14
Wie ein Blitz zuckte der Schreck durch Sadoq. Im ersten Moment konnte er weder Menahem noch Kephallion anschauen, die neben ihm auf dem Teppich saßen. Er senkte den Kopf und biss die Zähne zusammen.
All die Jahre, die seit dem Mord an seinem Vater vergangen waren, hatte er sich an den Glauben geklammert, den Kampf gegen die ungläubigen Unterdrücker gewaltfrei führen zu können. Er hatte gedacht, dass die Römer Judäa räumen würden, wenn sie merkten, wie feindlich ihnen das Volk gegenübersteht. Denn das waren sie nicht gewöhnt. In Gallien, Hellas, Afrika und Ägypten waren sie zwar zunächst nicht freundlich empfangen worden, doch schon nach wenigen Jahren erfreuten die dortigen Völker sich an den Segnungen der römischen Ordnung. Nur in Germanien war ihre Expansion zurückgeschlagen worden, und Sadoq hatte stets gehofft, dass die Römer die Lehre vom Teutoburger Wald, wo ihr Heer besiegt worden war, begreifen und ihre Schlüsse daraus ziehen würden. Die Juden hassten Roms Ordnung, sie akzeptierten sie nicht, warum also zog Rom nicht ab?
Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, wann der Erste seiner wichtigsten Gefolgsleute sich gegen seine gewaltfreien Methoden aussprechen würde. Doch dass es gleich so schlimm käme … Kephallion schlug vor, jeden Rabbiner zu ermorden, der den Zeloten ablehnend gegenüberstand, und ablehnend hieß in Kephallions Definition, jeden, der nicht ausdrücklich für die Zeloten sprach. Damit sollte ein Zeichen gesetzt werden, dass die Geduld der »Eifernden«, der Zeloten, zu Ende sei und dass nun eine neue Phase begänne.
Sadoq zitterte ein wenig, als er sich erhob und, die Hände unter den Achseln verborgen, den Raum durchschritt. Vor einer der Fackeln an den Wänden blieb er stehen und betrachtete ihre züngelnde Flamme. Ein Inferno, das sah er. Er wusste, dass die Gesetze der Gewalt keinem gewöhnlichen Schema folgten, dass sie die Eigenart besaßen, sich zu verselbstständigen und der Kontrolle ihrer Verursacher zu entziehen. Aus einem Dolchstoß konnte ein Aufstand werden, aus einem Aufstand ein Krieg, aus dem Krieg ein Inferno. Es war gut möglich, dass Kephallions Vorschlag eines Tages in etwas mündete, das sich keiner, nicht mal in den schlimmsten Albträumen, vorstellen konnte – oder aber an das Ziel ihrer Wünsche führte, auch das war möglich. Die Gewalt verhüllte sich stets in weiten, undurchsichtigen Gewändern. Sie versprach viel, aber sie war die schlimmste Lügnerin auf Erden.
Plötzlich wandte er sich von der Flamme ab und sah Kephallion an, dessen Gesicht seit einigen Jahren von einem dichten, schwarzen Bart verhüllt wurde. Der Bursche hatte es weit gebracht, in jeder Hinsicht. Am Hof des Tetrarchen in Tiberias hatte er sich jahrelang, seit dem Tod seines Vaters, stets unauffällig und gefügig gezeigt. Niemand dort bemerkte, dass Kephallion spionierte, dass er schon im Voraus wusste, wo und wann die Schergen des Tyrannen ihre Schläge gegen die Zeloten planten oder der Bevölkerung die hohen Steuern abpressen wollten. Dadurch konnten die Zeloten nicht nur sich selbst, sondern auch ganzen Dörfern helfen, deren Dankbarkeit ihnen weiteren Zulauf verschaffte. Kephallion verbarg seine Sache so geschickt, dass Antipas und die Pharisäer ihm vor zwei Jahren sogar das Amt des Toparch, des Verwalters, von Nazareth übertrugen. Hier residierte der Herodianer nun in einem geräumigen Haus im besten Stadtteil.
Sadoq hätte sich nie vorstellen können, einmal unter dem Dach eines Herodianers zu sitzen, eines Mitglieds jener Familie, die er einst verflucht hatte, doch er fühlte sich hier sicher. Auf dem Boden standen Platten voll mit Hühnerkeulen, Kalbsbraten, gefüllten Auberginen und Dattelkuchen, die irdenen Kelche waren gefüllt mit Wein vom See Genezareth, und ein Kohlenbecken verbannte die Kälte der galiläischen Nacht vor die Tür. Vorbei war die Zeit, in der sie sich wie Verbrecher in muffigen Kellergewölben verstecken mussten, vorbei auch die Zeit, als sie, Fledermäusen gleich, nur nachts leben durften. Kephallion hielt unsichtbar seine schützende Hand über sie. Sadoq verdankte ihm viel, und trotzdem war ihm der Bursche fremd und manchmal sogar unheimlich.
Mehrmals in der Woche, vor allem zu jedem shabbat, trafen sie sich in seinem Haus, setzten sich auf die weichen Webwaren, aßen, tranken und redeten. Meistens ging es um Politik, Kephallion fühlte sich bei diesem Thema scheinbar am wohlsten. Sie tauschten Informationen aus und berieten die Lage, doch manchmal wünschte Sadoq sich, sie könnten wie normale Menschen zusammensitzen und über andere Dinge sprechen, über Frauen zum Beispiel, über die Erkrankung eines Freundes oder die Ernte. Stattdessen füllten die Besatzer und ihre jüdischen Helfer alle Gespräche aus. Pilatus, Tiberius und Antipas, Feind, Abtrünniger und Ungläubiger, das alles waren Namen und Begriffe, die ihnen mittlerweile so selbstverständlich über die Lippen kamen wie anderen Leuten ein Lachen oder ein Gruß.
Kephallion prägte jedoch nicht nur ihre Gespräche und die neue Lebensqualität, er nahm auch Einfluss auf die Struktur der Zeloten. Andauernd machte er neue Vorschläge. Er hatte nicht nur die verschiedenen, oftmals chaotisch operierenden Zelotengruppen in den Städten Judäas einheitlich organisiert, sondern auch ein Verbindungsnetz geschaffen, das jedes einzelne Mitglied mit der Führung und allen anderen verband. Hierarchien und Geheimschriften, mit denen Kommandos übermittelt wurden, gingen auf seine Initiative zurück. Er war der große Ideengeber geworden, war der Wind in ihren Segeln. Im engen Führungskreis war er zudem wegen seiner feurigen Reden beliebt. Kephallion sprach den Leuten aus dem Herzen. Er konnte ihnen jenes wilde Glitzern in die Augen zaubern, das Sadoq zum ersten Mal vor vielen Jahren an Zelon gesehen hatte und in diesem Moment auch an Kephallion selbst bemerkte.
Sadoq setzte sich wieder zu den beiden anderen. Nachdenklich brach er mit Daumen und Zeigefinger ein kleines Stück Kuchen ab und kaute es langsam. Schließlich blickte er den Mann an, mit dem er noch nie uneins gewesen war, seinen treuesten Freund. »Menahem«, sagte er nur und forderte ihn damit auf, Stellung zu beziehen. Doch er wusste schon vorher, was dieser sagen würde.
