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Die Tötung Jakobs sprach sich in Windeseile herum
und wurde zum Auftakt einer Verfolgung, die kein Zögern mehr
kannte. Mit Genehmigung des Sanhedrin wurden auch in anderen
Städten die örtlichen Anführer der neuen Sekte gesteinigt, und
deren Gefolgsleute wurden nicht selten vertrieben. Sie flohen nach
Syrien oder bestiegen Schiffe, die sie nach Rom brachten. Der große
Teil des jüdischen Volkes, vor allem die Landbevölkerung, lehnte es
ab, sich an dem Kesseltreiben gegen die Christiani zu
beteiligen, und war angewidert von den Verfolgungen; in den Städten
jedoch reichte eine kleine, fanatische Minderheit aus, um ein
völlig anderes Bild entstehen zu lassen. Agrippa wagte nicht
durchzugreifen, denn er befürchtete Unruhen. Da zudem der
Sanhedrin das Treiben sanktionierte, schwieg er beharrlich
und zog lieber nach Caesarea, wo er zur Freude der dortigen
Griechen fröhliche Spiele veranstaltete und von allem nichts
mitbekam. Aristobul und die anderen Könige, die er hatte
beeindrucken wollen, bekamen in den wenigen Wochen ihres
Aufenthaltes ein desaströses Bild Judäas vermittelt.
»Was für ein Land!«, sagte Aristobul, als er mit
Salome am Rande eines Zedernwalds nahe Jerusalem spazieren ging.
Die Luft war frisch, und die hohen Nadelbäume schwankten und
knarrten im Wind. »In diesem Königreich fühlt man sich so wohl wie
auf einem Ameisenhaufen. Ich reise übermorgen ab, und ich würde
Judäa keine Träne nachweinen, wenn nicht …« Er senkte den
Kopf.
Salome nutzte sein Stocken, um einen möglichen
Themenwechsel zu verhindern. Sie wollte mit Aristobul keinesfalls
über Gefühle reden. »So kaltherzig es klingt: Das Schlimmste ist
gar nicht, dass einige Christiani hingerichtet werden.
Natürlich, es sind harmlose Menschen, die keine Strafe verdienen.
Weit gefährlicher ist allerdings, dass die Gewalt hierzulande am
Köcheln gehalten wird. Seit Herodes’ Tod ist Judäa nie mehr zur
Ruhe gekommen: Unruhen gegen Archelaos, Morde von den Zeloten an
Rabbinern, die Repressalien von Antipas, die Ignoranz von Pilatus,
Aufstände in Jerusalem, die Eifersüchteleien zwischen Juden und
Griechen, zwischen Juden und anderen Juden …« Sie atmete tief
durch, denn sie hatte, ohne Luft zu holen, aufgezählt. »Ich hatte
wirklich die Hoffnung, das alles würde mit Agrippa enden. Und
anfangs schien es ja tatsächlich so, als sei der Frieden zum
Greifen nahe.«
»Irgendetwas ist wohl dazwischen gekommen.«
Sie nickte entschieden. »Die Dummheit ist
dazwischen gekommen. Die Dummheit und Kephallion – was beinahe
dasselbe ist. Nur dass Kephallions Dummheit äußerst gewalttätig
ist. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Gewalt die Eigenschaft
hat, sich fortzupflanzen, sie entsteht wieder und wieder aus sich
selbst und kann das ganze Land ins Verderben stürzen.«
»Nun übertreibst du.« Er lächelte beruhigend. »Es
bedarf mehr als ein paar verwirrter Köpfe, um ein Königreich zu
Fall zu bringen. Ich muss es wissen, ich bin ein König.«
»Ja«, bestätigte sie, »aber nicht von Judäa.«
»Du solltest einmal mein Königreich sehen«,
schwärmte er. Vor seinem inneren Auge schienen die Landschaften und
Städte seiner Heimat vorüberzuziehen. »Wir haben dort Berge,
bedeckt mit Wäldern. Wir haben den breiten Euphrat, wo schon vor
Jahrtausenden Siedlungen standen, und wir haben das Pontus
Euxinus, das Schwarze Meer. Ein bisschen ist meine Heimat wie
deine, alt und ehrwürdig, nur die Menschen sind weniger religiös
und verkrampft.«
»Klingt wie das Paradies.«
»Es wartet auf dich.«
Salome schloss die Augen. Diesen Moment hatte sie
kommen sehen und gefürchtet seit dem Tag, als Aristobul auf den
»Berg des Ärgernisses« geritten kam, ja, vielleicht schon seit dem
Abschied auf dem Palatin in Rom.
