscheinlich ist sie bei diesem … diesem …«
»Sprich seinen Namen ruhig aus!«, rief Rosa. »Nur weil er seinen Lebensunterhalt mit Musik verdient, ist er kein unehrenwerter Mann.«
»Er hat Tabitha geküsst!«
»Na und? Ist es wirklich das, was dich so sehr erbost? Oder vielmehr die Erinnerung an Fabien, die er heraufbeschworen hat?«
Leichtfertig sprach sie den Namen aus – zum ersten Mal seit Jahrzehnten. Im Schweigen, das folgte, wuchs ihr Entsetzen, nicht nur über den unbedachten Tabubruch, sondern auch über jenes überschäumende Temperament, das da in ihr wütete. Ansonsten konnte sie es gut bezähmen, doch nun brach alles hervor: jene Wildheit, jene Entschlossenheit, jener Trotz auch, der sie einst dazu getrieben hatte, aus ihrem Elternhaus zu fliehen, um Albert in die Arme zu laufen.
»Rosa …«
Sie las die Verletztheit in seinem Blick, aber plötzlich auch die Sehnsucht, vielleicht die gleiche, die sie überkam: die Sehnsucht nach der Jugend, als sie dachten, das Leben sei leicht, solange sie sich liebten und ihren Gefühlen freien Lauf ließen.
Sie schluckte schwer. »Genug«, sagte sie mit erstickter Stimme, »wir dürfen uns nicht streiten, wir müssen in Ruhe überlegen, was zu tun ist. Und wo wir Tabitha suchen sollen.«
Albert atmete schwer und nickte schließlich. Wieder folgte ein kurzes Schweigen, das von einem Klopfen an der Tür beendet wurde.
Else trat ein. Auch bei ihrem Anblick musste Rosa unwillkürlich an die ersten Jahre in Frankfurt denken: Sie selbst war damals noch ein unbedarftes Mädchen gewesen – und Else eine fröhliche, geschwätzige Dienstmagd. Mittlerweile war sie eine rundliche Frau geworden, mit Krähenfüßen um die Augen und ergrauten Haaren, die sie zu einem Knoten hochsteckte. Sie war mit dem Gärtner verheiratet, hatte einen Sohn – Moritz, der mittlerweile ihr Kutscher war –, schwatzte zwar immer noch gerne, aber nicht länger mit Rosa.
»Ja?«, fragte Albert.
»Ich habe gehört, dass Tabitha weggelaufen ist.«
Rosa nickte bestürzt. Gestern Abend hatten sie noch gehofft, dass Tabitha bald wegen der Kälte heimkehren würde, doch nach einer durchwachten Nacht und einem unruhigen Tag reifte die Einsicht, dass das wenig wahrscheinlich war und Tabithas Trotz und Sturheit Vernunft und Gehorsam besiegt hatten.
»Ich habe mir ja schon lange überlegt, ob ich es Ihnen sagen soll«, murmelte Else.
»Dass Tabitha sich in Nicolas verliebt hat?«, fragte Albert.
Else zuckte die Schultern. »Davon weiß ich nichts. Aber … aber Frau Gothmann, ist es Ihnen nicht auch aufgefallen?«
Rosa ging auf Else zu, studierte deren nachdenkliche Miene, hatte jedoch keine Ahnung, was sie andeutete. »Was?«, rief sie atemlos.
»Nun, wie sehr sich Tabitha verändert hat!«, sagte Else. »Seit sie aus Montevideo zurückgekehrt ist, ist sie nicht mehr die Alte. Ich habe sie des Öfteren beobachtet, wie sie durch das Haus ging, und sie hat dabei den Eindruck gemacht, als sähe sie alles zum ersten Mal. Meist schien sie gar nicht zu wissen, wen sie gerade vor sich hatte.«
»Was willst du damit sagen?«, fragte Albert unwirsch. »Dass sie den Verstand verloren hat?«
Rosa hob die Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. »Vielleicht hast du recht«, murmelte sie, »sie wirkte oft so weggetreten. Aber das hat wohl mit dem Erdbeben zu tun. Und mit ihrer Kopfverletzung.«
»Tja, wenn es das ist …«, meine Else vielsagend.
