28
Die Tötung Jakobs sprach sich in Windeseile herum und wurde zum Auftakt einer Verfolgung, die kein Zögern mehr kannte. Mit Genehmigung des Sanhedrin wurden auch in anderen Städten die örtlichen Anführer der neuen Sekte gesteinigt, und deren Gefolgsleute wurden nicht selten vertrieben. Sie flohen nach Syrien oder bestiegen Schiffe, die sie nach Rom brachten. Der große Teil des jüdischen Volkes, vor allem die Landbevölkerung, lehnte es ab, sich an dem Kesseltreiben gegen die Christiani zu beteiligen, und war angewidert von den Verfolgungen; in den Städten jedoch reichte eine kleine, fanatische Minderheit aus, um ein völlig anderes Bild entstehen zu lassen. Agrippa wagte nicht durchzugreifen, denn er befürchtete Unruhen. Da zudem der Sanhedrin das Treiben sanktionierte, schwieg er beharrlich und zog lieber nach Caesarea, wo er zur Freude der dortigen Griechen fröhliche Spiele veranstaltete und von allem nichts mitbekam. Aristobul und die anderen Könige, die er hatte beeindrucken wollen, bekamen in den wenigen Wochen ihres Aufenthaltes ein desaströses Bild Judäas vermittelt.
»Was für ein Land!«, sagte Aristobul, als er mit Salome am Rande eines Zedernwalds nahe Jerusalem spazieren ging. Die Luft war frisch, und die hohen Nadelbäume schwankten und knarrten im Wind. »In diesem Königreich fühlt man sich so wohl wie auf einem Ameisenhaufen. Ich reise übermorgen ab, und ich würde Judäa keine Träne nachweinen, wenn nicht …« Er senkte den Kopf.
Salome nutzte sein Stocken, um einen möglichen Themenwechsel zu verhindern. Sie wollte mit Aristobul keinesfalls über Gefühle reden. »So kaltherzig es klingt: Das Schlimmste ist gar nicht, dass einige Christiani hingerichtet werden. Natürlich, es sind harmlose Menschen, die keine Strafe verdienen. Weit gefährlicher ist allerdings, dass die Gewalt hierzulande am Köcheln gehalten wird. Seit Herodes’ Tod ist Judäa nie mehr zur Ruhe gekommen: Unruhen gegen Archelaos, Morde von den Zeloten an Rabbinern, die Repressalien von Antipas, die Ignoranz von Pilatus, Aufstände in Jerusalem, die Eifersüchteleien zwischen Juden und Griechen, zwischen Juden und anderen Juden …« Sie atmete tief durch, denn sie hatte, ohne Luft zu holen, aufgezählt. »Ich hatte wirklich die Hoffnung, das alles würde mit Agrippa enden. Und anfangs schien es ja tatsächlich so, als sei der Frieden zum Greifen nahe.«
»Irgendetwas ist wohl dazwischen gekommen.«
Sie nickte entschieden. »Die Dummheit ist dazwischen gekommen. Die Dummheit und Kephallion – was beinahe dasselbe ist. Nur dass Kephallions Dummheit äußerst gewalttätig ist. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Gewalt die Eigenschaft hat, sich fortzupflanzen, sie entsteht wieder und wieder aus sich selbst und kann das ganze Land ins Verderben stürzen.«
»Nun übertreibst du.« Er lächelte beruhigend. »Es bedarf mehr als ein paar verwirrter Köpfe, um ein Königreich zu Fall zu bringen. Ich muss es wissen, ich bin ein König.«
»Ja«, bestätigte sie, »aber nicht von Judäa.«
»Du solltest einmal mein Königreich sehen«, schwärmte er. Vor seinem inneren Auge schienen die Landschaften und Städte seiner Heimat vorüberzuziehen. »Wir haben dort Berge, bedeckt mit Wäldern. Wir haben den breiten Euphrat, wo schon vor Jahrtausenden Siedlungen standen, und wir haben das Pontus Euxinus, das Schwarze Meer. Ein bisschen ist meine Heimat wie deine, alt und ehrwürdig, nur die Menschen sind weniger religiös und verkrampft.«
»Klingt wie das Paradies.«
»Es wartet auf dich.«
Salome schloss die Augen. Diesen Moment hatte sie kommen sehen und gefürchtet seit dem Tag, als Aristobul auf den »Berg des Ärgernisses« geritten kam, ja, vielleicht schon seit dem Abschied auf dem Palatin in Rom.