»Ich bin dagegen. Mit jeder Stunde nimmt die Zahl unserer Anhänger zu, auch ohne dass wir unsere Gegner ermorden. Welchen Vorteil soll uns das bringen? Wir schütten nur Gräben auf – und Gräber.«
»Genau das«, bestätigte Kephallion. »Was helfen uns Anhänger, wenn wir sie nicht einsetzen? Mir sind tausend entschlossene, todesmutige Männer lieber als zehntausend Angsthasen.«
»Nur weil ich überlege, bin ich kein Angsthase«, rechtfertigte Menahem sich vor Sadoq. »Habe ich nicht Seite an Seite mit dir gestanden, als …«
Sadoq legte beruhigend seinen Arm auf den seines Freundes. »Niemand behauptet, du seist furchtsam. Nicht wahr, Kephallion, du auch nicht?«
Kephallion schien einen Moment unentschlossen, ob er zustimmen sollte, entschied sich schließlich dafür. »Natürlich nicht. Ich wollte lediglich ausdrücken, dass die Zeit für Taten gekommen ist, nachdem das Wort versagt hat. Die Germanen haben die Römer auch nicht mit Predigten verjagt, sondern mit einem einzigen, furchtbaren Schlag.«
Menahem schüttelte den Kopf. »Das kannst du nicht vergleichen. Die Barbaren nutzten die sumpfigen Wälder, um drei römische Legionen zu vernichten, außerdem waren sie erfahrene Krieger. Was du vorhast, sind Nadelstiche, keine Schläge, und Stiche reizen ein Raubtier nur, ohne es ernsthaft zu verletzen.«
Kephallions Brust schwoll an. »Ich würde gerne losschlagen. In Jerusalem lebt einer unserer besten Männer, Barabbas. Wenn ich ihn beauftrage, einen Aufstand vorzubereiten …«
»Das kommt nicht in Frage«, rief Menahem.
»Wieso nicht?«
»Wir sind nicht stark genug.«
Der Herodianer grinste. »Möglich. Aber wir sind in jedem Fall stark genug, feindselige Gelehrte zu beseitigen und damit die Motivation unserer Anhänger zu stärken.«
Menahem war seinem Gegenspieler auf den Leim gegangen. Rhetorisch konnte er ihm nicht das Wasser reichen.
Ein letztes Argument blieb ihm jedoch. »Du machst es dir sehr einfach. Du sitzt hier vor deinen Kuchen und schwingst große Reden, aber unsere Anhänger sind diejenigen, die unsere Beschlüsse in die Tat umsetzen müssen. Sie sind es, die den Dolch in die Leiber stoßen, denen das Blut entgegenspritzt und die …«
»Das habe ich alles schon getan«, unterbrach Kephallion. »Ja, du brauchst mich gar nicht so verblüfft ansehen, Menahem. Ich habe schon getötet, und zwar Zacharias, meinen eigenen Vater.«
Menahem stockte der Atem. Auch Sadoq konnte es kaum glauben.
»Du warst das?«
Kephallion zuckte mit den Schultern. »Aber ja. Er war ein Feind unserer Sache, er hätte uns verraten.«
»Eine Frau wurde für diesen Mord gesteinigt.«
»Eine Ungläubige«, erklärte Kephallion knapp und kam wieder zum eigentlichen Thema zurück. »Ich würde nie etwas von unseren Leuten verlangen, das ich nicht selbst als Erster täte. Jetzt liegt es bei dir, Sadoq. Stimmst du meinem Vorschlag zu, oder willst du weitermachen wie bisher? Du warst kaum zwanzig Jahre alt, als du die Zeloten gegründet hast, um deinen Freund zu rächen und alle Gottlosen aus diesem Land zu vertreiben. Nun zählst du über dreißig Jahre und bist deinem Ziel nicht viel näher gekommen. Willst du einmal sterben, ohne deinen erhabenen Schwur erfüllt zu haben?«
Sadoq und Menahem schwiegen, und so setzte Kephallion hinzu: »Du bist der Messias, Sadoq, auch wenn du es selbst noch nicht wahrhaben willst. Du bist der, der Judäa retten wird, und ich helfe dir dabei. Wir müssen Chaos und Schrecken im Land verbreiten, dann werden die Fürsten und Prokuratoren erzittern und schließlich stürzen. Die Rache an den Herodianern wird furchtbar sein, und unser Ruhm ewig.«
Sadoq seufzte tief. Alles in ihm warnte vor Blutvergießen, das weiteres Blutvergießen nach sich zöge. Die Lehre aus dem gewaltsamen Tod seines Vaters und seines Freundes Zelon hieß, dafür zu sorgen, dass möglichst wenige andere Söhne eine solche Erfahrung machen mussten. Und doch hatte Kephallion in einem Punkt Recht: Er, Sadoq, war seinem Lebensziel keinen Schritt näher gekommen. Warum zogen die Römer, die nur Leid und Unterdrückung brachten, nicht einfach ab und ließen den Juden das Land, in dem sie schon seit vielen Generationen lebten?
Er stand wieder auf und blickte auf seine beiden engsten Gefolgsleute hinab. »Also gut, Kephallion. Setze deinen Plan in die Tat um. Du hast meine Zustimmung.«
Kephallion sprang auf. Er strahlte wie ein kleiner Junge, der soeben ein Holzschwert geschenkt bekommen hatte. »Du wirst es nicht bereuen, Sadoq. Ich kümmere mich um alles, ihr habt nichts zu tun.« Er nahm seinen Kelch und hob ihn feierlich in die Höhe. »Masal tov. Auf gutes Gelingen!«
Sadoq nickte abwesend und machte eine Geste, dass er sich zurückziehen wolle. Er war fort, bevor Kephallion oder Menahem noch etwas sagen konnten.
Kephallion straffte sich. Er fühlte sich wie neugeboren. »Siehst du«, sagte er mit Blick auf Menahem. »Er nimmt langsam Vernunft an und hält mehr von meiner Meinung als von deiner.«
Sein Kontrahent erhob sich langsam auf Augenhöhe. Im Gegensatz zu Sadoq, dessen müde Augen und zerklüftete Stirn ihn älter wirken ließen, als er war, war Menahems Gesicht jung geblieben, dessen Ausdruck jene Mischung aus Ruhe und Strenge war, die man gemeinhin Engeln nachsagte.
»Für den Augenblick sieht es so aus«, räumte er ein.
»Dann gibst du zu, geschlagen zu sein?«
Menahem lächelte verächtlich. »Als wir diesen Raum betraten, standen wir ein für Freiheit und Würde, nun verlassen wir ihn als Mörder. Wir sind alle geschlagen, Kephallion, alle. Das weiß auch Sadoq. Nur du verstehst es nicht.«
 
Als Salome ihn zum letzten Mal gesehen hatte, war es ein warmer Spätsommertag gewesen. Die Fliegen summten um den Teich in Ashdods verblassenden Blumengärten, die Luft war still und der Wein süß. Der viele Rebensaft – aber mindestens ebenso das Glück – hatten sie damals berauscht. An jenem Tag vor etwa zehn Jahren war sie Timon so nahe gewesen wie nie zuvor und nie mehr danach. Sie durften sich berühren und anlächeln, ihre Blicke verschmolzen … Heute saß Salome im Palast von Bethsaida auf ihrem fürstlichen Thronschemel neben Philipp, einer Statue gleich, und musste ihre Liebe öffentlich verleugnen, wo sie sie doch am liebsten in die Welt hinausgeschrien hätte. Wieder spürte sie diesen Zorn auf Philipp, der eigentlich nicht ihm selbst galt, sondern der Ehe, in der sie gebunden war.
»Darf ich vorstellen, Herr, Herrin«, eröffnete der Schreiber die Audienz. »Kallisthenes von Epidauros.«
Salome begrüßte den Architekten mit einem höflichen, knappen Kopfnicken, zu dem sie sich geradezu zwingen musste. Sie hatte nur Augen für Timon und suchte in dem stolzen, gut gekleideten Griechen jenen ungestümen jungen Mann, den sie vor zehn Jahren verloren hatte. Seine Statur war kräftiger als damals. An seinen Unterarmen waren die Adern so dick wie Seile, und an vielen Stellen bildeten Narben winzige Inseln auf seiner gebräunten Haut, Spuren der gnadenlosen Arbeit im Steinbruch. Doch das alles bedeutete Salome nichts. Er war da. Nach Tausenden von Träumen, durch die er gegeistert war, stand Timon wahrhaftig vor ihr.