»Was könnte es auch sonst sein?«
Rosa rief sich die vergangenen Monate ins Gedächtnis, und ja, es stimmte, Tabitha hatte sich verändert. Als Kind war sie so anhänglich und liebebedürftig gewesen, nun gab sie sich meist distanziert und wortkarg. Allerdings – gehörte das nicht zum Erwachsenwerden dazu? Und war es nicht das Wichtigste, dass sie wieder ganz gesund geworden war?
»Nun, im Moment hat es wenig Sinn, dass wir uns darüber den Kopf zerbrechen«, schaltete sich Albert ein. »Es zählt allein, dass wir sie so schnell wie möglich finden.«
»Ich glaube, da könnte ich helfen«, meinte Else.
»Weißt du, wo sie ist?«
»Nein, aber so merkwürdig, wie er sich verhält, mein Sohn Moritz.«
Laurent ließ Nicolas nicht aus den Augen. Er hatte sich vermeintlich nachsichtig erwiesen und die letzten Tage nicht mehr nachgebohrt, ob der Sohn Gefühle für Tabitha Gothmann hegte, aber er lag ständig auf der Lauer – und hatte, wie sich nun herausstellte, gut daran getan, ihm zu misstrauen.
Eben beobachtete er, wie Nicolas unten mit einem Kutscher sprach. Der trug eine Livree mit Goldknöpfen – ohne Zweifel ein Zeichen, dass er für sehr feine Leute arbeitete –, doch als Nicolas wenig später nach oben in ihre kleine Mietwohnung in der Nähe des Römers zurückkehrte, sagte er kein Wort. Er wirkte abwesend, und Laurent hätte schwören können, dass jener Kutscher ihm eine Nachricht von Tabitha überbracht hatte.
Er fluchte insgeheim auf seinen Sohn, weil der ihn nicht einweihte, gab sich nach außen jedoch gelassen und verhielt sich so, als hätte er nichts Ungewöhnliches bemerkt. Geduldig wartete er bis zum Abend, bis Nicolas in die Oper aufbrach, und durchstöberte seine Sachen erst, als die Tür ins Schloss fiel.
Nicolas ist wirklich ein Narr, dachte er, als er den Brief fand – in einer der obersten Schubladen, nicht einmal ordentlich unter der Wäsche versteckt.
Hastig überflog er die Zeilen – und sah sich prompt bestätigt. Tatsächlich, die Nachricht stammte von Tabitha Gothmann, und mit jedem Wort, das er las, wurde Laurents Lächeln breiter. Also hatte sein anonymes Schreiben an Albert Gothmann Erfolg gehabt: Der Großvater hatte sich mit dem Mädchen entzweit, dieses war kopflos aus dem Haus geflohen und verriet sogar seinen derzeitigen Aufenthaltsort – eine Jagdhütte in der Nähe von Falkenstein.
Laurent ließ das Schreiben sinken. Dort würde er freie Bahn haben.
Er konnte seine Ungeduld nicht länger bezähmen, sondern entschied sich, sofort zu handeln, zumal Nicolas nicht hier war, und ging hastig in sein eigenes kleines Zimmer. Er selbst hatte für seine Pistole ein besseres Versteck ausgesucht als Nicolas für den Brief: Sie lag nicht in einer der Schubladen, sondern unter einer losen Holzdiele.
Eine Weile betrachtete er sie mit einem Anflug von Befremden. Als Musiker hatte er nicht oft Waffen in den Händen gehalten, wenngleich er den Gebrauch von dieser genau gelernt hatte, und kurz fragte er sich, ob es eine ähnliche Pistole war, mit der sein Vater den Tod gefunden hatte. Er versuchte, dessen Gesicht heraufzubeschwören, doch es gelang ihm nicht. Das Einzige, was er ganz deutlich vor seinem inneren Auge sah, war seine Mutter, deren leidender Ausdruck einem immer stumpfsinnigeren gewichen war, während sie jahrelang vergebens auf Fabien und ein besseres Leben wartete.
Er zuckte zusammen, als er plötzlich hinter sich ein Knarzen vernahm. »Vater … Vater, was tust du denn da?«
Nicolas stand hinter ihm und wurde kreidebleich, als er die Pistole erblickte.
Laurent unterdrückte ein Seufzen. »Warum, zum Teufel, bist du schon wieder zurück? Du solltest doch längst in der Oper sein!«
»Ich habe etwas vergessen, aber …«
Laurent ließ sich sein Unbehagen nicht anmerken, sondern trat auf seinen Sohn zu, doch zu seinem Erstaunen wich dieser nicht zurück. Es steckte mehr Mumm in seinen Knochen, als er gedacht hatte.
