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Das Zeremoniell am kleinen Hof von Ashdod war
ausgeklügelt wie in einem Königspalast. Die Tetrarchin hatte von
Anfang an eine komplizierte Hierarchie festgelegt, die strikt
eingehalten werden musste. Für Feste, für den Empfang von
Besuchern, für Ausflüge, Mahlzeiten, Mußestunden, Spiele und
allerlei mehr gab es Regelungen, wer wann was zu tun hatte und vor
allem, wie. Fast jeder erwachsene männliche Verwandte hatte ein
zeremonielles Amt auszufüllen, bekam einen hübsch klingenden Titel
und ein dazu passendes Gewand. Einer überwachte die Einhaltung der
komplizierten kashrut, der mehr als fünfzig
Speisevorschriften, die zum Beispiel die Zubereitung von Rindern,
Ziegen, Schafen und Antilopen erlaubte – solange keine Milch dazu
verwendet wurde -, jene von Schweinen, Eseln und Kamelen hingegen
generell untersagte. Ebenfalls verboten waren Aale und Rochen,
zugelassen waren alle Schuppenfische. Manche Vogelarten waren auf
dem Teller gestattet, andere bei Strafe verpönt. Auch Insekten
waren untersagt, mit Ausnahme von vier speziellen
Heuschreckenarten, die wiederum als Delikatesse angesehen wurden.
Andere Ämter waren beispielsweise das des Kämmerers, des Vorkosters
und des Hofaufsehers. Die herodianische Familie war in Ashdod zu
einem Reigen dienender Gehilfen und Knechte geworden, fühlte sich
jedoch wohl dabei.
Alle hatten sich vor dem gyneikon versammelt
und warteten stehend darauf, dass die Tür sich öffnete und sie
nacheinander hereingerufen wurden, um ihre Freude darüber
auszudrücken, dass die Tetrarchin wohlbehalten in das Fürstentum
zurückgekehrt war.
Doch es tat sich nichts. Allerdings weilte
Zacharias seit geraumer Zeit im gyneikon. Als Ältester der
männlichen Verwandten war es seine Aufgabe, die Fürstin über alle
relevanten Vorkommnisse zu informieren, die während ihrer
Abwesenheit geschehen waren. Aber so viel war überhaupt nicht
vorgefallen, dass es eine Stunde gedauert hätte, es zu berichten.
Die Gerüchte vor der Tür schossen ins Kraut: Vielleicht erzählte
die Tetrarchin von ihrer Reise, vielleicht gab es Neuigkeiten aus
Rom, vielleicht …
»Man erzählt sich«, wisperte Berenike ihrer
Freundin Salome ins Ohr, »dass der Ethnarch abgesetzt wurde und
Judäa schon bald große Veränderungen bevorstünden. Dass der Reif
der Könige bereits auf dem Weg nach Jerusalem sei, um neu vergeben
zu werden. Jetzt stellt sich natürlich jeder die Frage, ob der
dicke Antipas oder der schweigsame Philipp ihn bekommen. Für wen
bist du?«
»Ich bin für Akme.«
Berenike lachte und schüttelte ihre hübschen,
sorgfältig gedrehten Locken. »Du weißt genau, dass das nicht
geht.«
»Das hast du auch gesagt, als ich Unterricht
wollte. Und hast dich geirrt.«
Berenike lächelte sie freundlich und auch ein wenig
mitleidig an. »Hätte ich bloß Recht behalten. Du hattest nichts als
Scherereien, seit du in die Schule gehst, sieht man einmal von …«
Sie unterbrach sich, warf einen verstohlenen Blick auf Timon, der
nur einen Schritt entfernt stand, und trat so weit an Salome heran,
bis ihre Lippen deren Ohr berührten. »Sieht man einmal von dem
Jungen ab, der immer neben dir sitzt. Ich finde ihn ja ein bisschen
klein …«
»Er ist nicht klein«, widersprach Salome sofort.
»Er ist …«
Die Tür öffnete sich, und Zacharias erschien. Er
blickte sich in der Menge der Verwandten um, dann blieb sein Blick
auf Timon haften, schließlich auf Salome.
»Salome«, rief er. »Die Fürstin wünscht dich zu
sehen.«
Akme saß auf einem Schemel und beobachtete den
Streit, der vor ihr ausgetragen wurde.
»Das ist eine Lüge«, rief Salome und funkelte
Zacharias mit Habichtsaugen an. »Du erfindest das, weil es dir
nicht passt, dass ich auch etwas anderes lernen will als die Bücher
der thora.«
Zacharias schüttelte energisch den Kopf. »Im
Gegenteil, ich habe dich bisher wegen deiner Klugheit
geschätzt.«
»Du hast mich nur so lange geschätzt, wie ich jedes
deiner Worte für pure Wahrheit nahm. Nun habe ich angefangen,
alles, was du sagst, zu prüfen und zu hinterfragen. Ich glaube dir
nicht länger, dass Gott alle Tiere am fünften Tag unveränderlich
erschaffen hat, da doch Aristoteles bewiesen hat, dass Tiere sich
im Lauf der Geschichte verändern. Ich glaube dir nicht mehr, dass
der Mond nur aus dem Grund erschaffen wurde, um uns den
Monatsanfang kundzutun und damit den Tag der Arbeitsruhe, und ich
glaube dir nicht …«
»Du bist wie Eva, ein schwaches, verführbares
Wesen, unwürdig, das Wort Gottes in all seiner Reinheit, Schönheit
und Tiefe zu begreifen. Wegen deiner Beschäftigung mit den profanen
Wissenschaften der Heiden werde ich dich des cheders
verweisen. Ich hätte gleich am ersten Tag, als du vor mir standest,
auf Kephallion hören sollen. Du warst tückisch, hast meine
Gutgläubigkeit ausgenutzt … Ich habe sogar noch zu dir gehalten,
als du anfingst, dein Äußeres zu verändern. Deine Kleidung und die
Bemalung deiner Lippen zeugen von Eitelkeit, ganz die Mutter. Der
Herr jedoch verkündete durch den Mund des Propheten Jesaja: ›Seht
doch, wie hochnäsig sie sind, die Frauen. Der Tag kommt, an dem ich
ihnen allen Schmuck wegnehmen werde. Dann bekommen sie statt
Wohlgeruch den Gestank von Fäulnis, statt des Gürtels einen Strick,
statt kunstvoll geflochtener Haarpracht eine Glatze, statt der
Schönheit die Schande eines Brandmals. Dann werden gleich sieben
Frauen sich an einen Mann klammern und darum flehen, als sein Weib
zu gelten‹. So sprach der Herr.«
»Oh ja, er beklagt sich viel über die Frauen«,
entgegnete Salome sarkastisch. Ihr seit langem aufgestauter Ärger
über die Einseitigkeit der thora, die Bevorzugung der Männer
und Söhne und die Gesetze, die alles verboten, was ihr natürlich
schien, machte sich nun Luft. Mochte sein, dass das einfache
jüdische Landvolk rücksichtsvoll und gütig war, diese Familie war
es nicht – und die Frömmler auch nicht.
