7
Das Zeremoniell am kleinen Hof von Ashdod war ausgeklügelt wie in einem Königspalast. Die Tetrarchin hatte von Anfang an eine komplizierte Hierarchie festgelegt, die strikt eingehalten werden musste. Für Feste, für den Empfang von Besuchern, für Ausflüge, Mahlzeiten, Mußestunden, Spiele und allerlei mehr gab es Regelungen, wer wann was zu tun hatte und vor allem, wie. Fast jeder erwachsene männliche Verwandte hatte ein zeremonielles Amt auszufüllen, bekam einen hübsch klingenden Titel und ein dazu passendes Gewand. Einer überwachte die Einhaltung der komplizierten kashrut, der mehr als fünfzig Speisevorschriften, die zum Beispiel die Zubereitung von Rindern, Ziegen, Schafen und Antilopen erlaubte – solange keine Milch dazu verwendet wurde -, jene von Schweinen, Eseln und Kamelen hingegen generell untersagte. Ebenfalls verboten waren Aale und Rochen, zugelassen waren alle Schuppenfische. Manche Vogelarten waren auf dem Teller gestattet, andere bei Strafe verpönt. Auch Insekten waren untersagt, mit Ausnahme von vier speziellen Heuschreckenarten, die wiederum als Delikatesse angesehen wurden. Andere Ämter waren beispielsweise das des Kämmerers, des Vorkosters und des Hofaufsehers. Die herodianische Familie war in Ashdod zu einem Reigen dienender Gehilfen und Knechte geworden, fühlte sich jedoch wohl dabei.
Alle hatten sich vor dem gyneikon versammelt und warteten stehend darauf, dass die Tür sich öffnete und sie nacheinander hereingerufen wurden, um ihre Freude darüber auszudrücken, dass die Tetrarchin wohlbehalten in das Fürstentum zurückgekehrt war.
Doch es tat sich nichts. Allerdings weilte Zacharias seit geraumer Zeit im gyneikon. Als Ältester der männlichen Verwandten war es seine Aufgabe, die Fürstin über alle relevanten Vorkommnisse zu informieren, die während ihrer Abwesenheit geschehen waren. Aber so viel war überhaupt nicht vorgefallen, dass es eine Stunde gedauert hätte, es zu berichten. Die Gerüchte vor der Tür schossen ins Kraut: Vielleicht erzählte die Tetrarchin von ihrer Reise, vielleicht gab es Neuigkeiten aus Rom, vielleicht …
»Man erzählt sich«, wisperte Berenike ihrer Freundin Salome ins Ohr, »dass der Ethnarch abgesetzt wurde und Judäa schon bald große Veränderungen bevorstünden. Dass der Reif der Könige bereits auf dem Weg nach Jerusalem sei, um neu vergeben zu werden. Jetzt stellt sich natürlich jeder die Frage, ob der dicke Antipas oder der schweigsame Philipp ihn bekommen. Für wen bist du?«
»Ich bin für Akme.«
Berenike lachte und schüttelte ihre hübschen, sorgfältig gedrehten Locken. »Du weißt genau, dass das nicht geht.«
»Das hast du auch gesagt, als ich Unterricht wollte. Und hast dich geirrt.«
Berenike lächelte sie freundlich und auch ein wenig mitleidig an. »Hätte ich bloß Recht behalten. Du hattest nichts als Scherereien, seit du in die Schule gehst, sieht man einmal von …« Sie unterbrach sich, warf einen verstohlenen Blick auf Timon, der nur einen Schritt entfernt stand, und trat so weit an Salome heran, bis ihre Lippen deren Ohr berührten. »Sieht man einmal von dem Jungen ab, der immer neben dir sitzt. Ich finde ihn ja ein bisschen klein …«
»Er ist nicht klein«, widersprach Salome sofort. »Er ist …«
Die Tür öffnete sich, und Zacharias erschien. Er blickte sich in der Menge der Verwandten um, dann blieb sein Blick auf Timon haften, schließlich auf Salome.
»Salome«, rief er. »Die Fürstin wünscht dich zu sehen.«
 
Akme saß auf einem Schemel und beobachtete den Streit, der vor ihr ausgetragen wurde.
»Das ist eine Lüge«, rief Salome und funkelte Zacharias mit Habichtsaugen an. »Du erfindest das, weil es dir nicht passt, dass ich auch etwas anderes lernen will als die Bücher der thora
Zacharias schüttelte energisch den Kopf. »Im Gegenteil, ich habe dich bisher wegen deiner Klugheit geschätzt.«
»Du hast mich nur so lange geschätzt, wie ich jedes deiner Worte für pure Wahrheit nahm. Nun habe ich angefangen, alles, was du sagst, zu prüfen und zu hinterfragen. Ich glaube dir nicht länger, dass Gott alle Tiere am fünften Tag unveränderlich erschaffen hat, da doch Aristoteles bewiesen hat, dass Tiere sich im Lauf der Geschichte verändern. Ich glaube dir nicht mehr, dass der Mond nur aus dem Grund erschaffen wurde, um uns den Monatsanfang kundzutun und damit den Tag der Arbeitsruhe, und ich glaube dir nicht …«
»Du bist wie Eva, ein schwaches, verführbares Wesen, unwürdig, das Wort Gottes in all seiner Reinheit, Schönheit und Tiefe zu begreifen. Wegen deiner Beschäftigung mit den profanen Wissenschaften der Heiden werde ich dich des cheders verweisen. Ich hätte gleich am ersten Tag, als du vor mir standest, auf Kephallion hören sollen. Du warst tückisch, hast meine Gutgläubigkeit ausgenutzt … Ich habe sogar noch zu dir gehalten, als du anfingst, dein Äußeres zu verändern. Deine Kleidung und die Bemalung deiner Lippen zeugen von Eitelkeit, ganz die Mutter. Der Herr jedoch verkündete durch den Mund des Propheten Jesaja: ›Seht doch, wie hochnäsig sie sind, die Frauen. Der Tag kommt, an dem ich ihnen allen Schmuck wegnehmen werde. Dann bekommen sie statt Wohlgeruch den Gestank von Fäulnis, statt des Gürtels einen Strick, statt kunstvoll geflochtener Haarpracht eine Glatze, statt der Schönheit die Schande eines Brandmals. Dann werden gleich sieben Frauen sich an einen Mann klammern und darum flehen, als sein Weib zu gelten‹. So sprach der Herr.«
»Oh ja, er beklagt sich viel über die Frauen«, entgegnete Salome sarkastisch. Ihr seit langem aufgestauter Ärger über die Einseitigkeit der thora, die Bevorzugung der Männer und Söhne und die Gesetze, die alles verboten, was ihr natürlich schien, machte sich nun Luft. Mochte sein, dass das einfache jüdische Landvolk rücksichtsvoll und gütig war, diese Familie war es nicht – und die Frömmler auch nicht.
