23
»Kusinchen«, rief Agrippa und lief Salome mit
offenen Armen entgegen. Mit den Vorboten des Frühlings war auch er
wieder nach Rom gekommen und feierte seine Rückkehr mit einem
großen Fest.
»Ich bin deine Nichte«, korrigierte sie sanft.
»Nicht deine Kusine.«
»Ich weiß«, flüsterte er. »Die anderen werden mich
jedoch für schrecklich alt halten, wenn eine so bezaubernde und …
nun ja, reife Frau wie du mich Onkel nennt. Also tue mir den
Gefallen und spiele mit, ja?«
Er war ein nicht mehr ganz schlanker Mann, in
dessen schwarzes Haar sich bereits zahlreiche graue Strähnen
gemischt hatten. Wenig an ihm erinnerte daran, dass er Jude war.
Die Wangen waren entgegen aller jüdischer Tradition glatt rasiert,
die Schmuckstücke an seinen Ohren und Fingern wären in Judäa
verpönt gewesen, und er roch wie eine Blumenwiese im Frühsommer.
Außerdem trug er nur weiße Kleidung, selbst seine Sandalen waren
weiß eingefärbt.
Er bemerkte wohl ihren verwunderten Blick, denn er
erklärte: »Ich liebe Weiß, Kusinchen. Es hebt meine braune
Haut so herrlich hervor.«
Agrippa zwinkerte ihr zu, nahm sie an der Hand,
tänzelte mit ihr durch den Festsaal seiner Villa und rief jedem, an
dem sie vorbeikamen, zu: »Darf ich euch meine Kusine Salome
vorstellen, meine Lieben? Oh, sie ist nicht dick, nur schwanger.«
Nachdem er den gleichen Scherz fünfmal gemacht und ebenso oft
selbst darüber gelacht hatte, gelangten sie zu den hochgestellten
Gästen des Abends.
»Salome, ich habe die Ehre, dich dem edlen Gaius
Caligula vorzustellen, von dem du sicher schon gehört hast. Und
dies ist seine Schwester, die edle Drusilla.«
Salome fand sich einem frühreifen Mädchen mit rosa
geschminkten Wangen gegenüber, die unentwegt mit der Zunge an einem
halbvollen Weinkelch leckte und es gerade noch schaffte, ihr mit
glasigen Augen so etwas wie eine Begrüßung zuzuzwinkern. Wohingegen
Caligula völlig nüchtern zu sein schien, jedoch schlechter Laune.
Er sah aus, als würde er allen Gästen, sie eingeschlossen, am
liebsten den Hals umdrehen.
»Was ist das für ein Gefühl«, fragte er, »wenn man
eine solche Kugel mit sich herumschleppt?«
»Ein schönes Gefühl«, erwiderte sie, »da es keine
Kugel ist, sondern ein Kind.«
Ihre Antwort schien ihm nicht zu passen. »Und wie
fühlt man sich, wenn man jemandem eigenhändig den Kopf abschlägt?
Ich habe nämlich irgendwann selber vor, jemanden zu köpfen.
Ratschläge sind also willkommen.«
Es kostete Salome große Mühe, sich zu beherrschen.
Was bildete sich dieser verlebte junge Mann mit den schlechten
Zähnen und der Halbglatze eigentlich ein! »Erstens«, sagte sie, die
Worte einzeln betonend, »kann ich darüber keine Auskunft geben,
weil ich noch nie jemandem eigenhändig den Kopf abgeschlagen habe.
