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Durch den Königspalast zog ein leichter Wind, der
nach Frühling roch, und Salome lugte, nachdem sie die Gemächer
ihrer Eltern verlassen hatte, zwischen zwei Säulen hindurch in den
zartblauen Morgenhimmel. Von welchem Gang, welcher Säulenhalle und
welcher Balustrade des erhöht stehenden Palastes man auch blickte,
immer sah man in die Weite der Welt, und das gefiel Salome. Nach
Norden, Süden und Osten dehnte sich die Stadt Davids und Salomos
aus, die heute die Stadt des Herodes, ihres Großvaters, war: die
Heilige Stadt Jerusalem. Aus der Menge der braunen und gelben
Häuser ragten vereinzelt halbrunde Theater und ein ovales
Amphitheater auf, ein Hippodrom, der Hügel Golgatha, die Festung
Antonia und gleich daneben – alles überragend und gar nicht weit
vom Palast entfernt – der Tempel des Einen Gottes, der in seinem
weißen Marmor glänzte, als sei er aus Licht erbaut. Und diese
ganze, wunderbare Stadt wurde von einer Mauer eingefasst wie ein
Juwel von einem silbrigen Reif. Tausende Händler saßen am Rand der
ungepflasterten Gassen und boten in großen Säcken ihre Waren feil:
Weihrauch, Myrrhe und Zimt, Getreide, Feigen und Sharonfrüchte, Öl
und Honig … An warmen Tagen zogen die Düfte bis zum Palast
hinauf.
Nach Westen hingegen erstreckte sich die teils
steinige, teils von Zedern bewaldete Hügellandschaft, die kein Ende
zu haben schien. Von den Karten, die manchmal im Palast herumlagen,
wusste Salome jedoch, dass sich irgendwo hinter diesen steinernen
Wellen ein blaues Meer verbarg und dass sich an dessen Ufer Städte
wie Perlen auf einer Schnur reihten, eine jede mit einem schöneren
Namen als die andere: Askalon, Ashdod, Apollonia … Jeden Morgen
verschwanden zwei oder drei Kamelkarawanen hinter den Hügeln, und
nicht selten wünschte Salome, mit ihnen bis zum Meer reisen zu
können.
Mehrere laute Trompetenstöße ließen Salome
zusammenzucken. Nicht das Geräusch erschreckte sie, sondern seine
Bedeutung. In diesem Moment wurde einem Lamm im Innenhof des
Tempels die Kehle durchschnitten, sein Blut von den Priestern
aufgefangen und der Altar damit bespritzt. Der Gedanke daran, dass
eines der niedlichen Tiere, die sie auf Ausflügen in die Umgebung
stets umarmte, vor Angst schreiend auf einem Marmorblock
festgehalten wurde und in dem Moment verstummte, wo ihm der Schnitt
… Ein weiterer Trompetenstoß erschallte. Sie hielt sich die Ohren
zu, und als sie die Hände sinken ließ, hörte sie die Psalmgesänge
der Gläubigen vom Tempel wie ein dunkles Murmeln
herüberhallen.
Heute war passah, der Gedenktag zur
Befreiung der Juden von der ägyptischen Knechtschaft. Jerusalem war
voller Pilger, ebenso die Höfe des Tempels bis zu den Ausgängen.
Aus ganz Judäa strömten die Juden herbei, auch aus Persien,
Ägypten, Syrien und Armenien. Über der Heiligen Stadt trieb der
schwere, modrige Gestank des Fettes, das den Lämmern entnommen
worden war und nun in offenen Feuern verbrannte.
Salome verzog ein wenig den Mund. Diesen Teil des
Feiertages mochte sie nicht. Erst heute Abend, wenn die große
Familie zum Festschmaus zusammenkam, beschwingte Musik aufgespielt
wurde, alle durcheinander redeten und Kinder wie sie mit kleinen
Gaben beschenkt wurden, würde sie passah wieder mögen.
Zwischen Mandelgebäck, ungesäuertem Brot, Fruchtmus und gedünstetem
Huhn mit Datteln ließen sich die Geschenke genießen. Nur das
gekräuterte Lamm rührte sie nie an, allem Drängen ihres Vaters zum
Trotz.