»Und was ist mit den Männern?«, rief sie. »Dein Bart, zum Beispiel. Wächst der von Natur aus so spitz zu oder hilfst du da etwas nach? Und der Ring an deinem Finger? Wie nennst du das, wenn nicht Eitelkeit?«
»Wie kannst du es wagen, die Worte des Herrn zu verdrehen?«
»Wie kannst du es wagen«, übertönte sie ihn, »mir eine Sünde vorzuwerfen?«
»Ich habe selbst gesehen, wie du dich über den halbnackten Griechen gebeugt hast. Kephallion hat mir von euren Treffen erzählt, aber ich wollte mich selbst überzeugen, also bin ich zum Strand gegangen. Der Grieche war weit hinaus ins Meer geschwommen, und als er zurückkam und erschöpft im Sand lag, hast du seinen Rücken gestreichelt.«
»Na und?«
Zacharias’ Augen wurden groß, ebenso wie sein Mund. »Na und?«, rief er fast heiser. »Wir sprechen hier über ein schweres Vergehen.«
»Schluss damit«, rief Akme und erhob sich ruckartig von ihrem Schemel. »Euer alberner Disput bringt uns nicht weiter.«
Akme sah ihre Großnichte an. Nein, das war nicht mehr das Mädchen, das sie vor wenigen Monaten verlassen hatte. Salome war eine junge Frau geworden, nicht eigentlich bezaubernd, auf eine seltsame Weise jedoch anziehend. In den großen, sinnlichen Augen und den geschwungenen Konturen des Körpers war deutlich das Erbe der Herodias zu sehen, die Würde ihrer Körperhaltung und der starke Wille und Trotz, der darin zum Ausdruck kam, erinnerten dagegen an Theudion. Dazu der Perlenschmuck, die Frisur … Sie hatte, seit sie das gyneikon betreten hatte, nicht ein einziges Mal gehustet, und das, obwohl sie angesichts der Anschuldigungen aufgeregt sein musste. Keine Frage, nur ein tiefes Gefühl, gefallen zu wollen, konnte diesen rapiden Wandel herbeigeführt haben. Und wem anderem als einem jungen Mann wollte eine knapp Siebzehnjährige schon gefallen?
Die Beschuldigung des Zacharias war wohl gerechtfertigt, dieser Aspekt interessierte sie allerdings wenig. Sie konnte sich noch sehr gut an ihre eigene Zeit zwischen Kindheit und Erwachsensein erinnern, an die heftigen Gefühle, an die Nächte, die sie schlaflos in Gedanken an irgendeinen jungen Mann verbrachte, und an den Hass gegen die Sitten und Bräuche, die Intimität verboten. Mochte Salome ruhig dagegen verstoßen, und mochte sie im Stillen auch Gott verstoßen, so wie sie selbst es schon vor langer Zeit getan hatte.
Ein anderer Aspekt dieser Angelegenheit machte Akme skeptisch: Wer war dieser seltsame Grieche, der angeblich die Welt bereiste? Warum kam er ausgerechnet nach Ashdod? Irgendetwas daran beunruhigte sie.
»Was kannst du mir über diesen Jungen berichten«, fragte Akme. »Wer ist er?«
»Er heißt Timon«, antwortete Salome, erschöpft vom Streit.
»Das weiß jeder. Woher kommt er?«
»Ich habe ihn nicht gefragt. Er war früher in Rom und …«
»In Rom? Und was will er hier?«
»Ich … ich weiß nicht. Lernen vermutlich. Griechen lernen andauernd.«
»Keine spitzfindigen Antworten, bitte. Welche Fragen stellt er? Wollte er auch etwas über mich wissen?«
»Nur das Übliche.«
So kam sie nicht weiter. Ihre Großnichte war in diesen Timon verliebt, das war offensichtlich. Sie musste, um alles über den Griechen herauszufinden, gerissener vorgehen.
»Hast du nun also bei diesem Griechen gelegen oder hast du nicht?«
Zacharias kam mit dem Gebetbuch herbei. »Schwöre auf das siddur«, rief er feierlich, doch Akme schob ihn zur Seite.
»Diesen Unsinn brauchen wir nicht. Sieh mich an, Salome, und sage mir die Wahrheit.«
Ihre Großnichte blickte zu ihr auf.
»Nun?«, fragte sie nach und hob Salomes Kinn an. »Du würdest, da bin ich mir sicher, das siddur und Gott anlügen, aber nicht mich. Nicht nach allem, was ich für dich und deine Familie getan habe. Also bitte, sage mir die Wahrheit.«
Salome zögerte nur noch einen Moment, dann senkte sie den Kopf. »Wir haben nebeneinander gelegen«, gestand sie. »Und wir haben uns manchmal berührt. Doch wir haben nicht …«
»Diese Vergehen genügen bereits«, empörte sich Zacharias. »Das Mädchen gehört unter die Obhut eines Mannes, damit sie nicht verdirbt. Wir sollten sofort ihren Vater verständigen. Theudion ist ein frommer Mann, er wird die richtige Wahl treffen.«
Akme kniff die Augen zusammen, sah abwechselnd den Rabbiner und Salome an und dachte nach. Gleich darauf kam ihr eine Idee.
»Nicht Theudion, sondern ich«, sagte sie an Salome gewandt, »werde dir einen sittenstrengen Mann bestimmen, der dich im Zaum zu halten vermag und der nichts für Eskapaden übrig hat. Dem Brauch und Tradition über alles gehen.«
Zacharias nickte, als habe er soeben einem Spruch aus dem Munde Salomons höchstselbst gelauscht, doch schon im nächsten Augenblick entglitten ihm alle Gesichtszüge.
»Und dieser Mann«, fügte Akme hinzu, »heißt Kephallion.«
 
Im gyneikon hätte man eine Stecknadel fallen hören können. Zacharias war längst hinausgeschickt worden; vergeblich hatte er gegen die Idee einer Ehe zwischen Salome und Kephallion protestiert, wobei er wohl weniger an Kephallion dachte als an seinen Ruf als Rabbiner. In einem Nebensatz hatte er seine Besorgnis auf den Punkt gebracht: Salomes Verhalten erinnerte ihn an das ihrer Mutter. Der ganze Hof wusste, dass Herodias nicht deswegen jede Woche in die Ashdoder Kaufmannsvillen eingeladen wurde, weil man mit ihr so blendend Konversation hätte treiben können. Dort trieb man etwas ganz anderes. Nur wenn Theudion für einige Wochen seinen Posten als Toparch von Jebna verließ und an den Hof kam, war Herodias ganz Ehefrau. Sie nahm Theudion sogar in die besagten Kaufmannsvillen mit, doch bei solchen Gelegenheiten war die Abendunterhaltung natürlich weitaus förmlicher. Kurz gesagt, jeder außer Theudion wusste, dass Herodias ein frivoles Biest war. Ab morgen hätte Salome denselben Ruf weg, und überall würden die Verwandten wispern, dass sie das schon lange hatten kommen sehen.