Zweitens sind hier in Rom gewiss schon mehr Köpfe gerollt als in
Judäa, und drittens …«
»Oh bitte, keine Politik, Kinder«, ging Agrippa
dazwischen. »Politik verdirbt jedes Fest.« Sichtlich bemüht, das
Thema zu wechseln, fragte er Salome: »Du warst auf Capri, habe ich
gehört. Wie findest du die Insel?«
»Nicht so beeindruckend wie den Kaiser«, antwortete
sie und fügte mit einem Seitenblick auf Caligula hinzu: »Er war
ausgesprochen freundlich und munter. Ja, mir schien, als könne er
noch zwanzig Jahre leben.«
Agrippa hakte sich bei ihr unter und führte sie
einige Schritte weg. »Das war nicht nett von dir, Kusinchen. Mit
Caligula steht und fällt mein Fest. Wenn er geht, werden die
anderen auch gehen. Er ist ohnehin schon schlechter Laune, weil es
März geworden ist und Tiberius noch lebt – einer Weissagung nach
soll Tiberius im gleichen Monat sterben wie Julius Cäsar, also im
März. Und nun berichtest du ihm, wie blendend es dem Kaiser
geht.«
»Und über seine Unhöflichkeit verlierst du wohl
kein Wort, wie?«
»Kusinchen, Kusinchen, du musst noch eine Menge
lernen, wenn du in Rom glücklich werden willst. Caligula ist die
Zukunft des Imperiums, unsere Zukunft. Ich werde doch nicht
die Zukunft zurechtweisen! Also, wenn du deinen Patzer wieder
gutmachen willst, dann tanze vor Caligula. Ich meine natürlich
nicht heute. Mit diesem Bauch siehst du ja wirklich verboten
aus.«
»Herzlichen Dank, Onkel Agrippa«, parierte
sie. »So galant du auch bittest, ich werde gewiss nicht
tanzen.«
Agrippa zuckte mit den Schultern. »Wie du meinst.
Wir suchen jetzt erst mal eine andere Gesprächsrunde für dich.
Warte, wo könnten wir dich denn …«
Er stellte sich auf die Zehenspitzen und suchte die
Gästeschaft ab, und auch Salome sah sich um. Sie entdeckte jedoch
nur Menschen, denen sie bereits ansah, dass sie sie nicht mögen
würde: verwöhnte junge Männer, betrunkene Senatoren, übertrieben
geschmückte Frauen. Ihr Blick blieb schließlich auf einem älteren
Mann in einem schlichten Gewand haften, der abseits stand und
gelassen dem Treiben zusah. Agrippa bemerkte ihr Interesse an
ihm.
»Da hast du dir den Langweiligsten von allen
ausgesucht, Kusinchen. Ich lade ihn bloß ein- oder zweimal im Jahr
ein. Im Grunde bin ich froh, dass sich jemand um ihn kümmern will,
noch dazu eine Glaubensgenossin.«
»Er ist Jude?«
Agrippa nickte. »Rabban Efraim, einer der
Führer der jüdischen Gemeinde in Rom.«
Salome zuckte zurück, doch es war zu spät. Sie
stand dem Rabban bereits gegenüber. Alles andere, als ihn zu
begrüßen und wenigstens einige Worte mit ihm zu wechseln, wäre
enorm unhöflich gewesen, doch alles in ihr sträubte sich dagegen,
erneut mit einem jüdischen Glaubenslehrer in Verbindung zu kommen.
Die Erinnerung an die Feindschaft mit Jehudah war noch zu frisch;
allerdings hatte nicht nur er Salome in der Vergangenheit wegen
ihres Lebenswandels bekämpft: Zacharias, Johannes, Kephallion,
Nathan … Tatsächliche und selbsternannte Hüter der Bräuche hatten
sie zeit ihres Lebens wegen ihrer Meinung und ihrer Forderungen
verachtet. Von einem Rabban, selbst wenn er nicht in Judäa,
sondern in Rom lebte, konnte sie nichts anderes erwarten.
Da Agrippa sich schnell verdrückte und daher als
Vermittler ausschied, beschloss Salome, reinen Tisch zu machen, um
die Begegnung hinter sich zu bringen.
»Vermutlich weißt du, wer ich bin«, sagte sie und
blickte den Rabban entschlossen an. »Darum sage, was du zu
sagen hast, und danach trennen sich unsere Wege für immer. Ich mute
dir meine Gesellschaft nicht lange zu, und du mir nicht die
deine.«
Rabban Efraim lachte. Er lachte, dass ihm
Tränen in die klaren Augen schossen. »Das ist die ungewöhnlichste
Begrüßung, die ich je erlebt habe«, sagte er und musste erneut
lachen. Beinahe hätte sie in das Gelächter eingestimmt, aber ihr
Misstrauen überwog.
»Was gibt es denn da zu lachen?«, fragte sie.
Er tupfte sich die Tränen aus den Augen und sagte:
»Köstlich, wirklich köstlich. Die meisten Menschen meiner Gemeinde
treten mir immens ehrfürchtig entgegen, wie einem Weisen. Ich
möchte das überhaupt nicht. Wenn man jedoch alt ist und einen
langen grauen Bart hat, bekommt man nun einmal eine bestimmte
Prägung von den Menschen aufgedrückt. Hübschen Frauen geht das
übrigens nicht anders, wie du sicher weißt.«
Sein Verhalten irritierte sie, daher sagte sie
zunächst gar nichts. »Ja, ich weiß, wer du bist«, bestätigte er.
