14
Wie ein Blitz zuckte der Schreck durch Sadoq. Im
ersten Moment konnte er weder Menahem noch Kephallion anschauen,
die neben ihm auf dem Teppich saßen. Er senkte den Kopf und biss
die Zähne zusammen.
All die Jahre, die seit dem Mord an seinem Vater
vergangen waren, hatte er sich an den Glauben geklammert, den Kampf
gegen die ungläubigen Unterdrücker gewaltfrei führen zu können. Er
hatte gedacht, dass die Römer Judäa räumen würden, wenn sie
merkten, wie feindlich ihnen das Volk gegenübersteht. Denn das
waren sie nicht gewöhnt. In Gallien, Hellas, Afrika und Ägypten
waren sie zwar zunächst nicht freundlich empfangen worden, doch
schon nach wenigen Jahren erfreuten die dortigen Völker sich an den
Segnungen der römischen Ordnung. Nur in Germanien war ihre
Expansion zurückgeschlagen worden, und Sadoq hatte stets gehofft,
dass die Römer die Lehre vom Teutoburger Wald, wo ihr Heer besiegt
worden war, begreifen und ihre Schlüsse daraus ziehen würden. Die
Juden hassten Roms Ordnung, sie akzeptierten sie nicht, warum also
zog Rom nicht ab?
Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, wann der
Erste seiner wichtigsten Gefolgsleute sich gegen seine gewaltfreien
Methoden aussprechen würde. Doch dass es gleich so schlimm käme …
Kephallion schlug vor, jeden Rabbiner zu ermorden, der den
Zeloten ablehnend gegenüberstand, und ablehnend hieß in Kephallions
Definition, jeden, der nicht ausdrücklich für die Zeloten sprach.
Damit sollte ein Zeichen gesetzt werden, dass die Geduld der
»Eifernden«, der Zeloten, zu Ende sei und dass nun eine neue Phase
begänne.
Sadoq zitterte ein wenig, als er sich erhob und,
die Hände unter den Achseln verborgen, den Raum durchschritt. Vor
einer der Fackeln an den Wänden blieb er stehen und betrachtete
ihre züngelnde Flamme. Ein Inferno, das sah er. Er wusste, dass die
Gesetze der Gewalt keinem gewöhnlichen Schema folgten, dass sie die
Eigenart besaßen, sich zu verselbstständigen und der Kontrolle
ihrer Verursacher zu entziehen. Aus einem Dolchstoß konnte ein
Aufstand werden, aus einem Aufstand ein Krieg, aus dem Krieg ein
Inferno. Es war gut möglich, dass Kephallions Vorschlag eines Tages
in etwas mündete, das sich keiner, nicht mal in den schlimmsten
Albträumen, vorstellen konnte – oder aber an das Ziel ihrer Wünsche
führte, auch das war möglich. Die Gewalt verhüllte sich stets in
weiten, undurchsichtigen Gewändern. Sie versprach viel, aber sie
war die schlimmste Lügnerin auf Erden.
Plötzlich wandte er sich von der Flamme ab und sah
Kephallion an, dessen Gesicht seit einigen Jahren von einem
dichten, schwarzen Bart verhüllt wurde. Der Bursche hatte es weit
gebracht, in jeder Hinsicht. Am Hof des Tetrarchen in Tiberias
hatte er sich jahrelang, seit dem Tod seines Vaters, stets
unauffällig und gefügig gezeigt. Niemand dort bemerkte, dass
Kephallion spionierte, dass er schon im Voraus wusste, wo und wann
die Schergen des Tyrannen ihre Schläge gegen die Zeloten planten
oder der Bevölkerung die hohen Steuern abpressen wollten. Dadurch
konnten die Zeloten nicht nur sich selbst, sondern auch ganzen
Dörfern helfen, deren Dankbarkeit ihnen weiteren Zulauf
verschaffte. Kephallion verbarg seine Sache so geschickt, dass
Antipas und die Pharisäer ihm vor zwei Jahren sogar das Amt des
Toparch, des Verwalters, von Nazareth übertrugen. Hier
residierte der Herodianer nun in einem geräumigen Haus im besten
Stadtteil.
Sadoq hätte sich nie vorstellen können, einmal
unter dem Dach eines Herodianers zu sitzen, eines Mitglieds jener
Familie, die er einst verflucht hatte, doch er fühlte sich hier
sicher. Auf dem Boden standen Platten voll mit Hühnerkeulen,
Kalbsbraten, gefüllten Auberginen und Dattelkuchen, die irdenen
Kelche waren gefüllt mit Wein vom See Genezareth, und ein
Kohlenbecken verbannte die Kälte der galiläischen Nacht vor die
Tür. Vorbei war die Zeit, in der sie sich wie Verbrecher in
muffigen Kellergewölben verstecken mussten, vorbei auch die Zeit,
als sie, Fledermäusen gleich, nur nachts leben durften. Kephallion
hielt unsichtbar seine schützende Hand über sie. Sadoq verdankte
ihm viel, und trotzdem war ihm der Bursche fremd und manchmal sogar
unheimlich.
Mehrmals in der Woche, vor allem zu jedem
shabbat, trafen sie sich in seinem Haus, setzten sich auf
die weichen Webwaren, aßen, tranken und redeten. Meistens ging es
um Politik, Kephallion fühlte sich bei diesem Thema scheinbar am
wohlsten. Sie tauschten Informationen aus und berieten die Lage,
doch manchmal wünschte Sadoq sich, sie könnten wie normale Menschen
zusammensitzen und über andere Dinge sprechen, über Frauen zum
Beispiel, über die Erkrankung eines Freundes oder die Ernte.
Stattdessen füllten die Besatzer und ihre jüdischen Helfer alle
Gespräche aus. Pilatus, Tiberius und Antipas, Feind, Abtrünniger
und Ungläubiger, das alles waren Namen und Begriffe, die ihnen
mittlerweile so selbstverständlich über die Lippen kamen wie
anderen Leuten ein Lachen oder ein Gruß.
Kephallion prägte jedoch nicht nur ihre Gespräche
und die neue Lebensqualität, er nahm auch Einfluss auf die Struktur
der Zeloten. Andauernd machte er neue Vorschläge. Er hatte nicht
nur die verschiedenen, oftmals chaotisch operierenden
Zelotengruppen in den Städten Judäas einheitlich organisiert,
sondern auch ein Verbindungsnetz geschaffen, das jedes einzelne
Mitglied mit der Führung und allen anderen verband. Hierarchien und
Geheimschriften, mit denen Kommandos übermittelt wurden, gingen auf
seine Initiative zurück. Er war der große Ideengeber geworden, war
der Wind in ihren Segeln. Im engen Führungskreis war er zudem wegen
seiner feurigen Reden beliebt. Kephallion sprach den Leuten aus dem
Herzen. Er konnte ihnen jenes wilde Glitzern in die Augen zaubern,
das Sadoq zum ersten Mal vor vielen Jahren an Zelon gesehen hatte
und in diesem Moment auch an Kephallion selbst bemerkte.
Sadoq setzte sich wieder zu den beiden anderen.
Nachdenklich brach er mit Daumen und Zeigefinger ein kleines Stück
Kuchen ab und kaute es langsam. Schließlich blickte er den Mann an,
mit dem er noch nie uneins gewesen war, seinen treuesten Freund.
»Menahem«, sagte er nur und forderte ihn damit auf, Stellung zu
beziehen. Doch er wusste schon vorher, was dieser sagen
würde.
»Ich bin dagegen. Mit jeder Stunde nimmt die Zahl
unserer Anhänger zu, auch ohne dass wir unsere Gegner ermorden.