»Versteh bitte, Aristobul. Ich kann Judäa nicht einfach den Rücken kehren. Ich bin als Kind durch diesen Wald hier spaziert, ich habe jeden Morgen Jerusalem gesehen, habe Feigen aus den Hainen gegessen …«
»Das ist doch nicht der wirkliche Grund«, stellte er trocken fest.
»Du willst weitere Gründe hören? Schön, du bekommst sie. Ich bin in der Familie geboren worden, die seit einem Jahrhundert die Verantwortung für das Land trägt, im Guten wie im Schlechten. Wir sind die Nachfolger Davids und Salomons. Dieses Land verlässt man nicht so einfach, wenn man eine Herodianerin ist.«
»Du hast es doch schon einmal verlassen.«
»Im Zorn, ja. Und bin dennoch wieder zurückgekehrt.«
»Du selbst hast gesagt, wie schwierig die Juden sind.«
»Es ist kompliziert, dies jemandem zu erklären, der kein Jude ist.«
»Du hast dich nie wie eine typische Jüdin gefühlt.«
»Woher willst du wissen, wie ich mich fühle?«
»Ich bitte dich, jeder weiß das. Ich habe mit einigen Leuten gesprochen, die mir deine Geschichte erzählt haben – deine ganze Geschichte.«
Ihr fehlten beinahe die Worte. »Das darf doch nicht wahr sein! Du schnüffelst in meinem Leben herum?«
Aristobul lächelte bitter und schüttelte leicht den Kopf. »Du versuchst gerade, einen Streit vom Zaun zu brechen.«
»So, meinst du?«
»Ja«, erwiderte er ruhig. »Deine wortreichen Entschuldigungen, weshalb du Judäa nicht verlassen willst, deine rührenden Kindheitserinnerungen und deine vermeintliche Verpflichtung dem Land gegenüber, das alles sind doch nur Ausflüchte, Salome. Du belügst dich selbst.«
»Jetzt bin ich also auch noch eine Lügnerin. Fein, was möchtest du mir noch sagen?«
»Nichts mehr. Es hat keinen Sinn, solange du die Wahrheit nicht anerkennen willst. Ich liebe dich, und ich weiß, dass du starke Empfindungen für mich hast. Du lässt sie nur nicht zu.«
»Ich will nichts mehr hören. Du bist ja völlig verrückt.« Sie wandte sich abrupt ab und ging in den Wald davon. Dutzende Stimmen in ihr schrien – die einen, dass sie zurückgehen solle und um Entschuldigung bitten, die anderen, dass sie den Namen Aristobul für immer vergessen solle. Die Stimmen nannten sie eine Närrin, eine Furie, eine Matrone, einen kalten Fisch, eine Verräterin, eine Verfluchte …
Irgendwann, sie war schon tief im Wald, lehnte sie sich an einen Baumstamm und weinte, weil sie sich innerlich zerrissen fühlte wie nie zuvor.