»Und was ist mit den Männern?«, rief sie. »Dein
Bart, zum Beispiel. Wächst der von Natur aus so spitz zu oder
hilfst du da etwas nach? Und der Ring an deinem Finger? Wie nennst
du das, wenn nicht Eitelkeit?«
»Wie kannst du es wagen, die Worte des Herrn zu
verdrehen?«
»Wie kannst du es wagen«, übertönte sie ihn,
»mir eine Sünde vorzuwerfen?«
»Ich habe selbst gesehen, wie du dich über den
halbnackten Griechen gebeugt hast. Kephallion hat mir von euren
Treffen erzählt, aber ich wollte mich selbst überzeugen, also bin
ich zum Strand gegangen. Der Grieche war weit hinaus ins Meer
geschwommen, und als er zurückkam und erschöpft im Sand lag, hast
du seinen Rücken gestreichelt.«
»Na und?«
Zacharias’ Augen wurden groß, ebenso wie sein Mund.
»Na und?«, rief er fast heiser. »Wir sprechen hier über ein
schweres Vergehen.«
»Schluss damit«, rief Akme und erhob sich ruckartig
von ihrem Schemel. »Euer alberner Disput bringt uns nicht
weiter.«
Akme sah ihre Großnichte an. Nein, das war nicht
mehr das Mädchen, das sie vor wenigen Monaten verlassen hatte.
Salome war eine junge Frau geworden, nicht eigentlich bezaubernd,
auf eine seltsame Weise jedoch anziehend. In den großen, sinnlichen
Augen und den geschwungenen Konturen des Körpers war deutlich das
Erbe der Herodias zu sehen, die Würde ihrer Körperhaltung und der
starke Wille und Trotz, der darin zum Ausdruck kam, erinnerten
dagegen an Theudion. Dazu der Perlenschmuck, die Frisur … Sie
hatte, seit sie das gyneikon betreten hatte, nicht ein
einziges Mal gehustet, und das, obwohl sie angesichts der
Anschuldigungen aufgeregt sein musste. Keine Frage, nur ein tiefes
Gefühl, gefallen zu wollen, konnte diesen rapiden Wandel
herbeigeführt haben. Und wem anderem als einem jungen Mann wollte
eine knapp Siebzehnjährige schon gefallen?
Die Beschuldigung des Zacharias war wohl
gerechtfertigt, dieser Aspekt interessierte sie allerdings wenig.
Sie konnte sich noch sehr gut an ihre eigene Zeit zwischen Kindheit
und Erwachsensein erinnern, an die heftigen Gefühle, an die Nächte,
die sie schlaflos in Gedanken an irgendeinen jungen Mann
verbrachte, und an den Hass gegen die Sitten und Bräuche, die
Intimität verboten. Mochte Salome ruhig dagegen verstoßen, und
mochte sie im Stillen auch Gott verstoßen, so wie sie selbst es
schon vor langer Zeit getan hatte.
Ein anderer Aspekt dieser Angelegenheit machte Akme
skeptisch: Wer war dieser seltsame Grieche, der angeblich die Welt
bereiste? Warum kam er ausgerechnet nach Ashdod? Irgendetwas daran
beunruhigte sie.
»Was kannst du mir über diesen Jungen berichten«,
fragte Akme. »Wer ist er?«
»Er heißt Timon«, antwortete Salome, erschöpft vom
Streit.
»Das weiß jeder. Woher kommt er?«
»Ich habe ihn nicht gefragt. Er war früher in Rom
und …«
»In Rom? Und was will er hier?«
»Ich … ich weiß nicht. Lernen vermutlich. Griechen
lernen andauernd.«
»Keine spitzfindigen Antworten, bitte. Welche
Fragen stellt er? Wollte er auch etwas über mich wissen?«
»Nur das Übliche.«
So kam sie nicht weiter. Ihre Großnichte war in
diesen Timon verliebt, das war offensichtlich. Sie musste, um alles
über den Griechen herauszufinden, gerissener vorgehen.
»Hast du nun also bei diesem Griechen gelegen oder
hast du nicht?«
Zacharias kam mit dem Gebetbuch herbei. »Schwöre
auf das siddur«, rief er feierlich, doch Akme schob ihn zur
Seite.
»Diesen Unsinn brauchen wir nicht. Sieh mich an,
Salome, und sage mir die Wahrheit.«
Ihre Großnichte blickte zu ihr auf.
»Nun?«, fragte sie nach und hob Salomes Kinn an.
»Du würdest, da bin ich mir sicher, das siddur und Gott
anlügen, aber nicht mich. Nicht nach allem, was ich für dich und
deine Familie getan habe. Also bitte, sage mir die Wahrheit.«
Salome zögerte nur noch einen Moment, dann senkte
sie den Kopf. »Wir haben nebeneinander gelegen«, gestand sie. »Und
wir haben uns manchmal berührt. Doch wir haben nicht …«
»Diese Vergehen genügen bereits«, empörte sich
Zacharias. »Das Mädchen gehört unter die Obhut eines Mannes, damit
sie nicht verdirbt. Wir sollten sofort ihren Vater verständigen.
Theudion ist ein frommer Mann, er wird die richtige Wahl
treffen.«
Akme kniff die Augen zusammen, sah abwechselnd den
Rabbiner und Salome an und dachte nach. Gleich darauf kam
ihr eine Idee.
»Nicht Theudion, sondern ich«, sagte sie an Salome
gewandt, »werde dir einen sittenstrengen Mann bestimmen, der dich
im Zaum zu halten vermag und der nichts für Eskapaden übrig hat.
Dem Brauch und Tradition über alles gehen.«
Zacharias nickte, als habe er soeben einem Spruch
aus dem Munde Salomons höchstselbst gelauscht, doch schon im
nächsten Augenblick entglitten ihm alle Gesichtszüge.
»Und dieser Mann«, fügte Akme hinzu, »heißt
Kephallion.«
Im gyneikon hätte man eine Stecknadel
fallen hören können. Zacharias war längst hinausgeschickt worden;
vergeblich hatte er gegen die Idee einer Ehe zwischen Salome und
Kephallion protestiert, wobei er wohl weniger an Kephallion dachte
als an seinen Ruf als Rabbiner. In einem Nebensatz hatte er
seine Besorgnis auf den Punkt gebracht: Salomes Verhalten erinnerte
ihn an das ihrer Mutter. Der ganze Hof wusste, dass Herodias nicht
deswegen jede Woche in die Ashdoder Kaufmannsvillen eingeladen
wurde, weil man mit ihr so blendend Konversation hätte treiben
können. Dort trieb man etwas ganz anderes. Nur wenn Theudion für
einige Wochen seinen Posten als Toparch von Jebna verließ
und an den Hof kam, war Herodias ganz Ehefrau. Sie nahm Theudion
sogar in die besagten Kaufmannsvillen mit, doch bei solchen
Gelegenheiten war die Abendunterhaltung natürlich weitaus
förmlicher. Kurz gesagt, jeder außer Theudion wusste, dass Herodias
ein frivoles Biest war. Ab morgen hätte Salome denselben Ruf weg,
und überall würden die Verwandten wispern, dass sie das schon lange
hatten kommen sehen.