Welchen Vorteil soll uns das bringen? Wir schütten nur Gräben auf –
und Gräber.«
»Genau das«, bestätigte Kephallion. »Was helfen uns
Anhänger, wenn wir sie nicht einsetzen? Mir sind tausend
entschlossene, todesmutige Männer lieber als zehntausend
Angsthasen.«
»Nur weil ich überlege, bin ich kein Angsthase«,
rechtfertigte Menahem sich vor Sadoq. »Habe ich nicht Seite an
Seite mit dir gestanden, als …«
Sadoq legte beruhigend seinen Arm auf den seines
Freundes. »Niemand behauptet, du seist furchtsam. Nicht wahr,
Kephallion, du auch nicht?«
Kephallion schien einen Moment unentschlossen, ob
er zustimmen sollte, entschied sich schließlich dafür. »Natürlich
nicht. Ich wollte lediglich ausdrücken, dass die Zeit für Taten
gekommen ist, nachdem das Wort versagt hat. Die Germanen haben die
Römer auch nicht mit Predigten verjagt, sondern mit einem einzigen,
furchtbaren Schlag.«
Menahem schüttelte den Kopf. »Das kannst du nicht
vergleichen. Die Barbaren nutzten die sumpfigen Wälder, um drei
römische Legionen zu vernichten, außerdem waren sie erfahrene
Krieger. Was du vorhast, sind Nadelstiche, keine Schläge, und
Stiche reizen ein Raubtier nur, ohne es ernsthaft zu
verletzen.«
Kephallions Brust schwoll an. »Ich würde gerne
losschlagen. In Jerusalem lebt einer unserer besten Männer,
Barabbas. Wenn ich ihn beauftrage, einen Aufstand vorzubereiten
…«
»Das kommt nicht in Frage«, rief Menahem.
»Wieso nicht?«
»Wir sind nicht stark genug.«
Der Herodianer grinste. »Möglich. Aber wir sind in
jedem Fall stark genug, feindselige Gelehrte zu beseitigen und
damit die Motivation unserer Anhänger zu stärken.«
Menahem war seinem Gegenspieler auf den Leim
gegangen. Rhetorisch konnte er ihm nicht das Wasser reichen.
Ein letztes Argument blieb ihm jedoch. »Du machst
es dir sehr einfach. Du sitzt hier vor deinen Kuchen und schwingst
große Reden, aber unsere Anhänger sind diejenigen, die unsere
Beschlüsse in die Tat umsetzen müssen. Sie sind es, die den Dolch
in die Leiber stoßen, denen das Blut entgegenspritzt und die
…«
»Das habe ich alles schon getan«, unterbrach
Kephallion. »Ja, du brauchst mich gar nicht so verblüfft ansehen,
Menahem. Ich habe schon getötet, und zwar Zacharias, meinen eigenen
Vater.«
Menahem stockte der Atem. Auch Sadoq konnte es kaum
glauben.
»Du warst das?«
Kephallion zuckte mit den Schultern. »Aber ja. Er
war ein Feind unserer Sache, er hätte uns verraten.«
»Eine Frau wurde für diesen Mord gesteinigt.«
»Eine Ungläubige«, erklärte Kephallion knapp und
kam wieder zum eigentlichen Thema zurück. »Ich würde nie etwas von
unseren Leuten verlangen, das ich nicht selbst als Erster täte.
Jetzt liegt es bei dir, Sadoq. Stimmst du meinem Vorschlag zu, oder
willst du weitermachen wie bisher? Du warst kaum zwanzig Jahre alt,
als du die Zeloten gegründet hast, um deinen Freund zu rächen und
alle Gottlosen aus diesem Land zu vertreiben. Nun zählst du über
dreißig Jahre und bist deinem Ziel nicht viel näher gekommen.
Willst du einmal sterben, ohne deinen erhabenen Schwur erfüllt zu
haben?«
Sadoq und Menahem schwiegen, und so setzte
Kephallion hinzu: »Du bist der Messias, Sadoq, auch wenn du
es selbst noch nicht wahrhaben willst. Du bist der, der Judäa
retten wird, und ich helfe dir dabei. Wir müssen Chaos und
Schrecken im Land verbreiten, dann werden die Fürsten und
Prokuratoren erzittern und schließlich stürzen. Die Rache an den
Herodianern wird furchtbar sein, und unser Ruhm ewig.«
Sadoq seufzte tief. Alles in ihm warnte vor
Blutvergießen, das weiteres Blutvergießen nach sich zöge. Die Lehre
aus dem gewaltsamen Tod seines Vaters und seines Freundes Zelon
hieß, dafür zu sorgen, dass möglichst wenige andere Söhne eine
solche Erfahrung machen mussten. Und doch hatte Kephallion in einem
Punkt Recht: Er, Sadoq, war seinem Lebensziel keinen Schritt näher
gekommen. Warum zogen die Römer, die nur Leid und Unterdrückung
brachten, nicht einfach ab und ließen den Juden das Land, in dem
sie schon seit vielen Generationen lebten?
Er stand wieder auf und blickte auf seine beiden
engsten Gefolgsleute hinab. »Also gut, Kephallion. Setze deinen
Plan in die Tat um. Du hast meine Zustimmung.«
Kephallion sprang auf. Er strahlte wie ein kleiner
Junge, der soeben ein Holzschwert geschenkt bekommen hatte. »Du
wirst es nicht bereuen, Sadoq. Ich kümmere mich um alles, ihr habt
nichts zu tun.« Er nahm seinen Kelch und hob ihn feierlich in die
Höhe. »Masal tov. Auf gutes Gelingen!«
Sadoq nickte abwesend und machte eine Geste, dass
er sich zurückziehen wolle. Er war fort, bevor Kephallion oder
Menahem noch etwas sagen konnten.
Kephallion straffte sich. Er fühlte sich wie
neugeboren. »Siehst du«, sagte er mit Blick auf Menahem. »Er nimmt
langsam Vernunft an und hält mehr von meiner Meinung als von
deiner.«
Sein Kontrahent erhob sich langsam auf Augenhöhe.
Im Gegensatz zu Sadoq, dessen müde Augen und zerklüftete Stirn ihn
älter wirken ließen, als er war, war Menahems Gesicht jung
geblieben, dessen Ausdruck jene Mischung aus Ruhe und Strenge war,
die man gemeinhin Engeln nachsagte.
»Für den Augenblick sieht es so aus«, räumte er
ein.
»Dann gibst du zu, geschlagen zu sein?«
Menahem lächelte verächtlich. »Als wir diesen Raum
betraten, standen wir ein für Freiheit und Würde, nun verlassen wir
ihn als Mörder. Wir sind alle geschlagen, Kephallion, alle. Das
weiß auch Sadoq. Nur du verstehst es nicht.«
Als Salome ihn zum letzten Mal gesehen hatte, war
es ein warmer Spätsommertag gewesen. Die Fliegen summten um den
Teich in Ashdods verblassenden Blumengärten, die Luft war still und
der Wein süß. Der viele Rebensaft – aber mindestens ebenso das
Glück – hatten sie damals berauscht. An jenem Tag vor etwa zehn
Jahren war sie Timon so nahe gewesen wie nie zuvor und nie mehr
danach. Sie durften sich berühren und anlächeln, ihre Blicke
verschmolzen … Heute saß Salome im Palast von Bethsaida auf ihrem
fürstlichen Thronschemel neben Philipp, einer Statue gleich, und
musste ihre Liebe öffentlich verleugnen, wo sie sie doch am
liebsten in die Welt hinausgeschrien hätte. Wieder spürte sie
diesen Zorn auf Philipp, der eigentlich nicht ihm selbst galt,
sondern der Ehe, in der sie gebunden war.
»Darf ich vorstellen, Herr, Herrin«, eröffnete der
Schreiber die Audienz. »Kallisthenes von Epidauros.«
Salome begrüßte den Architekten mit einem
höflichen, knappen Kopfnicken, zu dem sie sich geradezu zwingen
musste. Sie hatte nur Augen für Timon und suchte in dem stolzen,
gut gekleideten Griechen jenen ungestümen jungen Mann, den sie vor
zehn Jahren verloren hatte. Seine Statur war kräftiger als damals.