»Timon«, rief sie in das Gewirr der Äste hinauf, »sag mir doch, was soll ich tun?«
 
Ganz Caesarea hallte wider vom Beifall der Massen, als Agrippa, gefolgt von seinem Sohn Agrippinos, das Amphitheater betrat und sich eine Weile mit siegreich erhobenen Händen feiern ließ. Die Griechen der Stadt jubelten weniger ihm zu als den prächtigen Vergnügungen, die ihnen seine Besuche brachten, doch das zu erkennen, war Agrippa nicht der Mensch. Für diesen Tag hatte er den Leuten eine besondere Überraschung versprochen, und er hatte seiner gesamten Familie befohlen, diesem Ereignis beizuwohnen. So betrat Salome zum ersten Mal eine Arena. Sie ahnte nichts Gutes. Kephallion hatte seine Drohung von damals wahr gemacht und übte mittlerweile einen beherrschenden Einfluss auf den König aus. Agrippa vertraute Kephallion in allem, denn alle Ratschläge, die dieser ihm gab, vergrößerten seine Beliebtheit im Volk, zumindest im städtischen Volk. Das neue Bollwerk, die Agrippa-Mauer im Norden Jerusalems, war fertig gestellt und schien die Stadt für künftige Feinde uneinnehmbar zu machen, und die Christenprozesse schmiedeten die verschiedenen Sekten zusammen. Über Reformen bei den Gesetzen, über die Verbesserung der Lebensbedingungen von Bauern und Landarbeitern, über Wasserversorgung und Straßenbau wurde nicht länger geredet, alles drehte sich nur um die Verteidigung gegen vermeintliche und künftige Feinde, also um unsichtbare Gespenster, die nur existierten, weil man ihre Existenz lange genug propagiert hatte.
»Wo ist dein Bastard?«, zischte Kephallion, während Agrippa eine Ansprache hielt. »Der König hat befohlen, dass alle seine Verwandten heute anwesend sein sollen.«
Salome antwortete, ohne ihn anzusehen. »Was immer hier heute geboten wird: Es entstammt deinem kranken Kopf, und davor werde ich meinen Sohn bewahren, solange es geht.«
»Solange es geht, ja«, grinste er. »Sieh dich mal um.«
Zwei Wachen führten Gilead in ihrer Mitte und übergaben ihn Kephallion.
»Sie haben mich einfach mitgenommen, Mutter«, rief Gilead.
Salome wollte ihren Sohn zu sich holen, doch Kephallion stieß sie mit Hilfe einer Wache zurück.
»Getrennte Plätze von Männern und Frauen«, erklärte er zufrieden. »Auf Anweisung des Königs sitzen Weiber links auf der Tribüne, wir Männer rechts. Keine Angst, ich passe gut auf ihn auf und sorge dafür, dass er alles mitbekommt.«
»Du bist ein mieses Schwein, Kephallion, und ich …«
»Was ist denn hier los?« Agrippa hatte seine Ansprache beendet und stand kurz davor, die Überraschung zu präsentieren. Salome störte ihn dabei empfindlich.
»Gilead ist noch ein Kind und gehört nicht in eine Arena«, sagte sie.
»Dass ihr Weiber euren Söhnen nie etwas zutraut«, antwortete Agrippa. »Meine Mutter war genauso, und sieh her, ich bin ein König geworden.«
»Und was für einer«, parierte Salome in unmissverständlichem Ton.
Agrippa gefror die gute Laune. »Willst du mir diesen Tag verderben, Salome? Kephallion hatte Recht: Du bist eifersüchtig auf mich, warst es immer schon, darum missgönnst du mir meinen heutigen Triumph.«
Er ließ ihr keine Zeit zu antworten, sondern nahm auf seinem Thronschemel Platz und hob den Arm. Das dunkle Dröhnen der Hörner verkündete den Beginn der Spiele.
Üblicherweise wurden die Wettkämpfe in den griechisch beeinflussten Teilen der Welt, also auch in Caesarea, von Ringern, Reitern, Läufern oder Wagenlenkern bestritten, waren somit sportlich ausgerichtet. Zwar steigerte der Kitzel, dass Pferde oder Wagen verunglückten, die Spannung, ansonsten floss jedoch kein Blut in den griechischen Arenen. Anders in Rom und den meisten Provinzen, wo die Besucher Schwertkämpfe auf Leben und Tod erwarteten. Und genau das wollte Agrippa heute auch dem Volk von Caesarea bieten.