Doch an so etwas konnte Salome jetzt kaum denken. Obwohl sie still und reglos auf ihrem Stuhl saß, überschlugen sich ihre Gedanken.
Sie würde Timon vielleicht nie wiedersehen dürfen. Sie musste ihr Leben mit Kephallion verbringen. Und es gab nichts, was sie dagegen tun konnte.
Die Tetrarchin stand schon seit einer Weile am Fenster und beobachtete sie. Salome konnte nur ahnen, was im Kopf ihrer Großtante vorging. War sie enttäuscht? Sitte und Anstand hatten in ihren Lektionen nie eine Rolle gespielt. War sie verärgert, weil diese Angelegenheit die Pläne durchkreuzte, die sie mit ihr gehabt hatte? Und warum hatte sie ausgerechnet Kephallion als Ehemann bestimmt, wo sie doch wusste, dass Salome und er Feinde waren? Wollte sie sie bewusst hart strafen? Mit jedem Atemzug fühlte Salome sich elender. Sie wusste, dass sie die Tragweite des Ganzen noch nicht begriffen hatte. Alles, was in der letzten Stunde geschehen war, nahm sie wie durch einen Dunst wahr. Doch der würde sich irgendwann lichten, heute Nacht oder morgen, und dann stünde die Zukunft ihr klar und erbarmungslos vor Augen. Davor fürchtete sie sich am meisten.
Eine Ewigkeit schien vergangen, als Akme endlich wieder sprach.
»Archelaos wurde abberufen, ich nehme an, du hast schon davon gehört. Nun, diese Entscheidung des Augustus kann niemanden überraschen. Für Rom ist Stabilität oberstes Gebot. Und Judäa braucht einen Menschen auf dem Thron, der das Land unabhängig halten kann, ohne dass es zu einer unberechenbaren Größe in Roms strategischen Planungen wird. Ein solcher Mensch braucht Stärke, Gewandtheit und die Fähigkeit, in ungewohnten Mustern zu denken. Herodes war so ein Mensch. Bei seinem Tod war Judäa nach außen ein zuverlässiger Bündnispartner, weil er die religiösen Gruppen im Innern unter Kontrolle hatte und weil er unjüdisch denken konnte. Und ich werde sein Werk bald fortsetzen. Ich werde Königin, so wie ich es dir angekündigt habe.«
Salome hob kurz den Kopf. »Das freut mich für dich, Großtante«, sagte sie.
Akme atmete tief durch. »Tja, ich kann verstehen, dass dir momentan andere Dinge durch den Kopf gehen. Das würde mir genauso gehen, wenn ich meine Großtante so hinters Licht geführt hätte.«
Salome wollte protestieren, aber eine kleine Handbewegung Akmes reichte, um sie verstummen zu lassen.
»Ich spreche nicht von deiner Verliebtheit, Salome. Darin sehe ich sogar etwas Positives, denn sie zeigt mir, dass du mutig bist, sonst hättest du dich nicht gegen alle Gesetze mit diesem Griechen eingelassen. Du magst dich vergnügen, mit wem du willst, solange du es heimlich tust. Eine normale Beziehung schadet mir nicht. Und was mir nicht schadet und was mir nicht nutzt, interessiert mich nicht. Ich habe eine Tetrarchie zu regieren und das übrige Judäa sowie die Geschehnisse in Rom im Auge zu behalten, da ist es wichtig, das Bedeutende vom Unbedeutenden zu trennen. Deine Liebelei ist unbedeutend, Salome. Etwas anderes, das du getan hast, ist dagegen bedeutend. Sieh mich bitte an, wenn ich mit dir spreche.«
Salome hob den Kopf.
»Ich habe dir immer vertraut. Ich habe meine Pläne und meine Nachfolge mit dir besprochen. Ich wollte, dass du in meine Fußstapfen trittst. Ich habe in dir eine junge Frau gesehen, die mein Werk fortführen kann. Nun muss ich feststellen, dass du mich anlügst.«
»Ich lüge dich nicht an, Großtante.«
»So? Etwas zurückhalten ist auch eine Lüge. Ich habe dich über den Griechen befragt, doch du bist einsilbig. Nicht, dass diese Informationen über den Burschen von großer Wichtigkeit wären, es geht hier um das Prinzip. Entweder du vertraust mir, oder du vertraust mir nicht.«
»Natürlich vertraue ich dir.«
»Gut, dann wäre das geklärt.« Akme trat zu Salome und legte ihr besänftigend die Hand auf die Schulter. »Wenn ich es mir recht überlege, meine Kleine, muss diese Ehe mit Kephallion nicht sein. Der Junge ist in höchstem Maße unberechenbar, und so jemandem würde ich niemals die Herrschaft über das Fürstentum vererben. Als dein Mann würde er natürlich mitregieren, wenn ich dir …«
In Salomes Augen blitzte Hoffnung auf. »Heißt das, du ziehst mich nach wie vor als Nachfolgerin in Betracht?«
Akme machte ein Gesicht, als ob das niemals in Zweifel gestanden hätte. »Du wirst meine Nachfolgerin werden. Du wirst allen Männern zeigen, was in dir steckt.«
»Oh, danke, Großtante. Und ich muss nicht heiraten?«
Akme wiegte den Kopf hin und her. »Unverheiratet können wir dich nicht lassen, meine Kleine. Doch es muss ja nicht gerade Kephallion sein. Wie wäre es mit …« Sie überlegte ein wenig, dann sagte sie: »Zacharias.«
Salome riss ihren Mund vor Schreck weit auf.
»Nur ein Scherz«, beruhigte Akme sie lachend. »Wirklich nur ein Scherz. Ich dachte in Wahrheit an Timon – vorausgesetzt, er will.«
Salome sprang auf. »Timon? Du lässt mich Timon heiraten?«
»Nur, wenn er will.«
»Oh, er will, Großtante, da bin ich ganz sicher.«
»Er müsste zum Judentum übertreten.«
»Das wird er, Großtante. Ich … oh, ich bin dir ja so dankbar.« Sie fiel Akme um den Hals und schluchzte vor Freude. Innerhalb von wenigen Momenten war wieder einmal alles anders geworden. Nun bekam sie alles, was ihr etwas bedeutete: Timon, ein Fürstentum, eine Aufgabe, Anerkennung …
»Schön«, sagte Akme. »Und nun erzähle mir etwas über deinen Bräutigam. Ich muss alles über den Mann wissen, der meiner Kleinen künftig beim Regieren hilft. Alles, hörst du? Alles, was du weißt.«
Salome sah die Tetrarchin mit großen Augen an und holte tief Luft. Sie hätte ihrer Großtante alles erzählt, was sie wusste, jede Meinung offengelegt, jeden Fetzen Erinnerung vor ihr ausgebreitet, jedes Geheimnis verraten, mit Ausnahme von … Sie hatte versprochen, nie über den Mann auf der Zeichnung zu sprechen. Aber vielleicht war das alles gar nicht so wichtig, und sie enttäuschte ihre Großtante, verspielte ihr Erbe und verhinderte die Heirat wegen nichts als einem unwichtigen, kindischen Geheimnis.