An seinen Unterarmen waren die Adern so dick wie Seile, und an
vielen Stellen bildeten Narben winzige Inseln auf seiner gebräunten
Haut, Spuren der gnadenlosen Arbeit im Steinbruch. Doch das alles
bedeutete Salome nichts. Er war da. Nach Tausenden von Träumen,
durch die er gegeistert war, stand Timon wahrhaftig vor ihr.
Mit klopfendem Herzen richtete sie ihren Blick auf
Timons Gesicht, um sich in der Sprache der Augen mit ihm zu
verständigen. Wie lang hatte sie auf diesen Moment gewartet!
Die letzten Wochen vor seinem Eintreffen waren kaum
auszuhalten gewesen. Nachts hatte sie nicht einschlafen können und
war unruhig auf und ab gelaufen, am Tage blieb sie in sich gekehrt
und nahm kaum noch an den Geschehnissen ihrer Umwelt teil. Alle
ihre Gedanken waren auf diesen einen Moment gerichtet, in dem sie
Timon wieder in die Augen sehen durfte.
Doch er wich ihr aus, selbst als er vom
sofer vorgestellt wurde. Ja, seine Verbeugung war
vollkommen, doch was kümmerten sie seine Manieren? Sie wollte ihn
mit ihren Augen streicheln, Erregung tauschen, wenn auch nur stumm.
Wenigstens das musste ihr doch vergönnt sein. Warum sah er
sie nicht an?
»Salome?«
Sie schreckte auf, als Philipp ihren Namen nannte.
Offenbar war sie so vertieft gewesen, dass sie nicht mitbekommen
hatte, wie von ihr gesprochen wurde.
Philipp sah sie nicht anders an als sonst, aber sie
spürte, dass er eine Veränderung an ihr bemerkt hatte.
»Ich habe Kallisthenes eben erzählt, dass der Bau
Philippis deine Idee war.«
Sie versuchte, sich zusammenzureißen. »Das stimmt.«
Ihre Stimme klang belegt, wie sie selber feststellte. Sie bemühte
sich, heller zu sprechen, als sie erklärte: »Niemand traut unserem
Land zu, dass wir Großes zustande bringen. Alle glauben, die
schöpferische Kraft Basans beschränkt sich auf die Zucht von
Rindern und das Graben von Wasserlöchern. Wir wollen die Zweifler
eines Besseren belehren.«
Kallisthenes nickte. »Welche Vorstellungen, die
Stadt betreffend, habt ihr, wenn ich fragen darf?«
»Keine«, antwortete Philipp. »Nur etwas Besonderes
soll sie werden, ein Schmelztiegel der Völker. So wünscht es meine
Frau, und ich mit ihr. Wer diese Stadt bauen will, benötigt neue
Ideen.«
Kallisthenes zog die Augenbrauen hoch. »Das
versteht sich ja wohl von selbst«, kommentierte er leicht gekränkt.
»Einen griechischen Einschlag werden wir jedoch nicht vermeiden
können, wenn es etwas Besonderes werden soll. Mir fällt wahrhaftig
kein Baustil ein, der die Schönheit des Steins besser zum Ausdruck
bringen könnte.«
»Das soll mir recht sein. Viele jüdische Städte
sind von griechisch inspirierten Bauten geprägt, Jericho, Hebron,
Lydda, auch Jerusalem. Sogar der dortige Tempel des Einen Gottes,
das erhabene Zentrum unseres Glaubens, ähnelt einer
Akropolis. Es gibt keine Stadt in Judäa ohne griechische
Bauwerke, ausgenommen vielleicht Tiberias, die Hauptstadt meines
Bruders. Sie wirkt römisch.«
Kallisthenes verzog das Gesicht wie nach einer
bitteren Medizin. »Diese Gefahr besteht bei uns nicht, Fürst. Nicht
wahr, Timon?«
»Nein«, antwortete er wortkarg, ohne seinen Blick
zu heben.
Obwohl Salome ihn kaum aus den Augen ließ, hatte
sie noch keinen Kontakt zu ihm herstellen können. Viel Zeit blieb
ihr nicht mehr, denn die beiden Architekten würden bereits morgen
früh weiter nach Norden reisen, zur Quelle des Jordan, wo Philippi
entstehen sollte. Sie überlegte schon, Timon eine Frage zu stellen,
ihr fiel jedoch in der Aufregung keine passende ein. Dutzende
Varianten, warum er sich so verhielt, gingen ihr durch den Kopf.
Glaubte er, sie habe ihn damals im Stich gelassen? Schämte er sich
noch wegen des Mordanschlags auf ihre Tante? Dachte er vielleicht,
sie liebe ihn nicht mehr, weil sie verheiratet war? Oder – liebte
er sie nicht mehr? Diese Vorstellung überfiel sie derart heftig,
dass sie kurz aufstöhnte.
Philipp sah erneut zu ihr und wandte sich dann
wieder Kallisthenes zu. »Da ich gerade von meinem Bruder sprach –
er wird morgen hier in Bethsaida zu politischen Gesprächen
erwartet. Wir geben ein abendliches Gastmahl, zu dem wir auch dich
und Timon bitten.«
Diese Einladung versetzte alle in Erstaunen, auch
Salome. Es war in Judäa zwar üblich, Gäste persönlich und
reichhaltig zu bewirten, auch solche, die fremd waren oder im Rang
weit unter den Gastgebern standen. Besonders die se’uda
mafseket, die Abschiedsessen für Familienmitglieder, Freunde
und Bedienstete, fielen üppig und herzlich aus. Doch zwei
Architekten zum Treffen der Tetrarchen, der beiden höchsten
jüdischen Souveräne, zu bitten, war ungewöhnlich. Philipps
Vorschlag verwirrte alle.
Doch Salomes Überraschung folgte schnell die
Freude. Bis morgen Abend würde sich gewiss eine Gelegenheit finden,
mit Timon zu sprechen, und so huschte ein Lächeln über ihr Gesicht,
als sie sagte: »Was für eine großartige Idee, Philipp. Dass ich
nicht selbst darauf gekommen bin.«
Am nächsten Morgen konnte Salome von einem Fenster
aus beobachten, wie Timon zu einem Spaziergang aufbrach. Der kleine
Palast von Bethsaida erhob sich nicht am Ufer des Sees Genezareth,
sondern zur Landseite hin am Rande der Stadt. Jetzt, im Frühherbst,
zog der Duft des goldenen, frisch geschnittenen Grases über die
Ebene, und das Zirpen der Grillen drang wie ein ständiges Wispern
bis in die Säle der Residenz, so als wolle es die Menschen in die
Natur locken.
Für Salome begann die schönste Zeit des Jahres,
denn sie liebte Tage wie diese, in denen ein warmer Mittag einem
kühlen, feuchten Morgen folgte. Die Hochsommer in Basan waren
dagegen oft unerträglich heiß, und manchmal hielt sie es nicht mehr
aus und floh vor der Hitze an Ashdods Küste. Die Winter wiederum
waren zwar mild, in den letzten Jahren jedoch ausgesprochen
regenreich. Die Bauern freuten sich, denn ihre Weiden grünten mit
jedem Frühling mehr, und die Feigen hingen schwer wie Pampelmusen
an den Bäumen. Doch für Reisen oder Ausflüge waren die Wintermonate
kislev, tevet und shvat völlig ungeeignet. Salome
verbrachte dann scheinbar endlose Stunden mit dem Studium von
Schriften, dem Ausarbeiten neuer Edikte für Ashdod oder einem
gelegentlichen Gespräch mit Philipp. Denn einen Hofstaat gab es in
Philipps Tetrarchie nicht, sah man einmal von den Beamten ab. Seine
Sparsamkeit – mehr noch, seine Menschenscheu – verbot das.