Doch an so etwas konnte Salome jetzt kaum denken.
Obwohl sie still und reglos auf ihrem Stuhl saß, überschlugen sich
ihre Gedanken.
Sie würde Timon vielleicht nie wiedersehen dürfen.
Sie musste ihr Leben mit Kephallion verbringen. Und es gab nichts,
was sie dagegen tun konnte.
Die Tetrarchin stand schon seit einer Weile am
Fenster und beobachtete sie. Salome konnte nur ahnen, was im Kopf
ihrer Großtante vorging. War sie enttäuscht? Sitte und Anstand
hatten in ihren Lektionen nie eine Rolle gespielt. War sie
verärgert, weil diese Angelegenheit die Pläne durchkreuzte, die sie
mit ihr gehabt hatte? Und warum hatte sie ausgerechnet Kephallion
als Ehemann bestimmt, wo sie doch wusste, dass Salome und er Feinde
waren? Wollte sie sie bewusst hart strafen? Mit jedem Atemzug
fühlte Salome sich elender. Sie wusste, dass sie die Tragweite des
Ganzen noch nicht begriffen hatte. Alles, was in der letzten Stunde
geschehen war, nahm sie wie durch einen Dunst wahr. Doch der würde
sich irgendwann lichten, heute Nacht oder morgen, und dann stünde
die Zukunft ihr klar und erbarmungslos vor Augen. Davor fürchtete
sie sich am meisten.
Eine Ewigkeit schien vergangen, als Akme endlich
wieder sprach.
»Archelaos wurde abberufen, ich nehme an, du hast
schon davon gehört. Nun, diese Entscheidung des Augustus kann
niemanden überraschen. Für Rom ist Stabilität oberstes Gebot. Und
Judäa braucht einen Menschen auf dem Thron, der das Land unabhängig
halten kann, ohne dass es zu einer unberechenbaren Größe in Roms
strategischen Planungen wird. Ein solcher Mensch braucht Stärke,
Gewandtheit und die Fähigkeit, in ungewohnten Mustern zu denken.
Herodes war so ein Mensch. Bei seinem Tod war Judäa nach außen ein
zuverlässiger Bündnispartner, weil er die religiösen Gruppen im
Innern unter Kontrolle hatte und weil er unjüdisch denken konnte.
Und ich werde sein Werk bald fortsetzen. Ich werde Königin, so wie
ich es dir angekündigt habe.«
Salome hob kurz den Kopf. »Das freut mich für dich,
Großtante«, sagte sie.
Akme atmete tief durch. »Tja, ich kann verstehen,
dass dir momentan andere Dinge durch den Kopf gehen. Das würde mir
genauso gehen, wenn ich meine Großtante so hinters Licht geführt
hätte.«
Salome wollte protestieren, aber eine kleine
Handbewegung Akmes reichte, um sie verstummen zu lassen.
»Ich spreche nicht von deiner Verliebtheit, Salome.
Darin sehe ich sogar etwas Positives, denn sie zeigt mir, dass du
mutig bist, sonst hättest du dich nicht gegen alle Gesetze mit
diesem Griechen eingelassen. Du magst dich vergnügen, mit wem du
willst, solange du es heimlich tust. Eine normale Beziehung schadet
mir nicht. Und was mir nicht schadet und was mir nicht nutzt,
interessiert mich nicht. Ich habe eine Tetrarchie zu regieren und
das übrige Judäa sowie die Geschehnisse in Rom im Auge zu behalten,
da ist es wichtig, das Bedeutende vom Unbedeutenden zu trennen.
Deine Liebelei ist unbedeutend, Salome. Etwas anderes, das du getan
hast, ist dagegen bedeutend. Sieh mich bitte an, wenn ich mit dir
spreche.«
Salome hob den Kopf.
»Ich habe dir immer vertraut. Ich habe meine Pläne
und meine Nachfolge mit dir besprochen. Ich wollte, dass du in
meine Fußstapfen trittst. Ich habe in dir eine junge Frau gesehen,
die mein Werk fortführen kann. Nun muss ich feststellen, dass du
mich anlügst.«
»Ich lüge dich nicht an, Großtante.«
»So? Etwas zurückhalten ist auch eine Lüge. Ich
habe dich über den Griechen befragt, doch du bist einsilbig. Nicht,
dass diese Informationen über den Burschen von großer Wichtigkeit
wären, es geht hier um das Prinzip. Entweder du vertraust mir, oder
du vertraust mir nicht.«
»Natürlich vertraue ich dir.«
»Gut, dann wäre das geklärt.« Akme trat zu Salome
und legte ihr besänftigend die Hand auf die Schulter. »Wenn ich es
mir recht überlege, meine Kleine, muss diese Ehe mit Kephallion
nicht sein. Der Junge ist in höchstem Maße unberechenbar, und so
jemandem würde ich niemals die Herrschaft über das Fürstentum
vererben. Als dein Mann würde er natürlich mitregieren, wenn ich
dir …«
In Salomes Augen blitzte Hoffnung auf. »Heißt das,
du ziehst mich nach wie vor als Nachfolgerin in Betracht?«
Akme machte ein Gesicht, als ob das niemals in
Zweifel gestanden hätte. »Du wirst meine Nachfolgerin werden. Du
wirst allen Männern zeigen, was in dir steckt.«
»Oh, danke, Großtante. Und ich muss nicht
heiraten?«
Akme wiegte den Kopf hin und her. »Unverheiratet
können wir dich nicht lassen, meine Kleine. Doch es muss ja nicht
gerade Kephallion sein. Wie wäre es mit …« Sie überlegte ein wenig,
dann sagte sie: »Zacharias.«
Salome riss ihren Mund vor Schreck weit auf.
»Nur ein Scherz«, beruhigte Akme sie lachend.
»Wirklich nur ein Scherz. Ich dachte in Wahrheit an Timon –
vorausgesetzt, er will.«
Salome sprang auf. »Timon? Du lässt mich Timon
heiraten?«
»Nur, wenn er will.«
»Oh, er will, Großtante, da bin ich ganz
sicher.«
»Er müsste zum Judentum übertreten.«
»Das wird er, Großtante. Ich … oh, ich bin dir ja
so dankbar.« Sie fiel Akme um den Hals und schluchzte vor Freude.