Sie blickte sich um, sah aber niemanden. Herodes,
der großen Versammlungen stets misstrauisch gegenüberstand, hatte
fast seine gesamte Palastgarde auf die Straßen der Unterstadt
geschickt, und die Familie und die Bediensteten nahmen zum großen
Teil an den Zeremonien teil, so dass Salome sich ziemlich allein
vorkam. Nur ihre Mutter hatte sich lustlos in ihre Gemächer
zurückgezogen.
Doch das war kein Problem. Im Palast des Herodes
gab es reichlich Möglichkeiten, sich die Zeit zu vertreiben. Da
waren Fischteiche, deren bunten Bewohnern Salome stundenlang
zuschauen konnte, Ölbäume zum Klettern, weite Säulenhallen und
unheimliche, endlose Kellergewölbe zum Versteckspielen. Mit wem
Salome sich die Zeit vertrieb, konnte sie vorher nie wissen. Sie
streifte einfach durch die vielen Gänge und Hallen, bis sie ein
anderes Kind traf. Ob es nun ein entfernter Vetter war, die Tochter
eines Beamten oder der Enkel der alten Waschfrau, spielte dabei
keine Rolle. Sie durchschaute die Familienverhältnisse und den
unübersichtlichen, riesigen Palast nicht und hatte keine Ahnung,
mit wem sie sich die Zeit vertrieb. Heute war es anders, denn sie
traf auf Berenike, ihre liebste Gefährtin. Berenike war irgendwie
mit ihr verwandt.
»Komm mit«, rief ihre gleichaltrige Freundin fast
atemlos und zupfte sie am Ärmel ihrer Tunika. »Da vorne passiert
etwas!«
»Was denn? Wo denn?«, fragte Salome erfreut, denn
sie vermutete ein außergewöhnliches Ereignis, und die waren ihr
immer die liebsten.
»Kann ich nicht sagen.« Berenike schüttelte
betroffen den Kopf. »Du musst selber sehen.«
Salome rannte an der Balustrade entlang, so schnell
sie konnte.
»Warte!«, rief Berenike und versuchte, ihr zu
folgen. »Nicht so rasch, Salome. Du sollst dich doch nicht
anstrengen.« Wie fast immer, mahnte sie vergeblich.
Als sie an einer Ecke angelangt waren, von wo aus
sie einen besonders guten Blick auf den Tempel des Einen Gottes
hatten, streckte Berenike den Arm aus und rief: »Da!«
Salomes Blick folgte der Richtung. Über dem Tor,
das zum Inneren Bezirk des Tempels führte, hatte, seit Salomes
Großvater König geworden war, ein bronzener Adler geprangt, doch
nun waren drei Männer dabei, ihn mit schweren Hämmern und
Schwertern zu zerschlagen. Sie schienen nicht in königlichem
Auftrag zu handeln, denn ein Dutzend Wachen stürmte heran, und es
kam zu einem kurzen Gefecht, bevor die Männer überwältigt wurden.
Die Hälfte des linken Adlerflügels, eine Kralle und der Schnabel
lagen zertrümmert am Boden, der Rest war nur noch ein Mitleid
erregendes Überbleibsel der Größe und Macht, die der schwere,
dunkle Vogel zuvor verkörpert hatte.
Salome war ein wenig enttäuscht. Wofür hatte sie
sich dermaßen abgehetzt? Sie keuchte schwer, und alle paar Atemzüge
musste sie kurz und trocken husten. Seit sie denken konnte, erging
es ihr so, egal, was man dagegen unternahm. Die Ärzte mit den
langen Bärten konnten ihr ebenso wenig helfen wie die Priester mit
den noch viel längeren Bärten. Nicht anstrengen, nicht aufregen,
das war das Ergebnis der Weisheit eines Dutzends Gelehrter. Ihre
Eltern nahmen es hin. Als Prinzessin von Judäa musst du dich nicht
anstrengen, und als Frau nicht aufregen, mahnte ihr Vater sie
manchmal. Doch Salome wollte das Gegenteil. Sie wollte sich
anstrengen, sie wollte sich aufregen. Sie hatte ein Recht
darauf, und nur weil ihr dieses Recht von Gott oder sonstwem
verwehrt wurde, war sie nicht bereit, darauf zu verzichten.
Die drei Männer wurden von den Soldaten abgeführt.