Sie beschloss, die günstige Gelegenheit zu nutzen
und Timon zu folgen. Einen kurzen Moment lang musste sie über sich
selbst schmunzeln, denn sie kam sich wie ein kleines Mädchen vor,
das seiner Jugendliebe hinterherlief. Und gewissermaßen verhielt es
sich auch so. Als sie Timon verloren hatte, war sie tatsächlich
noch ein Mädchen gewesen, und heute wollte sie nahtlos an diesem
Punkt anknüpfen.
Sie warf sich rasch eine strahlend weiße
stola über ihr Gewand und huschte nach draußen. Als sie das
Palasttor passierte, konnte sie sofort sehen, in welche Richtung
Timon spaziert war, denn das Land war fast eben und seine
Silhouette weithin sichtbar. Er hatte den gleichen Weg
eingeschlagen, den Salome meist ging; dieser führte zu einem
kleinen Olivenhain, der windgeschützt in einer Senke gedieh.
Als sie dort ankam, fand sie ihn auf einem Felsen
sitzend. Der morgendliche Orangenglanz der Sonne überflutete den
Hain, und ganze Schwärme junger Vögel hüpften aufgeregt von Ast zu
Ast und übten sich im Gesang. Dieses friedliche Bild erinnerte
Salome an ihre Sehnsüchte. So viele Jahre schon hätten sie
gemeinsam auf Steinen sitzen können, die warmen Strahlen auf dem
Rücken spürend, den Tag genießend, jeden Tag.
Sie näherte sich leise von hinten, bis sie kaum
einen Schritt von Timon entfernt war. Ihr Blick ruhte auf ihm.
Muskeln zeichneten sich durch seine enge Tunika ab, und ihre Hand
war versucht, in Timons schulterlanges Haar zu greifen, zuckte aber
wieder zurück. Lieber genoss sie noch eine Weile dieses friedliche
Bild und gab sich ganz der Freude hin, Timon endlich wieder so nahe
zu sein wie früher.
Schließlich trat sie absichtlich auf einen Zweig,
der knackend unter ihren Füßen brach. Timon schreckte auf, und zum
ersten Mal nach zehn Jahren sahen Salome und Timon einander wieder
an. Seine Verblüffung war so groß, dass er seinen Blick zunächst
nicht mehr von ihr losreißen konnte. Stumm standen sie sich
gegenüber, zum Greifen nahe. Die alte Erregung in ihr, die sie
erstmals am Strand von Ashdod gespürt hatte, erwachte zu neuem
Leben. Sie schluckte, und ihr Atem ging stoßweise.
»Timon«, sprach sie seinen Namen mit zärtlicher
Stimme aus, worauf er, wie am Tag zuvor bei der Audienz, zu Boden
blickte. Doch auch er war aufgeregt.
»Warum weichst du mir aus?«, fragte sie sanft und
streckte ihre Hand nach seinen Wangen aus. Er ließ es geschehen und
sah sie wieder an.
»Du … du bist nicht mehr die, die ich früher
kannte«, antwortete er.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin noch dieselbe.
Als ich hörte, dass du noch lebst, war ich wahnsinnig vor Glück«,
gestand sie offen. Für kindliche Schüchternheit gab es keinen Platz
und keine Zeit.
»Trotzdem, du bist eine Fürstin.«
»Das bedeutet nichts. Wir haben ein Recht auf
unsere Liebe.«
»Ist dein Mann der gleichen Meinung?«
»Bitte, Timon, lass uns die Dinge nicht schwieriger
machen, als sie sind.
»Sie sind schwierig.«
»Wir sehen uns zum ersten Mal seit einer Ewigkeit,
und du willst unbedingt streiten. Was stimmt denn nicht?«
»Was nicht stimmt?«, wiederholte er aufgeregt und
entzog sich ihrer Berührung. »Alles stimmt nicht. Du solltest mich
nicht lieben, und ich sollte nicht hier sein. Wir sollten nicht
miteinander sprechen. Und du hättest nicht heiraten sollen.«
Nun ging ihr ein Licht auf. »Ach, das ist
es, was dir zu schaffen macht. Timon, ich musste damals heiraten,
um Ashdod vor dem Zugriff …«
»Verdammt«, fiel er ihr ins Wort. »Verdammt,
Salome, ich saß quasi schon auf dem Pferd, das mich zu dir bringen
sollte, als ich von deiner Hochzeit erfuhr. Hättest du nicht warten
können? Nur einen Monat?«
»Ich wusste nicht, dass du noch lebst.«
»Und ob du es wusstest. Wieso sonst hättest du mich
jetzt rufen lassen?«
Langsam wurde sie ärgerlich. »Ich habe erst
kürzlich und auf Umwegen erfahren, dass du lebst und Architekt
geworden bist. Damals wusste ich es nicht.«
»Du hättest dich ein wenig anstrengen können, um es
herauszufinden. Oder lag dir nichts mehr an mir?«
Ihr Mund stand vor Überraschung weit offen. Am
meisten ärgerte sie, dass sie die Aufrichtigkeit ihrer Liebe
beweisen sollte, wo doch er es gewesen war, der sie damals
belogen und benutzt hatte. »Ob mir …? Also, das ist ja wohl das
Dümmste, was ich je gehört habe. Was glaubst du wohl, was ich alles
unternommen habe, um dich zu finden? Was glaubst du wohl, warum
diese Stadt gebaut wird?«
»Heißt das, Philippi entsteht, weil du mich in
deiner Nähe haben willst?«
»Ja«, rief sie.
»Das ist doch Wahnsinn.«
Das Gespräch, das von ihr als Wiedersehensfest und
Auftakt der neuen Liebe gedacht gewesen war, entglitt ihr völlig.
Beide sagten sie Dinge, die sie nicht so meinten. »Oh, Verzeihung,
ich vergaß, dass ich es mit dem ehrlichsten und tugendhaftesten
Mann unter der Sonne zu tun habe. Du würdest ja niemals
irgendjemanden ausnutzen, um an ein Ziel zu kommen, nicht
wahr?«
»Ich konnte dir vor zehn Jahren meine Pläne nicht
enthüllen.«
»So, und warum nicht?«
»Weil du mich sonst vielleicht verraten
hättest.«
»Siehst du, das ist der Unterschied zwischen uns.
Ich bin wenigstens ehrlich zu dir, ich habe Vertrauen und gehe
Risiken ein. Immerhin setze ich mich einer großen Gefahr aus, wenn
ich mich mit einem Mann in einem Hain treffe. In Judäa sieht man so
etwas gar nicht gern.«
»Ich habe dich nicht gebeten, mir nachzuschleichen
wie eine rollige Katze.«
Sie versetzte Timon eine laut schallende Ohrfeige,
die sogar die Vögel aus den Bäumen scheuchte. Ihre Hand brannte von
dem Schlag, und Timons gesamte linke Gesichtshälfte leuchtete im Nu
feuerrot. Auf der Stelle tat ihr Leid, was sie getan hatte – und
doch auch wieder nicht. So durfte niemand mit ihr sprechen, nicht
einmal Timon.
Er sah sie zunächst überrascht an, senkte dann
beschämt den Blick, aber schließlich ging er ohne ein weiteres Wort
davon und war bald nur noch ein Punkt auf den Heuweiden.
Ihr Ärger verrauchte binnen eines Atemzuges. Von
Traurigkeit überwältigt lehnte sie sich an einen runzeligen, warmen
Olivenbaumstamm und starrte in sein Blattwerk. Zwischen dem Laub
hingen hunderte grüner Oliven, und Salome nahm, in Gedanken
versunken, eine nach der anderen der harten Früchte, riss sie ab
und knetete sie in den Händen.
Heute Abend würde sie Timon noch einmal auf dem
Festmahl sehen, doch es gab keinen schlechteren Ort, um einen
weiteren Versuch zu unternehmen, ungestört mit ihm zu sprechen.
Morgen reiste er schon zur Quelle des Jordan, und sie wusste noch
immer nicht, woran sie war. All die Hoffnungen, die sie seit Wochen
an das Wiedersehen geknüpft hatte, bröckelten wie eine schlecht
gepflegte Fassade.