Unter dem begeisterten Applaus der zehntausend Zuschauer zog eine Kolonne bewaffneter Männer in die Arena. Nur wenige sahen wie professionelle Gladiatoren aus, muskulös und siegesgewiss. Die meisten wirkten eher wie normale Bürger, die noch nie ein Schwert in der Hand gehabt hatten, und manche mussten sogar von Soldaten in die Arena gepeitscht werden.
»Das darf doch nicht wahr sein«, murmelte Salome. In Judäa galt das Gebot ›Morde nicht‹ für alle Lebensbereiche, ausgenommen die Todesstrafen, die in der thora für schwerste Vergehen vorgesehen waren. Aber dass Gladiatoren sich vor den Leuten gegenseitig abschlachten sollten, war ein Novum im Heiligen Land. Nicht einmal Herodes hatte das gewagt, und sowohl die römischen Prokuratoren wie auch die griechische Minderheit im Land hatten sich immer daran gehalten.
»Das sind zum guten Teil verurteilte Verbrecher«, erklärte Agrippa freudestrahlend. »Gott, wie ich diese römischen Spiele vermisst habe.«
»Sie sehen nicht aus wie Verbrecher«, sagte Salome. »Außerdem sind es enorm viele. Die Kolonne nimmt ja kein Ende mehr. So viele Schwerverbrecher gibt es in Judäa doch nie und nimmer.«
»Eintausendvierhundert«, klärte Kephallion sie auf. »Und davon etwa ein Drittel Christiani. Zusammengetrieben und für den heutigen Tag aufgespart von meinen Leuten.«
»Was machen wir, wenn sie sich weigern, gegeneinander zu kämpfen?«, fragte der König seinen neuen Ratgeber.
»Keine Sorge. Ich habe einige professionelle Gladiatoren unter sie gemischt, mein König. Entweder sie wehren sich oder …« Er machte eine Geste, als schneide er jemandem die Kehle durch, und lachte.
Agrippa gab das Zeichen, dass die Kämpfe zu beginnen hatten, und wenige Augenblicke später vermischte sich die Begeisterung in den Rängen mit dem Klirren der Schwerter und den Schreien der ersten Opfer.
Salome erhob sich. Sie konnte kaum glauben, welches Ausmaß die Verfolgung mittlerweile erreicht hatte. Die Zeloten trieben die Christiani zusammen, die Pharisäer verurteilten sie und der König und die Griechen ergötzten sich an ihrem Tod. Kephallion hatte eine zynische, kaltherzige Symbiose geschaffen, in der jeder der Beteiligten seine Triebe ausleben konnte. Die Gewalt bekam mit dem heutigen Tag eine offizielle, beinahe auch spielerische Grundlage, und das in einem Land, dessen sechstes Gebot das Morden verbot. Das war nicht mehr das Volk, von dem in den heiligen Schriften die Rede war.
»Agrippa«, rief sie entsetzt, »bemerkst du denn nicht, welchem Irrwitz du erliegst!«
So feindselig wie in diesem Moment hatte ihr Onkel sie noch nie angesehen. »Ich habe dir schon einmal gesagt, dass du mich vor anderen nicht mit meinem Namen anzureden hast. Du und dein Sohn, ihr werdet euch die Spiele heute und morgen ansehen, und danach werdet ihr meinen Palast verlassen und nach Ashdod gehen. Ich will euch nicht mehr um mich haben.«
Salome hob trotzig den Kopf. »Nichts lieber als das«, entgegnete sie ihm und nahm Gilead an der Hand, um die Tribüne zu verlassen. Kephallion wollte ihr den Jungen wieder wegnehmen und sie aufhalten. Sie zögerte keinen Moment und trat ihm in den Unterleib. Er knickte ein, und sie nutzte seine Wehrlosigkeit, um ihm eine Ohrfeige zu versetzen, die so heftig war, dass er zu Boden fiel.