Alles war viel zu schnell vonstatten gegangen, fand Salome, und
schlimmer noch, sie verstand überhaupt nicht, was vonstatten
gegangen war.
»Schön«, sagte sie und sah Berenike unschlüssig an.
»Ein toter Vogel liegt nun noch toter am Boden. Und was
jetzt?«
Berenike schüttelte die dunklen Locken, die Salome
manchmal an die Garnrollen von Schneiderinnen erinnerten. Jedes
Haar auf Berenikes Kopf schien seinen festen, vorbestimmten Platz
zu haben, und Salome war froh, dass ihre eigenen schwarzen Haare
viel zu dünn dafür waren, denn ihre Mutter hätte sie sonst ebenso
herrichten lassen. So durfte sie sie nach hinten kämmen und dort
mit einem farbigen Seidenband zusammenbinden. Am liebsten hätte sie
die Haare zwar offen getragen, aber ihre Mutter meinte, dann würde
sie noch elender aussehen als ohnehin, und verbot es.
»Das war nicht einfach ein Adler«, wusste Berenike
zu berichten. »Mein Vetter Kephallion sagt, Großvater hat ihn dort
aufhängen lassen. Der Adler versinn … versinnbild …« – Berenike
versuchte angestrengt, sich an den genauen Wortlaut zu erinnern –
»ver-sinn-bild-licht die römische Präsenz.«
Das mochte stimmen. Wann immer die Familie zum Mahl
beisammen saß – jede Woche zum Ruhetag, dem shabbat, und an
den wichtigsten anderen Feiertagen -, schwärmte Herodes von seiner
Freundschaft mit dem Octavianus Augustus, dem Herrn des Römischen
Imperiums. Dieser hatte die Dynastie des Herodes sogar ehrenhalber
in die julische Herrscherfamilie aufgenommen, und einige seiner
Verwandten stellten die Paten für Mitglieder der herodianischen
Familie. Über formelle briefliche Höflichkeitskontakte gingen diese
Patenschaften zwar nie hinaus, die symbolische Bedeutung war
dennoch nicht zu unterschätzen.
»Mein Vetter Kephallion sagt außerdem«, erklärte
Berenike weiter, »dass Herodes unser Land Judäa verrät, wenn er
einen römischen Adler vor den Tempel hängt. Fast alle Juden hassen
unseren Großvater deswegen, und auch, weil er sich in vielen Dingen
nicht an die vorgegebenen Gebräuche unserer Ahnen hält. Wo wir hier
wohnen, das ist kein jüdischer Hof, sondern eigentlich ein
römischer. Und das ist nicht im Sinne unseres Herrn, sagt mein
…«
Salome zog eine Grimasse. »Mein Vetter Kephallion,
mein Vetter Kephallion. Immer dasselbe.«
Berenike senkte traurig den Kopf, und Salome tat es
sofort Leid, dass sie ihrer Freundin wehgetan hatte. Wenn Berenike
nur nicht ständig alles nachplappern würde, was sie von ihrem zwei
Jahre älteren Vetter vorgesagt bekam.
»Jedenfalls«, meinte Salome, »ist das noch kein
Grund, den schönen Adler kaputtzuschlagen.«
»Doch, der Adler ist eine bildliche Darstellung,
und Darstellungen sind uns Juden von Gott nicht erlaubt worden,
sagt mein … habe ich gehört«, berichtigte Berenike.
Hinter einer Ecke kam eine Gruppe Männer hervor,
denen Herodes voranging. Offenbar hatte er wegen des Vorfalls die
Zeremonien im Tempel verlassen. Der König musste sich auf einen
Sklaven stützen, um bei seiner schweren Gestalt noch selbst gehen
zu können. Er verzog schmerzhaft das Gesicht, biss die Zähne
zusammen und kniff bei jedem Schritt die Augen zu. Nur die Kraft
seiner Stimme hatte er noch nicht eingebüßt.
»Ich will, dass die drei Lumpen auf der Stelle
hingerichtet werden«, rief er. »Sie sollen hängen, so dass es alle
sehen. Keine Gerichtsverhandlung, das ist nicht nötig, denn ihr
Verbrechen ist das schlimmste überhaupt und bedarf keines
Beweises.«
Einer der Schreiber sah den König erwartungsvoll
an.