Weil sie in ihrer Wut irgendetwas packen wollte,
zerrte sie an einem der unförmigen Äste des Olivenbaums und hieb
auf das genarbte Holz ein, immer wieder, auch noch als ihre Hände
schmerzten und der dünne Stoff ihres Gewandes an den Ärmeln
aufriss.
Doch plötzlich hielt sie inne und grinste. Wer
sagte denn, dass sie mit Timon reden musste, um seine wahren
Gefühle aus ihm herauszulocken?
Für Herodias und ihren Gemahl war der Weg von
Tiberias nach Bethsaida kurz. Da beide Städte am See Genezareth
lagen, bestieg das Fürstenpaar ein Schiff, das eigens für diese
Reise gebaut worden war, und fuhr mit der Nachmittagssonne und
einem milden Wind im Rücken in nordöstliche Richtung. Von
gleichmäßigen Ruderschlägen angetrieben, durchpflügte das Schiff
die seichten Wellen, als schwebe es auf einer Wolke dahin, und
Antipas schlummerte schon nach wenigen Minuten auf seinem
Prunksessel auf dem Oberdeck ein. Er hatte die ganze Nacht
getrunken, nun schnarchte er, was das Zeug hielt.
Herodias blickte ihn mit verzogenen Mundwinkeln an.
Sie hatte nicht die Absicht, sich das die ganze Überfahrt lang
anzuhören. Stattdessen spazierte sie lieber ein wenig über das Deck
und betrachtete die Muskeln der Rudersklaven. Die meisten Männer
waren dunkelhäutig, denn die thora verbot, Juden als Sklaven
zu halten, gestattete hingegen ausdrücklich die Unterjochung von
Menschen benachbarter Staaten, also von Ägyptern und Nabatäern. Der
afrikanische Nubier unter den Ruderern erregte sie besonders, denn
den athletischen Körper überzog ein feiner Schweißfilm, der seine
schwarze Haut wie Samt glänzen ließ, und sein Gesicht verzerrte
sich unter der Anstrengung zu einer hinreißend zornigen Grimasse.
Wie gerne würde sie ihn … Nein, das war undenkbar. Eine Frau in
einer Stellung wie sie durfte sich nicht mit Sklaven abgeben. Aber
ein Seufzen konnte sie dennoch nicht unterdrücken.
»Bist du mit irgendetwas unzufrieden,
Herrin?«
Die Frage des Schiffskommandanten klang besorgt.
Für diesen verantwortungsvollen Rang war er noch recht jung, und er
wollte auf seiner ersten Fahrt unbedingt alles richtig
machen.
Herodias spielte lächelnd mit ihrer Perlenkette.
Dieser Offizier war wirklich ein Schmuckstück, und ihre erfahrenen
Augen erkannten sofort, dass er sich im Bett führen lassen würde.
Sie war es nämlich leid, von Antipas’ schwerem Körper erdrückt zu
werden, ohne Gelegenheit, ihre Künste voll zu entwickeln.
»Wenn wir wieder zurück in Tiberias sind«,
erwiderte sie, »musst du mich einmal besuchen, Kommandant. Dann
berichte ich dir meine Beobachtungen deiner Leistungen.«
Er nickte, seine Augen verrieten jedoch Verwirrung.
Ganz sicher hatte er noch nicht verstanden, worauf sie
hinauswollte, doch das würde er noch zeitig genug erfahren.
»Fürs Erste«, fügte sie hinzu, »bin ich zufrieden.
Oder warte … Wie lange werden wir noch bis Bethsaida
brauchen?«
»Etwa eine halbe Stunde, Herrin.«
»Geht es nicht schneller?«
Er zögerte. »Ich müsste den Rudertakt erhöhen,
Herrin. Allerdings weiß ich nicht, wie lange die Sklaven das
durchhalten.«
»Wir werden sehen«, sagte sie und richtete den
Blick wieder auf den Nubier. Unter dem schnelleren Takt spannten
sich die Sehnen seiner Arme und Beine bis zum Zerreißen, und seine
Pupillen funkelten wild. Herodias beobachtete genießerisch, wie
sich der Ausdruck seines Mundes veränderte, von den anfänglich
kraftvoll zusammengebissenen Zähnen über schweres Keuchen bis zu
matter, an Ohnmacht grenzender Erschöpfung. Doch der Schlag einer
Peitsche erweckte ihn zu neuem Leben, und Herodias war es ein
weiteres Mal vergönnt, die Phasen der Entkräftung zu
betrachten.
»Haritha, Haritha!«
Mitten im höchsten Genuss wurde sie von den
Schreien ihres Gemahls unterbrochen. Schlimm genug, dass Antipas
den Namen seiner früheren Frau fast jede Nacht durch den Palast
kreischte, so dass es der ganze Hof hörte und damit ständig ein
Thema zum Lästern hatte. Jetzt bekamen auch noch die Offiziere und
Bootsmannschaften seinen jämmerlichen Zustand mit. Ausgerechnet
ihre frühere Rivalin geisterte ihm durch den Kopf. Was für eine
Demütigung!
Wütend rüttelte sie ihn wach, damit er nicht noch
mehr Schaden anrichtete. Als er sie, noch benommen von seinen
Träumen, anblickte, erklärte sie: »Du hast wieder geschrien,
Antipas. Kannst du dich nicht ein einziges Mal
zusammenreißen?«
»Sie – war wieder da«, winselte er.
Herodias biss sich zornig auf die Lippe. »Zeig sie
mir. Wo ist sie? Nirgends! Sie ist nicht da. Sie ist tot, Antipas,
tot. Wann begreifst du das endlich? Sie kann dir nicht mehr
schaden.«
»Sie hat mir nie geschadet.«
»Scht«, zischte sie ihn an. »Sprich leiser, alle
können dich sonst hören.«
»Das ist mir egal. Jeder kann hören, was für eine
Frau Haritha war. Nie hat sie mir widersprochen und immer alle
Wünsche erfüllt. Sie war eine Tänzerin, eine Schönheit, ein Wunder,
eine …«
»Eine Mörderin und Ehebrecherin«, fuhr Herodias
dazwischen.
Antipas packte sie am Handgelenk. Leise und
energisch presste er die Worte zwischen den Zähnen hervor:
»Du bist eine Mörderin. Du bist eine Ehebrecherin.
Denk nicht, dass ich das vergessen habe. Du widerst mich an,
Herodias. Nimm dich in Acht.«
Sie kannte dieses böse Aufblitzen in seinen Augen
und wusste, dass sie dann besser schwieg. Antipas war nur noch
selten Herr seiner selbst, er war getrieben von Ängsten, dunklen
Vorahnungen und dem Rausch des Weins. Er hatte aber seine lichten
Momente, in denen er verstand, was um ihn herum vorging. Zweifellos
waren ihm ihre erotischen Eskapaden ebenso wenig entgangen wie ihr
Bündnis mit Rabban Jehudah. In allen wichtigen Fragen
sprachen sie mit einer Stimme auf Antipas ein, wobei jeder der
beiden seinen Vorteil dabei fand. So deckte sie seine Initiative,
dass nur noch pharisäische Rabbiner an den Schulen Galiläas
lehren durften, wohingegen er öffentlich seinen Dispens erneuerte,
dass die Ehe zwischen Schwager und Schwägerin in ihrem Fall legitim
sei, da zwar ein Nachkomme aus ihrer vormaligen Ehe entstanden war,
nämlich Salome, doch eben nur eine Tochter, die nicht ins Gewicht
falle. Da der unverschämte Johannes der Täufer durch die Lande zog
und lauthals gegen die nach mosaischem Gesetz verbotene Ehe
wetterte – er schimpfte sie sogar eine Hure -, war die
Unterstützung Jehudahs für sie viel wert. Gemeinsam bildeten sie
also ein machtvolles Gespann, das von Antipas zwar manchmal
skeptisch beäugt wurde, gegen das er am Ende aber nichts
auszurichten vermochte. Zu sehr war er der geistlichen Autorität
des Rabbans einerseits und Herodias’ wollüstigem Körper
andererseits verfallen. Seine Drohungen waren das Gebell eines
zahnlosen Hundes.