Sie stellte sich Timons Gesicht vor, seinen Körper. Sie konnte Timons Stimme hören, wie sie scherzte und sich zärtlich mit dem Meeresrauschen verband. Sie roch das Salz auf seiner Haut, spürte die Hand, die im Hain vorsichtig ihre Stirn berührte, hörte ihn im Garten von Ashdod lachen, erinnerte sich an sein Schweigen in manchen Momenten, dieses Schweigen, das mehr über ihn sagte als alle Worte, die er gesprochen hatte, und sie fühlte plötzlich, wie kompliziert und zerbrechlich Timon eigentlich war.
Könnte sie jetzt bloß mit ihm sprechen, ihm erklären, in welchem Dilemma sie steckte.
Akme streichelte Salome gütig über die Haare. »Ich höre«, sagte sie.
 
Timon beugte sich über die Pritsche, auf der er jede Nacht schlief, und wühlte unter der Wolldecke. Achtsam blickte er zur Tür. Man hatte ihn nach seiner Ankunft bei den Dienern des Palastes, nicht bei den Sklaven, einquartiert. Es war eine Klause mit zwei anderen Dienstboten, und man konnte nie wissen, wann sie kamen.
Viel Zeit brauchte er nicht. Er hatte den Dolch, mit dem einst Nikolaos getötet worden war und den der Mörder zurückgelassen hatte, nur in ein Tuch gewickelt und zwischen Rahmen und dem Strohpolster versteckt, das als Matratze diente. Nun musste er ihn nur noch unauffällig in seiner Kleidung verstecken.
Er betrachtete die Waffe, so wie er es in den letzten Jahren immer wieder getan hatte. Die Klinge des Dolches schimmerte rötlich wie ein verwaschener Stoff. Er hatte das Blut seines Vaters nie entfernt, aber die Zeit verwischte jeden Tag mehr die Spuren dieses Verbrechens. Jetzt war die Gelegenheit gekommen, die Klinge mit dem Blut der Mörderin zu färben. Salome würde ihn gewiss gleich der Tetrarchin vorstellen.
Nicht das Attentat machte ihm Angst, er hatte es schon zu häufig im Geiste durchgespielt. Nein, seine schlimmste Angst war, dass er keine Gelegenheit mehr haben würde, Salome alles zu erklären. Sie würde glauben, er habe sie ausgenutzt, und eigentlich hatte sie damit auch Recht. Sie würde auch glauben, dass er sie nie geliebt habe, und diese Vorstellung tat weh: zu gehen, ohne die Wahrheit sagen zu können.
Es war schwieriger, als er dachte, den Dolch unauffällig in der Kleidung zu verstecken. Die warmen Temperaturen ließen eine langärmelige Tunika nicht zu, das könnte Verdacht erregen. Er trug nur eine griechische Tunika, die weit über den Knien endete und sogar eine Schulter und die linke Brust freiließ. Endlich kam er auf die Idee, den Dolch zwischen Gürtelband und Tunika zu stecken, und zwar in seinem Rücken. Einige Falten darüber gelegt und schon …
»Grieche«, rief eine Stimme von hinten. Es war einer der Diener, die hier mit ihm wohnten.
Er wirbelte herum. »J-Ja?« Hatte der Kerl etwas gesehen? Es schien nicht so.
»Ich habe dich schon gesucht. Warum hast du nicht vor dem gyneikon gewartet? Du sollst der Tetrarchin vorgestellt werden.«
Timon atmete tief durch. »Ich komme«, sagte er.
Salome zuckte zusammen, als sie Timon hereinkommen sah. Er blickte ernst, so wie damals, als sie über den Mann auf der Zeichnung gesprochen hatten.
Timon blieb in einiger Entfernung stehen und verneigte sich leicht, so wie es vorgeschrieben war. Er benahm sich vorbildlich.
Die Tetrarchin nickte zur Begrüßung. Sie saß auf ihrem Schemel, Salome stand links einen Schritt neben ihr.
»Komm näher«, rief Akme.
Timon zögerte einen winzigen Augenblick, dann schritt er langsam auf die Tetrarchin zu.
Salome ließ Timon nicht aus den Augen. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, sie bekam eine Gänsehaut. Nie hatte sie ihn stärker geliebt als jetzt, wo nichts mehr zwischen ihnen stand.
Es war nicht abgesprochen gewesen, und das Protokoll ließ so etwas nicht zu, aber sie gab einem Instinkt nach und ging Timon entgegen.
»Bleib zurück«, rief Akme.
Sie blieb stehen, streckte die Hände nach Timon aus. Sie sagte seinen Namen, ihre Stimme war halb erstickt. »Ich – habe ihr von der Zeichnung erzählt«, fuhr sie fort. »Von dem Mann.«
Timon warf ihr nur noch einen flüchtigen Blick zu, dann rannte er los, zückte einen Dolch und rief etwas auf Griechisch, das Salome nicht richtig verstehen konnte.
»Verhaftet ihn«, schrie die Tetrarchin, und im gleichen Moment brachte eine Wache Timon zu Fall. Er stieß sie weg, doch eine zweite kam hinzu, dann eine dritte.
»Timon!« Salome rannte zu ihm, blieb aber machtlos vor den kämpfenden Männern stehen. »Timon«, rief sie noch einmal.
Mit letzter Kraft konnte Timon einen Arm freimachen und schleuderte den Dolch gegen die Tetrarchin, doch er war schlecht geworfen und verfehlte sein Ziel. Eine Wache rammte einen Schwertknauf in Timons Nacken. Bewusstlos brach er zusammen.
 
Salome starrte in die Dunkelheit, die sie umgab. Die Läden waren geschlossen, die Öllampen verloschen. Die Neumondnacht ließ nicht den geringsten Lichtschimmer durch die Ritzen dringen. Kopfschmerzen und Fieber hatten sie befallen, Vorwürfe plagten sie, zuerst an sich selbst gerichtet, wegen des gebrochenen Versprechens, dann an Timon, weil er die Großtante ermorden wollte, als Nächstes gegenüber Herodias, der Timons Schicksal völlig gleichgültig war, die nur an das Erbe dachte. Aber dachte sie nicht selbst daran? Hatte sie die Aussicht, Fürstin zu werden, nicht dazu gebracht, Timon zu verraten? Eine Weile tröstete sie sich damit, nicht gewusst zu haben, was sie anrichtete. Das hielt jedoch nicht lange vor.
Irgendwo, dachte sie, hatte ich es doch gewusst. Sie wusste, dass es ein Geheimnis gab, wusste, dass Timon seltsame Fragen über Akme gestellt hatte, und wusste, dass beides zusammenhing. Sie hatte es nicht wissen wollen und sich gegen den Gedanken gewehrt, dass es Timon überhaupt nicht um sie ging, sondern um etwas anderes. Und sie wehrte sich auch jetzt noch dagegen.