»Hochverrat, du Narr«, schrie Herodes, sichtlich
empört, dass er das schlimmste aller Verbrechen überhaupt benennen
musste. »Was sie getan haben, war kein Anschlag auf den Tempel, es
war ein Anschlag auf mich. Verschwörer allesamt, Abtrünnige,
Eidesbrecher, Aufrührer …« Herodes unterbrach die Aufzählung der
Eigenschaften der drei Zerstörer des Bronzeadlers und hielt inne.
Fast hätte er die beiden Mädchen übersehen.
Mühsam humpelte Herodes einige Schritte zurück und
baute sich vor Salome und Berenike auf. Er beugte sich zu den
Mädchen hinab und richtete sich dann wieder auf. »Joazar«, rief
er.
Der Hohepriester löste sich aus der Mitte der
Gruppe und trat neben Herodes. Wie immer in solchen Momenten
bildeten sich kleine Schweißperlen auf seiner Stirn. »Ja, mein …«
Er räusperte sich, um weiterreden zu können. »Ja, mein
König?«
Herodes sah den Hohepriester an, was diesen noch
nervöser machte, und deutete fragend zu Salome und Berenike
hin.
Jetzt verstand Joazar. »Oh, die mit dem Haarband
ist deine Enkelin, Theudions einziges Kind. Und die mit den Locken
ist die Enkelin deines verstorbenen Bruders, mein König.«
»Sie wird einst eine hübsche Frau werden«, bemerkte
Herodes. Er ließ offen, welche von beiden Mädchen er meinte, doch
die meisten konnten es sich denken. Berenikes Gesicht war wie aus
Elefantenholz geschnitzt, auffallend hell, glatt und schimmernd,
ihre Augen groß und zauberhaft, ihre Bewegungen schon in diesem
zarten Alter frauenhaft anmutig. Salome hingegen sah immer aus, als
habe sie gerade eine schlimme Krankheit überstanden. Ihr Haar
schien auf dem Kopf festgeklebt, ihre Haut zeigte bisweilen rote
Flecken, und ihre ganze Erscheinung wirkte unschön. Ihr Blick aus
geröteten Augen flatterte meist unruhig umher, so dass es schien,
sie wolle unsichtbare Schmetterlinge einfangen. Das Einzige, was
die beiden Mädchen äußerlich gemeinsam hatten, war ihre etwas zu
große, typisch herodianische Nase, deren Wurzel weit oben an der
Stirn lag, und die schlanke Figur.
Herodes nickte zufrieden: »Wenn ich noch drei Jahre
hätte, würde ich sie zur Frau nehmen.«
Hier hätte Joazar sofort protestieren müssen, denn
nach mosaischem Gesetz waren Verbindungen mit Enkelinnen verboten.
Den König jedoch kümmerte das mosaische Gesetz wenig, umso mehr
kümmerte Joazar sein eigenes Leben, und er beschränkte sich daher
auf ein kaum sichtbares Heben seiner Augenbrauen. »Und welche, mein
König?«
Herodes lächelte, was in den letzten Jahren äußerst
selten geworden war. »Diejenige, die weniger Ärger macht«, rief er,
woraufhin die Männer einheitlich lachten. »Frauen sind nicht dazu
gemacht, Ärger zu stiften. So würde ich also die mit den Locken
nehmen. Sie ist vielleicht ein wenig zu vornehm, doch so sind
Frauen nun einmal, wenn sie einen prachtvollen Körper haben. Die
andere – das sehe ich auf einen Blick – ist wie ihr Vater. Die
macht nur Kummer, die würde ich nicht wollen. Außerdem sieht sie
unheimlich aus, findet ihr nicht? Als wäre etwas in ihrem Kopf
nicht in Ordnung.«
Erneut brach die Gefolgschaft in Gelächter aus, das
Herodes sichtlich genoss.
»Ich würde dich auch nicht wollen«, sagte Salome
unbekümmert und verstand überhaupt nicht, weshalb die Miene ihres
Großvaters sich plötzlich wieder verdunkelte.