»Aus dem Weg!«, befahl er streng.
»Gütiger Himmel, was hast du vor?«
»Das geht dich nichts an. Du hast deinen Teil unseres Plans erfüllt, jetzt bin ich dran. Geh Violine spielen!«
Immer noch wich Nicolas nicht zurück. »Warum besitzt du eine Waffe? Und was willst du damit? Unser Plan sah vor, dass ich Tabitha von zu Hause fortlocke und dass wir ihrem Großvater den Aufenthaltsort nur verraten, wenn er endlich die Wahrheit gesteht. Doch für dieses Vorhaben brauchst du keine Waffe!«
Laurent wurde wütend. Warum erwies sich sein weicher, verträumter, naiver Sohn ausgerechnet jetzt als so misstrauisch?
»Geh mir endlich aus dem Weg!«, wiederholte er.
Nicolas’ Augen weiteten sich ängstlich. »Du willst dich nicht damit begnügen, die Wahrheit zu erfahren. Du willst … du willst jemanden töten. Albert Gothmann, nicht wahr?«
Schweigen folgte, in dem beide einander völlig erstarrt gegenüberstanden. Nicolas sah ihn an und suchte in der Miene des Vaters nach der Bestätigung seines schrecklichen Verdachts. »Nein«, dämmerte ihm plötzlich die Wahrheit, »ihn zu töten wäre keine vollkommene Rache. Du triffst ihn noch mehr, wenn du … wenn du …« Nicolas brach ab. »Tabitha!«, rief er dann entsetzt.
»Er hat mir meinen Vater genommen!«, schrie Laurent. »Also nehme ich ihm die Enkeltochter!«
»Bist du wahnsinnig? Ich … ich habe noch einen Vater – aber so wie du dich benimmst, wäre es mir lieber, du wärst tot.«
Laurents Wut zerplatzte wie eine rote Blase. Er hob die Hand, um ihn zu schlagen, und merkte zu spät, dass er immer noch die Pistole hielt. Nicolas wehrte sich nicht, zuckte nicht einmal zurück. Ein dumpfer Laut erklang, als ihn der Knauf mit ganzer Wucht traf, und ein noch lauteres Poltern, als er in sich zusammensackte.
Entsetzen stieg in Laurent hoch – heftig, aber nur kurz. Als er sich über Nicolas beugte und seinen Namen rief, erkannte er, dass er noch atmete. Der Schlag würde einen blauen Fleck hinterlassen, aber er blutete nicht. Gewiss würde er sich bald erholt haben.
Laurent stieg über seinen reglosen Sohn hinweg. Er konnte keine Rücksicht mehr nehmen – auf nichts und niemanden.
Elses Sohn Moritz war entsetzlich halsstarrig. Albert und Rosa fragten wiederholt, wo Tabitha steckte, erst flehentlich, dann streng, doch er verweigerte ihnen strikt die Antwort. Zwar hatte er zugegeben, dass er sie von hier fortgebracht hatte, aber er hielt an seinem Versprechen fest, das er ihr gegeben hatte: Er würde niemandem ihren Aufenthaltsort verraten.
Rosa war erleichtert, dass Tabitha bei der Flucht nicht ganz auf sich allein gestellt gewesen war, und wollte schon aufgeben, doch dann trat Else vor und gab ihrem Sohn eine Kopfnuss wie einem kleinen Kind.
»Auf der Stelle sagst du den Herrschaften, wo sie steckt!«, blaffte sie ihn an.
Moritz rieb sich den schmerzenden Kopf. »Aber Mutter, ich musste ihr doch schwören …«
»Das sagtest du schon. Aber siehst du nicht, dass ihre Großeltern in schrecklicher Sorge um sie sind?«
»Ich kann versichern – Fräulein Tabitha befindet sich an einem sicheren Ort. Es geht ihr gut, sie hat genug zu essen, und ich habe sogar ein Feuer gemacht.«
»Wo?«, brüllte Albert.
Moritz kniff seine Lippen zusammen, obwohl Rosa fühlte, wie sein Widerstand bröckelte, doch ehe er endlich die Wahrheit verriet, ertönte von der Tür her eine Stimme: »Ich fürchte, ich weiß, wo sie ist.«
Rosa fuhr herum und sah Nicolas dort stehen. Er musste in höchster Eile hierhergekommen sein, denn sein Gesicht war rot vor Kälte, und er zitterte, weil er sich nicht warm genug gekleidet hatte. Überdies sah er mit dem zerzausten Haar und dem geschwollenen Auge so aus, als wäre er in eine Rauferei geraten.