Innerhalb von wenigen Momenten war wieder einmal alles anders
geworden. Nun bekam sie alles, was ihr etwas bedeutete: Timon, ein
Fürstentum, eine Aufgabe, Anerkennung …
»Schön«, sagte Akme. »Und nun erzähle mir etwas
über deinen Bräutigam. Ich muss alles über den Mann wissen, der
meiner Kleinen künftig beim Regieren hilft. Alles, hörst du? Alles,
was du weißt.«
Salome sah die Tetrarchin mit großen Augen an und
holte tief Luft. Sie hätte ihrer Großtante alles erzählt, was sie
wusste, jede Meinung offengelegt, jeden Fetzen Erinnerung vor ihr
ausgebreitet, jedes Geheimnis verraten, mit Ausnahme von … Sie
hatte versprochen, nie über den Mann auf der Zeichnung zu sprechen.
Aber vielleicht war das alles gar nicht so wichtig, und sie
enttäuschte ihre Großtante, verspielte ihr Erbe und verhinderte die
Heirat wegen nichts als einem unwichtigen, kindischen
Geheimnis.
Sie stellte sich Timons Gesicht vor, seinen Körper.
Sie konnte Timons Stimme hören, wie sie scherzte und sich zärtlich
mit dem Meeresrauschen verband. Sie roch das Salz auf seiner Haut,
spürte die Hand, die im Hain vorsichtig ihre Stirn berührte, hörte
ihn im Garten von Ashdod lachen, erinnerte sich an sein Schweigen
in manchen Momenten, dieses Schweigen, das mehr über ihn sagte als
alle Worte, die er gesprochen hatte, und sie fühlte plötzlich, wie
kompliziert und zerbrechlich Timon eigentlich war.
Könnte sie jetzt bloß mit ihm sprechen, ihm
erklären, in welchem Dilemma sie steckte.
Akme streichelte Salome gütig über die Haare. »Ich
höre«, sagte sie.
Timon beugte sich über die Pritsche, auf der er
jede Nacht schlief, und wühlte unter der Wolldecke. Achtsam blickte
er zur Tür. Man hatte ihn nach seiner Ankunft bei den Dienern des
Palastes, nicht bei den Sklaven, einquartiert. Es war eine Klause
mit zwei anderen Dienstboten, und man konnte nie wissen, wann sie
kamen.
Viel Zeit brauchte er nicht. Er hatte den Dolch,
mit dem einst Nikolaos getötet worden war und den der Mörder
zurückgelassen hatte, nur in ein Tuch gewickelt und zwischen Rahmen
und dem Strohpolster versteckt, das als Matratze diente. Nun musste
er ihn nur noch unauffällig in seiner Kleidung verstecken.
Er betrachtete die Waffe, so wie er es in den
letzten Jahren immer wieder getan hatte. Die Klinge des Dolches
schimmerte rötlich wie ein verwaschener Stoff. Er hatte das Blut
seines Vaters nie entfernt, aber die Zeit verwischte jeden Tag mehr
die Spuren dieses Verbrechens. Jetzt war die Gelegenheit gekommen,
die Klinge mit dem Blut der Mörderin zu färben. Salome würde ihn
gewiss gleich der Tetrarchin vorstellen.
Nicht das Attentat machte ihm Angst, er hatte es
schon zu häufig im Geiste durchgespielt. Nein, seine schlimmste
Angst war, dass er keine Gelegenheit mehr haben würde, Salome alles
zu erklären. Sie würde glauben, er habe sie ausgenutzt, und
eigentlich hatte sie damit auch Recht. Sie würde auch glauben, dass
er sie nie geliebt habe, und diese Vorstellung tat weh: zu gehen,
ohne die Wahrheit sagen zu können.
Es war schwieriger, als er dachte, den Dolch
unauffällig in der Kleidung zu verstecken. Die warmen Temperaturen
ließen eine langärmelige Tunika nicht zu, das könnte Verdacht
erregen. Er trug nur eine griechische Tunika, die weit über den
Knien endete und sogar eine Schulter und die linke Brust freiließ.
Endlich kam er auf die Idee, den Dolch zwischen Gürtelband und
Tunika zu stecken, und zwar in seinem Rücken. Einige Falten darüber
gelegt und schon …
»Grieche«, rief eine Stimme von hinten. Es war
einer der Diener, die hier mit ihm wohnten.
Er wirbelte herum. »J-Ja?« Hatte der Kerl etwas
gesehen? Es schien nicht so.
»Ich habe dich schon gesucht. Warum hast du nicht
vor dem gyneikon gewartet? Du sollst der Tetrarchin
vorgestellt werden.«
Timon atmete tief durch. »Ich komme«, sagte
er.
Salome zuckte zusammen, als sie Timon hereinkommen
sah. Er blickte ernst, so wie damals, als sie über den Mann auf der
Zeichnung gesprochen hatten.
Timon blieb in einiger Entfernung stehen und
verneigte sich leicht, so wie es vorgeschrieben war. Er benahm sich
vorbildlich.
Die Tetrarchin nickte zur Begrüßung. Sie saß auf
ihrem Schemel, Salome stand links einen Schritt neben ihr.
»Komm näher«, rief Akme.
Timon zögerte einen winzigen Augenblick, dann
schritt er langsam auf die Tetrarchin zu.
Salome ließ Timon nicht aus den Augen. Ein Schauer
lief ihr über den Rücken, sie bekam eine Gänsehaut. Nie hatte sie
ihn stärker geliebt als jetzt, wo nichts mehr zwischen ihnen
stand.
Es war nicht abgesprochen gewesen, und das
Protokoll ließ so etwas nicht zu, aber sie gab einem Instinkt nach
und ging Timon entgegen.
»Bleib zurück«, rief Akme.
Sie blieb stehen, streckte die Hände nach Timon
aus. Sie sagte seinen Namen, ihre Stimme war halb erstickt. »Ich –
habe ihr von der Zeichnung erzählt«, fuhr sie fort. »Von dem
Mann.«
Timon warf ihr nur noch einen flüchtigen Blick zu,
dann rannte er los, zückte einen Dolch und rief etwas auf
Griechisch, das Salome nicht richtig verstehen konnte.
»Verhaftet ihn«, schrie die Tetrarchin, und im
gleichen Moment brachte eine Wache Timon zu Fall. Er stieß sie weg,
doch eine zweite kam hinzu, dann eine dritte.
»Timon!« Salome rannte zu ihm, blieb aber machtlos
vor den kämpfenden Männern stehen. »Timon«, rief sie noch
einmal.