»Andererseits weiß ich es auch wieder nicht. Gerede und Gerüchte
schaffen es manchmal, aus einem Menschen drei zu machen, wenn du
verstehst, was ich meine.«
Unter seinem Bart zeichnete sich ein Lächeln ab,
und seine Augen ruhten sanft auf ihr. »Du weißt nicht viel über die
Juden in Rom, nicht wahr?«
Sie wusste überhaupt nichts über die Juden in Rom,
oder generell über die Juden in der Diaspora. In Judäa wurden sie
nur galuths genannt, die Zerstreuten, das griechische Wort
dafür war diaspores. Und tatsächlich lebten sie zerstreut
über das ganze Imperium, in Syrien, Africa, Griechenland, Rom,
manche auch außerhalb des Reiches in Persien oder Arabien. Bei den
Juden im Heiligen Land waren die galuths nicht hoch
angesehen.
Efraim deutete ihr Schweigen richtig. »Das ist
nicht weiter schlimm. Wir sind es gewöhnt, Vergessene zu sein, und
ein wenig genießen wir diesen Status sogar. Warum kommst du nicht
einfach zum nächsten shabbat in unsere schöne Synagoge im
vierzehnten Bezirk und lernst uns kennen? Wir würden uns
freuen.«
»Das bezweifle ich.«
Efraim schüttelte bedächtig den Kopf. »Ich kann
nicht für alle römischen Juden sprechen, aber meine Gemeinde im
vierzehnten Bezirk wird dich mit offenen Armen empfangen. Du bist
nun eine von uns, ebenso wie schon bald dein Kind.«
»Siehst du, Rabban«, sagte sie, »genau das
ist der Irrtum.«
Berenikes überraschendes Eintreffen in Rom war für
Salome das Beste, was ihr passieren konnte. Berenike war ein
bekanntes Gesicht in der Fremde, denn obwohl Salome sowohl von
Antonia wie auch von Agrippa freundlich aufgenommen worden war,
konnte sie doch weder zur einen noch zum anderen eine vertraute
Beziehung aufbauen. Die Julierin konnte ganze Nachmittage hindurch
über die Übel der Zeit lamentieren, und das kostete Salome ebenso
viel Nerven wie das seichte, alberne Geplapper ihres Onkels. Mit
Berenike hingegen war eine Freundin aus längst vergangenen Tagen
zurückgekehrt.
Mit ihr konnte Salome viele wunderbare Gespräche
führen, denn sie teilten gemeinsame Erinnerungen. Die Kindertage im
Herodespalast wurden wieder lebendig, die Spiele an den Teichen,
die Ausflüge der Familie zu den Schafherden auf dem Hügel Garebs
und in die Haine von Hebron, wo Gott mit Abraham den Bund
eingegangen war, oder in die Gärten von Jericho, wo Herodes
künstliche Wasserkaskaden angelegt hatte. Auch die ersten Jahre in
Ashdod zogen noch einmal an ihnen vorüber, ihre ersten
schwärmerischen Gefühle, das Auftauchen Timons. Es tat Salome gut,
diese Zeit zusammen mit jemandem heraufzubeschwören, der sie selbst
miterlebt hatte.
Auf den ersten Blick schien ihre Freundin kaum
verändert. Sie war fröhlich und hübsch und beides so sehr, dass
Agrippa sich einige Tage lang auffällig bemühte, sie in seinen
Kreis von Spaßvögeln zu ziehen. Doch sogar er merkte schnell, dass
Berenike nicht die war, die sie zu sein schien. Auf Stunden der
Heiterkeit folgten bei ihr nicht selten Stunden melancholischer
Nachdenklichkeit, und Agrippa wollte wohl nicht das Risiko
eingehen, Berenike zu einer Gesellschaft oder einem Landausflug
mitzunehmen und seinen Freunden dann einen Trauerkloß zuzumuten.
