23
»Kusinchen«, rief Agrippa und lief Salome mit offenen Armen entgegen. Mit den Vorboten des Frühlings war auch er wieder nach Rom gekommen und feierte seine Rückkehr mit einem großen Fest.
»Ich bin deine Nichte«, korrigierte sie sanft. »Nicht deine Kusine.«
»Ich weiß«, flüsterte er. »Die anderen werden mich jedoch für schrecklich alt halten, wenn eine so bezaubernde und … nun ja, reife Frau wie du mich Onkel nennt. Also tue mir den Gefallen und spiele mit, ja?«
Er war ein nicht mehr ganz schlanker Mann, in dessen schwarzes Haar sich bereits zahlreiche graue Strähnen gemischt hatten. Wenig an ihm erinnerte daran, dass er Jude war. Die Wangen waren entgegen aller jüdischer Tradition glatt rasiert, die Schmuckstücke an seinen Ohren und Fingern wären in Judäa verpönt gewesen, und er roch wie eine Blumenwiese im Frühsommer. Außerdem trug er nur weiße Kleidung, selbst seine Sandalen waren weiß eingefärbt.
Er bemerkte wohl ihren verwunderten Blick, denn er erklärte: »Ich liebe Weiß, Kusinchen. Es hebt meine braune Haut so herrlich hervor.«
Agrippa zwinkerte ihr zu, nahm sie an der Hand, tänzelte mit ihr durch den Festsaal seiner Villa und rief jedem, an dem sie vorbeikamen, zu: »Darf ich euch meine Kusine Salome vorstellen, meine Lieben? Oh, sie ist nicht dick, nur schwanger.« Nachdem er den gleichen Scherz fünfmal gemacht und ebenso oft selbst darüber gelacht hatte, gelangten sie zu den hochgestellten Gästen des Abends.
»Salome, ich habe die Ehre, dich dem edlen Gaius Caligula vorzustellen, von dem du sicher schon gehört hast. Und dies ist seine Schwester, die edle Drusilla.«
Salome fand sich einem frühreifen Mädchen mit rosa geschminkten Wangen gegenüber, die unentwegt mit der Zunge an einem halbvollen Weinkelch leckte und es gerade noch schaffte, ihr mit glasigen Augen so etwas wie eine Begrüßung zuzuzwinkern. Wohingegen Caligula völlig nüchtern zu sein schien, jedoch schlechter Laune. Er sah aus, als würde er allen Gästen, sie eingeschlossen, am liebsten den Hals umdrehen.
»Was ist das für ein Gefühl«, fragte er, »wenn man eine solche Kugel mit sich herumschleppt?«
»Ein schönes Gefühl«, erwiderte sie, »da es keine Kugel ist, sondern ein Kind.«
Ihre Antwort schien ihm nicht zu passen. »Und wie fühlt man sich, wenn man jemandem eigenhändig den Kopf abschlägt? Ich habe nämlich irgendwann selber vor, jemanden zu köpfen. Ratschläge sind also willkommen.«
Es kostete Salome große Mühe, sich zu beherrschen. Was bildete sich dieser verlebte junge Mann mit den schlechten Zähnen und der Halbglatze eigentlich ein! »Erstens«, sagte sie, die Worte einzeln betonend, »kann ich darüber keine Auskunft geben, weil ich noch nie jemandem eigenhändig den Kopf abgeschlagen habe. Zweitens sind hier in Rom gewiss schon mehr Köpfe gerollt als in Judäa, und drittens …«
»Oh bitte, keine Politik, Kinder«, ging Agrippa dazwischen. »Politik verdirbt jedes Fest.« Sichtlich bemüht, das Thema zu wechseln, fragte er Salome: »Du warst auf Capri, habe ich gehört. Wie findest du die Insel?«
»Nicht so beeindruckend wie den Kaiser«, antwortete sie und fügte mit einem Seitenblick auf Caligula hinzu: »Er war ausgesprochen freundlich und munter. Ja, mir schien, als könne er noch zwanzig Jahre leben.«