Mit letzter Kraft konnte Timon einen Arm freimachen
und schleuderte den Dolch gegen die Tetrarchin, doch er war
schlecht geworfen und verfehlte sein Ziel. Eine Wache rammte einen
Schwertknauf in Timons Nacken. Bewusstlos brach er zusammen.
Salome starrte in die Dunkelheit, die sie umgab.
Die Läden waren geschlossen, die Öllampen verloschen. Die
Neumondnacht ließ nicht den geringsten Lichtschimmer durch die
Ritzen dringen. Kopfschmerzen und Fieber hatten sie befallen,
Vorwürfe plagten sie, zuerst an sich selbst gerichtet, wegen des
gebrochenen Versprechens, dann an Timon, weil er die Großtante
ermorden wollte, als Nächstes gegenüber Herodias, der Timons
Schicksal völlig gleichgültig war, die nur an das Erbe dachte. Aber
dachte sie nicht selbst daran? Hatte sie die Aussicht, Fürstin zu
werden, nicht dazu gebracht, Timon zu verraten? Eine Weile tröstete
sie sich damit, nicht gewusst zu haben, was sie anrichtete. Das
hielt jedoch nicht lange vor.
Irgendwo, dachte sie, hatte ich es doch gewusst.
Sie wusste, dass es ein Geheimnis gab, wusste, dass Timon seltsame
Fragen über Akme gestellt hatte, und wusste, dass beides
zusammenhing. Sie hatte es nicht wissen wollen und sich gegen den
Gedanken gewehrt, dass es Timon überhaupt nicht um sie ging,
sondern um etwas anderes. Und sie wehrte sich auch jetzt noch
dagegen.
Doch schließlich war sie auch zum Denken zu
schwach. Sie dachte gar nichts mehr, bewegte sich kaum, trank
nichts vom bereitgestellten Wasser, obwohl sie durstig war, öffnete
nicht den Fensterladen, obwohl die träge Zimmerluft wie eine
schwere Decke auf ihrer Brust lastete. Es gab nur die Dunkelheit
und sie, Stunde für Stunde.
Als die Stille der Nacht wich und die Geräusche des
Tages auch in ihre kleine, düstere Welt drangen, erwachte auch
Salome aus ihrer Apathie. Das Erste, was sie dachte, war, dass noch
nicht alles verloren sei, dass sie bei der Tetrarchin ein gutes
Wort für Timon einlegen könne.
Herodias betrat auf leisen Sohlen das Gemach und
setzte sich auf die Bettkante.
Als sie sah, dass Salome wach war, flüsterte sie.
»Wir müssen zur Tetrarchin.«
»Daran habe ich auch gedacht«, erwiderte Salome
sofort. »Timon ist kein Jude, er darf nicht nach unseren Gesetzen
bestraft werden.«
»Bei einem solchen Verbrechen darf er es«,
korrigierte Herodias sanft. »Liebes, ich weiß, dass du an ihm
hängst, ja, ich kann dich gut verstehen. Jede von uns ist einmal im
Leben unglücklich verliebt. Doch glaube mir, kein Mann ist es wert,
dass man sich auf Gedeih und Verderben an ihn hängt. Männer in
ihrer Gesamtheit sind unverzichtbar, ja, das sind sie, niemals aber
ein einzelner Mann. Lass diesen Mann stark, schön und ergeben sein,
lass ihn sinnlich und dankbar sein – es gibt Tausende und
Abertausende anderer Männer, die ihn in jeder Einzelheit ersetzen
können. Stell dir einen Baum vor, der das ganze Jahr über Früchte
trägt. Die Männer sind wie Obst, du brauchst sie nur pflücken,
jeden Tag, wann es dir beliebt.« Herodias zwinkerte. »Nun ja, da
sie verbotenes Obst sind, muss man geschickt vorgehen.«
Da Salome weiter schwieg, fuhr Herodias fort:
»Timon, so hat sich herausgestellt, ist der Sohn von Nikolaos von
Damaskus, und er ist ein sehr verwirrter Junge, Liebes. Er gibt der
Tetrarchin die Schuld am Tod seines Vaters, was völlig absurd ist.
Und in seinen Sachen hat man die Zeichnung eines Mannes gefunden,
der einmal hier in den Diensten des Hofes stand. Vermutlich hat er
ihn in seinem Wahn schon vor einiger Zeit ermordet, jedenfalls fand
man Blutspuren an seinem Dolch.«
Herodias atmete tief durch und schüttelte den Kopf.
»Du musst ihn vergessen, Liebes. Er kommt in den Kerker. Er
hat keine Zukunft, aber du hast eine. Und wenn du erst
diesen Hof beherrschst, verspreche ich dir, persönlich dafür zu
sorgen, dass dir die edelsten, schönsten und tapfersten Männer zu
Füßen liegen – oder wo immer du sie liegen haben willst.«
Herodias atmete erneut tief durch und tätschelte
Salomes Hand. »So, und nun ziehe dir etwas Feines an, denn soeben
trifft eine wichtige Botschaft aus Rom ein, und die Tetrarchin hat
den Hof zusammengerufen.«
Salome fühlte sich nicht besser. Sie dachte nur an
Timon und wie ihm zu helfen war. Vielleicht, kam ihr in den Sinn,
war die Botschaft aus Rom so erfreulich für ihre Großtante, dass
sie eine Amnestie aussprach. Vielleicht konnte sie Akme wenigstens
dazu bringen, sie zu ihm zu lassen, um mit ihm zu sprechen und ihre
Liebe zu bekräftigen. Diese Hoffnung allein war es, die ihr die
Kraft gab, aufzustehen und sich für den Empfang anzukleiden.
Gewöhnlich diente der vordere Saal des
gyneikons zum Empfang hoher Gäste; nur an diesem Tag
bestimmte die Tetrarchin es anders. Da die Sonne ungetrübt vom
Himmel schien und der Anlass so außergewöhnlich war, dass nicht nur
die Familie und die Hofbeamten anwesend sein sollten, sondern auch
die herbeigerufenen Kaufleute aus dem reichen Ashdod, befahl sie,
den Empfang für den Botschafter auf dem großen Hof abzuhalten. Der
fürstliche Thronschemel wurde aufgestellt und Kelche für einen
anschließenden Umtrunk bereitgehalten. Die Hofmusiker wurden
instruiert, heitere Melodien zu spielen, sobald der offizielle Teil
beendet war.
Die Gesellschaft, die sich versammelte, trug
natürlich dem Anlass gemäß feinste Kleidung. Da nach Gottes Gebot
keine verschiedenen Materialien miteinander verwoben werden
durften, kamen die Stoffe aus jüdischen Webereien und waren grober
gefertigt als die glänzenden Gewänder aus Mischgewebe von den
korinthischen Webstühlen. Ein solches aber trug die Tetrarchin, als
sie erschien. Das gelbe Linnen leuchtete wie ein Sonnenstrahl, und
die eingewobenen Goldfäden glitzerten bei jeder kleinen Bewegung
der Herrscherin. Sie nahm die Verbeugungen der Anwesenden huldvoll
entgegen, setzte sich und nickte.