Mit klopfendem Herzen richtete sie ihren Blick auf Timons Gesicht, um sich in der Sprache der Augen mit ihm zu verständigen. Wie lang hatte sie auf diesen Moment gewartet!
Die letzten Wochen vor seinem Eintreffen waren kaum auszuhalten gewesen. Nachts hatte sie nicht einschlafen können und war unruhig auf und ab gelaufen, am Tage blieb sie in sich gekehrt und nahm kaum noch an den Geschehnissen ihrer Umwelt teil. Alle ihre Gedanken waren auf diesen einen Moment gerichtet, in dem sie Timon wieder in die Augen sehen durfte.
Doch er wich ihr aus, selbst als er vom sofer vorgestellt wurde. Ja, seine Verbeugung war vollkommen, doch was kümmerten sie seine Manieren? Sie wollte ihn mit ihren Augen streicheln, Erregung tauschen, wenn auch nur stumm. Wenigstens das musste ihr doch vergönnt sein. Warum sah er sie nicht an?
»Salome?«
Sie schreckte auf, als Philipp ihren Namen nannte. Offenbar war sie so vertieft gewesen, dass sie nicht mitbekommen hatte, wie von ihr gesprochen wurde.
Philipp sah sie nicht anders an als sonst, aber sie spürte, dass er eine Veränderung an ihr bemerkt hatte.
»Ich habe Kallisthenes eben erzählt, dass der Bau Philippis deine Idee war.«
Sie versuchte, sich zusammenzureißen. »Das stimmt.« Ihre Stimme klang belegt, wie sie selber feststellte. Sie bemühte sich, heller zu sprechen, als sie erklärte: »Niemand traut unserem Land zu, dass wir Großes zustande bringen. Alle glauben, die schöpferische Kraft Basans beschränkt sich auf die Zucht von Rindern und das Graben von Wasserlöchern. Wir wollen die Zweifler eines Besseren belehren.«
Kallisthenes nickte. »Welche Vorstellungen, die Stadt betreffend, habt ihr, wenn ich fragen darf?«
»Keine«, antwortete Philipp. »Nur etwas Besonderes soll sie werden, ein Schmelztiegel der Völker. So wünscht es meine Frau, und ich mit ihr. Wer diese Stadt bauen will, benötigt neue Ideen.«
Kallisthenes zog die Augenbrauen hoch. »Das versteht sich ja wohl von selbst«, kommentierte er leicht gekränkt. »Einen griechischen Einschlag werden wir jedoch nicht vermeiden können, wenn es etwas Besonderes werden soll. Mir fällt wahrhaftig kein Baustil ein, der die Schönheit des Steins besser zum Ausdruck bringen könnte.«
»Das soll mir recht sein. Viele jüdische Städte sind von griechisch inspirierten Bauten geprägt, Jericho, Hebron, Lydda, auch Jerusalem. Sogar der dortige Tempel des Einen Gottes, das erhabene Zentrum unseres Glaubens, ähnelt einer Akropolis. Es gibt keine Stadt in Judäa ohne griechische Bauwerke, ausgenommen vielleicht Tiberias, die Hauptstadt meines Bruders. Sie wirkt römisch.«
Kallisthenes verzog das Gesicht wie nach einer bitteren Medizin. »Diese Gefahr besteht bei uns nicht, Fürst. Nicht wahr, Timon?«
»Nein«, antwortete er wortkarg, ohne seinen Blick zu heben.
Obwohl Salome ihn kaum aus den Augen ließ, hatte sie noch keinen Kontakt zu ihm herstellen können. Viel Zeit blieb ihr nicht mehr, denn die beiden Architekten würden bereits morgen früh weiter nach Norden reisen, zur Quelle des Jordan, wo Philippi entstehen sollte. Sie überlegte schon, Timon eine Frage zu stellen, ihr fiel jedoch in der Aufregung keine passende ein. Dutzende Varianten, warum er sich so verhielt, gingen ihr durch den Kopf. Glaubte er, sie habe ihn damals im Stich gelassen? Schämte er sich noch wegen des Mordanschlags auf ihre Tante? Dachte er vielleicht, sie liebe ihn nicht mehr, weil sie verheiratet war? Oder – liebte er sie nicht mehr? Diese Vorstellung überfiel sie derart heftig, dass sie kurz aufstöhnte.
Philipp sah erneut zu ihr und wandte sich dann wieder Kallisthenes zu. »Da ich gerade von meinem Bruder sprach – er wird morgen hier in Bethsaida zu politischen Gesprächen erwartet. Wir geben ein abendliches Gastmahl, zu dem wir auch dich und Timon bitten.«
Diese Einladung versetzte alle in Erstaunen, auch Salome. Es war in Judäa zwar üblich, Gäste persönlich und reichhaltig zu bewirten, auch solche, die fremd waren oder im Rang weit unter den Gastgebern standen. Besonders die se’uda mafseket, die Abschiedsessen für Familienmitglieder, Freunde und Bedienstete, fielen üppig und herzlich aus. Doch zwei Architekten zum Treffen der Tetrarchen, der beiden höchsten jüdischen Souveräne, zu bitten, war ungewöhnlich. Philipps Vorschlag verwirrte alle.
Doch Salomes Überraschung folgte schnell die Freude. Bis morgen Abend würde sich gewiss eine Gelegenheit finden, mit Timon zu sprechen, und so huschte ein Lächeln über ihr Gesicht, als sie sagte: »Was für eine großartige Idee, Philipp. Dass ich nicht selbst darauf gekommen bin.«
 
Am nächsten Morgen konnte Salome von einem Fenster aus beobachten, wie Timon zu einem Spaziergang aufbrach. Der kleine Palast von Bethsaida erhob sich nicht am Ufer des Sees Genezareth, sondern zur Landseite hin am Rande der Stadt. Jetzt, im Frühherbst, zog der Duft des goldenen, frisch geschnittenen Grases über die Ebene, und das Zirpen der Grillen drang wie ein ständiges Wispern bis in die Säle der Residenz, so als wolle es die Menschen in die Natur locken.
Für Salome begann die schönste Zeit des Jahres, denn sie liebte Tage wie diese, in denen ein warmer Mittag einem kühlen, feuchten Morgen folgte. Die Hochsommer in Basan waren dagegen oft unerträglich heiß, und manchmal hielt sie es nicht mehr aus und floh vor der Hitze an Ashdods Küste. Die Winter wiederum waren zwar mild, in den letzten Jahren jedoch ausgesprochen regenreich. Die Bauern freuten sich, denn ihre Weiden grünten mit jedem Frühling mehr, und die Feigen hingen schwer wie Pampelmusen an den Bäumen. Doch für Reisen oder Ausflüge waren die Wintermonate kislev, tevet und shvat völlig ungeeignet. Salome verbrachte dann scheinbar endlose Stunden mit dem Studium von Schriften, dem Ausarbeiten neuer Edikte für Ashdod oder einem gelegentlichen Gespräch mit Philipp. Denn einen Hofstaat gab es in Philipps Tetrarchie nicht, sah man einmal von den Beamten ab. Seine Sparsamkeit – mehr noch, seine Menschenscheu – verbot das.