»Versteh bitte, Aristobul. Ich kann Judäa nicht
einfach den Rücken kehren. Ich bin als Kind durch diesen Wald hier
spaziert, ich habe jeden Morgen Jerusalem gesehen, habe Feigen aus
den Hainen gegessen …«
»Das ist doch nicht der wirkliche Grund«, stellte
er trocken fest.
»Du willst weitere Gründe hören? Schön, du bekommst
sie. Ich bin in der Familie geboren worden, die seit einem
Jahrhundert die Verantwortung für das Land trägt, im Guten wie im
Schlechten. Wir sind die Nachfolger Davids und Salomons. Dieses
Land verlässt man nicht so einfach, wenn man eine Herodianerin
ist.«
»Du hast es doch schon einmal verlassen.«
»Im Zorn, ja. Und bin dennoch wieder
zurückgekehrt.«
»Du selbst hast gesagt, wie schwierig die Juden
sind.«
»Es ist kompliziert, dies jemandem zu erklären, der
kein Jude ist.«
»Du hast dich nie wie eine typische Jüdin
gefühlt.«
»Woher willst du wissen, wie ich mich fühle?«
»Ich bitte dich, jeder weiß das. Ich habe mit
einigen Leuten gesprochen, die mir deine Geschichte erzählt haben –
deine ganze Geschichte.«
Ihr fehlten beinahe die Worte. »Das darf doch nicht
wahr sein! Du schnüffelst in meinem Leben herum?«
Aristobul lächelte bitter und schüttelte leicht den
Kopf. »Du versuchst gerade, einen Streit vom Zaun zu
brechen.«
»So, meinst du?«
»Ja«, erwiderte er ruhig. »Deine wortreichen
Entschuldigungen, weshalb du Judäa nicht verlassen willst, deine
rührenden Kindheitserinnerungen und deine vermeintliche
Verpflichtung dem Land gegenüber, das alles sind doch nur
Ausflüchte, Salome. Du belügst dich selbst.«
»Jetzt bin ich also auch noch eine Lügnerin. Fein,
was möchtest du mir noch sagen?«
»Nichts mehr. Es hat keinen Sinn, solange du die
Wahrheit nicht anerkennen willst. Ich liebe dich, und ich weiß,
dass du starke Empfindungen für mich hast. Du lässt sie nur nicht
zu.«
»Ich will nichts mehr hören. Du bist ja völlig
verrückt.« Sie wandte sich abrupt ab und ging in den Wald davon.
Dutzende Stimmen in ihr schrien – die einen, dass sie zurückgehen
solle und um Entschuldigung bitten, die anderen, dass sie den Namen
Aristobul für immer vergessen solle. Die Stimmen nannten sie eine
Närrin, eine Furie, eine Matrone, einen kalten Fisch, eine
Verräterin, eine Verfluchte …
Irgendwann, sie war schon tief im Wald, lehnte sie
sich an einen Baumstamm und weinte, weil sie sich innerlich
zerrissen fühlte wie nie zuvor.
»Timon«, rief sie in das Gewirr der Äste hinauf,
»sag mir doch, was soll ich tun?«
Ganz Caesarea hallte wider vom Beifall der Massen,
als Agrippa, gefolgt von seinem Sohn Agrippinos, das Amphitheater
betrat und sich eine Weile mit siegreich erhobenen Händen feiern
ließ. Die Griechen der Stadt jubelten weniger ihm zu als den
prächtigen Vergnügungen, die ihnen seine Besuche brachten, doch das
zu erkennen, war Agrippa nicht der Mensch. Für diesen Tag hatte er
den Leuten eine besondere Überraschung versprochen, und er hatte
seiner gesamten Familie befohlen, diesem Ereignis beizuwohnen. So
betrat Salome zum ersten Mal eine Arena. Sie ahnte nichts Gutes.