Bevor er sich erklären konnte, stürzte Albert auf ihn los: »Sie!«, schrie er. »Sie sind für all das verantwortlich! Sie haben ihr eingeredet, von zu Hause fortzulaufen! Tabitha war immer das anständigste und bravste Mädchen, das man sich nur vorstellen konnte, und …«
Er hatte Nicolas am Kragen gepackt und schüttelte ihn. Der junge Mann ließ es stoisch über sich ergehen, aber Rosa ging hastig dazwischen. »So lass ihn doch!«
»Warum?«, fragte Albert empört. »Seit sie ihn kennt, ist Tabitha nicht mehr die Alte, das hat doch auch Else bestätigt!«
Das alte Dienstmädchen schüttelte nachdenklich den Kopf. »Nein«, murmelte sie, »nicht seit sie ihn kennt, sondern seit sie aus Montevideo zurück ist. Da ist es Ihnen nur noch nicht aufgefallen.«
»Bitte!«, stieß Nicolas hervor. »Dafür ist jetzt keine Zeit! Tabitha befindet sich in höchster Gefahr.«
Albert ließ endlich seinen Kragen los, während Rosa ihn zunehmend entsetzter musterte. »Was … was … meinen Sie?«, stammelte sie.
Nicolas senkte seinen Kopf. »Ich habe hier in Frankfurt immer einen falschen Namen angegeben. Mein richtiger ist … Ledoux. Nicolas Ledoux.«
Albert schien verwirrt, aber Rosa war es, als würde sie einen schmerzhaften Schlag erhalten.
»Fabien …«, stammelte sie. »Sie sind mit Fabien verwandt?«
»Er war mein Großvater … Ich habe ihn nie kennengelernt, aber mein Vater hat sein Leben lang unter dem Verlust gelitten. Er … er hat das alles eingefädelt. Und jetzt ist er auf dem Weg zu Tabitha …«
Er atmete tief durch, und einige wirre Worte später hatte er die ganze Wahrheit offenbart. Tabitha war in die Jagdhütte geflohen, und Laurent, der auf Rache aus war, wusste das.
Albert stöhnte auf. Eben noch hatte er Nicolas geschüttelt wie ein junger Mann, nun wirkte er plötzlich alt und gebeugt.
Die Wut und Verbitterung wegen seiner einstigen Tat hatten Rosas Herz so lange zerfressen; selbst nach der Versöhnung hatte sie sich ihm nicht ganz öffnen können und dann und wann einen Anflug kalten Hasses empfunden. Doch als sie ihn nun betrachtete, überkam sie einfach nur Mitleid. Sie selbst hatte sich beim Gedanken an Fabien stets schrecklich schuldig gefühlt und gemeint, sie müsste sich bestrafen, indem sie ihre Lebendigkeit und Fröhlichkeit unterdrückte. Doch erst jetzt erkannte sie, dass Albert sich nicht einfach ins Reich der Zahlen und an seinen sicheren Schreibtisch hatte flüchten können, sondern seine Tat auch an ihm genagt und ihm schlaflose Nächte bereitet haben musste.
»Gütiger Himmel!«, stießen sie wie aus einem Mund aus.
Hilflos blickten sie sich an.
Nicolas wandte sich an Rosa. »Ich weiß nicht, was damals vorgefallen ist. Scheinbar hat mein Großvater Sie geliebt und auf eine Zukunft mit Ihnen gehofft …«
Rosa schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Ja, gewiss, er hat für mich geschwärmt; er war auch sehr vom Leben angetan, das er hier führen konnte. Aber für mich war er ein Freund, nichts weiter.«
»Ein Freund?«, brach es aus Albert hervor. »Nur ein Freund? Du hast nie mit ihm …?«
»Nein«, gab Rosa unumwunden die Wahrheit zu, die sie so lange gehütet hatte, um Albert zu quälen. »Ich hatte nie eine Affäre mit ihm. Er war für mich da, als ich mich einsam fühlte, aber du warst der Mann, den ich wollte. Ich habe dich geliebt – niemals ihn. Ich war ihm nur dankbar dafür, dass er mir die Lebensfreude wieder schenkte …«
»Die du an meiner Seite eingebüßt hast«, murmelte Albert tonlos. »Aber warum hast du mir das nie gesagt?«
Rosa sah ihn traurig an. »Weil du deine eigenen Schlüsse gezogen hast. Weil du mich nie gefragt hast, was genau mich mit ihm verbindet. Du warst in deiner Eifersucht sogar bereit, dich mit ihm zu duellieren. Und danach …«
Sie sprach nicht weiter. Und danach haben wir nie wieder offen darüber geredet, selbst nach unserer Versöhnung nicht, fügte sie in Gedanken hinzu.