Sie beschloss, die günstige Gelegenheit zu nutzen und Timon zu folgen. Einen kurzen Moment lang musste sie über sich selbst schmunzeln, denn sie kam sich wie ein kleines Mädchen vor, das seiner Jugendliebe hinterherlief. Und gewissermaßen verhielt es sich auch so. Als sie Timon verloren hatte, war sie tatsächlich noch ein Mädchen gewesen, und heute wollte sie nahtlos an diesem Punkt anknüpfen.
Sie warf sich rasch eine strahlend weiße stola über ihr Gewand und huschte nach draußen. Als sie das Palasttor passierte, konnte sie sofort sehen, in welche Richtung Timon spaziert war, denn das Land war fast eben und seine Silhouette weithin sichtbar. Er hatte den gleichen Weg eingeschlagen, den Salome meist ging; dieser führte zu einem kleinen Olivenhain, der windgeschützt in einer Senke gedieh.
Als sie dort ankam, fand sie ihn auf einem Felsen sitzend. Der morgendliche Orangenglanz der Sonne überflutete den Hain, und ganze Schwärme junger Vögel hüpften aufgeregt von Ast zu Ast und übten sich im Gesang. Dieses friedliche Bild erinnerte Salome an ihre Sehnsüchte. So viele Jahre schon hätten sie gemeinsam auf Steinen sitzen können, die warmen Strahlen auf dem Rücken spürend, den Tag genießend, jeden Tag.
Sie näherte sich leise von hinten, bis sie kaum einen Schritt von Timon entfernt war. Ihr Blick ruhte auf ihm. Muskeln zeichneten sich durch seine enge Tunika ab, und ihre Hand war versucht, in Timons schulterlanges Haar zu greifen, zuckte aber wieder zurück. Lieber genoss sie noch eine Weile dieses friedliche Bild und gab sich ganz der Freude hin, Timon endlich wieder so nahe zu sein wie früher.
Schließlich trat sie absichtlich auf einen Zweig, der knackend unter ihren Füßen brach. Timon schreckte auf, und zum ersten Mal nach zehn Jahren sahen Salome und Timon einander wieder an. Seine Verblüffung war so groß, dass er seinen Blick zunächst nicht mehr von ihr losreißen konnte. Stumm standen sie sich gegenüber, zum Greifen nahe. Die alte Erregung in ihr, die sie erstmals am Strand von Ashdod gespürt hatte, erwachte zu neuem Leben. Sie schluckte, und ihr Atem ging stoßweise.
»Timon«, sprach sie seinen Namen mit zärtlicher Stimme aus, worauf er, wie am Tag zuvor bei der Audienz, zu Boden blickte. Doch auch er war aufgeregt.
»Warum weichst du mir aus?«, fragte sie sanft und streckte ihre Hand nach seinen Wangen aus. Er ließ es geschehen und sah sie wieder an.
»Du … du bist nicht mehr die, die ich früher kannte«, antwortete er.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin noch dieselbe. Als ich hörte, dass du noch lebst, war ich wahnsinnig vor Glück«, gestand sie offen. Für kindliche Schüchternheit gab es keinen Platz und keine Zeit.
»Trotzdem, du bist eine Fürstin.«
»Das bedeutet nichts. Wir haben ein Recht auf unsere Liebe.«
»Ist dein Mann der gleichen Meinung?«
»Bitte, Timon, lass uns die Dinge nicht schwieriger machen, als sie sind.
»Sie sind schwierig.«
»Wir sehen uns zum ersten Mal seit einer Ewigkeit, und du willst unbedingt streiten. Was stimmt denn nicht?«
»Was nicht stimmt?«, wiederholte er aufgeregt und entzog sich ihrer Berührung. »Alles stimmt nicht. Du solltest mich nicht lieben, und ich sollte nicht hier sein. Wir sollten nicht miteinander sprechen. Und du hättest nicht heiraten sollen.«
Nun ging ihr ein Licht auf. »Ach, das ist es, was dir zu schaffen macht. Timon, ich musste damals heiraten, um Ashdod vor dem Zugriff …«
»Verdammt«, fiel er ihr ins Wort. »Verdammt, Salome, ich saß quasi schon auf dem Pferd, das mich zu dir bringen sollte, als ich von deiner Hochzeit erfuhr. Hättest du nicht warten können? Nur einen Monat?«
»Ich wusste nicht, dass du noch lebst.«
»Und ob du es wusstest. Wieso sonst hättest du mich jetzt rufen lassen?«
Langsam wurde sie ärgerlich. »Ich habe erst kürzlich und auf Umwegen erfahren, dass du lebst und Architekt geworden bist. Damals wusste ich es nicht.«
»Du hättest dich ein wenig anstrengen können, um es herauszufinden. Oder lag dir nichts mehr an mir?«
Ihr Mund stand vor Überraschung weit offen. Am meisten ärgerte sie, dass sie die Aufrichtigkeit ihrer Liebe beweisen sollte, wo doch er es gewesen war, der sie damals belogen und benutzt hatte. »Ob mir …? Also, das ist ja wohl das Dümmste, was ich je gehört habe. Was glaubst du wohl, was ich alles unternommen habe, um dich zu finden? Was glaubst du wohl, warum diese Stadt gebaut wird?«
»Heißt das, Philippi entsteht, weil du mich in deiner Nähe haben willst?«
»Ja«, rief sie.
»Das ist doch Wahnsinn.«
Das Gespräch, das von ihr als Wiedersehensfest und Auftakt der neuen Liebe gedacht gewesen war, entglitt ihr völlig. Beide sagten sie Dinge, die sie nicht so meinten. »Oh, Verzeihung, ich vergaß, dass ich es mit dem ehrlichsten und tugendhaftesten Mann unter der Sonne zu tun habe. Du würdest ja niemals irgendjemanden ausnutzen, um an ein Ziel zu kommen, nicht wahr?«
»Ich konnte dir vor zehn Jahren meine Pläne nicht enthüllen.«
»So, und warum nicht?«
»Weil du mich sonst vielleicht verraten hättest.«
»Siehst du, das ist der Unterschied zwischen uns. Ich bin wenigstens ehrlich zu dir, ich habe Vertrauen und gehe Risiken ein. Immerhin setze ich mich einer großen Gefahr aus, wenn ich mich mit einem Mann in einem Hain treffe. In Judäa sieht man so etwas gar nicht gern.«
»Ich habe dich nicht gebeten, mir nachzuschleichen wie eine rollige Katze.«
Sie versetzte Timon eine laut schallende Ohrfeige, die sogar die Vögel aus den Bäumen scheuchte. Ihre Hand brannte von dem Schlag, und Timons gesamte linke Gesichtshälfte leuchtete im Nu feuerrot. Auf der Stelle tat ihr Leid, was sie getan hatte – und doch auch wieder nicht. So durfte niemand mit ihr sprechen, nicht einmal Timon.
Er sah sie zunächst überrascht an, senkte dann beschämt den Blick, aber schließlich ging er ohne ein weiteres Wort davon und war bald nur noch ein Punkt auf den Heuweiden.
Ihr Ärger verrauchte binnen eines Atemzuges. Von Traurigkeit überwältigt lehnte sie sich an einen runzeligen, warmen Olivenbaumstamm und starrte in sein Blattwerk. Zwischen dem Laub hingen hunderte grüner Oliven, und Salome nahm, in Gedanken versunken, eine nach der anderen der harten Früchte, riss sie ab und knetete sie in den Händen.
Heute Abend würde sie Timon noch einmal auf dem Festmahl sehen, doch es gab keinen schlechteren Ort, um einen weiteren Versuch zu unternehmen, ungestört mit ihm zu sprechen. Morgen reiste er schon zur Quelle des Jordan, und sie wusste noch immer nicht, woran sie war. All die Hoffnungen, die sie seit Wochen an das Wiedersehen geknüpft hatte, bröckelten wie eine schlecht gepflegte Fassade.