Agrippa sprang auf. »Was, beim Jupiter, tust du da? Bist du jetzt vollkommen verrückt geworden?«
»Du bist verrückt geworden«, schrie sie. »Das Land ist verrückt geworden. Alle Hoffnungen, die Efraim, ich und der große Teil des Volkes hatten, hast du zerstört. Wärst du bloß in Rom geblieben und hättest dich dort tot gesoffen!«
Vor Überraschung brachte Agrippa keinen Ton hervor. Wer hatte je gewagt, so mit ihm zu sprechen! Sein Mund stand weit offen.
»Du hättest ein großer König werden können«, fügte Salome traurig hinzu. »Und kurz sah es so aus, als ob du wenigstens ein mittlerer König würdest. Aber du hast es vorgezogen, der Popanz zu bleiben, als den ich dich kennen gelernt habe. Leb wohl.«
Salome und Gilead verließen die Arena, und auch Agrippinos drängelte sich am König vorbei. »Entschuldige, Vater«, sagte er, »mir ist bei dem vielen Blut schlecht geworden.«
Agrippa setzte sich nachdenklich auf den Schemel und achtete weder auf die Kämpfe in der Arena noch auf Kephallion, der sich langsam aufrappelte und dabei leise fluchte.
»Vielleicht hat sie Recht«, murmelte Agrippa vor sich hin und starrte plötzlich voller Befremden auf das blutige Geschehen. »Was, beim Jupiter, richte ich hier an! Ich bin ja nicht viel besser als Caligula.«
Kephallion erfasste die neue Situation schnell. Wenn der König die Verfolgungen einstellen sollte, dann würden die Zeloten überflüssig werden und jegliche Legitimation verlieren. Wenn Agrippa jedoch plötzlich stürbe … Der Zeitpunkt dafür war perfekt: Die Stimmung war durch die Verfolgungen aufgeheizt, die Menschen gewaltbereit, die Zeloten anerkannt und einflussreich und Agrippinos zu jung, um schon einen starken Herrscher abzugeben. Ihn auf irgendeine Weise zu beseitigen, das wäre ein Leichtes, und dann würde der Weg frei sein für den Übergang vom Königreich zum Gottesreich: Kephallions große Stunde.
Gut, dachte er, dass er stets einen Ring trug, der eine geringe Menge Pulvers enthielt. Er schenkte Wein in den königlichen Kelch, ließ den Mundschenk kosten, nahm das Gefäß wieder an sich und beobachtete konzentriert und von den anderen unbemerkt, wie das Pulver in den Wein rieselte.
Dann reichte er ihn Agrippa.
 
Am Abend ging Salome in den Gärten von Caesarea spazieren und betrachtete die fallenden Blüten der Blumen. Sie schloss mit ihrer Mission ab, denn sie musste einsehen, nichts mehr bewirken zu können. Statt Demütigung fühlte sie sogar Erleichterung über die bevorstehende Verbannung aus Agrippas Nähe. Ein großer Teil der Bürde, die seit der Abfahrt aus Rom auf ihren Schultern gelegen hatte, fiel von ihr ab. Sie redete sich nicht ein, versagt zu haben, und verstand, dass sie im Grunde nicht Kephallion unterlegen war, sondern vielmehr einer Macht, gegen die kein Mensch ankommen konnte: das Blut. Agrippa war Herodianer, und bis auf Philipp hatten alle männlichen Mitglieder der Familie eine Neigung zur Grausamkeit besessen, selbst der närrische Archelaos. Zusätzlich war Agrippa in der gefühllosen Welthauptstadt erzogen worden, wo sich alles nur um Vergnügen und Geld drehte. Nicht einmal Gott selbst hatte den König im Zaum halten können, wie konnte da sie es schaffen!