Für Salome freilich waren die Anzeichen des wahren Gemütszustands
ihrer Freundin noch deutlicher: Berenike vermied es, über
Kephallion zu sprechen, und selbst in den Phasen ungezwungener
Fröhlichkeit blieben ihre Augen seltsam erloschen. An einem
Nachmittag jedoch brach alles aus Berenike hervor, und sie erzählte
Salome von den Verbrechen und Grausamkeiten Kephallions, den
Schlägen, Beleidigungen und Erniedrigungen, die er ihr zugefügt
hatte, und von seiner Unfähigkeit, Kinder zu zeugen, wofür er
jedoch sie verantwortlich machte.
Salome hatte geahnt, dass Berenikes Ehe mit
Kephallion kein Honigschlecken gewesen war, aber diese
Torturen hätte selbst sie ihm nicht zugetraut. Umso erstaunlicher –
und erfreulicher – war, dass Berenike nicht schwächer, sondern
stärker geworden war. An die frühere Berenike, die etwas naive,
ideenlose, leichtgläubige Frau mit ihrem seichten Geplapper
erinnerte fast nichts mehr. Sie hatte Kephallion aus eigener Kraft
besiegt, und die bitteren Jahre hatten sie glücklicherweise nicht
streng, sondern reif gemacht.
»Du warst mir ein Vorbild«, gestand Berenike. »Wenn
du mir nicht durch dein Beispiel gezeigt hättest, dass es besser
ist, zu widerstehen als hinzunehmen, würde ich wohl immer noch in
Nazareth von meinem Mann verprügelt werden.«
»Nicht doch! Nicht mir gebührt der
Verdienst.«
»Weißt du nicht, wie man dich mittlerweile in Judäa
hinter vorgehaltener Hand nennt? Die Löwin.«
Salome hatte in der Tat davon gehört, und sie
wusste nicht, ob es eine Beleidigung oder Anerkennung war, mit
einem Raubtier verglichen zu werden.
»Du bist die Löwin, Berenike. Du allein hast
den Mut aufgebracht, gegen deinen Mann aufzustehen.«
»Mit deiner Hilfe«, korrigierte Berenike. »Und der
von Menahem. Ich vermisse ihn.«
Das allerdings konnte Salome nicht nachvollziehen.
»Nach allem, was du mit einem Zeloten erlebt hast, trauerst du
bereits wieder einem anderen nach? Das darf doch nicht wahr
sein!«
»Menahem ist nicht wie Kephallion.«
»Das wäre ja auch noch schöner«, schimpfte Salome.
»Es reicht bereits, dass du für einen schwärmst, der denselben
abstrusen Ideen wie dieses Ungeheuer anhängt. Du bist zu
vertrauensselig, Liebes.«
»Und du zu misstrauisch. Du kannst ja kaum noch
einem Juden die Hand geben, nicht einmal Rabban Efraim, der
dir nun wirklich sehr entgegengekommen ist.«
Über diese Sache mochte wiederum Salome nicht gerne
reden, und genau das wusste Berenike, deswegen ließ sie nicht
locker. »Ich finde, du solltest Beziehungen zur römischen Diaspora
aufnehmen, Salome. Du kannst nicht verleugnen, wer du bist und
woher du kommst, das geht doch nicht!«
»Und ob«, trotzte Salome. »Ich bin nicht aus Judäa
weggegangen, um mich in Rom dem Willen der j üdischen Diaspora zu
fügen.«
»Wenn du dich wie Agrippa von den Juden absonderst,
werden die Leute denken …«
»Was sie denken, interessiert mich nicht mehr«,
erwiderte Salome scharf, und Berenike ließ seufzend von dem Thema
ab.
Doch sie gab ihren Plan, Salome mit ihren jüdischen
Brüdern und Schwestern zu versöhnen, nicht auf und unternahm wenige
Tage später erneut einen Versuch, indem sie von Salome einen
Gefallen erbat.
»Wozu, um alles in der Welt, soll ich dich morgen
in die Synagoge begleiten?«, fragte Salome.
»Weil ich mich dann sicherer fühle. Alles ist neu
für mich in Rom, so fremd.«
»Die Diener kennen den Weg.«
»Es geht um die Leute in der Synagoge, Salome,
nicht um den Weg. Alle werden wissen wollen, wer ich bin, woher ich
komme, ob ich verheiratet bin … Ich bin noch nicht soweit, Scharen
von Menschen Rede und Antwort zu stehen.«
»Warum gehst du dann hin?«
Darauf fiel Berenike nichts Passendes ein, außer
die Beleidigte zu spielen. »Zum ersten Mal seit zwanzig Jahren
bitte ich dich um einen winzigen Gefallen, und du musst so lange
quengeln und sticheln, bis ich … bis ich …« Sie rannte davon – und
erreichte ihr Ziel. Salome bekam ein schlechtes Gewissen und
versprach, sie am nächsten Tag in die Synagoge zu begleiten, obwohl
sie hochschwanger war und sich unwohl fühlte.