Agrippa hakte sich bei ihr unter und führte sie einige Schritte weg. »Das war nicht nett von dir, Kusinchen. Mit Caligula steht und fällt mein Fest. Wenn er geht, werden die anderen auch gehen. Er ist ohnehin schon schlechter Laune, weil es März geworden ist und Tiberius noch lebt – einer Weissagung nach soll Tiberius im gleichen Monat sterben wie Julius Cäsar, also im März. Und nun berichtest du ihm, wie blendend es dem Kaiser geht.«
»Und über seine Unhöflichkeit verlierst du wohl kein Wort, wie?«
»Kusinchen, Kusinchen, du musst noch eine Menge lernen, wenn du in Rom glücklich werden willst. Caligula ist die Zukunft des Imperiums, unsere Zukunft. Ich werde doch nicht die Zukunft zurechtweisen! Also, wenn du deinen Patzer wieder gutmachen willst, dann tanze vor Caligula. Ich meine natürlich nicht heute. Mit diesem Bauch siehst du ja wirklich verboten aus.«
»Herzlichen Dank, Onkel Agrippa«, parierte sie. »So galant du auch bittest, ich werde gewiss nicht tanzen.«
Agrippa zuckte mit den Schultern. »Wie du meinst. Wir suchen jetzt erst mal eine andere Gesprächsrunde für dich. Warte, wo könnten wir dich denn …«
Er stellte sich auf die Zehenspitzen und suchte die Gästeschaft ab, und auch Salome sah sich um. Sie entdeckte jedoch nur Menschen, denen sie bereits ansah, dass sie sie nicht mögen würde: verwöhnte junge Männer, betrunkene Senatoren, übertrieben geschmückte Frauen. Ihr Blick blieb schließlich auf einem älteren Mann in einem schlichten Gewand haften, der abseits stand und gelassen dem Treiben zusah. Agrippa bemerkte ihr Interesse an ihm.
»Da hast du dir den Langweiligsten von allen ausgesucht, Kusinchen. Ich lade ihn bloß ein- oder zweimal im Jahr ein. Im Grunde bin ich froh, dass sich jemand um ihn kümmern will, noch dazu eine Glaubensgenossin.«
»Er ist Jude?«
Agrippa nickte. »Rabban Efraim, einer der Führer der jüdischen Gemeinde in Rom.«
Salome zuckte zurück, doch es war zu spät. Sie stand dem Rabban bereits gegenüber. Alles andere, als ihn zu begrüßen und wenigstens einige Worte mit ihm zu wechseln, wäre enorm unhöflich gewesen, doch alles in ihr sträubte sich dagegen, erneut mit einem jüdischen Glaubenslehrer in Verbindung zu kommen. Die Erinnerung an die Feindschaft mit Jehudah war noch zu frisch; allerdings hatte nicht nur er Salome in der Vergangenheit wegen ihres Lebenswandels bekämpft: Zacharias, Johannes, Kephallion, Nathan … Tatsächliche und selbsternannte Hüter der Bräuche hatten sie zeit ihres Lebens wegen ihrer Meinung und ihrer Forderungen verachtet. Von einem Rabban, selbst wenn er nicht in Judäa, sondern in Rom lebte, konnte sie nichts anderes erwarten.
Da Agrippa sich schnell verdrückte und daher als Vermittler ausschied, beschloss Salome, reinen Tisch zu machen, um die Begegnung hinter sich zu bringen.
»Vermutlich weißt du, wer ich bin«, sagte sie und blickte den Rabban entschlossen an. »Darum sage, was du zu sagen hast, und danach trennen sich unsere Wege für immer. Ich mute dir meine Gesellschaft nicht lange zu, und du mir nicht die deine.«
Rabban Efraim lachte. Er lachte, dass ihm Tränen in die klaren Augen schossen. »Das ist die ungewöhnlichste Begrüßung, die ich je erlebt habe«, sagte er und musste erneut lachen. Beinahe hätte sie in das Gelächter eingestimmt, aber ihr Misstrauen überwog.
»Was gibt es denn da zu lachen?«, fragte sie.