Trotzdem fand Herodias es besser, ihn nicht noch
weiter zu reizen, vor allem nicht hier vor der Mannschaft. Darum
lenkte sie ihn schnell ab.
»Wir sollten uns lieber auf die bevorstehenden
Verhandlungen mit deinem Bruder konzentrieren, als uns hier
gegenseitig anzuschnauben.«
Er ließ sich augenblicklich auf ihren Themenwechsel
ein und gab ihr Handgelenk wieder frei. »Ich verstehe nicht, wie
mir dieses Treffen nutzen soll«, brummte er. »Ich habe mich von dir
dazu überreden lassen, aber beim Namen des Unaussprechlichen, ich
habe keine Ahnung, was du dir von einem Schwatz mit diesem
Langweiler versprichst.«
»Nun, du möchtest doch König werden, oder?«
»Meine Astrologen sagen, mein Heil liege im Reif
der Könige.«
Herodias grinste unmerklich. Es hatte sie ein
kleines Vermögen gekostet, die Astrologen davon zu überzeugen, dass
die Sterne genau darauf hindeuteten. Der wahre Schatz Judäas, das
Gold des Herodes, lagerte in Jerusalem. Im großen Palast in der
Oberstadt, gleich neben dem Tempel, wollte sie eines Tages
residieren und Bäder in Wannen aus Edelsteinen nehmen.
»Siehst du«, sagte sie. »Und wer hat die Macht,
dich zum König zu machen?«
»Der Unaussprechliche.«
Sie verdrehte die Augen. »Außer dem
Unaussprechlichen.«
»Tiberius.«
»Richtig. Und Tiberius hört auf den Rat seiner
Statthalter. Wenn wir also Pilatus überzeugen, dass du für die
Römer der bessere König wärst …«
»Pilatus mag mich nicht«, jammerte Antipas.
»Pilatus ist zu vorsichtig, um Empfehlungen an den
Kaiser von seinen Sympathien abhängig zu machen, denn er muss dafür
geradestehen. Er wird dich bevorzugen, weil du fähiger bist, ein
rumorendes Land mit eiserner Hand unter Kontrolle zu halten. Nun zu
meinem Plan.«
Herodias holte tief Luft und funkelte ihren Gemahl
mit aller Schläue an. »Du erinnerst dich doch an diesen Mann, der
sich selbst den Messias nennt, Josua oder Jesus hieß er,
glaube ich. Philipp weigerte sich, ihn verhaften zu lassen,
woraufhin wir eine Beschwerde an Pilatus sandten.«
»Ja, und? Der falsche Prophet ist längst nicht mehr
in Philipps Tetrarchie. Dort war er nur ein paar Tage, nun ist er
verschwunden. Rabban Jehudahs Leute berichten, er sei in die
Wüste jenseits des Gebirges Gilead gegangen, wo weder Philipp noch
ich Machtbefugnisse haben.«
»Das ist nicht der springende Punkt, Antipas.
Wichtig ist, dass wir ihn verhaften wollten, wo Philipp sich
weigerte. Sollte der falsche Messias künftig für Unruhe
sorgen, was anzunehmen ist, steht Philipp als naiver Schwächling
da, der nicht in der Lage ist, Aufruhr zu unterbinden.«
Antipas brauchte einen Moment, um ihren Worten zu
folgen, bevor er nickte. »So weit, so gut. Was hat das nun mit
unserer Reise zu Philipp zu tun?«
»Hier kommt Johannes der Täufer ins Spiel. Wusstest
du, dass er sich derzeit am östlichen Jordanufer aufhält, auf
Philipps Gebiet? Und wusstest du auch, dass es vor einigen Tagen
eine Begegnung zwischen ihm und dem falschen Messias gegeben
hat?«
»Nein, aber was …«
»Wir behaupten, sie haben sich verschworen, um
deine Herrschaft zu untergraben, und verlangen von Philipp die
Auslieferung des Täufers. Er wird sie verweigern, so wie er schon
die Auslieferung des falschen Messias verweigerte, denn er
ist ein rührseliger Narr. Anschließend werden wir uns erneut beim
Prokurator über Philipp beschweren, und sobald der Täufer wieder
auf unserem Gebiet ist und die nächste Schimpfrede gegen deine
Herrschaft hält oder sonst eine Narrheit begeht, verhaften wir ihn.
Gegenüber Pilatus müssen wir die Vergehen des Täufers natürlich ein
wenig aufbauschen, doch das wird niemand merken. Bei den Römern
wird sich dadurch der Eindruck verfestigen, dass Philipp nicht zum
Regieren Judäas taugt, du hingegen ein Fels in der Brandung
bist.«
Abermals verharrte ihr Gemahl in Nachdenklichkeit,
so als ob ihre Worte nur tröpfchenweise zu ihm durchdrangen.
Plötzlich sah er auf. »Das hieße ja, ich muss den Täufer
verhaften!«
»Keine Panik, bitte. Ich weiß, du meinst, der
Täufer sei ein heiliger Mann und es brächte Unglück, ihm ein Haar
zu krümmen.«
»Das wäre mein Ende«, verstärkte er seine
Befürchtungen noch. »Gott würde …«
»Du musst ihm ja nichts antun. Es reicht völlig
aus, ihn unter Arrest zu stellen. Du könntest ihn zum Beispiel in
die Festung Machairos bringen lassen, am Salzmeer. Er hätte dort
eine riesige Anlage zur Verfügung und würde mit allem versorgt. Es
wäre ja nur so lange, bis du König bist. Später kannst du ihn
wieder freilassen.«
»Also, ich weiß nicht«, zögerte er.
Ihr Tonfall wurde strenger. »Antipas, dein einziger
Trumpf ist die Stärke, mit der du deine Tetrarchie beherrschst.
Wenn du die nicht ausspielst, wird dein jüngerer Bruder König,
dieser hölzerne, farblose Mensch. Meine Tochter wird mich demütigen
und Philipp dich. Die ganze Welt wird über uns lachen – und du
wirst nicht das Heil finden, von dem deine Astrologen sprachen. Der
Unaussprechliche will, dass du König wirst, also kann er nichts
dagegen haben, dass du den Täufer für eine Weile der Welt
entziehst.«
Vor allem dieses letzte Argument schien Antipas
einzuleuchten, denn sein vollbärtiges, düsteres Gesicht hellte sich
blitzartig auf.
»Vielleicht soll der Täufer auf diese Weise zur
Einkehr gebracht werden. Vielleicht ist die vorübergehende
Arrestierung sogar ein Geschenk des Unaussprechlichen an seinen
Propheten Johannes.«
Herodias nickte und atmete erleichtert durch. »So
wird es wohl sein.«
Sie richtete ihren Blick auf die nahe Küste von
Bethsaida, die unter einer Herde geballter Regenwolken fast
verschwand, und ihre Gedanken kreisten um den gehassten Täufer, und
um das, was sie ihm antun würde, wenn er endlich gefangen
war.
Träge plätscherten die Töne der Lyra durch
den Saal und vermischten sich mit dem Gähnen der Tafelgäste. Die
Gespräche waren längst versiegt. Kallisthenes fand, dass der
Musikant, der mit einem Holzstöckchen das Saiteninstrument spielte,
gerne etwas Schnelleres zum Besten geben könnte, um die
Gesellschaft ein wenig aufzumuntern, aber vermutlich war der
Spieler selbst bereits von der allgemeinen Müdigkeit erfasst
worden, die sich auch in Kallisthenes breit machte.