Sie wollte nach Ashdod zurück, das sie eine Ewigkeit nicht gesehen hatte, wollte in den Hainen und am Strand spazieren, Gilead das Schwimmen beibringen und ihn heranwachsen sehen. Sie wollte Timon nahe sein.
Gilead kam angerannt. In seiner grünen, griechischen Tunika und mit den weiten Schritten sah er aus wie sein Vater.
»Mutter«, rief er fast atemlos und umarmte ihren Körper.
Sie streichelte ihm über die Haare. »Du hast dich ja schon wieder völlig verausgabt.«
»Der König«, sagte er. »Er stirbt.«
 
Einem alten, fast vergessenen Brauch zufolge wurde ein sterbender König vom Volk umringt. Natürlich hatte Herodes, nachdem er sein Leben lang Traditionen missachtet hatte, auch diese unterbrochen. Agrippa hatte sich ihrer wieder erinnert und die Palasttore öffnen lassen. »Ich wollte wie ein großer König sterben, wenn ich schon nicht wie einer gelebt habe«, begrüßte er Salome mit gebrochener Stimme, als sie an sein Bett trat.
Sie wusste nicht, was sie ihm antworten sollte. Was immer sie sagen würde, klänge unglaubwürdig, nachdem sie ihm erst vor Stunden an den Kopf geworfen hatte, nichtswürdig zu sein.
»Aber sieh her«, fügte er hinzu, »nicht einmal das will mir gelingen.«
Sie wusste, worauf er anspielte. Nur wenige Caesareaner waren erschienen. Die Griechen akzeptierten Agrippa nur so lange als König, wie er sie mit Spielen und Geschenken verwöhnte. Wie einst den armen Archelaos, hatten sie auch ihn weder geliebt noch geachtet. Und was die Juden der Küstenstadt anging: Sie nahmen ihm die Spiele übel, die er hier des Öfteren veranstaltet hatte. Außer zwei knappen Dutzend Bürgern befanden sich nur Höflinge, ein Rabbiner, ein Arzt sowie Agrippinos, Gilead und Kephallion im Raum. Salome war die einzige Frau.
»Ein grausamer Witz des Schicksals«, sagte er schwach. »Den Griechen war ich zu jüdisch, den Juden zu römisch, und den Römern werde ich bald zu … zu tot sein.« Er lachte bitter auf, was ihm sichtbare Schmerzen verursachte.
Der Arzt flößte ihm einen Kräutertrank ein.
»Woran stirbt er?«, fragte ihn Salome leise.
»Ich weiß es nicht«, gab der Mediziner zu. »Schmerzen in der Brust, das könnte alles sein.«
»Es ist Gott«, widersprach Agrippa, der den Arzt gehört hatte. »Er zürnt mir, weil ich ihn gelästert habe.« Unvermittelt ergriff er Salomes Hand und richtete sich etwas auf. »Du musst … du musst auf Agrippinos achten. Er braucht jemanden wie dich. Das Land braucht jemanden …«
Erschöpft sackte er wieder auf das Kissen. »Versprich es mir.«
Sie zögerte. Selbst ein flehender Blick des Sterbenden konnte sie zunächst nicht bewegen, ein solch weitgehendes, verantwortungsvolles Versprechen zu geben. Erst Gilead, der an ihre Seite trat und sie erwartungsvoll ansah, brach ihren Widerstand. »Ich verspreche es.«
Jetzt wandte der König sich an seinen Sohn. »Höre auf deine Kusine. Sie ist so viel älter als du. Sie weiß guten Rat. Und höre … höre niemals auf den Rat von … von …« Agrippas Blick blieb auf Kephallion ruhen. Dann sackte sein Kopf zur Seite.