Kephallion hatte seine Drohung von damals wahr gemacht und übte
mittlerweile einen beherrschenden Einfluss auf den König aus.
Agrippa vertraute Kephallion in allem, denn alle Ratschläge, die
dieser ihm gab, vergrößerten seine Beliebtheit im Volk, zumindest
im städtischen Volk. Das neue Bollwerk, die Agrippa-Mauer im Norden
Jerusalems, war fertig gestellt und schien die Stadt für künftige
Feinde uneinnehmbar zu machen, und die Christenprozesse schmiedeten
die verschiedenen Sekten zusammen. Über Reformen bei den Gesetzen,
über die Verbesserung der Lebensbedingungen von Bauern und
Landarbeitern, über Wasserversorgung und Straßenbau wurde nicht
länger geredet, alles drehte sich nur um die Verteidigung gegen
vermeintliche und künftige Feinde, also um unsichtbare Gespenster,
die nur existierten, weil man ihre Existenz lange genug propagiert
hatte.
»Wo ist dein Bastard?«, zischte Kephallion, während
Agrippa eine Ansprache hielt. »Der König hat befohlen, dass alle
seine Verwandten heute anwesend sein sollen.«
Salome antwortete, ohne ihn anzusehen. »Was immer
hier heute geboten wird: Es entstammt deinem kranken Kopf, und
davor werde ich meinen Sohn bewahren, solange es geht.«
»Solange es geht, ja«, grinste er. »Sieh dich mal
um.«
Zwei Wachen führten Gilead in ihrer Mitte und
übergaben ihn Kephallion.
»Sie haben mich einfach mitgenommen, Mutter«, rief
Gilead.
Salome wollte ihren Sohn zu sich holen, doch
Kephallion stieß sie mit Hilfe einer Wache zurück.
»Getrennte Plätze von Männern und Frauen«, erklärte
er zufrieden. »Auf Anweisung des Königs sitzen Weiber links auf der
Tribüne, wir Männer rechts. Keine Angst, ich passe gut auf
ihn auf und sorge dafür, dass er alles mitbekommt.«
»Du bist ein mieses Schwein, Kephallion, und ich
…«
»Was ist denn hier los?« Agrippa hatte seine
Ansprache beendet und stand kurz davor, die Überraschung zu
präsentieren. Salome störte ihn dabei empfindlich.
»Gilead ist noch ein Kind und gehört nicht in eine
Arena«, sagte sie.
»Dass ihr Weiber euren Söhnen nie etwas zutraut«,
antwortete Agrippa. »Meine Mutter war genauso, und sieh her, ich
bin ein König geworden.«
»Und was für einer«, parierte Salome in
unmissverständlichem Ton.
Agrippa gefror die gute Laune. »Willst du mir
diesen Tag verderben, Salome? Kephallion hatte Recht: Du bist
eifersüchtig auf mich, warst es immer schon, darum missgönnst du
mir meinen heutigen Triumph.«
Er ließ ihr keine Zeit zu antworten, sondern nahm
auf seinem Thronschemel Platz und hob den Arm. Das dunkle Dröhnen
der Hörner verkündete den Beginn der Spiele.
Üblicherweise wurden die Wettkämpfe in den
griechisch beeinflussten Teilen der Welt, also auch in Caesarea,
von Ringern, Reitern, Läufern oder Wagenlenkern bestritten, waren
somit sportlich ausgerichtet. Zwar steigerte der Kitzel, dass
Pferde oder Wagen verunglückten, die Spannung, ansonsten floss
jedoch kein Blut in den griechischen Arenen. Anders in Rom und den
meisten Provinzen, wo die Besucher Schwertkämpfe auf Leben und Tod
erwarteten. Und genau das wollte Agrippa heute auch dem Volk von
Caesarea bieten.