Er tupfte sich die Tränen aus den Augen und sagte: »Köstlich, wirklich köstlich. Die meisten Menschen meiner Gemeinde treten mir immens ehrfürchtig entgegen, wie einem Weisen. Ich möchte das überhaupt nicht. Wenn man jedoch alt ist und einen langen grauen Bart hat, bekommt man nun einmal eine bestimmte Prägung von den Menschen aufgedrückt. Hübschen Frauen geht das übrigens nicht anders, wie du sicher weißt.«
Sein Verhalten irritierte sie, daher sagte sie zunächst gar nichts. »Ja, ich weiß, wer du bist«, bestätigte er. »Andererseits weiß ich es auch wieder nicht. Gerede und Gerüchte schaffen es manchmal, aus einem Menschen drei zu machen, wenn du verstehst, was ich meine.«
Unter seinem Bart zeichnete sich ein Lächeln ab, und seine Augen ruhten sanft auf ihr. »Du weißt nicht viel über die Juden in Rom, nicht wahr?«
Sie wusste überhaupt nichts über die Juden in Rom, oder generell über die Juden in der Diaspora. In Judäa wurden sie nur galuths genannt, die Zerstreuten, das griechische Wort dafür war diaspores. Und tatsächlich lebten sie zerstreut über das ganze Imperium, in Syrien, Africa, Griechenland, Rom, manche auch außerhalb des Reiches in Persien oder Arabien. Bei den Juden im Heiligen Land waren die galuths nicht hoch angesehen.
Efraim deutete ihr Schweigen richtig. »Das ist nicht weiter schlimm. Wir sind es gewöhnt, Vergessene zu sein, und ein wenig genießen wir diesen Status sogar. Warum kommst du nicht einfach zum nächsten shabbat in unsere schöne Synagoge im vierzehnten Bezirk und lernst uns kennen? Wir würden uns freuen.«
»Das bezweifle ich.«
Efraim schüttelte bedächtig den Kopf. »Ich kann nicht für alle römischen Juden sprechen, aber meine Gemeinde im vierzehnten Bezirk wird dich mit offenen Armen empfangen. Du bist nun eine von uns, ebenso wie schon bald dein Kind.«
»Siehst du, Rabban«, sagte sie, »genau das ist der Irrtum.«
 
Berenikes überraschendes Eintreffen in Rom war für Salome das Beste, was ihr passieren konnte. Berenike war ein bekanntes Gesicht in der Fremde, denn obwohl Salome sowohl von Antonia wie auch von Agrippa freundlich aufgenommen worden war, konnte sie doch weder zur einen noch zum anderen eine vertraute Beziehung aufbauen. Die Julierin konnte ganze Nachmittage hindurch über die Übel der Zeit lamentieren, und das kostete Salome ebenso viel Nerven wie das seichte, alberne Geplapper ihres Onkels. Mit Berenike hingegen war eine Freundin aus längst vergangenen Tagen zurückgekehrt.
Mit ihr konnte Salome viele wunderbare Gespräche führen, denn sie teilten gemeinsame Erinnerungen. Die Kindertage im Herodespalast wurden wieder lebendig, die Spiele an den Teichen, die Ausflüge der Familie zu den Schafherden auf dem Hügel Garebs und in die Haine von Hebron, wo Gott mit Abraham den Bund eingegangen war, oder in die Gärten von Jericho, wo Herodes künstliche Wasserkaskaden angelegt hatte. Auch die ersten Jahre in Ashdod zogen noch einmal an ihnen vorüber, ihre ersten schwärmerischen Gefühle, das Auftauchen Timons. Es tat Salome gut, diese Zeit zusammen mit jemandem heraufzubeschwören, der sie selbst miterlebt hatte.
Auf den ersten Blick schien ihre Freundin kaum verändert. Sie war fröhlich und hübsch und beides so sehr, dass Agrippa sich einige Tage lang auffällig bemühte, sie in seinen Kreis von Spaßvögeln zu ziehen. Doch sogar er merkte schnell, dass Berenike nicht die war, die sie zu sein schien. Auf Stunden der Heiterkeit folgten bei ihr nicht selten Stunden melancholischer Nachdenklichkeit, und Agrippa wollte wohl nicht das Risiko eingehen, Berenike zu einer Gesellschaft oder einem Landausflug mitzunehmen und seinen Freunden dann einen Trauerkloß zuzumuten. Für Salome freilich waren die Anzeichen des wahren Gemütszustands ihrer Freundin noch deutlicher: Berenike vermied es, über Kephallion zu sprechen, und selbst in den Phasen ungezwungener Fröhlichkeit blieben ihre Augen seltsam erloschen. An einem Nachmittag jedoch brach alles aus Berenike hervor, und sie erzählte Salome von den Verbrechen und Grausamkeiten Kephallions, den Schlägen, Beleidigungen und Erniedrigungen, die er ihr zugefügt hatte, und von seiner Unfähigkeit, Kinder zu zeugen, wofür er jedoch sie verantwortlich machte.