Weil sie in ihrer Wut irgendetwas packen wollte, zerrte sie an einem der unförmigen Äste des Olivenbaums und hieb auf das genarbte Holz ein, immer wieder, auch noch als ihre Hände schmerzten und der dünne Stoff ihres Gewandes an den Ärmeln aufriss.
Doch plötzlich hielt sie inne und grinste. Wer sagte denn, dass sie mit Timon reden musste, um seine wahren Gefühle aus ihm herauszulocken?
 
Für Herodias und ihren Gemahl war der Weg von Tiberias nach Bethsaida kurz. Da beide Städte am See Genezareth lagen, bestieg das Fürstenpaar ein Schiff, das eigens für diese Reise gebaut worden war, und fuhr mit der Nachmittagssonne und einem milden Wind im Rücken in nordöstliche Richtung. Von gleichmäßigen Ruderschlägen angetrieben, durchpflügte das Schiff die seichten Wellen, als schwebe es auf einer Wolke dahin, und Antipas schlummerte schon nach wenigen Minuten auf seinem Prunksessel auf dem Oberdeck ein. Er hatte die ganze Nacht getrunken, nun schnarchte er, was das Zeug hielt.
Herodias blickte ihn mit verzogenen Mundwinkeln an. Sie hatte nicht die Absicht, sich das die ganze Überfahrt lang anzuhören. Stattdessen spazierte sie lieber ein wenig über das Deck und betrachtete die Muskeln der Rudersklaven. Die meisten Männer waren dunkelhäutig, denn die thora verbot, Juden als Sklaven zu halten, gestattete hingegen ausdrücklich die Unterjochung von Menschen benachbarter Staaten, also von Ägyptern und Nabatäern. Der afrikanische Nubier unter den Ruderern erregte sie besonders, denn den athletischen Körper überzog ein feiner Schweißfilm, der seine schwarze Haut wie Samt glänzen ließ, und sein Gesicht verzerrte sich unter der Anstrengung zu einer hinreißend zornigen Grimasse. Wie gerne würde sie ihn … Nein, das war undenkbar. Eine Frau in einer Stellung wie sie durfte sich nicht mit Sklaven abgeben. Aber ein Seufzen konnte sie dennoch nicht unterdrücken.
»Bist du mit irgendetwas unzufrieden, Herrin?«
Die Frage des Schiffskommandanten klang besorgt. Für diesen verantwortungsvollen Rang war er noch recht jung, und er wollte auf seiner ersten Fahrt unbedingt alles richtig machen.
Herodias spielte lächelnd mit ihrer Perlenkette. Dieser Offizier war wirklich ein Schmuckstück, und ihre erfahrenen Augen erkannten sofort, dass er sich im Bett führen lassen würde. Sie war es nämlich leid, von Antipas’ schwerem Körper erdrückt zu werden, ohne Gelegenheit, ihre Künste voll zu entwickeln.
»Wenn wir wieder zurück in Tiberias sind«, erwiderte sie, »musst du mich einmal besuchen, Kommandant. Dann berichte ich dir meine Beobachtungen deiner Leistungen.«
Er nickte, seine Augen verrieten jedoch Verwirrung. Ganz sicher hatte er noch nicht verstanden, worauf sie hinauswollte, doch das würde er noch zeitig genug erfahren.
»Fürs Erste«, fügte sie hinzu, »bin ich zufrieden. Oder warte … Wie lange werden wir noch bis Bethsaida brauchen?«
»Etwa eine halbe Stunde, Herrin.«
»Geht es nicht schneller?«
Er zögerte. »Ich müsste den Rudertakt erhöhen, Herrin. Allerdings weiß ich nicht, wie lange die Sklaven das durchhalten.«
»Wir werden sehen«, sagte sie und richtete den Blick wieder auf den Nubier. Unter dem schnelleren Takt spannten sich die Sehnen seiner Arme und Beine bis zum Zerreißen, und seine Pupillen funkelten wild. Herodias beobachtete genießerisch, wie sich der Ausdruck seines Mundes veränderte, von den anfänglich kraftvoll zusammengebissenen Zähnen über schweres Keuchen bis zu matter, an Ohnmacht grenzender Erschöpfung. Doch der Schlag einer Peitsche erweckte ihn zu neuem Leben, und Herodias war es ein weiteres Mal vergönnt, die Phasen der Entkräftung zu betrachten.
»Haritha, Haritha!«
Mitten im höchsten Genuss wurde sie von den Schreien ihres Gemahls unterbrochen. Schlimm genug, dass Antipas den Namen seiner früheren Frau fast jede Nacht durch den Palast kreischte, so dass es der ganze Hof hörte und damit ständig ein Thema zum Lästern hatte. Jetzt bekamen auch noch die Offiziere und Bootsmannschaften seinen jämmerlichen Zustand mit. Ausgerechnet ihre frühere Rivalin geisterte ihm durch den Kopf. Was für eine Demütigung!
Wütend rüttelte sie ihn wach, damit er nicht noch mehr Schaden anrichtete. Als er sie, noch benommen von seinen Träumen, anblickte, erklärte sie: »Du hast wieder geschrien, Antipas. Kannst du dich nicht ein einziges Mal zusammenreißen?«
»Sie – war wieder da«, winselte er.
Herodias biss sich zornig auf die Lippe. »Zeig sie mir. Wo ist sie? Nirgends! Sie ist nicht da. Sie ist tot, Antipas, tot. Wann begreifst du das endlich? Sie kann dir nicht mehr schaden.«
»Sie hat mir nie geschadet.«
»Scht«, zischte sie ihn an. »Sprich leiser, alle können dich sonst hören.«
»Das ist mir egal. Jeder kann hören, was für eine Frau Haritha war. Nie hat sie mir widersprochen und immer alle Wünsche erfüllt. Sie war eine Tänzerin, eine Schönheit, ein Wunder, eine …«
»Eine Mörderin und Ehebrecherin«, fuhr Herodias dazwischen.
Antipas packte sie am Handgelenk. Leise und energisch presste er die Worte zwischen den Zähnen hervor: »Du bist eine Mörderin. Du bist eine Ehebrecherin. Denk nicht, dass ich das vergessen habe. Du widerst mich an, Herodias. Nimm dich in Acht.«
Sie kannte dieses böse Aufblitzen in seinen Augen und wusste, dass sie dann besser schwieg. Antipas war nur noch selten Herr seiner selbst, er war getrieben von Ängsten, dunklen Vorahnungen und dem Rausch des Weins. Er hatte aber seine lichten Momente, in denen er verstand, was um ihn herum vorging. Zweifellos waren ihm ihre erotischen Eskapaden ebenso wenig entgangen wie ihr Bündnis mit Rabban Jehudah. In allen wichtigen Fragen sprachen sie mit einer Stimme auf Antipas ein, wobei jeder der beiden seinen Vorteil dabei fand. So deckte sie seine Initiative, dass nur noch pharisäische Rabbiner an den Schulen Galiläas lehren durften, wohingegen er öffentlich seinen Dispens erneuerte, dass die Ehe zwischen Schwager und Schwägerin in ihrem Fall legitim sei, da zwar ein Nachkomme aus ihrer vormaligen Ehe entstanden war, nämlich Salome, doch eben nur eine Tochter, die nicht ins Gewicht falle. Da der unverschämte Johannes der Täufer durch die Lande zog und lauthals gegen die nach mosaischem Gesetz verbotene Ehe wetterte – er schimpfte sie sogar eine Hure -, war die Unterstützung Jehudahs für sie viel wert. Gemeinsam bildeten sie also ein machtvolles Gespann, das von Antipas zwar manchmal skeptisch beäugt wurde, gegen das er am Ende aber nichts auszurichten vermochte. Zu sehr war er der geistlichen Autorität des Rabbans einerseits und Herodias’ wollüstigem Körper andererseits verfallen. Seine Drohungen waren das Gebell eines zahnlosen Hundes.