Unter dem begeisterten Applaus der zehntausend
Zuschauer zog eine Kolonne bewaffneter Männer in die Arena. Nur
wenige sahen wie professionelle Gladiatoren aus, muskulös und
siegesgewiss. Die meisten wirkten eher wie normale Bürger, die noch
nie ein Schwert in der Hand gehabt hatten, und manche mussten sogar
von Soldaten in die Arena gepeitscht werden.
»Das darf doch nicht wahr sein«, murmelte Salome.
In Judäa galt das Gebot ›Morde nicht‹ für alle Lebensbereiche,
ausgenommen die Todesstrafen, die in der thora für schwerste
Vergehen vorgesehen waren. Aber dass Gladiatoren sich vor den
Leuten gegenseitig abschlachten sollten, war ein Novum im Heiligen
Land. Nicht einmal Herodes hatte das gewagt, und sowohl die
römischen Prokuratoren wie auch die griechische Minderheit im Land
hatten sich immer daran gehalten.
»Das sind zum guten Teil verurteilte Verbrecher«,
erklärte Agrippa freudestrahlend. »Gott, wie ich diese römischen
Spiele vermisst habe.«
»Sie sehen nicht aus wie Verbrecher«, sagte Salome.
»Außerdem sind es enorm viele. Die Kolonne nimmt ja kein Ende mehr.
So viele Schwerverbrecher gibt es in Judäa doch nie und
nimmer.«
»Eintausendvierhundert«, klärte Kephallion sie auf.
»Und davon etwa ein Drittel Christiani. Zusammengetrieben
und für den heutigen Tag aufgespart von meinen Leuten.«
»Was machen wir, wenn sie sich weigern,
gegeneinander zu kämpfen?«, fragte der König seinen neuen
Ratgeber.
»Keine Sorge. Ich habe einige professionelle
Gladiatoren unter sie gemischt, mein König. Entweder sie wehren
sich oder …« Er machte eine Geste, als schneide er jemandem die
Kehle durch, und lachte.
Agrippa gab das Zeichen, dass die Kämpfe zu
beginnen hatten, und wenige Augenblicke später vermischte sich die
Begeisterung in den Rängen mit dem Klirren der Schwerter und den
Schreien der ersten Opfer.
Salome erhob sich. Sie konnte kaum glauben, welches
Ausmaß die Verfolgung mittlerweile erreicht hatte. Die Zeloten
trieben die Christiani zusammen, die Pharisäer verurteilten
sie und der König und die Griechen ergötzten sich an ihrem Tod.
Kephallion hatte eine zynische, kaltherzige Symbiose geschaffen, in
der jeder der Beteiligten seine Triebe ausleben konnte. Die Gewalt
bekam mit dem heutigen Tag eine offizielle, beinahe auch
spielerische Grundlage, und das in einem Land, dessen sechstes
Gebot das Morden verbot. Das war nicht mehr das Volk, von dem in
den heiligen Schriften die Rede war.
»Agrippa«, rief sie entsetzt, »bemerkst du denn
nicht, welchem Irrwitz du erliegst!«
So feindselig wie in diesem Moment hatte ihr Onkel
sie noch nie angesehen. »Ich habe dir schon einmal gesagt, dass du
mich vor anderen nicht mit meinem Namen anzureden hast. Du und dein
Sohn, ihr werdet euch die Spiele heute und morgen ansehen, und
danach werdet ihr meinen Palast verlassen und nach Ashdod gehen.
Ich will euch nicht mehr um mich haben.«
Salome hob trotzig den Kopf. »Nichts lieber als
das«, entgegnete sie ihm und nahm Gilead an der Hand, um die
Tribüne zu verlassen. Kephallion wollte ihr den Jungen wieder
wegnehmen und sie aufhalten. Sie zögerte keinen Moment und trat ihm
in den Unterleib. Er knickte ein, und sie nutzte seine
Wehrlosigkeit, um ihm eine Ohrfeige zu versetzen, die so heftig
war, dass er zu Boden fiel.