Salome hatte geahnt, dass Berenikes Ehe mit Kephallion kein Honigschlecken gewesen war, aber diese Torturen hätte selbst sie ihm nicht zugetraut. Umso erstaunlicher – und erfreulicher – war, dass Berenike nicht schwächer, sondern stärker geworden war. An die frühere Berenike, die etwas naive, ideenlose, leichtgläubige Frau mit ihrem seichten Geplapper erinnerte fast nichts mehr. Sie hatte Kephallion aus eigener Kraft besiegt, und die bitteren Jahre hatten sie glücklicherweise nicht streng, sondern reif gemacht.
»Du warst mir ein Vorbild«, gestand Berenike. »Wenn du mir nicht durch dein Beispiel gezeigt hättest, dass es besser ist, zu widerstehen als hinzunehmen, würde ich wohl immer noch in Nazareth von meinem Mann verprügelt werden.«
»Nicht doch! Nicht mir gebührt der Verdienst.«
»Weißt du nicht, wie man dich mittlerweile in Judäa hinter vorgehaltener Hand nennt? Die Löwin.«
Salome hatte in der Tat davon gehört, und sie wusste nicht, ob es eine Beleidigung oder Anerkennung war, mit einem Raubtier verglichen zu werden.
»Du bist die Löwin, Berenike. Du allein hast den Mut aufgebracht, gegen deinen Mann aufzustehen.«
»Mit deiner Hilfe«, korrigierte Berenike. »Und der von Menahem. Ich vermisse ihn.«
Das allerdings konnte Salome nicht nachvollziehen. »Nach allem, was du mit einem Zeloten erlebt hast, trauerst du bereits wieder einem anderen nach? Das darf doch nicht wahr sein!«
»Menahem ist nicht wie Kephallion.«
»Das wäre ja auch noch schöner«, schimpfte Salome. »Es reicht bereits, dass du für einen schwärmst, der denselben abstrusen Ideen wie dieses Ungeheuer anhängt. Du bist zu vertrauensselig, Liebes.«
»Und du zu misstrauisch. Du kannst ja kaum noch einem Juden die Hand geben, nicht einmal Rabban Efraim, der dir nun wirklich sehr entgegengekommen ist.«
Über diese Sache mochte wiederum Salome nicht gerne reden, und genau das wusste Berenike, deswegen ließ sie nicht locker. »Ich finde, du solltest Beziehungen zur römischen Diaspora aufnehmen, Salome. Du kannst nicht verleugnen, wer du bist und woher du kommst, das geht doch nicht!«
»Und ob«, trotzte Salome. »Ich bin nicht aus Judäa weggegangen, um mich in Rom dem Willen der j üdischen Diaspora zu fügen.«
»Wenn du dich wie Agrippa von den Juden absonderst, werden die Leute denken …«
»Was sie denken, interessiert mich nicht mehr«, erwiderte Salome scharf, und Berenike ließ seufzend von dem Thema ab.
Doch sie gab ihren Plan, Salome mit ihren jüdischen Brüdern und Schwestern zu versöhnen, nicht auf und unternahm wenige Tage später erneut einen Versuch, indem sie von Salome einen Gefallen erbat.
»Wozu, um alles in der Welt, soll ich dich morgen in die Synagoge begleiten?«, fragte Salome.
»Weil ich mich dann sicherer fühle. Alles ist neu für mich in Rom, so fremd.«
»Die Diener kennen den Weg.«
»Es geht um die Leute in der Synagoge, Salome, nicht um den Weg. Alle werden wissen wollen, wer ich bin, woher ich komme, ob ich verheiratet bin … Ich bin noch nicht soweit, Scharen von Menschen Rede und Antwort zu stehen.«
»Warum gehst du dann hin?«
Darauf fiel Berenike nichts Passendes ein, außer die Beleidigte zu spielen. »Zum ersten Mal seit zwanzig Jahren bitte ich dich um einen winzigen Gefallen, und du musst so lange quengeln und sticheln, bis ich … bis ich …« Sie rannte davon – und erreichte ihr Ziel. Salome bekam ein schlechtes Gewissen und versprach, sie am nächsten Tag in die Synagoge zu begleiten, obwohl sie hochschwanger war und sich unwohl fühlte.