Der Tetrarch von Galiläa schlief schon, was
Kallisthenes jedoch nicht wunderte. Zuerst hatte der beleibte Fürst
sich wie ein Löwe über die gekräuterten Lammkeulen hergemacht,
danach mühelos eine komplette Gans zerpflückt, als sei sie aus
dünnem Teig und nicht aus Knochen geschaffen, und abschließend
einen ganzen Fleischkäse in sich hineingestopft. Nachdem er sich
lautstark durch beide Luftöffnungen erleichtert hatte, lieferte er
sich einen Streit mit seinem Bruder über irgendeinen Prediger und
ließ den Wein in sich hineinlaufen, so dass der Mundschenk mit dem
Nachfüllen kaum nachkam. Dann hatten die Brüder sich nichts mehr zu
sagen, und jeder von ihnen blickte in eine andere Richtung.
Auch Herodias und Salome trugen nichts zur
Unterhaltung bei. Zu Beginn des Abends war etwas Seltsames
vorgegangen, als er und Timon dem galiläischen Fürstenpaar von
Salome vorgestellt wurden. Bei der Erwähnung von Timons Namen war
Herodias bleich geworden, Salome hingegen grinste ihre Mutter in
einer Mischung aus Feindschaft und Genugtuung an. Den ganzen Abend
über sprachen sie kaum ein Wort miteinander, und wenn, schwang ein
gereizter Unterton mit. Es war, als stünde irgendetwas, das mit
Timon zusammenhing, zwischen ihnen. Kallisthenes konnte sich nicht
erklären, was es war.
Timon seinerseits blieb ebenfalls wortkarg, was
Kallisthenes ihm jedoch nicht verübelte. Salome trug am heutigen
Abend ein Gewand, das in Griechenland allemal, vielleicht sogar im
heiteren Rom für Aufsehen gesorgt hätte, hierzulande mit Sicherheit
ein Skandal war. Der flammend rote Stoff war am Bodensaum
aufgeschlitzt und ließ Blicke bis weit über das Knie zu, und oben
herum war er so eng geschnitten, dass die Konturen der Brüste wie
Hügel im Abendrot hervortraten. Salomes glattes Haar fiel ihr wie
ein Wasserfall auf die Schultern, und die Augen funkelten
herausfordernd. Letzteres konnte Timon zwar nicht bemerken, da er
sich jedes Mal, wenn sie zu ihm blickte, seiner Speise widmete.
Sobald sie ihm jedoch wieder den Rücken zuwandte, konnte er kein
Auge von ihr lassen.
Kallisthenes lehnte sich zurück. Er gab sich dem
seichten Geklimper des Musikanten und dem betäubenden Geruch der
Myrrhe hin, die in schweren Schwaden aus einem Kessel stieg. Ihm
war schon aufgefallen, dass dieses Baumharz in Judäa allgegenwärtig
war. Sein süßer, betäubender Duft zog über die Märkte, die Straßen
und durch die Gänge des Palastes, ja selbst auf den Feldern meinte
er ihn einige Male in einer Bö gerochen zu haben. Anfangs hatte ihn
die Myrrhe gestört, war ihm aufdringlich vorgekommen. Mittlerweile
genoss er ihren Duft. Sie passte in dieses exotische,
verhältnismäßig fremde Land, das sich beharrlich jeder Kategorie,
der man es zuordnen wollte, verweigerte. Judäa war Teil des Ostens
und doch nicht orientalisch, es verband Ägypten mit Syrien, aber es
entzog sich der kulturellen Ausstrahlung der beiden Provinzen. Die
Seele des Landes, ausgedrückt in ihrer Geschichte, ihrer
Glaubenslehre und in den Winzigkeiten des Alltags, war
unbezwingbar.
Kallisthenes hatte sich geweigert, über Judäa zu
lesen, und er ignorierte auch Timons Berichte, so weit das möglich
war. Er beurteilte die Völker nach ihren Bauwerken, nach Dächern,
Höfen, Säulen, Märkten, Straßen und Badehäusern, nach Bibliotheken,
Tempeln, Theatern und Stadien, nach Mausoleen, Standbildern und
Ruhmeshallen. Die klotzige Wucht römischer Bauart, zum Beispiel,
war aus seiner Sicht symptomatisch für ein selbstherrliches Volk,
ebenso wie die farbenfrohen Kulissen der Syrer die Nähe zur
exotischen Welt jenseits von Babylon widerspiegelten. In Judäa
waren Kallisthenes vor allem die hohen, nüchternen Mauern
aufgefallen, auf die selbst kleine Städte nicht verzichten wollten,
und er fragte sich, ob diese steinernen Klammern wirklich nur vor
angreifenden Heeren schützen sollten oder im Laufe der Jahrhunderte
nicht auch noch einen anderen Sinn bekommen hatten. Jedes
Städtchen, jeder Jude, jede Seele wirkte wie eine Trutzburg, die
zwar zu schützen vermochte, sich dadurch jedoch jeder Möglichkeit
beraubte, andere Völker – und Seelen – für sich einzunehmen. Trotz
der flimmernden Hitze strahlte Judäa keine echte Wärme aus.
Philippi musste anders werden. Philippi musste die
Schönheit der hiesigen Landschaft in sich aufnehmen, die Würde
einer alten Geschichte und die Gastfreundschaft der Menschen, und
es musste mit einigen Tabus brechen. Verboten waren Mauern so hoch
wie hundertjährige Zedern, das verstand sich von selbst. Philippi
sollte offen sein, frei und gut einsehbar, eine Einladung an
Reisende vorbeizuschauen. Blau und Weiß würden die vorherrschenden
Farben im Marmor und den Ornamenten sein, zwei kühle und frische
Töne mit einer deutlichen und ansprechenden Kontrastwirkung. Ein
Kranz aus Olivenhainen würde die Stadt umgeben und die Sehnsucht
der Juden nach Frieden symbolisieren. Die Ideen für die Stadt
quollen aus ihm hervor wie die Myrrhe aus dem Kessel, und sie
verbreiteten sich wie Dunst in ihm und füllten ihn ganz aus.
Nebenbei blickte er zu Timon und fragte sich, was
er wohl von diesen Geistesblitzen halten würde. Am liebsten hätte
er ihn gleich gefragt, aber der Junge war noch immer in den Anblick
Salomes vertieft. Und Philipp? Was würde der Fürst von Basan zu den
Plänen für seine Stadt sagen?
Mit einem Schlag war Kallisthenes hellwach. Salomes
Gemahl döste nämlich nicht wie die anderen vor sich hin, sondern
beobachtete Timons auffällige, beinahe schon taktlose Betrachtung
seiner Frau.
War Timon denn von allen Göttern verlassen, so
blind und so töricht zu sein? Kallisthenes befürchtete bereits den
schlimmsten denkbaren Eklat. Er musste den Jungen ablenken. Er
griff nach irgendeiner Schüssel.
»Wie heißt das hier?«, fragte Kallisthenes und
stieß Timon an.
Er sah verwirrt auf. »Bitte?«
»Diesen Brei hier, den ich esse, wie nennt man ihn?
Du kennst dich doch mit den jüdischen Bräuchen und Gewohnheiten
aus.«
Timon brauchte einen Augenblick, um sich zu
sammeln. Kallisthenes konnte nur vermuten, aus welchen Traumwelten
er ihn geholt hatte.
»Charosseth«, antwortete Timon, noch immer
nicht voll bei der Sache.
»Er ist köstlich. Wie wird er zubereitet?«
Timon sah nicht aus, als habe er in diesem Moment
Lust, über Brei zu sprechen, doch Kallisthenes ließ nicht locker.
Timon durfte keine Gelegenheit mehr bekommen, Salome
anzustarren.
»Nun?«, hakte Kallisthenes nach.
»Zerkleinertes Trockenobst, Nüsse, vermust mit
Honig und süßem Wein«, zählte Timon rasch auf.