»Du unverschämte Göre. Weißt du nicht, dass sich so
eine Bemerkung nicht für dich geziemt?«
Salome kannte die Bedeutung des letzten Wortes
nicht, wollte es aber vor Berenike, die so viele Begriffe wusste,
nicht zugeben. Daher antwortete sie diplomatisch: »Ich habe nur
dasselbe getan wie du, Großvater. Das kann doch nicht falsch
sein.«
Einige Männer lachten nun auch über diese
Bemerkung, und das brachte Herodes noch mehr auf. Er zog Salome an
ihrem Ohr heran und rupfte ihr mit der anderen Hand an den Haaren.
»Da siehst du, was bei uns mit vorlauten Frauen gemacht wird. Ich
sollte dir deine hässlichen dünnen Haare abscheren lassen und
…«
Herodes hielt plötzlich inne, krümmte sich und
fasste sich an den Bauch. Durch sein Gewand drang Blut. »Das
Geschwür ist wieder aufgeplatzt«, rief Joazar und winkte den Arzt
herbei. »Bringt den König in den Schlafraum. Rasch.« Salome wurde
zur Seite geschubst. Die Beamten ließen Pergamente und Federn
fallen und stützten den König, manche riefen Befehle, andere stoben
davon. Herodes krallte seine Hände in die Schultern und Arme derer,
die ihn so vorsichtig wie möglich auf die weißen Kacheln des
Palastbodens legten. Er war jetzt kaum noch Herr seiner Stimme,
doch schließlich brachte er einige verkrampfte Laute hervor.
Während Berenike ängstlich zurückwich, trat Salome
näher an den König heran. Sie sah, wie sein Blick in alle
Richtungen flackerte und der Mund Worte zu formen suchte. »Ich …
ich will …«, stammelte er in das Durcheinander um ihn hinein.
Joazar hielt sein Ohr dicht an sein Gesicht und wich im nächsten
Moment wieder zurück. Mit einer Urgewalt, die ihm in diesem Moment
niemand zugetraut hätte, rief der König: »Richtet die drei
Verschwörer hin. Sofort. Sie sollen sterben, bevor ich selbst
sterbe.« Dann kamen Sklaven mit einer Trage und brachten Herodes
fort.
Salome und Berenike sahen den Männern nach, die
zwischen Säulen und Pilaster verschwanden. Schnell wurde es wieder
friedlich, und nur das Gezwitscher der Vögel erfüllte die
Frühlingsluft.
»Er tut mir Leid«, sagte Berenike mit belegter
Stimme. »Wir sollten für ihn beten.«
Salome wunderte sich über dieses Mitleid. Alles,
was sie bisher bei ihrem Großvater erlebt hatte, waren
Wutausbrüche, Flüche und Trunkenheit. Außerdem, so hatte sie
erfahren, hätte er sie beinahe umgebracht, damals, kurz nach ihrer
Geburt, und die Vorstellung, dass der dicke, jähzornige Mann
bereits den Dolch über sie gehalten hatte, machte ihn in ihren
Augen nicht sympathischer. Alle Menschen hatten Angst vor ihm, die
Familie, die Priester, die Diener und das Volk, einfach jeder. Nur
ihr Vater nicht, der Herodes widersprach, wo er konnte. Für
Theudion gab es nur die Thora, das Buch Gottes, die ihm Licht und
Luft war. Kein Geld und kein Mensch und nicht einmal sein eigenes
Leben bedeuteten ihrem Vater so viel wie die Worte des Herrn, die
er in sorgfältig zusammengelegten Schriftrollen in einer schweren
Truhe aufbewahrte.
»Ich werde nicht für Großvater beten«, entgegnete
Salome und fragte seufzend beim nächsten Atemzug: »Was wohl aus den
drei Männern wird, die den Adler abgeschlagen haben?«
»Sie werden aufgehängt«, erwiderte Berenike. »Das
ist die Strafe für Hochverrat, sagt mein Vetter Kephallion.«
Salome sah Berenike ebenso verwundert wie verärgert
an. »Wieso weiß Kephallion so viele Dinge und ich nicht?«
»Er bekommt Unterricht.«
»Den will ich auch.«
Berenike kicherte amüsiert. »Du bist doch kein
Junge, Salome. Nur Jungen bekommen Unterricht von den
Rabbinern. Das ist« – Berenike überlegte scharf – »Tradi …
Tradition.«
Salome kniff die Lippen zusammen, bis sie bleich
wurden.
»Das werden wir ja sehen«, rief sie und rannte
davon.