Trotzdem fand Herodias es besser, ihn nicht noch weiter zu reizen, vor allem nicht hier vor der Mannschaft. Darum lenkte sie ihn schnell ab.
»Wir sollten uns lieber auf die bevorstehenden Verhandlungen mit deinem Bruder konzentrieren, als uns hier gegenseitig anzuschnauben.«
Er ließ sich augenblicklich auf ihren Themenwechsel ein und gab ihr Handgelenk wieder frei. »Ich verstehe nicht, wie mir dieses Treffen nutzen soll«, brummte er. »Ich habe mich von dir dazu überreden lassen, aber beim Namen des Unaussprechlichen, ich habe keine Ahnung, was du dir von einem Schwatz mit diesem Langweiler versprichst.«
»Nun, du möchtest doch König werden, oder?«
»Meine Astrologen sagen, mein Heil liege im Reif der Könige.«
Herodias grinste unmerklich. Es hatte sie ein kleines Vermögen gekostet, die Astrologen davon zu überzeugen, dass die Sterne genau darauf hindeuteten. Der wahre Schatz Judäas, das Gold des Herodes, lagerte in Jerusalem. Im großen Palast in der Oberstadt, gleich neben dem Tempel, wollte sie eines Tages residieren und Bäder in Wannen aus Edelsteinen nehmen.
»Siehst du«, sagte sie. »Und wer hat die Macht, dich zum König zu machen?«
»Der Unaussprechliche.«
Sie verdrehte die Augen. »Außer dem Unaussprechlichen.«
»Tiberius.«
»Richtig. Und Tiberius hört auf den Rat seiner Statthalter. Wenn wir also Pilatus überzeugen, dass du für die Römer der bessere König wärst …«
»Pilatus mag mich nicht«, jammerte Antipas.
»Pilatus ist zu vorsichtig, um Empfehlungen an den Kaiser von seinen Sympathien abhängig zu machen, denn er muss dafür geradestehen. Er wird dich bevorzugen, weil du fähiger bist, ein rumorendes Land mit eiserner Hand unter Kontrolle zu halten. Nun zu meinem Plan.«
Herodias holte tief Luft und funkelte ihren Gemahl mit aller Schläue an. »Du erinnerst dich doch an diesen Mann, der sich selbst den Messias nennt, Josua oder Jesus hieß er, glaube ich. Philipp weigerte sich, ihn verhaften zu lassen, woraufhin wir eine Beschwerde an Pilatus sandten.«
»Ja, und? Der falsche Prophet ist längst nicht mehr in Philipps Tetrarchie. Dort war er nur ein paar Tage, nun ist er verschwunden. Rabban Jehudahs Leute berichten, er sei in die Wüste jenseits des Gebirges Gilead gegangen, wo weder Philipp noch ich Machtbefugnisse haben.«
»Das ist nicht der springende Punkt, Antipas. Wichtig ist, dass wir ihn verhaften wollten, wo Philipp sich weigerte. Sollte der falsche Messias künftig für Unruhe sorgen, was anzunehmen ist, steht Philipp als naiver Schwächling da, der nicht in der Lage ist, Aufruhr zu unterbinden.«
Antipas brauchte einen Moment, um ihren Worten zu folgen, bevor er nickte. »So weit, so gut. Was hat das nun mit unserer Reise zu Philipp zu tun?«
»Hier kommt Johannes der Täufer ins Spiel. Wusstest du, dass er sich derzeit am östlichen Jordanufer aufhält, auf Philipps Gebiet? Und wusstest du auch, dass es vor einigen Tagen eine Begegnung zwischen ihm und dem falschen Messias gegeben hat?«
»Nein, aber was …«
»Wir behaupten, sie haben sich verschworen, um deine Herrschaft zu untergraben, und verlangen von Philipp die Auslieferung des Täufers. Er wird sie verweigern, so wie er schon die Auslieferung des falschen Messias verweigerte, denn er ist ein rührseliger Narr. Anschließend werden wir uns erneut beim Prokurator über Philipp beschweren, und sobald der Täufer wieder auf unserem Gebiet ist und die nächste Schimpfrede gegen deine Herrschaft hält oder sonst eine Narrheit begeht, verhaften wir ihn. Gegenüber Pilatus müssen wir die Vergehen des Täufers natürlich ein wenig aufbauschen, doch das wird niemand merken. Bei den Römern wird sich dadurch der Eindruck verfestigen, dass Philipp nicht zum Regieren Judäas taugt, du hingegen ein Fels in der Brandung bist.«
Abermals verharrte ihr Gemahl in Nachdenklichkeit, so als ob ihre Worte nur tröpfchenweise zu ihm durchdrangen. Plötzlich sah er auf. »Das hieße ja, ich muss den Täufer verhaften!«
»Keine Panik, bitte. Ich weiß, du meinst, der Täufer sei ein heiliger Mann und es brächte Unglück, ihm ein Haar zu krümmen.«
»Das wäre mein Ende«, verstärkte er seine Befürchtungen noch. »Gott würde …«
»Du musst ihm ja nichts antun. Es reicht völlig aus, ihn unter Arrest zu stellen. Du könntest ihn zum Beispiel in die Festung Machairos bringen lassen, am Salzmeer. Er hätte dort eine riesige Anlage zur Verfügung und würde mit allem versorgt. Es wäre ja nur so lange, bis du König bist. Später kannst du ihn wieder freilassen.«
»Also, ich weiß nicht«, zögerte er.
Ihr Tonfall wurde strenger. »Antipas, dein einziger Trumpf ist die Stärke, mit der du deine Tetrarchie beherrschst. Wenn du die nicht ausspielst, wird dein jüngerer Bruder König, dieser hölzerne, farblose Mensch. Meine Tochter wird mich demütigen und Philipp dich. Die ganze Welt wird über uns lachen – und du wirst nicht das Heil finden, von dem deine Astrologen sprachen. Der Unaussprechliche will, dass du König wirst, also kann er nichts dagegen haben, dass du den Täufer für eine Weile der Welt entziehst.«
Vor allem dieses letzte Argument schien Antipas einzuleuchten, denn sein vollbärtiges, düsteres Gesicht hellte sich blitzartig auf.
»Vielleicht soll der Täufer auf diese Weise zur Einkehr gebracht werden. Vielleicht ist die vorübergehende Arrestierung sogar ein Geschenk des Unaussprechlichen an seinen Propheten Johannes.«
Herodias nickte und atmete erleichtert durch. »So wird es wohl sein.«
Sie richtete ihren Blick auf die nahe Küste von Bethsaida, die unter einer Herde geballter Regenwolken fast verschwand, und ihre Gedanken kreisten um den gehassten Täufer, und um das, was sie ihm antun würde, wenn er endlich gefangen war.
 
Träge plätscherten die Töne der Lyra durch den Saal und vermischten sich mit dem Gähnen der Tafelgäste. Die Gespräche waren längst versiegt. Kallisthenes fand, dass der Musikant, der mit einem Holzstöckchen das Saiteninstrument spielte, gerne etwas Schnelleres zum Besten geben könnte, um die Gesellschaft ein wenig aufzumuntern, aber vermutlich war der Spieler selbst bereits von der allgemeinen Müdigkeit erfasst worden, die sich auch in Kallisthenes breit machte.