»Interessant. Und welches Trockenobst?«
»Datteln und Rosinen.«
»Und die Nüsse? Welche Nüsse werden
genommen?«
»Hauptsächlich Mandeln. Haselnüsse, wenn man welche
bekommen kann.«
»Und der süße Wein kommt von Zypern, nehme ich
an?«
»Was ist denn plötzlich mit dir los? Seit wann
interessierst du dich für Nüsse und Wein?«
»Seit eben. Also, was ist mit dem Wein? Kommt er
von Zypern?«
»Möglich«, stöhnte Timon lustlos. »Aber im
Jordantal zwischen dem Salzmeer und dem See Genezareth wachsen
viele süße Reben.«
»Hier im Golan auch? Ich habe bei der Anreise Reben
gesehen.«
»Ja, doch hier ist der Wein trockener und muss mit
Honig gesüßt werden, um trinkbar zu sein.«
»Was es nicht alles gibt. Und was steht dort
drüben?« Kallisthenes deutete auf eine Platte voller flacher,
gebrannter Teigwaren, die verführerisch golden leuchteten und mit
schwarzen Punkten übersät waren.
Doch die Antwort kam nicht von Timon, sondern aus
einer anderen Richtung.
»Wir nennen diese Leckerbissen ›Backwerk der
Königin Esther‹«, erklärte Salome quer über die auf niedrigen
Bänken angerichtete Tafel hinweg. »Die schwarzen Punkte rühren von
der kostbaren Vanille her. Das Gebäck wird nur zu besonderen
Gelegenheiten gereicht.«
»Königin Esther, aha. Hat sie gerne
gebacken?«
Salome lachte. »Eine backende Königin ist eine
amüsante Vorstellung, vielleicht sollte ich es selbst einmal
probieren. Nein, Esther hat alle Juden Persiens vor der Ermordung
bewahrt, indem sie während eines Mahls, zu dem dieses Backwerk
serviert wurde, eine Intrige aufdeckte. Eine lange Geschichte. Der
Tag der Rettung wird noch heute mit Festen und vielen süßen
Spezereien gefeiert, er heißt purim. Und dieses Gebäck gilt
allgemein als Ausdruck der Freude, wie zum Beispiel Freude über
liebe Gäste.«
»Der Freude, aha.« Kallisthenes blickte um sich.
Die Freudenstimmung hielt sich sehr in Grenzen, fand er. Der dicke
Tetrarch schnarchte, seine Frau sah aus, als würde sie ihn am
liebsten erwürgen, und Timon bemühte sich wieder, niemanden
anzusehen, vor allem nicht Salome.
Als hätte sie Kallisthenes’ Blick gelesen und nur
darauf gewartet, rief Salome: »Du hast Recht, Kallisthenes. Wir
sollten für mehr Unterhaltung sorgen. Ich werde den Anfang machen
und tanzen.«
»Tanzen?«, schrie Herodias dermaßen laut, dass
sogar Antipas erwachte.
»Wer hat etwas von Tanzen gesagt?«, fragte er
sofort.
»Salome«, erwiderte Herodias missmutig.
»Ach, Salome«, seufzte er enttäuscht. »Jetzt?« Er
hätte genauso gut ›Muss das sein?‹ fragen können, so uninteressiert
klang es.
Salome sprang auf, rief zwei weitere Musikanten und
schlang sich einen weiten nachtblauen Schleier locker um den Kopf
und die Schultern, bis sie aussah wie ein Geheimnis.
»Willst du wirklich tanzen?«, fragte Philipp. Es
klang eher verwundert als aufgebracht, sogar ein wenig
traurig.
Sie antwortete ihm nicht mehr. Einer der Musikanten
blies auf ihr Zeichen hin in das aulos, eine Doppelflöte,
die einen warmen, melancholischen Klang in den Saal schickte. Die
Melodie war langsam und wurde immerzu wiederholt, als drehe sie
sich um sich selbst; sie hüllte ein, sie spann einen Faden aus
Tönen, und schon nach wenigen Momenten war man in einer anderen
Welt, in einem Kokon der Exotik. Mit der Langsamkeit der Melodie
drehte sich auch Salome um die eigene Achse. Mal streckte sie sich
und mal schraubte sie sich so weit herunter, dass ihre Hände den
Boden berührten, doch immer blieb ihr Rücken gerade und ihr Gesicht
zur marmornen Saaldecke erhoben, über der die Sterne glitzerten.
Die lyra setzte ein, nicht zaghaft und beschaulich wie
vorhin, sondern wie ein Waldesrauschen, die Töne hell und dunkel
und munter, so dass man sie nicht auseinander halten konnte. Die
Melodie beschleunigte sich im Takt einer Handtrommel, sie war wie
ein Sog. Und Salome war wunderbar.
Selbst Kallisthenes, der Frauen längst aus seinem
Leben ausgeklammert hatte, konnte ihre Wirkung nicht verleugnen. In
ihrem geschlitzten roten Kleid wirkte sie wie Feuer, und der blaue
Schleier war der Rauch, der sie umwehte. Fabelhaft, dachte er. Sie
erschaffte ein Bild, und der Zufall hatte gewollt, dass sie genau
die richtige Kleidung dafür trug. Oder war es gar kein
Zufall?
Das Tamburin steigerte die Geschwindigkeit der
exotischen Melodie ein letztes Mal. Das Trommeln und Rasseln füllte
den ganzen Saal aus, Diener blieben stehen und sahen der Tänzerin
zu, die Musikanten wurden von ihrem eigenen Feuer mitgerissen und
spielten immer schneller. Doch konnte keine Musik so rasant sein,
dass Salomes Schritt ihr nicht folgen würde.
Kallisthenes konnte seine Neugier nicht bezähmen
und riss sich von dem Spektakel los, um die Gesichter der anderen
zu beobachten. Herodias’ Miene war düster. Jede andere Mutter wäre
stolz gewesen, aber aus ihr blickte nur Neid und – Angst.
Kallisthenes konnte es kaum glauben und sah noch einmal genauer
hin; er las tatsächlich Furcht in ihren Augen. Im nächsten Moment
fand er die Erklärung dafür. Noch nie hatte er einen
Gesichtsausdruck gesehen wie jetzt bei Antipas, verzerrt von
Begierde. Schämte er sich nicht, so offensichtlich nach der Frau
seines Bruders zu hungern? Und merkte Salome nicht, wie ihr
Stiefvater auf ihren Tanz reagierte?
Nein, sie merkte nichts davon. Der Tanz erreichte
seinen Höhepunkt, schneller und wilder konnten die Musiker
unmöglich spielen. Zwischen ihren Sprüngen und Drehungen warf
Salome kurze Blicke zu Timon. Und der beantwortete sie zum ersten
Mal. Zu Kallisthenes’ Schrecken waren Timons Augen zu zwei
azurblauen Flammen geworden.
Zum Glück bekam Philipp davon nichts mit. Auch er
war in den Anblick seiner tanzenden Frau vertieft, doch er strahlte
weder die dunkle Begierde seines Bruders aus noch die erwachte
Leidenschaft seines – Kallisthenes fiel kein anderes Wort ein –
Rivalen. Ruhig und emotionslos, so als wolle er danach einen
Bericht über den Tanz anfertigen, folgte er den letzten aufregenden
Figuren Salomes. Sie warf schwungvoll ihren Schleier von sich, der
über den Köpfen Philipps und Timons niederging, und kniete im
nächsten Augenblick auf dem Boden.
Die Musik verstummte, und die Anwesenden rührten
sich nicht.
Erst Philipps bedächtiges Klatschen brachte wieder
Bewegung in den Saal. Die Diener setzten ihre Arbeit fort, die
Musikanten verschwanden, die Gesichter entspannten sich, und Salome
sprang freudestrahlend auf.
Kallisthenes stimmte mit allen anderen in Philipps
Applaus ein, doch er dachte daran, wie viele verschiedene Emotionen
er eben noch während Salomes Tanz erkannt hatte, und er ahnte
nichts Gutes.