Doch schließlich war sie auch zum Denken zu schwach. Sie dachte gar nichts mehr, bewegte sich kaum, trank nichts vom bereitgestellten Wasser, obwohl sie durstig war, öffnete nicht den Fensterladen, obwohl die träge Zimmerluft wie eine schwere Decke auf ihrer Brust lastete. Es gab nur die Dunkelheit und sie, Stunde für Stunde.
Als die Stille der Nacht wich und die Geräusche des Tages auch in ihre kleine, düstere Welt drangen, erwachte auch Salome aus ihrer Apathie. Das Erste, was sie dachte, war, dass noch nicht alles verloren sei, dass sie bei der Tetrarchin ein gutes Wort für Timon einlegen könne.
Herodias betrat auf leisen Sohlen das Gemach und setzte sich auf die Bettkante.
Als sie sah, dass Salome wach war, flüsterte sie. »Wir müssen zur Tetrarchin.«
»Daran habe ich auch gedacht«, erwiderte Salome sofort. »Timon ist kein Jude, er darf nicht nach unseren Gesetzen bestraft werden.«
»Bei einem solchen Verbrechen darf er es«, korrigierte Herodias sanft. »Liebes, ich weiß, dass du an ihm hängst, ja, ich kann dich gut verstehen. Jede von uns ist einmal im Leben unglücklich verliebt. Doch glaube mir, kein Mann ist es wert, dass man sich auf Gedeih und Verderben an ihn hängt. Männer in ihrer Gesamtheit sind unverzichtbar, ja, das sind sie, niemals aber ein einzelner Mann. Lass diesen Mann stark, schön und ergeben sein, lass ihn sinnlich und dankbar sein – es gibt Tausende und Abertausende anderer Männer, die ihn in jeder Einzelheit ersetzen können. Stell dir einen Baum vor, der das ganze Jahr über Früchte trägt. Die Männer sind wie Obst, du brauchst sie nur pflücken, jeden Tag, wann es dir beliebt.« Herodias zwinkerte. »Nun ja, da sie verbotenes Obst sind, muss man geschickt vorgehen.«
Da Salome weiter schwieg, fuhr Herodias fort: »Timon, so hat sich herausgestellt, ist der Sohn von Nikolaos von Damaskus, und er ist ein sehr verwirrter Junge, Liebes. Er gibt der Tetrarchin die Schuld am Tod seines Vaters, was völlig absurd ist. Und in seinen Sachen hat man die Zeichnung eines Mannes gefunden, der einmal hier in den Diensten des Hofes stand. Vermutlich hat er ihn in seinem Wahn schon vor einiger Zeit ermordet, jedenfalls fand man Blutspuren an seinem Dolch.«
Herodias atmete tief durch und schüttelte den Kopf. »Du musst ihn vergessen, Liebes. Er kommt in den Kerker. Er hat keine Zukunft, aber du hast eine. Und wenn du erst diesen Hof beherrschst, verspreche ich dir, persönlich dafür zu sorgen, dass dir die edelsten, schönsten und tapfersten Männer zu Füßen liegen – oder wo immer du sie liegen haben willst.«
Herodias atmete erneut tief durch und tätschelte Salomes Hand. »So, und nun ziehe dir etwas Feines an, denn soeben trifft eine wichtige Botschaft aus Rom ein, und die Tetrarchin hat den Hof zusammengerufen.«
Salome fühlte sich nicht besser. Sie dachte nur an Timon und wie ihm zu helfen war. Vielleicht, kam ihr in den Sinn, war die Botschaft aus Rom so erfreulich für ihre Großtante, dass sie eine Amnestie aussprach. Vielleicht konnte sie Akme wenigstens dazu bringen, sie zu ihm zu lassen, um mit ihm zu sprechen und ihre Liebe zu bekräftigen. Diese Hoffnung allein war es, die ihr die Kraft gab, aufzustehen und sich für den Empfang anzukleiden.
 
Gewöhnlich diente der vordere Saal des gyneikons zum Empfang hoher Gäste; nur an diesem Tag bestimmte die Tetrarchin es anders. Da die Sonne ungetrübt vom Himmel schien und der Anlass so außergewöhnlich war, dass nicht nur die Familie und die Hofbeamten anwesend sein sollten, sondern auch die herbeigerufenen Kaufleute aus dem reichen Ashdod, befahl sie, den Empfang für den Botschafter auf dem großen Hof abzuhalten. Der fürstliche Thronschemel wurde aufgestellt und Kelche für einen anschließenden Umtrunk bereitgehalten. Die Hofmusiker wurden instruiert, heitere Melodien zu spielen, sobald der offizielle Teil beendet war.
Die Gesellschaft, die sich versammelte, trug natürlich dem Anlass gemäß feinste Kleidung. Da nach Gottes Gebot keine verschiedenen Materialien miteinander verwoben werden durften, kamen die Stoffe aus jüdischen Webereien und waren grober gefertigt als die glänzenden Gewänder aus Mischgewebe von den korinthischen Webstühlen. Ein solches aber trug die Tetrarchin, als sie erschien. Das gelbe Linnen leuchtete wie ein Sonnenstrahl, und die eingewobenen Goldfäden glitzerten bei jeder kleinen Bewegung der Herrscherin. Sie nahm die Verbeugungen der Anwesenden huldvoll entgegen, setzte sich und nickte.
Sie gab ein Zeichen, woraufhin ein Zeremonienmeister verkündete: »Der edle Lucius Coponius, Kommandant der zwölften römischen Legion Victoria.«
Das Erscheinen von Coponius war eine Überraschung. Viele kannten den Römer noch von seinem Besuch an diesem Hof während des jüdischen Aufstands gegen Archelaos. Er befehligte noch immer in der Provinz Syrien jene Legion, die das Grenzgebiet zu Judäa überwachte und die damals Tausende von Juden nach der Niederschlagung des Aufstands gekreuzigt hatte. Auch Salome erinnerte sich noch gut an ihn, allerdings weniger in seiner militärischen Funktion als an seine fröhliche Stunde mit Herodias im Hain.
»Coponius, welche Freude«, begrüßte ihn die Tetrarchin und bat ihn mit einer einladenden Handbewegung, näher zu treten.
Der Kommandant war in vollem Ornat erschienen. Über der weißen tunica angusticlavia, die ihn als Mitglied der Ritterschaft auswies, des nach den Patriziern zweithöchsten römischen Standes, trug er einen aus Bronze gefertigten Brustpanzer und einen schwarzen, wollenen Umhang, der auf der Schulter durch eine Spange geschlossen war. Als er auf Akme zuging, rasselte sein Schwert am Hüftgürtel. Seinen Metallhelm mit dem schwarzen Federbusch behielt er auch dann noch auf, als er vor die Tetrarchin trat.
Wortlos hielt er ihr eine Schriftrolle hin.
Akme nahm sie entgegen und betrachtete das Siegel. Sie erwartete eine Botschaft des Augustus. »Die ist ja von Livia«, rief sie erstaunt.