Agrippa sprang auf. »Was, beim Jupiter, tust du da?
Bist du jetzt vollkommen verrückt geworden?«
»Du bist verrückt geworden«, schrie sie.
»Das Land ist verrückt geworden. Alle Hoffnungen, die Efraim, ich
und der große Teil des Volkes hatten, hast du zerstört. Wärst du
bloß in Rom geblieben und hättest dich dort tot gesoffen!«
Vor Überraschung brachte Agrippa keinen Ton hervor.
Wer hatte je gewagt, so mit ihm zu sprechen! Sein Mund stand weit
offen.
»Du hättest ein großer König werden können«, fügte
Salome traurig hinzu. »Und kurz sah es so aus, als ob du wenigstens
ein mittlerer König würdest. Aber du hast es vorgezogen, der Popanz
zu bleiben, als den ich dich kennen gelernt habe. Leb wohl.«
Salome und Gilead verließen die Arena, und auch
Agrippinos drängelte sich am König vorbei. »Entschuldige, Vater«,
sagte er, »mir ist bei dem vielen Blut schlecht geworden.«
Agrippa setzte sich nachdenklich auf den Schemel
und achtete weder auf die Kämpfe in der Arena noch auf Kephallion,
der sich langsam aufrappelte und dabei leise fluchte.
»Vielleicht hat sie Recht«, murmelte Agrippa vor
sich hin und starrte plötzlich voller Befremden auf das blutige
Geschehen. »Was, beim Jupiter, richte ich hier an! Ich bin ja nicht
viel besser als Caligula.«
Kephallion erfasste die neue Situation schnell.
Wenn der König die Verfolgungen einstellen sollte, dann würden die
Zeloten überflüssig werden und jegliche Legitimation verlieren.
Wenn Agrippa jedoch plötzlich stürbe … Der Zeitpunkt dafür war
perfekt: Die Stimmung war durch die Verfolgungen aufgeheizt, die
Menschen gewaltbereit, die Zeloten anerkannt und einflussreich und
Agrippinos zu jung, um schon einen starken Herrscher abzugeben. Ihn
auf irgendeine Weise zu beseitigen, das wäre ein Leichtes, und dann
würde der Weg frei sein für den Übergang vom Königreich zum
Gottesreich: Kephallions große Stunde.
Gut, dachte er, dass er stets einen Ring trug, der
eine geringe Menge Pulvers enthielt. Er schenkte Wein in den
königlichen Kelch, ließ den Mundschenk kosten, nahm das Gefäß
wieder an sich und beobachtete konzentriert und von den anderen
unbemerkt, wie das Pulver in den Wein rieselte.
Dann reichte er ihn Agrippa.
Am Abend ging Salome in den Gärten von Caesarea
spazieren und betrachtete die fallenden Blüten der Blumen. Sie
schloss mit ihrer Mission ab, denn sie musste einsehen, nichts mehr
bewirken zu können. Statt Demütigung fühlte sie sogar Erleichterung
über die bevorstehende Verbannung aus Agrippas Nähe. Ein großer
Teil der Bürde, die seit der Abfahrt aus Rom auf ihren Schultern
gelegen hatte, fiel von ihr ab. Sie redete sich nicht ein, versagt
zu haben, und verstand, dass sie im Grunde nicht Kephallion
unterlegen war, sondern vielmehr einer Macht, gegen die kein Mensch
ankommen konnte: das Blut. Agrippa war Herodianer, und bis auf
Philipp hatten alle männlichen Mitglieder der Familie eine Neigung
zur Grausamkeit besessen, selbst der närrische Archelaos.
Zusätzlich war Agrippa in der gefühllosen Welthauptstadt erzogen
worden, wo sich alles nur um Vergnügen und Geld drehte. Nicht
einmal Gott selbst hatte den König im Zaum halten können, wie
konnte da sie es schaffen!