 
Die Synagoge des vierzehnten Bezirks Transtiberim lag, wie der Name des Bezirks schon besagte, jenseits des Tiber im Westen Roms. Mehrere kleine Häuser am Fuße des Hügels Ianiculum waren zu einem einzigen zusammengebaut worden, so dass ein kleiner Innenhof entstanden war, in dem eine hohe Palme wuchs. Ihr Samen war vor einer Generation aus Judäa mitgebracht und hier eingepflanzt worden, und die Erde um sie herum stammte aus Idumäa, Samaria, Peräa, Galiläa und den anderen Teilen des Gelobten Landes. Auch aus dem Lande Dan, rund um Philippi, war ein Beutel Erde beigemischt. Der Hof und die Räume um ihn herum waren voller Menschen, die miteinander schwatzten und lachten. Traditionell waren Synagogen nicht bloße Bethäuser, sondern Mittelpunkte des gesellschaftlichen Lebens einer Gemeinde, aber Salome hatte das Gefühl, dass es in dieser Synagoge besonders fröhlich zuging.
Die nächste Überraschung erlebte sie, als Efraim sie und Berenike in einen Raum führte, in dem ein Duft süßen Zitronentees sie begrüßte, der sich angenehm mit dem von Mandelbroten und geschmorten Äpfeln vermischte. Die eigentliche Sensation war, dass die Erfrischungen von Frauen und Männern gereicht wurden. In Judäa undenkbar.
Die Leute gingen sofort auf Salome und Berenike zu, und binnen weniger Atemzüge hatten sie die Bekanntschaft von zwei Weberinnen, einem Töpfer und einem Parfümhersteller gemacht, die alle durcheinander redeten, bis Salome schwindelte. Nach drei Kelchen Zitronentee und zwei Stücken Mandelkuchen ebbte das Geplauder ab, und die Leute versammelten sich im angrenzenden Raum, wo sie sich auf gemütlichen Bodenkissen niederließen. Salome erwartete eine Predigt und wollte innerlich bereits die Ohren verschließen, doch nichts dergleichen geschah. Wem danach war, der konnte sich erheben und etwas sagen, was die anderen kommentieren konnten oder auch nicht. Eine Frau stand auf, sah Salome an, lächelte und sagte: »Es ist keine Sünde, sich seines Lebens zu erfreuen, solange diese Freude aus dem tiefsten Innern kommt.« Zustimmendes Gemurmel ertönte von allen Seiten. Ein Mann erhob sich, blickte sie ebenfalls an und sagte: »Diejenigen, die Häme und Fluch schicken, werden in Schimpf und Schande untergehen. Allein der Herr verurteilt und spricht frei.« Und eine dritte Frau meinte: »Wenn die Menschen häufiger auf ihr Herz hören würden und weniger auf die Zungen von anderen, gäbe es weniger Feindschaft in der Welt.«
Einer nach dem anderen stand auf und sagte etwas, und bei jedem fühlte Salome, dass die Worte an sie gerichtet waren, Worte des Trostes und des Rückhalts. Auch für Berenike gab es Unterstützung, denn ihr Schicksal hatte sich herumgesprochen und berührte die Leute. Sie beide waren in dieser Stunde von Freunden umgeben.
Irgendwann trat Rabban Efraim nach vorne und kündigte ein Prosagedicht an. Solche pijutim, die wahlweise gesprochen oder gesungen werden durften, waren sehr beliebt in Synagogen. Üblicherweise, das wusste Salome, trug sie der chasan vor, der Vorbeter, doch an diesem Tag musste es sich wohl anders verhalten, denn eine Frau trat an Efraims Seite und sang das Gedicht. Ihre wundervolle Stimme füllte die gesamte Synagoge aus und mischte sich mit dem Gesang der Vögel, der von draußen kam. Das pijut war erstaunlich lang, aber Salome genoss jeden Moment davon. Sie hätte es nie für möglich gehalten; sie fühlte sich tatsächlich wohl unter dem Dach der Synagoge.