Zur gleichen Stunde lag Herodias auf der römischen
Marmorbank und nippte bei jedem Atemzug an dem Wein, auf dessen
Oberfläche weiße Rosenblüten schwammen. Sie stützte ihren Kopf in
die rechte Hand und betrachtete abwechselnd die Spiegelungen im
Wein, die verschönernde Arbeit der Sklavin an ihren Füßen und den
polierten Glanz des Marmorbodens. Sie hatte schon vor geraumer Zeit
alle Webteppiche aus dem Gemach entfernen lassen, obwohl Theudion,
ihr Gemahl, diese als jüdische Handwerksarbeit sehr schätzte. Doch
ihr waren sie zu rustikal, zu gemein. Sie war doch keine
Beduinenfrau oder Krämersgattin, sie war eine Prinzessin von
Judäa!
Ihr Blick fiel auf eine Stelle an der Wand, und sie
fragte sich, ob sich nicht genau dort ein großer, silberner
Wandteller gut machen würde, vielleicht mit einem Spiegel darin.
Doch selbst wenn, dachte sie und seufzte leise, die Summe, die
Theudion für ihren Unterhalt von seinem Vater bekam, reichte hinten
und vorne nicht.
Sie leerte den noch halbvollen Kelch in einem Zug
und schluckte auch die drei Rosenblütenblätter hinunter. Hieß es in
Ägypten nicht, Rosen könnten Schönheit verleihen? Sie versuchte,
den Kelch auf dem kleinen Tisch neben der Bank abzustellen, doch
ihr Arm war zu kurz, und so ließ sie den Kelch einfach fallen. Die
Sklavin hob ihn auf, ohne dass Herodias ein Wort hätte sagen
müssen. Herodias drehte sich auf der Bank herum und stützte den
Kopf nun in die Linke.
»Ich war mit dem einen Fuß noch nicht ganz fertig,
Herrin«, sagte die Sklavin.
In einem Tonfall, als sei sie kurz vor dem
Einschlafen, antwortete Herodias: »Wen kümmern schon meine Füße? Es
sieht sie ja doch keiner.«
»Sagtest du mir vor einigen Tagen nicht, Herrin,
dass eine deiner Schwägerinnen dich heute besuchen wird?«
Herodias merkte auf. Tatsächlich, die Sklavin
sprach die Wahrheit. Die junge Frau des Antipas würde heute ihren
Anstandsbesuch bei ihr absolvieren. Sie stammte aus dem
benachbarten Wüstenland Nabatäa, eine arabische Heidin also, sehr
schön, doch ein wenig zu dürr, fand Herodias. Außerdem ließ ihr
Geschmack, was Kleidung betraf, sehr zu wünschen übrig. Herodias
erhob sich. »Lass das mit den Fußnägeln«, befahl sie der Sklavin.
»Lege mir die blassgelbe Tunika und das mit Perlen besetzte Tuch
heraus. Während ich mich anziehe, steckst du mir die Haare auf.
Aber höher als sonst, hörst du?«
Beim Namen des Unaussprechlichen Gottes, sie würde
ihrer Schwägerin zeigen, wer die schönste Frau des Palastes war. Es
reichte schon, dass diese neue Wichtigtuerin größere Gemächer als
sie bewohnte. Neun Räume, unglaublich! Dazu kam, dass die Beamten
sie besonders untertänig behandelten und jeden ihrer Wünsche binnen
Stunden erfüllten, während Herodias manchmal zwei Tage darauf
warten musste. Dabei war dieses Weib eine Fremde und nur durch
Heirat mit dem drittältesten Sohn des Herodes eine Prinzessin
geworden, während sie schon von Geburt an zur herodianischen
Familie gehörte und außerdem die Frau des zweitältesten Sohnes war.
Die neun Räume hätten eigentlich ihr zugestanden, stattdessen
musste sie sich mit sieben zufrieden geben.