Sie wollte nach Ashdod zurück, das sie eine
Ewigkeit nicht gesehen hatte, wollte in den Hainen und am Strand
spazieren, Gilead das Schwimmen beibringen und ihn heranwachsen
sehen. Sie wollte Timon nahe sein.
Gilead kam angerannt. In seiner grünen,
griechischen Tunika und mit den weiten Schritten sah er aus wie
sein Vater.
»Mutter«, rief er fast atemlos und umarmte ihren
Körper.
Sie streichelte ihm über die Haare. »Du hast dich
ja schon wieder völlig verausgabt.«
»Der König«, sagte er. »Er stirbt.«
Einem alten, fast vergessenen Brauch zufolge wurde
ein sterbender König vom Volk umringt. Natürlich hatte Herodes,
nachdem er sein Leben lang Traditionen missachtet hatte, auch diese
unterbrochen. Agrippa hatte sich ihrer wieder erinnert und die
Palasttore öffnen lassen. »Ich wollte wie ein großer König sterben,
wenn ich schon nicht wie einer gelebt habe«, begrüßte er Salome mit
gebrochener Stimme, als sie an sein Bett trat.
Sie wusste nicht, was sie ihm antworten sollte. Was
immer sie sagen würde, klänge unglaubwürdig, nachdem sie ihm erst
vor Stunden an den Kopf geworfen hatte, nichtswürdig zu sein.
»Aber sieh her«, fügte er hinzu, »nicht einmal das
will mir gelingen.«
Sie wusste, worauf er anspielte. Nur wenige
Caesareaner waren erschienen. Die Griechen akzeptierten Agrippa nur
so lange als König, wie er sie mit Spielen und Geschenken
verwöhnte. Wie einst den armen Archelaos, hatten sie auch ihn weder
geliebt noch geachtet. Und was die Juden der Küstenstadt anging:
Sie nahmen ihm die Spiele übel, die er hier des Öfteren
veranstaltet hatte. Außer zwei knappen Dutzend Bürgern befanden
sich nur Höflinge, ein Rabbiner, ein Arzt sowie Agrippinos,
Gilead und Kephallion im Raum. Salome war die einzige Frau.
»Ein grausamer Witz des Schicksals«, sagte er
schwach. »Den Griechen war ich zu jüdisch, den Juden zu römisch,
und den Römern werde ich bald zu … zu tot sein.« Er lachte bitter
auf, was ihm sichtbare Schmerzen verursachte.
Der Arzt flößte ihm einen Kräutertrank ein.
»Woran stirbt er?«, fragte ihn Salome leise.
»Ich weiß es nicht«, gab der Mediziner zu.
»Schmerzen in der Brust, das könnte alles sein.«
»Es ist Gott«, widersprach Agrippa, der den Arzt
gehört hatte. »Er zürnt mir, weil ich ihn gelästert habe.«
Unvermittelt ergriff er Salomes Hand und richtete sich etwas auf.
»Du musst … du musst auf Agrippinos achten. Er braucht jemanden wie
dich. Das Land braucht jemanden …«
Erschöpft sackte er wieder auf das Kissen.
»Versprich es mir.«
Sie zögerte. Selbst ein flehender Blick des
Sterbenden konnte sie zunächst nicht bewegen, ein solch
weitgehendes, verantwortungsvolles Versprechen zu geben. Erst
Gilead, der an ihre Seite trat und sie erwartungsvoll ansah, brach
ihren Widerstand. »Ich verspreche es.«
Jetzt wandte der König sich an seinen Sohn. »Höre
auf deine Kusine. Sie ist so viel älter als du. Sie weiß guten Rat.
Und höre … höre niemals auf den Rat von … von …« Agrippas Blick
blieb auf Kephallion ruhen. Dann sackte sein Kopf zur Seite.
Ein Augenblick herrschte Stille, dann übernahm
Kephallion die Aufgabe des Arztes und rief: »Agrippa ist tot.« Und
er fügte hinzu. »Gott hat ihn abberufen, weil er ihn gelästert hat.