Nach dem Ende des Gedichts, als alle sich erhoben und in den Innenhof strömten, wo Efraim sie verabschiedete, ging Salome zu der Frau und lobte sie für die Schönheit der Strophen und der Stimme.
»Aus dem Mund einer Frau klingen solche pijutim viel innerlicher und poetischer«, fügte sie hinzu. »Gut, dass in dieser Synagoge nicht nur die Vorbeter singen.«
»Oh, das ist ein Missverständnis«, sagte die Frau. »Ich bin Vorbeter.«
Diese Neuigkeit raubte Salome fast den Atem. In Judäa wären Tumulte entstanden, wenn dort eine Frau zum chasan gemacht worden wäre. Doch hier schien so etwas selbstverständlich zu sein.
»Bis auf das Amt des Rabban«, fügte Efraim erklärend hinzu, »kann eine Frau so gut wie jede Aufgabe in der Gemeinde übernehmen, nicht nur bei uns im vierzehnten Bezirk, sondern in ganz Rom. Soweit ich weiß, trifft das auch auf die Gemeinden in Africa und Hispanien zu.«
Salome war ehrlich beeindruckt, und nun schämte sie sich, dass sie Efraim kürzlich so angefahren hatte. Der Rabbiner schien es ihrer Miene anzusehen.
»Wir freuen uns, wenn wir Menschen durch unser Verhalten angenehm überraschen – und dadurch anleiten, es uns nachzutun. Wir möchten fröhliche Gesichter sehen, Fürstin, keine beschämten.«
Sie verstand den Wink und strahlte ihn an. »Darf ich dich und die chasan für heute Abend in mein Haus einladen«, sagte sie. »Ich möchte euch so gerne …«
Sie verspürte einen plötzlichen Schmerz und beugte sich nach vorne. Berenike und Efraim mussten sie auffangen und auf den Boden legen. Krämpfe schüttelten Salome. »Das Kind«, sagte Berenike. »Es ist so weit.«
»Ich hole einen Arzt«, bot Efraim sofort an und rannte aus der Synagoge. Schon nach wenigen Augenblicken kam er mit einem der Gäste zurück, die zuvor der Versammlung beigewohnt hatten. Der Arzt tastete Salomes Bauch und Becken ab, dann sagte er: »Das Kind liegt falsch. Es könnte sein, dass ich …« Er sah Efraim an und sprach leiser weiter. »Dass ich nicht beider Leben retten kann.«
In einem solchen Fall war die Entscheidung im Grunde schon getroffen. Die Erhaltung bestehenden Lebens galt im jüdischen Glauben als oberstes Prinzip, und bei einer schweren Geburt war die Tötung des Kindes ausdrücklich erlaubt und durch die heiligen Schriften gedeckt.
»Wir dürfen kein Risiko eingehen«, sagte Rabban Efraim.
»Nein«, schrie Salome. Ihr Gesicht war rot, und Schweißperlen standen ihr auf der Stirn. »Nein, das will ich nicht. Rettet das Kind, ich bitte euch. Es ist … sein Kind. Es muss leben. Es muss …«
Sie verlor das Bewusstsein.
»Was sollen wir nun tun?«, fragte der Arzt.
»Du hast es gehört«, mischte Berenike sich ein. »Sie möchte, dass das Kind lebt, Glauben hin oder her.«
»Mir ist nicht erlaubt …«
»Es geht hier um den Willen der Mutter«, unterbrach ihn Berenike mit Tränen in den Augen. »Wenn sie ihr eigenes Leben geben will, um das des Kindes zu retten, so ist das allein ihre Entscheidung.«
»Es ist auch meine«, erwiderte der Arzt. »Denn ich bin es, der dieses Leben auf sich nimmt.«
Efraim hatte zwischenzeitlich das Für und Wider abgewogen. Nun legte er dem Arzt die Hand auf die Schulter und sagte: »Es ist Gott allein, der Leben nimmt und gibt. Überlassen wir ihm die Entscheidung.«
»Und wenn beide sterben?«
»Leite die Geburt ein«, riet Efraim. »Alles andere geschieht, wie es geschehen muss.«
Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
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