»Von Livia Augusta«, korrigierte er.
»Augusta?«
»Augustus hat ihr diesen Titel testamentarisch verliehen: Die Erhabene.«
Die Tetrarchin sah ihn fragend an. »Testamentarisch?«
»Augustus ist tot«, verkündete er.
Ein Raunen ging durch die Menge. Selbstverständlich hatte hier niemand an der Sterblichkeit des Augustus gezweifelt, denn man hing weder seinem Glauben an, noch war man je Teil seines imperialen Herrschaftssystems gewesen. Doch dieser Mann war seit beinahe einem halben Jahrhundert der Lenker der römischen Welt, er war der Erbe des sagenhaften Cäsar, der Bezwinger Ägyptens und zugleich der große Friedensbringer. Nur sein eigenes Volk sah ihn bereits zu Lebzeiten als Gott, nicht die Juden, und doch erschauerten sie für einen Augenblick. Einen Atemzug lang stand auch hier die Welt still, eine Ära war zu Ende.
Die Tetrarchin las die Schriftrolle, und mit jeder Zeile wurde sie bleicher. »Das kann nicht sein«, flüsterte sie.
Coponius klang mitleidlos, als er den Inhalt zusammenfasste: »Die erhabene Livia Augusta teilt mit, dass der neue Imperator Tiberius verfügt hat, dass die Ethnarchie Judäa von nun an römisches Prokurat ist. Die Fürsten Antipas und Philipp sowie du selbst dürfen ihr Territorium weiter regieren, jedoch nur unter der Oberhoheit eines Prokurators. Zu diesem wurde ich bestimmt.«
»Das kann nicht sein«, flüsterte sie erneut. »Das ist ein Irrtum. Ich werde Königin.«
»Davon ist mir nichts bekannt.«
Akme schien ihn nicht gehört zu haben. »Ich werde Königin, Coponius. Sie hat es mir versprochen.«
»Wer?«
»Livia.«
»Livia Augusta«, korrigierte er kühl.
Akme schleuderte die Schriftrolle zu Boden. »Augusta oder nicht. Sie ist ein falsches Weib, wenn sie ihre Versprechen nicht hält.«
»Hüte deine Zunge, Fürstin. Von nun an vertrete ich hier römische Ordnung.«
Sie ging auf ihn zu. Ihre Augen weiteten sich grotesk. »Ich bin die Königin«, schrie sie und rüttelte an seinem Brustpanzer. Coponius versuchte, ihre Hände festzuhalten, aber sie riss sich immer wieder los und schlug auf ihn ein. Schließlich gelang es ihm, sie zu bändigen.
Ihr Mund verzog sich zu einem entsetzlichen, stummen Schrei. Die alte Frau erstarrte förmlich in den Händen von Coponius.
Er ließ sie wieder frei. Sie taumelte, drehte sich um, ging eine Stufe in Richtung ihres Thronschemels, hielt sich die Hände vor das Gesicht, ließ sie wieder sinken, wankte und fiel zu Boden.
Erstarrt blickte der Hof auf die tote Fürstin.
 
Der Hof von Ashdod befand sich in Auflösung. Man brachte die Bestattung der Tetrarchin schnell hinter sich, wobei man weder ihren Wunsch respektierte, im Herodeion beigesetzt zu werden, noch viele Gedanken an die Tote verschwendete. Dafür war wenig Zeit. Von Norden rückten dreitausend Legionäre in Judäa ein, ein Kader davon war nur noch zwei Tagesmärsche von Ashdod entfernt, und eine römische Galeere kreuzte bereits vor der Küste. Keiner am Hof hatte etwas von den Römern zu befürchten, die lediglich ihr neues Prokurat sichern wollten, aber der schnelle Zerfall jeglicher jüdischer Autorität in Ashdod sorgte für Unruhe.
Vom Testament Akmes erhofften sich alle Trost. Ein neuer Tetrarch könnte vielleicht ein wenig Stabilität zurückbringen. Doch obwohl das Testament noch nicht verlesen war, ging das Gerücht, dass keiner aus der Familie das Fürstentum erben würde, sondern Livia, die Mutter des neuen römischen Imperators. Man machte sich auf das Schlimmste gefasst: dass man erneut vor dem Nichts stand. Wie nach dem Tod des großen Herodes, so würde der Familie vielleicht auch jetzt nichts anderes übrig bleiben, als sich nach einer neuen Bleibe umzusehen, wobei die Möglichkeiten stark eingeschränkt waren. Jerusalem, wohin sie alle am liebsten gehen würden, schied aus. Zwar kündigte Coponius an, nicht die ständig rumorende Stadt Davids als Sitz seiner Prokuratur zu wählen, sondern die hauptsächlich von Griechen bewohnte Küstenstadt Caesarea. Er behielt sich jedoch vor, den Jerusalemer Palast gelegentlich zu benutzen, und für einen Römer als Hausherrn war die frühere Königsfamilie zu stolz. So blieb ihnen lediglich, auf ein Hofleben zu verzichten – was hier keiner auch nur einen Lidschlag lang in Erwägung zog – oder zu einem der beiden verbleibenden Fürsten zu ziehen, zu Antipas nach Galiläa oder zu Philipp in die Halbwüsten Basans. Die bange Frage nach dem Testament und seinen Folgen füllte die letzten Tage von Ashdods einst prächtigem Hof aus.
Von allen ging es Herodias am schlechtesten. Wenn die Gerüchte stimmten, dann war sie erneut um ein Erbe betrogen worden, das ihr schon sicher schien, und während dieser Tage fluchte sie tausendmal still in sich hinein. Dass es den anderen Familienmitgliedern genauso ging, tröstete sie nur wenig. Nach wie vor standen sie finanziell schlechter als jeder gewöhnliche Kaufmann; sie besaßen kein Land, kein Haus und kein nennenswertes Geschmeide. Sie blieben von der Gunst anderer abhängig. Diesmal aber war sie nicht gewillt, das Schicksal einfach hinzunehmen. In ihr reifte ein viel versprechender, wenn auch gefährlicher Plan. Sie musste allein vorgehen, denn Theudion war zu aufrichtig und Salome noch zu jung und unverdorben, als dass sie hätten eingeweiht werden dürfen. Das Einzige, worüber Theudion sich Gedanken machte, war, dass er nun womöglich sein Amt als Toparch von Jebna abgeben musste, in dem er sich – lächerlich genug – wohl gefühlt hatte. Und Salome belästigte sie unentwegt mit ihrem Kummer wegen des Griechen.
»Jetzt, wo Akme tot ist, wird man ihn doch nicht verurteilen, oder?«, fragte Salome.