Der Tetrarch von Galiläa schlief schon, was Kallisthenes jedoch nicht wunderte. Zuerst hatte der beleibte Fürst sich wie ein Löwe über die gekräuterten Lammkeulen hergemacht, danach mühelos eine komplette Gans zerpflückt, als sei sie aus dünnem Teig und nicht aus Knochen geschaffen, und abschließend einen ganzen Fleischkäse in sich hineingestopft. Nachdem er sich lautstark durch beide Luftöffnungen erleichtert hatte, lieferte er sich einen Streit mit seinem Bruder über irgendeinen Prediger und ließ den Wein in sich hineinlaufen, so dass der Mundschenk mit dem Nachfüllen kaum nachkam. Dann hatten die Brüder sich nichts mehr zu sagen, und jeder von ihnen blickte in eine andere Richtung.
Auch Herodias und Salome trugen nichts zur Unterhaltung bei. Zu Beginn des Abends war etwas Seltsames vorgegangen, als er und Timon dem galiläischen Fürstenpaar von Salome vorgestellt wurden. Bei der Erwähnung von Timons Namen war Herodias bleich geworden, Salome hingegen grinste ihre Mutter in einer Mischung aus Feindschaft und Genugtuung an. Den ganzen Abend über sprachen sie kaum ein Wort miteinander, und wenn, schwang ein gereizter Unterton mit. Es war, als stünde irgendetwas, das mit Timon zusammenhing, zwischen ihnen. Kallisthenes konnte sich nicht erklären, was es war.
Timon seinerseits blieb ebenfalls wortkarg, was Kallisthenes ihm jedoch nicht verübelte. Salome trug am heutigen Abend ein Gewand, das in Griechenland allemal, vielleicht sogar im heiteren Rom für Aufsehen gesorgt hätte, hierzulande mit Sicherheit ein Skandal war. Der flammend rote Stoff war am Bodensaum aufgeschlitzt und ließ Blicke bis weit über das Knie zu, und oben herum war er so eng geschnitten, dass die Konturen der Brüste wie Hügel im Abendrot hervortraten. Salomes glattes Haar fiel ihr wie ein Wasserfall auf die Schultern, und die Augen funkelten herausfordernd. Letzteres konnte Timon zwar nicht bemerken, da er sich jedes Mal, wenn sie zu ihm blickte, seiner Speise widmete. Sobald sie ihm jedoch wieder den Rücken zuwandte, konnte er kein Auge von ihr lassen.
Kallisthenes lehnte sich zurück. Er gab sich dem seichten Geklimper des Musikanten und dem betäubenden Geruch der Myrrhe hin, die in schweren Schwaden aus einem Kessel stieg. Ihm war schon aufgefallen, dass dieses Baumharz in Judäa allgegenwärtig war. Sein süßer, betäubender Duft zog über die Märkte, die Straßen und durch die Gänge des Palastes, ja selbst auf den Feldern meinte er ihn einige Male in einer Bö gerochen zu haben. Anfangs hatte ihn die Myrrhe gestört, war ihm aufdringlich vorgekommen. Mittlerweile genoss er ihren Duft. Sie passte in dieses exotische, verhältnismäßig fremde Land, das sich beharrlich jeder Kategorie, der man es zuordnen wollte, verweigerte. Judäa war Teil des Ostens und doch nicht orientalisch, es verband Ägypten mit Syrien, aber es entzog sich der kulturellen Ausstrahlung der beiden Provinzen. Die Seele des Landes, ausgedrückt in ihrer Geschichte, ihrer Glaubenslehre und in den Winzigkeiten des Alltags, war unbezwingbar.
Kallisthenes hatte sich geweigert, über Judäa zu lesen, und er ignorierte auch Timons Berichte, so weit das möglich war. Er beurteilte die Völker nach ihren Bauwerken, nach Dächern, Höfen, Säulen, Märkten, Straßen und Badehäusern, nach Bibliotheken, Tempeln, Theatern und Stadien, nach Mausoleen, Standbildern und Ruhmeshallen. Die klotzige Wucht römischer Bauart, zum Beispiel, war aus seiner Sicht symptomatisch für ein selbstherrliches Volk, ebenso wie die farbenfrohen Kulissen der Syrer die Nähe zur exotischen Welt jenseits von Babylon widerspiegelten. In Judäa waren Kallisthenes vor allem die hohen, nüchternen Mauern aufgefallen, auf die selbst kleine Städte nicht verzichten wollten, und er fragte sich, ob diese steinernen Klammern wirklich nur vor angreifenden Heeren schützen sollten oder im Laufe der Jahrhunderte nicht auch noch einen anderen Sinn bekommen hatten. Jedes Städtchen, jeder Jude, jede Seele wirkte wie eine Trutzburg, die zwar zu schützen vermochte, sich dadurch jedoch jeder Möglichkeit beraubte, andere Völker – und Seelen – für sich einzunehmen. Trotz der flimmernden Hitze strahlte Judäa keine echte Wärme aus.
Philippi musste anders werden. Philippi musste die Schönheit der hiesigen Landschaft in sich aufnehmen, die Würde einer alten Geschichte und die Gastfreundschaft der Menschen, und es musste mit einigen Tabus brechen. Verboten waren Mauern so hoch wie hundertjährige Zedern, das verstand sich von selbst. Philippi sollte offen sein, frei und gut einsehbar, eine Einladung an Reisende vorbeizuschauen. Blau und Weiß würden die vorherrschenden Farben im Marmor und den Ornamenten sein, zwei kühle und frische Töne mit einer deutlichen und ansprechenden Kontrastwirkung. Ein Kranz aus Olivenhainen würde die Stadt umgeben und die Sehnsucht der Juden nach Frieden symbolisieren. Die Ideen für die Stadt quollen aus ihm hervor wie die Myrrhe aus dem Kessel, und sie verbreiteten sich wie Dunst in ihm und füllten ihn ganz aus.
Nebenbei blickte er zu Timon und fragte sich, was er wohl von diesen Geistesblitzen halten würde. Am liebsten hätte er ihn gleich gefragt, aber der Junge war noch immer in den Anblick Salomes vertieft. Und Philipp? Was würde der Fürst von Basan zu den Plänen für seine Stadt sagen?
Mit einem Schlag war Kallisthenes hellwach. Salomes Gemahl döste nämlich nicht wie die anderen vor sich hin, sondern beobachtete Timons auffällige, beinahe schon taktlose Betrachtung seiner Frau.
War Timon denn von allen Göttern verlassen, so blind und so töricht zu sein? Kallisthenes befürchtete bereits den schlimmsten denkbaren Eklat. Er musste den Jungen ablenken. Er griff nach irgendeiner Schüssel.
»Wie heißt das hier?«, fragte Kallisthenes und stieß Timon an.
Er sah verwirrt auf. »Bitte?«
»Diesen Brei hier, den ich esse, wie nennt man ihn? Du kennst dich doch mit den jüdischen Bräuchen und Gewohnheiten aus.«
Timon brauchte einen Augenblick, um sich zu sammeln. Kallisthenes konnte nur vermuten, aus welchen Traumwelten er ihn geholt hatte.
»Charosseth«, antwortete Timon, noch immer nicht voll bei der Sache.
»Er ist köstlich. Wie wird er zubereitet?«
Timon sah nicht aus, als habe er in diesem Moment Lust, über Brei zu sprechen, doch Kallisthenes ließ nicht locker. Timon durfte keine Gelegenheit mehr bekommen, Salome anzustarren.
»Nun?«, hakte Kallisthenes nach.
»Zerkleinertes Trockenobst, Nüsse, vermust mit Honig und süßem Wein«, zählte Timon rasch auf.