Die Synagoge des vierzehnten Bezirks Transtiberim
lag, wie der Name des Bezirks schon besagte, jenseits des Tiber im
Westen Roms. Mehrere kleine Häuser am Fuße des Hügels Ianiculum
waren zu einem einzigen zusammengebaut worden, so dass ein kleiner
Innenhof entstanden war, in dem eine hohe Palme wuchs. Ihr Samen
war vor einer Generation aus Judäa mitgebracht und hier
eingepflanzt worden, und die Erde um sie herum stammte aus Idumäa,
Samaria, Peräa, Galiläa und den anderen Teilen des Gelobten Landes.
Auch aus dem Lande Dan, rund um Philippi, war ein Beutel Erde
beigemischt. Der Hof und die Räume um ihn herum waren voller
Menschen, die miteinander schwatzten und lachten. Traditionell
waren Synagogen nicht bloße Bethäuser, sondern Mittelpunkte des
gesellschaftlichen Lebens einer Gemeinde, aber Salome hatte das
Gefühl, dass es in dieser Synagoge besonders fröhlich zuging.
Die nächste Überraschung erlebte sie, als Efraim
sie und Berenike in einen Raum führte, in dem ein Duft süßen
Zitronentees sie begrüßte, der sich angenehm mit dem von
Mandelbroten und geschmorten Äpfeln vermischte. Die eigentliche
Sensation war, dass die Erfrischungen von Frauen und Männern
gereicht wurden. In Judäa undenkbar.
Die Leute gingen sofort auf Salome und Berenike zu,
und binnen weniger Atemzüge hatten sie die Bekanntschaft von zwei
Weberinnen, einem Töpfer und einem Parfümhersteller gemacht, die
alle durcheinander redeten, bis Salome schwindelte. Nach drei
Kelchen Zitronentee und zwei Stücken Mandelkuchen ebbte das
Geplauder ab, und die Leute versammelten sich im angrenzenden Raum,
wo sie sich auf gemütlichen Bodenkissen niederließen. Salome
erwartete eine Predigt und wollte innerlich bereits die Ohren
verschließen, doch nichts dergleichen geschah. Wem danach war, der
konnte sich erheben und etwas sagen, was die anderen kommentieren
konnten oder auch nicht. Eine Frau stand auf, sah Salome an,
lächelte und sagte: »Es ist keine Sünde, sich seines Lebens zu
erfreuen, solange diese Freude aus dem tiefsten Innern kommt.«
Zustimmendes Gemurmel ertönte von allen Seiten. Ein Mann erhob
sich, blickte sie ebenfalls an und sagte: »Diejenigen, die Häme und
Fluch schicken, werden in Schimpf und Schande untergehen. Allein
der Herr verurteilt und spricht frei.« Und eine dritte Frau meinte:
»Wenn die Menschen häufiger auf ihr Herz hören würden und weniger
auf die Zungen von anderen, gäbe es weniger Feindschaft in der
Welt.«
Einer nach dem anderen stand auf und sagte etwas,
und bei jedem fühlte Salome, dass die Worte an sie gerichtet waren,
Worte des Trostes und des Rückhalts. Auch für Berenike gab es
Unterstützung, denn ihr Schicksal hatte sich herumgesprochen und
berührte die Leute. Sie beide waren in dieser Stunde von Freunden
umgeben.
Irgendwann trat Rabban Efraim nach vorne und
kündigte ein Prosagedicht an. Solche pijutim, die wahlweise
gesprochen oder gesungen werden durften, waren sehr beliebt in
Synagogen. Üblicherweise, das wusste Salome, trug sie der
chasan vor, der Vorbeter, doch an diesem Tag musste es sich
wohl anders verhalten, denn eine Frau trat an Efraims Seite und
sang das Gedicht. Ihre wundervolle Stimme füllte die gesamte
Synagoge aus und mischte sich mit dem Gesang der Vögel, der von
draußen kam. Das pijut war erstaunlich lang, aber Salome
genoss jeden Moment davon. Sie hätte es nie für möglich gehalten;
sie fühlte sich tatsächlich wohl unter dem Dach der Synagoge.