Im Schlafgemach stellte Herodias sich vor das
Spiegelglas und hielt sich das Kleid vor. Zarte Töne standen ihr
besonders gut, denn ihre rosige Haut, ihr leicht rundlicher Körper
und die seidig rotblonden Haare würden von kräftigen Farben nur
unvorteilhaft erdrückt. Sie wusste, dass ein Kleid immer nur ein
Diener sein sollte, dazu erschaffen, die Schönheiten, Verlockungen
und Rundungen ihres Körpers zu betonen. In dieser zartgelben,
anschmiegenden Seide war sie für jeden Mann begehrenswert, und
genau das wollte sie ihre Schwägerin wissen lassen. Rasch strich
sie noch ein wenig von dem sündhaft teuren persischen Karmesin auf
die Lippen, denn diese waren allzu schmal und bedurften eines
deutlichen Akzents, und dabei übte sie mit ihren Kulleraugen den
treuherzigen Blick, mit dem sie ihre Schwägerin empfangen
würde.
»Was tust du da?«
Herodias wandte sich nicht zu ihrem Mann um, der
unbemerkt hereingekommen war, sondern schenkte ihm nur einen Blick
durch das matte Spiegelglas. »Ich nenne es Schönheit schaffen«,
erklärte sie.
»Und ich nenne es Falschheit. Hör auf damit.«
Herodias’ Lippen zitterten. »Warum? Was soll ich
denn den lieben langen Tag sonst tun, außer mich pflegen?«
»Du könntest mir einen Sohn schenken«, schlug ihr
Theudion mit harter Stimme vor. »Dazu bist du offenbar nicht in der
Lage – oder willens. Also hast du auch keine Schönheit verdient.«
Er riss ihr das Gewand aus den Händen und trat mit seinen Sandalen
darauf herum, bis es schmutzig und zerrissen war. »Jetzt kannst du
es flicken, du wolltest doch etwas tun.«
Theudion setzte sich, ohne sie weiter zu beachten,
an den Schreibtisch, nahm sich Pergament und begann zu schreiben,
wie er es jeden Morgen bis zum frühen Nachmittag tat. Er
beschäftigte sich mit nichts und niemand anderem als der
thora. Die Abschrift, an der er derzeit saß, war seine
vierundachtzigste.
Herodias hob das zerstörte Gewand auf und wischte
damit ihre Tränen von den Wangen. Verlangte sie denn zu viel, wenn
sie schön sein wollte? War es eine Sünde, sich Zufriedenheit zu
wünschen? Und lag es denn an ihr, dass sie keine Kinder mehr bekam
nach diesem grauenhaften Erlebnis bei Salomes und des toten Knaben
Geburt? Am Tage begehrte sie nichts sehnlicher als ein weiteres
Kind, um das sie sich kümmern konnte, das ihr ein wenig Abwechslung
in den luxuriösen, aber immer gleichen Alltag des Palastes bringen
würde, und in der Nacht, wenn Theudion auf ihr lag und sich mühte,
wenn er ihr einen Klaps versetzte und »Streng dich an« rief,
träumte sie von anderen Männern. Ganze Arenen voll von stämmigen,
schamlosen, lüsternen Männern waren ihr im Schlaf bereits begegnet,
und sie hatte sich unter ihrem Eindruck bisweilen dermaßen im Bett
geräkelt, dass Theudion schon misstrauisch geworden war. Die Träume
waren stärker als sie, sie konnte sie nicht kontrollieren. Mit
einem Mann badete sie nackt in Wannen voll Gold und Perlen, mit
einem anderen trieb sie es auf dem Thronschemel des Königs und mit
einem dritten gar im Allerheiligsten, im Zentrum des Tempels, wo
die Bundeslade stand, das Geschenk Gottes an die Israeliten. Das
waren frevlerische Träume, gewiss, doch seit kurzem schämte sie
sich ihrer nicht mehr. Sie waren ihre letzte Freude.
»Vater, Mutter«, rief Salome und stürmte in das
Gemach hinein. »Ich weiß etwas, das euch interessiert, ganz
bestimmt.«
»Wie du wieder aussiehst.« Herodias schüttelte den
Kopf. Dass Salome sich nicht unwohl fühlte, so wie sie herumlief.