Rosa fragte sich, wen sie damit mehr bestraft hatte – sich selbst oder ihn. In jedem Fall stieg bittere Reue hoch, weil sie sich so vieler Jahre beraubt hatten – Jahre, in denen sie mehr hätten sein können als nur zufriedene Großeltern, die die Fürsorge der Enkeltochter einte, nämlich … Liebende wie einst.
»Das ist doch jetzt alles nicht so wichtig«, rief Nicolas dazwischen. »Wir müssen sofort zur Jagdhütte, um Schlimmes zu vermeiden.«
Albert nickte und sagte an Moritz gerichtet: »Du bringst uns sofort dorthin.«
»Bring mir Muff und Mantel!«, befahl Rosa ihrerseits Else.
»Rosa, du solltest besser hier …«
»Denk gar nicht erst daran, mir zu verbieten, mitzukommen.«
Zielstrebig eilte sie nach draußen, und Albert blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen.
Als sie durch den Schnee stapfte, tat ihr die Brust alsbald von der eisigen Luft weh. Trotz des Muffs schmerzten ihre Hände. Ich bin zu alt für so viel Aufregung, ging es ihr durch den Kopf, aber sie schob den Gedanken zur Seite.
Irgendwann konnte sie ihr bequemes, langweiliges Leben fortführen, jetzt zählte nur Tabitha. Hastig bestiegen sie die Kutsche, und Moritz sprang auf den Bock, um die Pferde anzutreiben.
So unverzüglich sie auch aufgebrochen waren – der Weg zur Jagdhütte kam Rosa unendlich lang vor, zumal es wieder in dicken Flocken zu schneien begonnen hatte und die Wege steil und vereist waren. Mehrmals kamen die Pferde kaum weiter, die Kutsche schwankte.
»Verflucht!«, schimpfte Albert ein ums andere Mal.
Nicolas sagte gar nichts mehr.
Ehe sie die letzte Wegstrecke bezwingen konnten, blieb die Kutsche endgültig im Schnee stecken. »Ich schaffe es nicht mehr weiter«, erklärte Moritz.
Rosa sprang aus dem Wagen. »Dann müssen wir eben zu Fuß gehen.«
Schon nach wenigen Schritten versank sie knöcheltief im Schnee. Kälte und Nässe drangen durch die dünnen Stiefel, und sie keuchte schwer. Albert hatte zu ihr aufgeschlossen und schien wieder sagen zu wollen, dass sie besser hierbleiben und warten sollte, doch ihm entging die Entschlossenheit ihrer Miene nicht, und er reichte ihr stattdessen schweigend die Hand. Sie nahm sie, drückte sie kurz, dann stapften sie weiter.
Obwohl sie hinter Bäumen verborgen war, sahen sie die Jagdhütte schon von weitem. Der Kamin war beheizt, und der warme Lichtschein wirkte inmitten der verschneiten Einöde tröstlich.
Rosa hatte sich nicht oft in jenem hübschen, aber einfachen Gebäude aufgehalten, wusste jedoch, dass es im Erdgeschoss eine Stube und die Küche gab und sich unter dem Dach einige niedrige Schlafräume befanden.
Nicolas stürzte auf eines der winzigen Fenster zu, um hineinzuspähen, aber die Scheiben waren beschlagen.
»Was sehen Sie?«, rief Albert.
»Nicht so laut!«, gab er flüsternd zurück.
Rosa blickte sich nach Spuren im Schnee um, doch es war zu dunkel, um welche zu erkennen.
»Los, hinein!«, rief Albert, ohne seine Stimme zu drosseln.
Rosa war sich nicht sicher, ob das eine gute Idee war, aber auch sie konnte ihre Ungeduld nicht länger bezähmen. Als Albert die Tür öffnete, stürzte sie hinter ihm in die Stube. Nicht weit vom Kamin entfernt stand ein Stuhl, und darauf saß ihre Enkeltochter.