»Wenn man dich hört, könnte man meinen, du freust dich, dass die Alte gestorben ist.«
Salome war tatsächlich, zu ihrem eigenen Erstaunen, eher erleichtert als betrübt. Noch vor wenigen Wochen hätte ihr der Tod der Großtante schrecklichen Kummer bereitet. Jetzt war alles anders. Die alte Frau, die sie lange Zeit geliebt hatte, entpuppte sich als Lügnerin. Sie hatte ihr auf tückische Art Informationen entlockt, mit Zwangsheirat gedroht und sie mit einer Erbschaft geködert, die sie vermutlich längst vergeben hatte. Durch Akmes Reaktion auf Livias Botschaft konnte Salome gut nachvollziehen, welches Spiel Akme getrieben hatte. Und dann die undurchsichtige Sache mit dem Mord an Nikolaos …
Erst jetzt fiel ihr auf, zu welcher Frau sie jahrelang aufgeblickt hatte. Seltsamerweise hatte sie zu ihren Lebzeiten alles ignoriert, was ein Licht auf Akmes wahren Charakter geworfen hatte. Das war ihre eigene Schuld, die Fakten waren immer bekannt gewesen, ja, Akme selbst hatte sie ihr mitgeteilt. Jahrzehntelang hatte diese Frau an der Seite eines Tyrannen gelebt, ohne ihn in seinem Tun zu korrigieren, obwohl sie sich so prächtig auf Manipulation verstand. Wenn sie ihn beeinflusst hatte, dann nur für ihre Zwecke; die Entscheidungen ihres Bruders hatte sie also gutgeheißen. Dafür sprach auch, dass sich seit den Zeiten des tyrannischen Herodes wenig in Judäa geändert hatte. Salome hatte stets aufmerksam zugehört, wenn die Familie sich unterhielt, und sie hatte fast in jedem Gespräch Worte wie Hinrichtung, Widerstand und Niederschlagung aufgeschnappt. Immer wieder wurde von unbelehrbaren Aufrührern gesprochen, von Spitzeln, von Überwachung.
Salome erinnerte sich nun auch, was ihr Akme selbst damals in der Sänfte prophezeit hatte: Man wird dich verraten. Dir werden sich Menschen entgegenstellen, von denen du das nie geglaubt hättest.
So war es gekommen. Wie konnte sie nur so blind gewesen sein!
»Ich glaube, wir haben sie nicht gut gekannt«, sagte Salome. »Niemand von uns. Außer Timon, natürlich.«
Herodias verdrehte die Augen. »Natürlich.«
»Bitte, Mutter, er darf nicht bestraft werden. Kannst du da nicht etwas tun? Jetzt hat Coponius das Sagen. Auf dich hört er bestimmt. Ihr versteht euch doch gut.«
Herodias sah sie entgeistert an. »Wie kommst du denn darauf?«
Salome biss sich auf die Lippe. »Ich – meinte ja nur. Auf dem Schmaus zu chanukka damals habt ihr euch bestens unterhalten.«
»Nun ja …« Herodias fummelte an ihrem Kleid herum. »Dass du dich daran erinnerst …«
»Tust du mir den Gefallen?«, hakte Salome nach.
»Nur wenn du aufhörst, von diesem Burschen zu reden – und an ihn zu denken. Ich dachte, du möchtest die Herrin von Ashdod werden.«
»Das möchte ich auch – mit Timon an meiner Seite. Es liegt mir so viel an ihm, Mutter. Bitte, du musst tun, was du kannst.«
»Also schön«, gab Herodias nach.
Salome umarmte sie. »Danke, du bist die beste Mutter auf der ganzen Welt.«
Doch Herodias hatte andere Pläne.
 
»Ich wusste, dass du kommen würdest. Die Frage war nur, wann.«
»Beinahe wäre ich nicht gekommen.«
»Du bist eine schlechte Lügnerin, Herodias.« Coponius schlenderte auf sie zu. Er packte ihren Kopf und zog ihn an den Haaren nach hinten. Seine Lippen pressten sich auf ihre. Herodias schlang ihre Arme um seinen Nacken, bog ihr Bein um seine Waden, hielt sich an ihm fest. Coponius löste eine Spange ihres Kleides.
»Ist es ein Zufall«, fragte er, »dass du in der Stunde, bevor ich das Testament verlesen werde, zu mir kommst?«
Sie grinste. »Du kennst mich.«
»Das ist nicht schwer, Herodias. Damals im Hain hast du mich fünfzig Denare gekostet. Diesmal bist du teurer, nehme ich an.«
»Sage mir erst, ob die Gerüchte stimmen? Ist Livia die Erbin, und die Familie erhält nichts?«
Er nickte knapp.
»Das dachte ich mir. Nun fasse in den Ausschnitt meines Kleides. Dort wirst du etwas finden.«
Coponius lachte. »Davon bin ich überzeugt.«
»Noch etwas anderes, als du denkst. Mach schon.«
Ungeniert griff er zwischen ihre beiden Brüste und holte eine Schriftrolle heraus.
»Das ist ein Zusatzprotokoll zu Akmes Testament«, erklärte Herodias.
»Woher kommt es?«
»Aus meiner Hand. Ich habe es gestern Nacht verfasst – ich kann Handschriften recht gut imitieren. Dann bin in das gyneikon geschlichen und habe es dort gesiegelt. Und schließlich bestach ich mit allem, was ich noch hatte, zwei Beamte, die das Zusatzprotokoll bezeugten.«
Während er das Pergament entfaltete, erzählte sie weiter: »Du wirst zu Livia nach Rom melden, dass Akme dieses Protokoll hier in Ashdod hinterlegt hat. Meine Tochter Salome erbt demnach die Stadtherrschaft über Ashdod samt Palast und Hainen. Ich und Theudion werden unwiderruflich als Regenten bestimmt, und zwar so lange, bis Salome mit Theudions und meiner Zustimmung heiratet. Nach jüdischem Recht bleibt eine Tochter, auch wenn sie schon volljährig ist, bis zur Heirat unter der Vormundschaft ihrer Eltern.«
»Hm«, brummte Coponius nachdenklich. »Eine ganze Stadt für dich. Dein Preis ist wirklich mächtig gestiegen.«
Herodias löste eine weitere Spange ihres Kleides, so dass das Oberteil zu Boden fiel und sie von den Schultern bis zur Hüfte nackt vor Coponius stand. Er starrte ihre prallen, schweren Brüste an.