»Interessant. Und welches Trockenobst?«
»Datteln und Rosinen.«
»Und die Nüsse? Welche Nüsse werden genommen?«
»Hauptsächlich Mandeln. Haselnüsse, wenn man welche bekommen kann.«
»Und der süße Wein kommt von Zypern, nehme ich an?«
»Was ist denn plötzlich mit dir los? Seit wann interessierst du dich für Nüsse und Wein?«
»Seit eben. Also, was ist mit dem Wein? Kommt er von Zypern?«
»Möglich«, stöhnte Timon lustlos. »Aber im Jordantal zwischen dem Salzmeer und dem See Genezareth wachsen viele süße Reben.«
»Hier im Golan auch? Ich habe bei der Anreise Reben gesehen.«
»Ja, doch hier ist der Wein trockener und muss mit Honig gesüßt werden, um trinkbar zu sein.«
»Was es nicht alles gibt. Und was steht dort drüben?« Kallisthenes deutete auf eine Platte voller flacher, gebrannter Teigwaren, die verführerisch golden leuchteten und mit schwarzen Punkten übersät waren.
Doch die Antwort kam nicht von Timon, sondern aus einer anderen Richtung.
»Wir nennen diese Leckerbissen ›Backwerk der Königin Esther‹«, erklärte Salome quer über die auf niedrigen Bänken angerichtete Tafel hinweg. »Die schwarzen Punkte rühren von der kostbaren Vanille her. Das Gebäck wird nur zu besonderen Gelegenheiten gereicht.«
»Königin Esther, aha. Hat sie gerne gebacken?«
Salome lachte. »Eine backende Königin ist eine amüsante Vorstellung, vielleicht sollte ich es selbst einmal probieren. Nein, Esther hat alle Juden Persiens vor der Ermordung bewahrt, indem sie während eines Mahls, zu dem dieses Backwerk serviert wurde, eine Intrige aufdeckte. Eine lange Geschichte. Der Tag der Rettung wird noch heute mit Festen und vielen süßen Spezereien gefeiert, er heißt purim. Und dieses Gebäck gilt allgemein als Ausdruck der Freude, wie zum Beispiel Freude über liebe Gäste.«
»Der Freude, aha.« Kallisthenes blickte um sich. Die Freudenstimmung hielt sich sehr in Grenzen, fand er. Der dicke Tetrarch schnarchte, seine Frau sah aus, als würde sie ihn am liebsten erwürgen, und Timon bemühte sich wieder, niemanden anzusehen, vor allem nicht Salome.
Als hätte sie Kallisthenes’ Blick gelesen und nur darauf gewartet, rief Salome: »Du hast Recht, Kallisthenes. Wir sollten für mehr Unterhaltung sorgen. Ich werde den Anfang machen und tanzen.«
»Tanzen?«, schrie Herodias dermaßen laut, dass sogar Antipas erwachte.
»Wer hat etwas von Tanzen gesagt?«, fragte er sofort.
»Salome«, erwiderte Herodias missmutig.
»Ach, Salome«, seufzte er enttäuscht. »Jetzt?« Er hätte genauso gut ›Muss das sein?‹ fragen können, so uninteressiert klang es.
Salome sprang auf, rief zwei weitere Musikanten und schlang sich einen weiten nachtblauen Schleier locker um den Kopf und die Schultern, bis sie aussah wie ein Geheimnis.
»Willst du wirklich tanzen?«, fragte Philipp. Es klang eher verwundert als aufgebracht, sogar ein wenig traurig.
Sie antwortete ihm nicht mehr. Einer der Musikanten blies auf ihr Zeichen hin in das aulos, eine Doppelflöte, die einen warmen, melancholischen Klang in den Saal schickte. Die Melodie war langsam und wurde immerzu wiederholt, als drehe sie sich um sich selbst; sie hüllte ein, sie spann einen Faden aus Tönen, und schon nach wenigen Momenten war man in einer anderen Welt, in einem Kokon der Exotik. Mit der Langsamkeit der Melodie drehte sich auch Salome um die eigene Achse. Mal streckte sie sich und mal schraubte sie sich so weit herunter, dass ihre Hände den Boden berührten, doch immer blieb ihr Rücken gerade und ihr Gesicht zur marmornen Saaldecke erhoben, über der die Sterne glitzerten. Die lyra setzte ein, nicht zaghaft und beschaulich wie vorhin, sondern wie ein Waldesrauschen, die Töne hell und dunkel und munter, so dass man sie nicht auseinander halten konnte. Die Melodie beschleunigte sich im Takt einer Handtrommel, sie war wie ein Sog. Und Salome war wunderbar.
Selbst Kallisthenes, der Frauen längst aus seinem Leben ausgeklammert hatte, konnte ihre Wirkung nicht verleugnen. In ihrem geschlitzten roten Kleid wirkte sie wie Feuer, und der blaue Schleier war der Rauch, der sie umwehte. Fabelhaft, dachte er. Sie erschaffte ein Bild, und der Zufall hatte gewollt, dass sie genau die richtige Kleidung dafür trug. Oder war es gar kein Zufall?
Das Tamburin steigerte die Geschwindigkeit der exotischen Melodie ein letztes Mal. Das Trommeln und Rasseln füllte den ganzen Saal aus, Diener blieben stehen und sahen der Tänzerin zu, die Musikanten wurden von ihrem eigenen Feuer mitgerissen und spielten immer schneller. Doch konnte keine Musik so rasant sein, dass Salomes Schritt ihr nicht folgen würde.
Kallisthenes konnte seine Neugier nicht bezähmen und riss sich von dem Spektakel los, um die Gesichter der anderen zu beobachten. Herodias’ Miene war düster. Jede andere Mutter wäre stolz gewesen, aber aus ihr blickte nur Neid und – Angst. Kallisthenes konnte es kaum glauben und sah noch einmal genauer hin; er las tatsächlich Furcht in ihren Augen. Im nächsten Moment fand er die Erklärung dafür. Noch nie hatte er einen Gesichtsausdruck gesehen wie jetzt bei Antipas, verzerrt von Begierde. Schämte er sich nicht, so offensichtlich nach der Frau seines Bruders zu hungern? Und merkte Salome nicht, wie ihr Stiefvater auf ihren Tanz reagierte?
Nein, sie merkte nichts davon. Der Tanz erreichte seinen Höhepunkt, schneller und wilder konnten die Musiker unmöglich spielen. Zwischen ihren Sprüngen und Drehungen warf Salome kurze Blicke zu Timon. Und der beantwortete sie zum ersten Mal. Zu Kallisthenes’ Schrecken waren Timons Augen zu zwei azurblauen Flammen geworden.
Zum Glück bekam Philipp davon nichts mit. Auch er war in den Anblick seiner tanzenden Frau vertieft, doch er strahlte weder die dunkle Begierde seines Bruders aus noch die erwachte Leidenschaft seines – Kallisthenes fiel kein anderes Wort ein – Rivalen. Ruhig und emotionslos, so als wolle er danach einen Bericht über den Tanz anfertigen, folgte er den letzten aufregenden Figuren Salomes. Sie warf schwungvoll ihren Schleier von sich, der über den Köpfen Philipps und Timons niederging, und kniete im nächsten Augenblick auf dem Boden.
Die Musik verstummte, und die Anwesenden rührten sich nicht.
Erst Philipps bedächtiges Klatschen brachte wieder Bewegung in den Saal. Die Diener setzten ihre Arbeit fort, die Musikanten verschwanden, die Gesichter entspannten sich, und Salome sprang freudestrahlend auf.
Kallisthenes stimmte mit allen anderen in Philipps Applaus ein, doch er dachte daran, wie viele verschiedene Emotionen er eben noch während Salomes Tanz erkannt hatte, und er ahnte nichts Gutes.
Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
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