»Tabitha!«
Das Mädchen sah auf. Sie wirkte blass und angespannt. Bei dem Anblick ihrer Großeltern hellte sich zwar kurz ihre Miene auf, doch dann weiteten sich angstvoll ihre Augen, und sie schüttelte den Kopf.
Jetzt erst bemerkte Rosa, dass sie nicht einfach nur auf dem Stuhl saß, sondern daran gefesselt war.
»Tabitha …«
Ihre Stimme erstarb zu einem Krächzen. Aus der Ecke trat ein Mann, der Fabien bis aufs Haar glich und eine Pistole in der Hand hielt.
»Guten Abend, Herr und Frau Gothmann. Sie kommen früher, als ich erwartet hatte.«
Carlota wusste, eigentlich sollte sie vor Angst vergehen – Angst um ihr Leben und um das der Großeltern. Tatsächlich war sie auch zutiefst erschrocken gewesen, als plötzlich dieser fremde Mann in der Jagdhütte aufgetaucht war, ihren Großvater des Mords bezichtigte und wild von Rache faselte. Doch nun, als sie in Nicolas’ Gesicht die Wahrheit lesen konnte, überwog die Enttäuschung. Ja, er war tatsächlich der Sohn des Verrückten, wie dieser behauptete. Und ja, er hatte von Anfang an gemeinsame Sache mit ihm gemacht, sich den Platz in ihrem Herzen hinterhältig erschlichen und ihr seine Liebe nur vorgeheuchelt.
Sie schloss die Augen – in der Hoffnung, dass all das nicht wirklich war, dass sie nur träumte. Doch als sie sie wieder öffnete, fuchtelte der Fremde immer noch mit seiner Pistole vor ihrem Gesicht herum, und Nicolas flüsterte: »Vater …«
Es half kein Leugnen. Die beiden gehörten zusammen. Carlota biss sich auf die Lippen, konnte einen Schrei des Entsetzens jedoch nicht unterdrücken.
»Ich habe es dir doch schon vorher gesagt – halt dich da raus«, herrschte Laurent Ledoux seinen Sohn an. »Geh einfach!«
Nicolas rührte sich nicht. »Vater, du begehst einen großen Fehler.«
Während Laurent Nicolas fixierte, machte ihr Großvater einen Schritt auf sie zu. Prompt fuhr Laurent herum und richtete die Pistole auf ihn. »Keinen Schritt weiter!«
Carlota konnte nicht umhin, ihren Großvater für seinen Mut zu bewundern. Er wirkte besorgt, doch nicht eingeschüchtert. Auch Rosa Gothmann hatte es geschafft, ihre Fassung zu wahren. Sie war zwar bleich, stand aber aufrecht an der Seite ihres Mannes.
»Ich weiß, was Sie antreibt«, erklärte Albert ruhig. »Und Sie haben recht. Ich … ich habe tatsächlich Ihren Vater auf dem Gewissen. Ich schwöre Ihnen, es war damals ein Unfall, ich wollte ihn nicht töten. Womöglich werden Sie mir nicht glauben, und selbst wenn, wird es keinen Unterschied für Sie machen, aber Sie sollten trotzdem wissen …«
Wieder hatte er einen Schritt auf Carlota zugemacht. »Rühren Sie sich nicht!«, schrie Laurent.
»Hören Sie mir zu, Monsieur Ledoux«, flehte Albert. »Sie fordern Genugtuung, und die sollen Sie auch haben. Ich begebe mich in Ihre Hand – machen Sie mit mir, was Sie wollen. Aber lassen Sie meine Enkeltochter frei, und lassen Sie auch meine Frau gehen.«
Ein grausames Lächeln verzerrte Laurents Mund. »Es ist nicht so einfach, wie Sie sich das vorstellen«, presste er hervor. »Die wahre Prüfung für mich war, ohne meinen Vater groß zu werden. Der Verlust von Menschen, die einem nahestehen, ist so viel schlimmer als der eigene Tod.«
Carlotas Mut sank. Er war wirklich dazu entschlossen, sie zu töten. Und Nicolas hatte es gewusst.
»Wie konntest du …«, stieß sie aus.