Ein Augenblick herrschte Stille, dann übernahm Kephallion die Aufgabe des Arztes und rief: »Agrippa ist tot.« Und er fügte hinzu. »Gott hat ihn abberufen, weil er ihn gelästert hat. Agrippa rief heute mehrfach nach römischer Art einen der Götter der Ungläubigen an, und zwar Jupiter. Darum …«
»So ein Unsinn«, fuhr Salome dazwischen. Es widerstrebte ihr, in diesem Augenblick, kaum dass Agrippa gestorben war und sein Sohn um ihn trauerte, einen lauten Streit auszufechten. Doch Kephallions Thesen durften nicht unwidersprochen bleiben.
»Agrippa selbst«, rief Kephallion, »hat eingestanden, gelästert zu haben.«
»Damit meinte er die blutigen Verfolgungen der Christiani, die nicht im Einklang stehen mit den friedlichen Traditionen von uns Juden. Du bist ein Esel, Kephallion, wenn du das nicht verstehst. Dein Leben lang hast du die Schriften verdreht, nun verdrehst du bewusst die Worte des Königs.«
Zustimmendes Gemurmel machte sich breit.
»Du bist schuld an seinem Tod«, rief sie.
Er erschrak und erbleichte, was selten passierte. Salomes Beschuldigung betraf die Tatsache, dass er Agrippa zur Christenverfolgung und zu blutigen Spielen gedrängt und damit eine zu schwere Schuld auf sich geladen hatte. Was jedoch, wenn man plötzlich auf die Idee kam, dass er noch viel konkreter mit seinem Tod zu tun haben könnte. Darum gab er lieber klein bei und schwieg, obwohl es ihm schwerfiel, vor Salome zurückzustecken.
Agrippinos nickte Salome dankbar zu. Sie war ihm in diesen Jahren fast eine Mutter geworden, und so fiel es ihm leicht, die Bitte seines Vaters zu befolgen. Er ging sogar noch weiter.
Agrippinos wandte sich an die Bürger im Sterbezimmer. »Trage es hinaus in die Welt, mein Volk, dass der König, mein Vater, tot ist, und dass seine letzten Gedanken mir gehörten sowie seiner Nichte Salome. Uns gemeinsam hat er die Sorge um das Heilige Land und seine Menschen aufgetragen. Nach unserem Willen sollen alle Verfolgungen ein Ende haben. Friede soll unser Land durchdringen, und jeder Gegner des Friedens ist unser Feind. Hört mich, ich bin euer König Agrippinos. Und an meiner Seite steht die Königin Salome.«
Das war eine Überraschung, auch für Salome. Schon als Kind hatte sie sich gewünscht, Königin von Judäa zu sein, und später hatte sie manches dafür getan. Dass es nie dazu gekommen war, hatte sie längst akzeptiert. Heute Morgen noch war sie so etwas wie eine Verbannte gewesen, und nun sah sie an der Seite eines kaum mündigen Knaben einen Traum verwirklicht, der schon Vergangenheit geworden schien. Agrippinos brauchte sie, so viel stand fest. Der Junge spürte, dass Kephallion und die Pharisäer ihm gefährlich werden konnten, dafür war sein Vater ein Beispiel gewesen. Aber er ging mit dieser verblüffenden Entscheidung auch ein Risiko ein.
Wie würde das Volk reagieren? Atemzüge lang schwankte die Stimmung. Die Bürger wisperten miteinander. Salomes berüchtigter Tanz, ihr Prozess wegen Ehebruchs, ihre bisweilen den Traditionen zuwider laufende Gesinnung – konnte das Volk mit einer solchen Königin leben? Hier im Saal waren nur wenige Bürger versammelt, doch wenn sie Salome akzeptierten, konnte der Funke leichter auf Caesarea überspringen und von dort auf andere Städte.
Aus dem Zischeln wurde ein Raunen. Schließlich rief ein Einzelner: »Es lebe König Agrippinos.« Und dann, einen gespannten Moment lang später: »Es lebe Königin Salome.«
Nun stimmten alle anderen ein. »Es lebe König Agrippinos. Es lebe Königin Salome.« Dreimal noch wiederholten sie es.
Salome schloss die Augen und lächelte.
Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
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