Nach dem Ende des Gedichts, als alle sich erhoben
und in den Innenhof strömten, wo Efraim sie verabschiedete, ging
Salome zu der Frau und lobte sie für die Schönheit der Strophen und
der Stimme.
»Aus dem Mund einer Frau klingen solche
pijutim viel innerlicher und poetischer«, fügte sie hinzu.
»Gut, dass in dieser Synagoge nicht nur die Vorbeter singen.«
»Oh, das ist ein Missverständnis«, sagte die Frau.
»Ich bin Vorbeter.«
Diese Neuigkeit raubte Salome fast den Atem. In
Judäa wären Tumulte entstanden, wenn dort eine Frau zum
chasan gemacht worden wäre. Doch hier schien so etwas
selbstverständlich zu sein.
»Bis auf das Amt des Rabban«, fügte Efraim
erklärend hinzu, »kann eine Frau so gut wie jede Aufgabe in der
Gemeinde übernehmen, nicht nur bei uns im vierzehnten Bezirk,
sondern in ganz Rom. Soweit ich weiß, trifft das auch auf die
Gemeinden in Africa und Hispanien zu.«
Salome war ehrlich beeindruckt, und nun schämte sie
sich, dass sie Efraim kürzlich so angefahren hatte. Der
Rabbiner schien es ihrer Miene anzusehen.
»Wir freuen uns, wenn wir Menschen durch unser
Verhalten angenehm überraschen – und dadurch anleiten, es uns
nachzutun. Wir möchten fröhliche Gesichter sehen, Fürstin, keine
beschämten.«
Sie verstand den Wink und strahlte ihn an. »Darf
ich dich und die chasan für heute Abend in mein Haus
einladen«, sagte sie. »Ich möchte euch so gerne …«
Sie verspürte einen plötzlichen Schmerz und beugte
sich nach vorne. Berenike und Efraim mussten sie auffangen und auf
den Boden legen. Krämpfe schüttelten Salome. »Das Kind«, sagte
Berenike. »Es ist so weit.«
»Ich hole einen Arzt«, bot Efraim sofort an und
rannte aus der Synagoge. Schon nach wenigen Augenblicken kam er mit
einem der Gäste zurück, die zuvor der Versammlung beigewohnt
hatten. Der Arzt tastete Salomes Bauch und Becken ab, dann sagte
er: »Das Kind liegt falsch. Es könnte sein, dass ich …« Er sah
Efraim an und sprach leiser weiter. »Dass ich nicht beider Leben
retten kann.«
In einem solchen Fall war die Entscheidung im
Grunde schon getroffen. Die Erhaltung bestehenden Lebens galt im
jüdischen Glauben als oberstes Prinzip, und bei einer schweren
Geburt war die Tötung des Kindes ausdrücklich erlaubt und durch die
heiligen Schriften gedeckt.
»Wir dürfen kein Risiko eingehen«, sagte
Rabban Efraim.
»Nein«, schrie Salome. Ihr Gesicht war rot, und
Schweißperlen standen ihr auf der Stirn. »Nein, das will ich nicht.
Rettet das Kind, ich bitte euch. Es ist … sein Kind. Es muss leben.
Es muss …«
Sie verlor das Bewusstsein.
»Was sollen wir nun tun?«, fragte der Arzt.
»Du hast es gehört«, mischte Berenike sich ein.
»Sie möchte, dass das Kind lebt, Glauben hin oder her.«
»Mir ist nicht erlaubt …«
»Es geht hier um den Willen der Mutter«, unterbrach
ihn Berenike mit Tränen in den Augen. »Wenn sie ihr eigenes Leben
geben will, um das des Kindes zu retten, so ist das allein ihre
Entscheidung.«
»Es ist auch meine«, erwiderte der Arzt. »Denn ich
bin es, der dieses Leben auf sich nimmt.«
Efraim hatte zwischenzeitlich das Für und Wider
abgewogen. Nun legte er dem Arzt die Hand auf die Schulter und
sagte: »Es ist Gott allein, der Leben nimmt und gibt. Überlassen
wir ihm die Entscheidung.«
»Und wenn beide sterben?«
»Leite die Geburt ein«, riet Efraim. »Alles andere
geschieht, wie es geschehen muss.«