»Ich wusste nicht, dass er so weit gehen würde, wirklich nicht. Ich wollte nie …«
»Du hast mir deine Liebe nur vorgespielt!«
»Nein! So ist es nicht, ich …«
»Genug!« Laurents Stimme klang wie ein Peitschenknall. Alle zuckten zusammen. Langsam richtete er seine Pistole von Albert auf Carlota und presste sie ihr direkt auf die Schläfe. Das Metall war kalt, aber sie wurde plötzlich ganz ruhig. Da war kein Platz mehr für Liebeskummer, kein Mitleid für ihre entsetzte Großmutter, keine Angst vor einem viel zu frühen Tod. Da war nur die bittere Einsicht: Ich werde meine Eltern niemals wiedersehen. Ich werde nicht nach Montevideo heimkehren.
Erst jetzt konnte sie sich die Sehnsucht nach ihrer Heimat und ihren Eltern eingestehen. Erst jetzt konnte sie zugeben, dass sie zu leichtherzig das vertraute Leben ihrem Begehren nach Wohlstand geopfert hatte.
»Bitte lassen Sie Tabitha gehen«, flehte Albert wieder.
Laurents Miene blieb verschlossen, aber Carlota wusste: Dies war ihre letzte Chance, um zu verhindern, dass sie mit einer Lüge starb.
»Ich … ich bin nicht Tabitha«, sagte sie hastig. »Ich bin ihre Zwillingsschwester. Ich bin bei Valeria und Valentín aufgewachsen, die beiden sind nicht tot, wie sie es alle Welt haben glauben lassen. Meine Mutter wollte nichts mehr mit euch zu tun haben, aber dann … dann hat dieses Erdbeben Montevideo erschüttert, und ich bin zufällig Tabitha begegnet. Wir haben die Rollen getauscht und …«
»Still!«
Während Albert und Rosa einfach nur fassungslos lauschten, war Laurent sichtbar irritiert. Die Enthüllung von Familiengeheimnissen störte ihn dabei, den Moment der Rache auszukosten.
Aber Carlota konnte nicht anders, als immer weiterzureden: »Es tut mir leid, so unendlich leid, dass ich euch angelogen habe, aber ich sehnte mich danach, reich zu sein, schöne Kleider zu tragen und …«
Laurent hob seine freie Hand und wollte ihr offenbar eine Ohrfeige versetzen, damit sie endlich schwieg. Genau diesen Moment der Unaufmerksamkeit nutzte Nicolas. Ehe Carlota sichs versah, stürzte er auf seinen Vater und riss ihn zurück. Laurent war erst überrascht, dann verärgert. Er stolperte, fiel gegen die Wand, fing sich aber rasch wieder und schlug auf den Sohn ein. Ein wildes Handgemenge entstand, ohne dass Carlota erkennen konnte, wer sich als der Stärkere erwies. Schon stand Albert an ihrer Seite und löste hastig die Fessel. »Was … was redest du denn da?«
»Es stimmt. Ich bin nicht Tabitha, wenngleich trotzdem eure Enkeltochter und …«
Auch Rosa eilte zu ihr und wollte sie aus der Hütte ziehen, doch Carlota konnte ihren Blick nicht von Vater und Sohn lassen.
»Nicolas!«
Dass er sich mit seinem Vater prügelte, war vielleicht ein Zeichen, dass er dessen Pläne doch nicht guthieß! Vielleicht war es sogar ein Zeichen, dass er sie trotz allem liebte!
Kurz hatte es den Anschein, er könnte seinen Vater überwinden, doch als er ihr einen flehentlichen Blick zuwarf, versetzte Laurent ihm einen Faustschlag, Nicolas taumelte zurück, und Carlota sah Blut aus seiner Nase rinnen.
»Nicolas!«, rief sie abermals.
Sein Name blieb ihr in der Kehle stecken. Laurent hatte die Pistole nach wie vor in der Hand und umklammerte sie fest, ehe er sie auf sie richtete. Im nächsten Augenblick erklang ein ohrenbetäubend lauter Schuss. Sie spürte nicht, wo die Kugel sie traf, nur dass Schmerz in ihrem Körper förmlich explodierte und kein einziges Glied aussparte. Ein gleißendes Licht hüllte sie ein.
»Tabitha!«
Ihre Großeltern schrien diesen Namen – war doch ihre Enthüllung in diesem Augenblick bedeutungslos.
»Nein«, flüsterte sie, »nein, ich bin Carlota.« Dann sackte sie auf dem Stuhl zusammen.