»Du bist noch immer eine schöne Frau«, murmelte er mit halb geschlossenen Lidern und schluckte. »Aber ich wage viel dabei, wenn ich Livia um eine Stadt betrüge. Wenn sie je dahinter kommt …«
Herodias räkelte sich vor ihm. »Oh, auch daran habe ich schon gedacht. In dem Protokoll wird außerdem verfügt, dass Tiberius die Stadtherrschaft über Jebna erhält. Er steht nicht besonders gut mit seiner Mutter, nicht wahr? Er ist nun Kaiser und wird jeden ihrer Versuche, das Protokoll anzufechten, niederschlagen. Und dir wird er dankbar sein, dass du nicht das getan hast, was Livia nutzt – nämlich das Protokoll vernichten -, sondern das, was ihm nutzt.«
Er massierte ihre Brüste. »Schön und gut. Doch dafür, dass ich meinen Kopf riskiere, will ich mehr in Händen halten als einen Busen und eine vage Aussicht auf Dankbarkeit durch den Imperator. Ich stelle mir etwas Praktisches vor.«
»Vielleicht ein Zehntel der Einnahmen Ashdods für die Dauer von fünf Jahren? Damit kannst du dir bald einen Sitz im Senat kaufen und zum Patrizier aufsteigen.«
Er grinste breit. »Mit dir Geschäfte zu machen ist wirklich in jeder Hinsicht ein Vergnügen.«
Ihr Kleid glitt vollständig zu Boden. Coponius küsste Herodias’ Hals, ihre Schultern. Er presste sie an sich und berauschte sich an ihrem schweren Jasminduft. Seine linke Hand umfasste ihren leicht fülligen Körper, während seine rechte versuchte, seinen Brustpanzer zu lösen.
Als es ihm gerade gelungen war, stieß Herodias ihn sachte von sich. »Ach ja, fast hätte ich es vergessen. Ich muss mit dir noch über den Griechen reden, der die Alte umbringen wollte. Meine Tochter interessiert sich für ihn.«
Coponius atmete schwer. Seine Augen glühten, und sein Körper zitterte vor Ungeduld. »Du stehst nackt und mit offenem Haar vor mir und willst über einen Griechen reden? Das ist doch nicht dein Ernst.«
»Doch. Je eher wir uns über ihn einig werden, desto …«
»Schon gut, schon gut, ich habe verstanden.«
Er holte tief Luft, und während er redete, zog er seine Uniform aus. Gürtel, Tunika und Ledersandalen flogen quer durch den Raum. »Als er das Attentat beging, war Judäa de jure bereits römisches Staatsgebiet, auch wenn ihr es noch nicht wusstet. Zwar hat der Imperator den Juden ihre eigene Gerichtsbarkeit belassen, doch der Grieche hat eine Fürstin angegriffen, die direkt unter Roms Schutz stand. Sein Angriff war ein Angriff auf Rom, daher untersteht er meinem Gericht. Ich habe ihn bereits in den Kerker meiner Residenz nach Caesarea bringen lassen. Machen wir’s kurz: Ich lasse den Griechen frei, damit ist das Thema erledigt.«
Endlich war er vollständig ausgezogen. Er umfasste ihre Schultern und wollte Herodias mit sanftem Druck auf die Knie zwingen. Doch sie widerstand.
»Genau das will ich nicht«, sagte sie.
»Damals im Hain hast du es so gewollt.«
Sie rollte mit den Augen. »Ach, das meine ich doch gar nicht. Ich rede noch immer von dem Griechen. Du sollst ihn nicht freilassen. Er verdreht Salome den Kopf, und wenn man ihr den Kopf verdreht, sieht sie nicht mehr das Wesentliche. Sie ist nun eine Stadtfürstin und hat einen besseren Mann verdient, einen, der mehr aufzuweisen hat als einen toten Gelehrten als Vater.«
»Wirklich sehr mütterlich gedacht von dir. Kann es auch sein, dass du nicht daran interessiert bist, dass sie so schnell heiratet? Du würdest die Regentschaft über Ashdod verlieren, bevor du sie so recht innegehabt hättest.«
»Und du dein Zehntel an den Einnahmen«, konterte sie treffsicher. »Du sollst den Kerl ja nicht hinrichten, nur verschwinden muss er. Für eine lange, lange Zeit.«
Coponius grinste. »Du bist ruchlos, weißt du das?«
»Was ist nun mit dem Griechen?«
»Er kriegt seine Strafe.«
»Salome darf es nie erfahren. Nichts über die Fälschung des Protokolls und schon gar nichts über den Griechen. Sie glaubt, ich helfe ihm, und du musst sie in diesem Glauben belassen. Wenn sie dich je fragt, sage ihr, dass du ihn auf meine Bitte hin freigelassen hast, sage ihr, dass …«
»Keine Sorge«, wiegelte er ungeduldig ab und umfasste Herodias’ Körper. »Meine Lippen gehören ganz dir.«
Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
cover.html
walz_9783641023393_oeb_cover_r1.html
walz_9783641023393_oeb_toc_r1.html
walz_9783641023393_oeb_fm1_r1.html
walz_9783641023393_oeb_ata_r1.html
walz_9783641023393_oeb_fm2_r1.html
walz_9783641023393_oeb_ded_r1.html
walz_9783641023393_oeb_fm3_r1.html
walz_9783641023393_oeb_fm4_r1.html
walz_9783641023393_oeb_p01_r1.html
walz_9783641023393_oeb_c01_r1.html
walz_9783641023393_oeb_c02_r1.html
walz_9783641023393_oeb_c03_r1.html
walz_9783641023393_oeb_p02_r1.html
walz_9783641023393_oeb_c04_r1.html
walz_9783641023393_oeb_c05_r1.html
walz_9783641023393_oeb_c06_r1.html
walz_9783641023393_oeb_c07_r1.html
walz_9783641023393_oeb_p03_r1.html
walz_9783641023393_oeb_c08_r1.html
walz_9783641023393_oeb_c09_r1.html
walz_9783641023393_oeb_c10_r1.html
walz_9783641023393_oeb_c11_r1.html
walz_9783641023393_oeb_c12_r1.html
walz_9783641023393_oeb_p04_r1.html
walz_9783641023393_oeb_c13_r1.html
walz_9783641023393_oeb_c14_r1.html
walz_9783641023393_oeb_c15_r1.html
walz_9783641023393_oeb_p05_r1.html
walz_9783641023393_oeb_c16_r1.html
walz_9783641023393_oeb_c17_r1.html
walz_9783641023393_oeb_c18_r1.html
walz_9783641023393_oeb_p06_r1.html
walz_9783641023393_oeb_c19_r1.html
walz_9783641023393_oeb_c20_r1.html
walz_9783641023393_oeb_c21_r1.html
walz_9783641023393_oeb_c22_r1.html
walz_9783641023393_oeb_p07_r1.html
walz_9783641023393_oeb_c23_r1.html
walz_9783641023393_oeb_c24_r1.html
walz_9783641023393_oeb_c25_r1.html
walz_9783641023393_oeb_c26_r1.html
walz_9783641023393_oeb_p08_r1.html
walz_9783641023393_oeb_c27_r1.html
walz_9783641023393_oeb_c28_r1.html
walz_9783641023393_oeb_c29_r1.html
walz_9783641023393_oeb_p09_r1.html
walz_9783641023393_oeb_c30_r1.html
walz_9783641023393_oeb_c31_r1.html
walz_9783641023393_oeb_c32_r1.html
walz_9783641023393_oeb_c33_r1.html
walz_9783641023393_oeb_bm1_r1.html
walz_9783641023393_oeb_bm2_r1.html
walz_9783641023393_oeb_bm3_r1.html
walz_9783641023393_oeb_cop_r1.html