Agrippa rief heute mehrfach nach römischer Art einen der Götter der
Ungläubigen an, und zwar Jupiter. Darum …«
»So ein Unsinn«, fuhr Salome dazwischen. Es
widerstrebte ihr, in diesem Augenblick, kaum dass Agrippa gestorben
war und sein Sohn um ihn trauerte, einen lauten Streit
auszufechten. Doch Kephallions Thesen durften nicht unwidersprochen
bleiben.
»Agrippa selbst«, rief Kephallion, »hat
eingestanden, gelästert zu haben.«
»Damit meinte er die blutigen Verfolgungen der
Christiani, die nicht im Einklang stehen mit den friedlichen
Traditionen von uns Juden. Du bist ein Esel, Kephallion, wenn du
das nicht verstehst. Dein Leben lang hast du die Schriften
verdreht, nun verdrehst du bewusst die Worte des Königs.«
Zustimmendes Gemurmel machte sich breit.
»Du bist schuld an seinem Tod«, rief sie.
Er erschrak und erbleichte, was selten passierte.
Salomes Beschuldigung betraf die Tatsache, dass er Agrippa zur
Christenverfolgung und zu blutigen Spielen gedrängt und damit eine
zu schwere Schuld auf sich geladen hatte. Was jedoch, wenn man
plötzlich auf die Idee kam, dass er noch viel konkreter mit seinem
Tod zu tun haben könnte. Darum gab er lieber klein bei und schwieg,
obwohl es ihm schwerfiel, vor Salome zurückzustecken.
Agrippinos nickte Salome dankbar zu. Sie war ihm in
diesen Jahren fast eine Mutter geworden, und so fiel es ihm leicht,
die Bitte seines Vaters zu befolgen. Er ging sogar noch
weiter.
Agrippinos wandte sich an die Bürger im
Sterbezimmer. »Trage es hinaus in die Welt, mein Volk, dass der
König, mein Vater, tot ist, und dass seine letzten Gedanken mir
gehörten sowie seiner Nichte Salome. Uns gemeinsam hat er die Sorge
um das Heilige Land und seine Menschen aufgetragen. Nach unserem
Willen sollen alle Verfolgungen ein Ende haben. Friede soll unser
Land durchdringen, und jeder Gegner des Friedens ist unser Feind.
Hört mich, ich bin euer König Agrippinos. Und an meiner Seite steht
die Königin Salome.«
Das war eine Überraschung, auch für Salome. Schon
als Kind hatte sie sich gewünscht, Königin von Judäa zu sein, und
später hatte sie manches dafür getan. Dass es nie dazu gekommen
war, hatte sie längst akzeptiert. Heute Morgen noch war sie so
etwas wie eine Verbannte gewesen, und nun sah sie an der Seite
eines kaum mündigen Knaben einen Traum verwirklicht, der schon
Vergangenheit geworden schien. Agrippinos brauchte sie, so viel
stand fest. Der Junge spürte, dass Kephallion und die Pharisäer ihm
gefährlich werden konnten, dafür war sein Vater ein Beispiel
gewesen. Aber er ging mit dieser verblüffenden Entscheidung auch
ein Risiko ein.
Wie würde das Volk reagieren? Atemzüge lang
schwankte die Stimmung. Die Bürger wisperten miteinander. Salomes
berüchtigter Tanz, ihr Prozess wegen Ehebruchs, ihre bisweilen den
Traditionen zuwider laufende Gesinnung – konnte das Volk mit einer
solchen Königin leben? Hier im Saal waren nur wenige Bürger
versammelt, doch wenn sie Salome akzeptierten, konnte der Funke
leichter auf Caesarea überspringen und von dort auf andere
Städte.
Aus dem Zischeln wurde ein Raunen. Schließlich rief
ein Einzelner: »Es lebe König Agrippinos.« Und dann, einen
gespannten Moment lang später: »Es lebe Königin Salome.«
Nun stimmten alle anderen ein. »Es lebe König
Agrippinos. Es lebe Königin Salome.« Dreimal noch wiederholten sie
es.
Salome schloss die Augen und lächelte.