Sie gab ein Zeichen, woraufhin ein
Zeremonienmeister verkündete: »Der edle Lucius Coponius, Kommandant
der zwölften römischen Legion Victoria.«
Das Erscheinen von Coponius war eine Überraschung.
Viele kannten den Römer noch von seinem Besuch an diesem Hof
während des jüdischen Aufstands gegen Archelaos. Er befehligte noch
immer in der Provinz Syrien jene Legion, die das Grenzgebiet zu
Judäa überwachte und die damals Tausende von Juden nach der
Niederschlagung des Aufstands gekreuzigt hatte. Auch Salome
erinnerte sich noch gut an ihn, allerdings weniger in seiner
militärischen Funktion als an seine fröhliche Stunde mit Herodias
im Hain.
»Coponius, welche Freude«, begrüßte ihn die
Tetrarchin und bat ihn mit einer einladenden Handbewegung, näher zu
treten.
Der Kommandant war in vollem Ornat erschienen. Über
der weißen tunica angusticlavia, die ihn als Mitglied der
Ritterschaft auswies, des nach den Patriziern zweithöchsten
römischen Standes, trug er einen aus Bronze gefertigten Brustpanzer
und einen schwarzen, wollenen Umhang, der auf der Schulter durch
eine Spange geschlossen war. Als er auf Akme zuging, rasselte sein
Schwert am Hüftgürtel. Seinen Metallhelm mit dem schwarzen
Federbusch behielt er auch dann noch auf, als er vor die Tetrarchin
trat.
Wortlos hielt er ihr eine Schriftrolle hin.
Akme nahm sie entgegen und betrachtete das Siegel.
Sie erwartete eine Botschaft des Augustus. »Die ist ja von Livia«,
rief sie erstaunt.
»Von Livia Augusta«, korrigierte er.
»Augusta?«
»Augustus hat ihr diesen Titel testamentarisch
verliehen: Die Erhabene.«
Die Tetrarchin sah ihn fragend an.
»Testamentarisch?«
»Augustus ist tot«, verkündete er.
Ein Raunen ging durch die Menge. Selbstverständlich
hatte hier niemand an der Sterblichkeit des Augustus gezweifelt,
denn man hing weder seinem Glauben an, noch war man je Teil seines
imperialen Herrschaftssystems gewesen. Doch dieser Mann war seit
beinahe einem halben Jahrhundert der Lenker der römischen Welt, er
war der Erbe des sagenhaften Cäsar, der Bezwinger Ägyptens und
zugleich der große Friedensbringer. Nur sein eigenes Volk sah ihn
bereits zu Lebzeiten als Gott, nicht die Juden, und doch
erschauerten sie für einen Augenblick. Einen Atemzug lang stand
auch hier die Welt still, eine Ära war zu Ende.
Die Tetrarchin las die Schriftrolle, und mit jeder
Zeile wurde sie bleicher. »Das kann nicht sein«, flüsterte
sie.
Coponius klang mitleidlos, als er den Inhalt
zusammenfasste: »Die erhabene Livia Augusta teilt mit, dass der
neue Imperator Tiberius verfügt hat, dass die Ethnarchie Judäa von
nun an römisches Prokurat ist. Die Fürsten Antipas und Philipp
sowie du selbst dürfen ihr Territorium weiter regieren, jedoch nur
unter der Oberhoheit eines Prokurators. Zu diesem wurde ich
bestimmt.«
»Das kann nicht sein«, flüsterte sie erneut. »Das
ist ein Irrtum. Ich werde Königin.«
»Davon ist mir nichts bekannt.«
Akme schien ihn nicht gehört zu haben. »Ich werde
Königin, Coponius. Sie hat es mir versprochen.«
»Wer?«
»Livia.«
»Livia Augusta«, korrigierte er kühl.
Akme schleuderte die Schriftrolle zu Boden.
»Augusta oder nicht. Sie ist ein falsches Weib, wenn sie ihre
Versprechen nicht hält.«
»Hüte deine Zunge, Fürstin. Von nun an vertrete ich
hier römische Ordnung.«
Sie ging auf ihn zu. Ihre Augen weiteten sich
grotesk. »Ich bin die Königin«, schrie sie und rüttelte an seinem
Brustpanzer. Coponius versuchte, ihre Hände festzuhalten, aber sie
riss sich immer wieder los und schlug auf ihn ein. Schließlich
gelang es ihm, sie zu bändigen.
Ihr Mund verzog sich zu einem entsetzlichen,
stummen Schrei. Die alte Frau erstarrte förmlich in den Händen von
Coponius.
Er ließ sie wieder frei. Sie taumelte, drehte sich
um, ging eine Stufe in Richtung ihres Thronschemels, hielt sich die
Hände vor das Gesicht, ließ sie wieder sinken, wankte und fiel zu
Boden.
Erstarrt blickte der Hof auf die tote
Fürstin.
Der Hof von Ashdod befand sich in Auflösung. Man
brachte die Bestattung der Tetrarchin schnell hinter sich, wobei
man weder ihren Wunsch respektierte, im Herodeion beigesetzt zu
werden, noch viele Gedanken an die Tote verschwendete. Dafür war
wenig Zeit. Von Norden rückten dreitausend Legionäre in Judäa ein,
ein Kader davon war nur noch zwei Tagesmärsche von Ashdod entfernt,
und eine römische Galeere kreuzte bereits vor der Küste. Keiner am
Hof hatte etwas von den Römern zu befürchten, die lediglich ihr
neues Prokurat sichern wollten, aber der schnelle Zerfall jeglicher
jüdischer Autorität in Ashdod sorgte für Unruhe.
Vom Testament Akmes erhofften sich alle Trost. Ein
neuer Tetrarch könnte vielleicht ein wenig Stabilität
zurückbringen. Doch obwohl das Testament noch nicht verlesen war,
ging das Gerücht, dass keiner aus der Familie das Fürstentum erben
würde, sondern Livia, die Mutter des neuen römischen Imperators.
Man machte sich auf das Schlimmste gefasst: dass man erneut vor dem
Nichts stand. Wie nach dem Tod des großen Herodes, so würde der
Familie vielleicht auch jetzt nichts anderes übrig bleiben, als
sich nach einer neuen Bleibe umzusehen, wobei die Möglichkeiten
stark eingeschränkt waren. Jerusalem, wohin sie alle am liebsten
gehen würden, schied aus. Zwar kündigte Coponius an, nicht die
ständig rumorende Stadt Davids als Sitz seiner Prokuratur zu
wählen, sondern die hauptsächlich von Griechen bewohnte Küstenstadt
Caesarea. Er behielt sich jedoch vor, den Jerusalemer Palast
gelegentlich zu benutzen, und für einen Römer als Hausherrn war die
frühere Königsfamilie zu stolz. So blieb ihnen lediglich, auf ein
Hofleben zu verzichten – was hier keiner auch nur einen Lidschlag
lang in Erwägung zog – oder zu einem der beiden verbleibenden
Fürsten zu ziehen, zu Antipas nach Galiläa oder zu Philipp in die
Halbwüsten Basans. Die bange Frage nach dem Testament und seinen
Folgen füllte die letzten Tage von Ashdods einst prächtigem Hof
aus.
Von allen ging es Herodias am schlechtesten. Wenn
die Gerüchte stimmten, dann war sie erneut um ein Erbe betrogen
worden, das ihr schon sicher schien, und während dieser Tage
fluchte sie tausendmal still in sich hinein. Dass es den anderen
Familienmitgliedern genauso ging, tröstete sie nur wenig. Nach wie
vor standen sie finanziell schlechter als jeder gewöhnliche
Kaufmann; sie besaßen kein Land, kein Haus und kein nennenswertes
Geschmeide. Sie blieben von der Gunst anderer abhängig. Diesmal
aber war sie nicht gewillt, das Schicksal einfach hinzunehmen. In
ihr reifte ein viel versprechender, wenn auch gefährlicher Plan.
Sie musste allein vorgehen, denn Theudion war zu aufrichtig und
Salome noch zu jung und unverdorben, als dass sie hätten eingeweiht
werden dürfen. Das Einzige, worüber Theudion sich Gedanken machte,
war, dass er nun womöglich sein Amt als Toparch von Jebna
abgeben musste, in dem er sich – lächerlich genug – wohl gefühlt
hatte. Und Salome belästigte sie unentwegt mit ihrem Kummer wegen
des Griechen.
»Jetzt, wo Akme tot ist, wird man ihn doch nicht
verurteilen, oder?«, fragte Salome.
»Wenn man dich hört, könnte man meinen, du freust
dich, dass die Alte gestorben ist.«
Salome war tatsächlich, zu ihrem eigenen Erstaunen,
eher erleichtert als betrübt. Noch vor wenigen Wochen hätte ihr der
Tod der Großtante schrecklichen Kummer bereitet. Jetzt war alles
anders. Die alte Frau, die sie lange Zeit geliebt hatte, entpuppte
sich als Lügnerin. Sie hatte ihr auf tückische Art Informationen
entlockt, mit Zwangsheirat gedroht und sie mit einer Erbschaft
geködert, die sie vermutlich längst vergeben hatte. Durch Akmes
Reaktion auf Livias Botschaft konnte Salome gut nachvollziehen,
welches Spiel Akme getrieben hatte. Und dann die undurchsichtige
Sache mit dem Mord an Nikolaos …
Erst jetzt fiel ihr auf, zu welcher Frau sie
jahrelang aufgeblickt hatte. Seltsamerweise hatte sie zu ihren
Lebzeiten alles ignoriert, was ein Licht auf Akmes wahren Charakter
geworfen hatte. Das war ihre eigene Schuld, die Fakten waren immer
bekannt gewesen, ja, Akme selbst hatte sie ihr mitgeteilt.
Jahrzehntelang hatte diese Frau an der Seite eines Tyrannen gelebt,
ohne ihn in seinem Tun zu korrigieren, obwohl sie sich so prächtig
auf Manipulation verstand. Wenn sie ihn beeinflusst hatte, dann nur
für ihre Zwecke; die Entscheidungen ihres Bruders hatte sie also
gutgeheißen. Dafür sprach auch, dass sich seit den Zeiten des
tyrannischen Herodes wenig in Judäa geändert hatte. Salome hatte
stets aufmerksam zugehört, wenn die Familie sich unterhielt, und
sie hatte fast in jedem Gespräch Worte wie Hinrichtung, Widerstand
und Niederschlagung aufgeschnappt. Immer wieder wurde von
unbelehrbaren Aufrührern gesprochen, von Spitzeln, von
Überwachung.
Salome erinnerte sich nun auch, was ihr Akme selbst
damals in der Sänfte prophezeit hatte: Man wird dich verraten. Dir
werden sich Menschen entgegenstellen, von denen du das nie geglaubt
hättest.
So war es gekommen. Wie konnte sie nur so blind
gewesen sein!
»Ich glaube, wir haben sie nicht gut gekannt«,
sagte Salome. »Niemand von uns. Außer Timon, natürlich.«
Herodias verdrehte die Augen. »Natürlich.«
»Bitte, Mutter, er darf nicht bestraft werden.
Kannst du da nicht etwas tun? Jetzt hat Coponius das Sagen. Auf
dich hört er bestimmt. Ihr versteht euch doch gut.«
Herodias sah sie entgeistert an. »Wie kommst du
denn darauf?«
Salome biss sich auf die Lippe. »Ich – meinte ja
nur. Auf dem Schmaus zu chanukka damals habt ihr euch
bestens unterhalten.«
»Nun ja …« Herodias fummelte an ihrem Kleid herum.
»Dass du dich daran erinnerst …«
»Tust du mir den Gefallen?«, hakte Salome
nach.
»Nur wenn du aufhörst, von diesem Burschen zu reden
– und an ihn zu denken. Ich dachte, du möchtest die Herrin von
Ashdod werden.«
»Das möchte ich auch – mit Timon an meiner Seite.
Es liegt mir so viel an ihm, Mutter. Bitte, du musst tun, was du
kannst.«
»Also schön«, gab Herodias nach.
Salome umarmte sie. »Danke, du bist die beste
Mutter auf der ganzen Welt.«
Doch Herodias hatte andere Pläne.
»Ich wusste, dass du kommen würdest. Die Frage war
nur, wann.«
»Beinahe wäre ich nicht gekommen.«
»Du bist eine schlechte Lügnerin, Herodias.«
Coponius schlenderte auf sie zu. Er packte ihren Kopf und zog ihn
an den Haaren nach hinten. Seine Lippen pressten sich auf ihre.
Herodias schlang ihre Arme um seinen Nacken, bog ihr Bein um seine
Waden, hielt sich an ihm fest. Coponius löste eine Spange ihres
Kleides.
»Ist es ein Zufall«, fragte er, »dass du in der
Stunde, bevor ich das Testament verlesen werde, zu mir
kommst?«
Sie grinste. »Du kennst mich.«
»Das ist nicht schwer, Herodias. Damals im Hain
hast du mich fünfzig Denare gekostet. Diesmal bist du teurer, nehme
ich an.«
»Sage mir erst, ob die Gerüchte stimmen? Ist Livia
die Erbin, und die Familie erhält nichts?«
Er nickte knapp.
»Das dachte ich mir. Nun fasse in den Ausschnitt
meines Kleides. Dort wirst du etwas finden.«
Coponius lachte. »Davon bin ich überzeugt.«
»Noch etwas anderes, als du denkst. Mach
schon.«
Ungeniert griff er zwischen ihre beiden Brüste und
holte eine Schriftrolle heraus.
»Das ist ein Zusatzprotokoll zu Akmes Testament«,
erklärte Herodias.
»Woher kommt es?«
»Aus meiner Hand. Ich habe es gestern Nacht
verfasst – ich kann Handschriften recht gut imitieren. Dann bin in
das gyneikon geschlichen und habe es dort gesiegelt. Und
schließlich bestach ich mit allem, was ich noch hatte, zwei Beamte,
die das Zusatzprotokoll bezeugten.«
Während er das Pergament entfaltete, erzählte sie
weiter: »Du wirst zu Livia nach Rom melden, dass Akme dieses
Protokoll hier in Ashdod hinterlegt hat. Meine Tochter Salome erbt
demnach die Stadtherrschaft über Ashdod samt Palast und Hainen. Ich
und Theudion werden unwiderruflich als Regenten bestimmt, und zwar
so lange, bis Salome mit Theudions und meiner Zustimmung heiratet.
Nach jüdischem Recht bleibt eine Tochter, auch wenn sie schon
volljährig ist, bis zur Heirat unter der Vormundschaft ihrer
Eltern.«
»Hm«, brummte Coponius nachdenklich. »Eine ganze
Stadt für dich. Dein Preis ist wirklich mächtig gestiegen.«
Herodias löste eine weitere Spange ihres Kleides,
so dass das Oberteil zu Boden fiel und sie von den Schultern bis
zur Hüfte nackt vor Coponius stand. Er starrte ihre prallen,
schweren Brüste an.
»Du bist noch immer eine schöne Frau«, murmelte er
mit halb geschlossenen Lidern und schluckte. »Aber ich wage viel
dabei, wenn ich Livia um eine Stadt betrüge. Wenn sie je dahinter
kommt …«
Herodias räkelte sich vor ihm. »Oh, auch daran habe
ich schon gedacht. In dem Protokoll wird außerdem verfügt, dass
Tiberius die Stadtherrschaft über Jebna erhält. Er steht nicht
besonders gut mit seiner Mutter, nicht wahr? Er ist nun Kaiser und
wird jeden ihrer Versuche, das Protokoll anzufechten,
niederschlagen. Und dir wird er dankbar sein, dass du nicht das
getan hast, was Livia nutzt – nämlich das Protokoll vernichten -,
sondern das, was ihm nutzt.«
Er massierte ihre Brüste. »Schön und gut. Doch
dafür, dass ich meinen Kopf riskiere, will ich mehr in Händen
halten als einen Busen und eine vage Aussicht auf Dankbarkeit durch
den Imperator. Ich stelle mir etwas Praktisches vor.«
»Vielleicht ein Zehntel der Einnahmen Ashdods für
die Dauer von fünf Jahren? Damit kannst du dir bald einen Sitz im
Senat kaufen und zum Patrizier aufsteigen.«
Er grinste breit. »Mit dir Geschäfte zu machen ist
wirklich in jeder Hinsicht ein Vergnügen.«
Ihr Kleid glitt vollständig zu Boden. Coponius
küsste Herodias’ Hals, ihre Schultern. Er presste sie an sich und
berauschte sich an ihrem schweren Jasminduft. Seine linke Hand
umfasste ihren leicht fülligen Körper, während seine rechte
versuchte, seinen Brustpanzer zu lösen.
Als es ihm gerade gelungen war, stieß Herodias ihn
sachte von sich. »Ach ja, fast hätte ich es vergessen. Ich muss mit
dir noch über den Griechen reden, der die Alte umbringen wollte.
Meine Tochter interessiert sich für ihn.«
Coponius atmete schwer. Seine Augen glühten, und
sein Körper zitterte vor Ungeduld. »Du stehst nackt und mit offenem
Haar vor mir und willst über einen Griechen reden? Das ist doch
nicht dein Ernst.«
»Doch. Je eher wir uns über ihn einig werden, desto
…«
»Schon gut, schon gut, ich habe verstanden.«
Er holte tief Luft, und während er redete, zog er
seine Uniform aus. Gürtel, Tunika und Ledersandalen flogen quer
durch den Raum. »Als er das Attentat beging, war Judäa de jure
bereits römisches Staatsgebiet, auch wenn ihr es noch nicht
wusstet. Zwar hat der Imperator den Juden ihre eigene
Gerichtsbarkeit belassen, doch der Grieche hat eine Fürstin
angegriffen, die direkt unter Roms Schutz stand. Sein Angriff war
ein Angriff auf Rom, daher untersteht er meinem Gericht. Ich habe
ihn bereits in den Kerker meiner Residenz nach Caesarea bringen
lassen. Machen wir’s kurz: Ich lasse den Griechen frei, damit ist
das Thema erledigt.«
Endlich war er vollständig ausgezogen. Er umfasste
ihre Schultern und wollte Herodias mit sanftem Druck auf die Knie
zwingen. Doch sie widerstand.
»Genau das will ich nicht«, sagte sie.
»Damals im Hain hast du es so gewollt.«
Sie rollte mit den Augen. »Ach, das meine ich doch
gar nicht. Ich rede noch immer von dem Griechen. Du sollst ihn
nicht freilassen. Er verdreht Salome den Kopf, und wenn man ihr den
Kopf verdreht, sieht sie nicht mehr das Wesentliche. Sie ist nun
eine Stadtfürstin und hat einen besseren Mann verdient, einen, der
mehr aufzuweisen hat als einen toten Gelehrten als Vater.«
»Wirklich sehr mütterlich gedacht von dir. Kann es
auch sein, dass du nicht daran interessiert bist, dass sie so
schnell heiratet? Du würdest die Regentschaft über Ashdod
verlieren, bevor du sie so recht innegehabt hättest.«
»Und du dein Zehntel an den Einnahmen«, konterte
sie treffsicher. »Du sollst den Kerl ja nicht hinrichten, nur
verschwinden muss er. Für eine lange, lange Zeit.«
Coponius grinste. »Du bist ruchlos, weißt du
das?«
»Was ist nun mit dem Griechen?«
»Er kriegt seine Strafe.«
»Salome darf es nie erfahren. Nichts über die
Fälschung des Protokolls und schon gar nichts über den Griechen.
Sie glaubt, ich helfe ihm, und du musst sie in diesem Glauben
belassen. Wenn sie dich je fragt, sage ihr, dass du ihn auf meine
Bitte hin freigelassen hast, sage ihr, dass …«
»Keine Sorge«, wiegelte er ungeduldig ab und
umfasste Herodias’ Körper. »Meine Lippen gehören ganz dir.«