Gewiss, sie konnte ja weder etwas für ihre Hautausschläge noch für
die reizlosen Haare und den bei der geringsten Anstrengung
auftretenden Husten, mit dem sie spätestens in sechs Jahren jeden
Mann vergraulen würde. Aber wie Herodias immer sagte: Selbst einem
Olivenstumpf kann man noch ein hübsches Kleid überziehen und damit
Würde verleihen. Ihrer Tochter jedoch schien es gleichgültig zu
sein, wie sie auf andere wirkte. »Deine Tunika ist verrutscht. Du
hast auch die falschen Sandalen dazu an. Und das Seidenband hängt
lustlos wie ein Trauerflor an deinem Haar herunter. Hat dich jemand
in diesem Aufzug gesehen?«
»Berenike. Und Großvater.«
Herodias wechselte einen stummen Blick mit ihrem
Mann. Seit Monaten stieg die Spannung, denn Herodes’ körperlicher
Verfall war offenkundig, und es wurde gemunkelt, er verfasse
beinahe wöchentlich ein neues Testament, in dem Fürstentümer,
Paläste, Titel, Ämter, Schätze und vor allem der Goldreif des
Königs munter vom einen zum anderen gereicht wurden. Herodes’ Erbe
zu werden war ein Glücksspiel. Und nun das! Es ging dem Alten also
wieder besser.
»Also«, fragte Theudion ungeduldig. »Was wolltest
du uns erzählen?«
Salome schürzte leicht trotzig die Lippen. »Erst
muss ich euch noch etwas anderes sagen. Berenike weiß viel mehr als
ich, weil sie ihren Vetter Kephallion hat, der ihr andauernd neue
Sachen erzählt. Ich will auch klug werden.«
Theudion runzelte die Stirn. »Wozu?«
»Um besser zu verstehen, was vorgeht. Um die Welt
zu verstehen.«
»Ich erkläre dir die Welt: Dein Großvater ist ein
gottloser Tyrann, der seine Familie und sein Volk unterdrückt. Mehr
musst du nicht wissen.«
»Ich möchte mitreden können.«
»Mitreden! Wie stellst du dir das vor?« Er blickte
sie ein wenig verächtlich an. »Wenn du etwas wissen willst, wende
dich an Kephallion. Er gibt dir sicher ein paar Brocken seines
Wissens ab.«
»Ich mag ihn nicht. Er ist kein netter Junge und
stößt uns immer herum. Außerdem will ich keine Brocken. Ich will
Unterricht an der Schule.«
Herodias lachte auf, als habe jemand einen Witz
erzählt. Natürlich fand auch sie es für eine Frau unabdingbar, viel
zu wissen, das Wichtige jedoch lernte man nicht von alten,
verstaubten Lehrern, nämlich die Kunst der Schönheit, der
Verführung und der Illusion, kurz, die Kunst, sich einen reichen,
möglichst mächtigen Mann zu angeln.
Theudion fixierte seine Tochter mit Falkenaugen.
»Es ist nicht Brauch, Mädchen an der Schule zu unterrichten.«
»Dann soll Großvater den Brauch ändern.«
»Das kann er nicht.«
»Ich könnte ihn fragen.«
Theudions Augen blitzten. »So weit kommt es noch,
dass du mit dem Feind des Volkes zusammenarbeitest. Jeder
untersteht den Bräuchen, auch du. So steht es in der thora,
darum musst du dich fügen. Du musst dich sogar gern unterwerfen,
ja, frohlocken musst du.«
Nach Frohlocken war Salome überhaupt nicht zumute.
Sie grübelte einen Moment, dann sagte sie: »Wie soll ich die
Bräuche befolgen, wenn ich sie nicht kenne? Um sie kennen zu
lernen, brauche ich Unterricht wie Kephallion.«
Theudion öffnete den Mund, um etwas zu sagen,
schloss ihn aber wieder. Eine leichte Röte stieg ihm ins Gesicht.
»Nein«, sagte er, »das musst du verstehen.«
»Ich verstehe es nicht«, beharrte Salome und
stampfte mit dem Fuß auf. »Was ich weiß, sage ich dir nur, wenn ich
Unterricht bekomme.«
Ruckartig stand Theudion auf und sprang mit einem
Satz zu Salome. Er packte sie mit seinen dürren Händen an den
Schultern und rief: »Niemals wieder wirst du in diesem Ton zu mir
sprechen. Ich habe wahrlich genug Geduld mit deiner anmaßenden Art
bewiesen. In etwas mehr als einem Jahr wirst du zwölf Jahre alt und
dann im religiösen Sinne mündig sein, und da erwarte ich, dass du
den Worten des Herrn folgst. Was du wissen musst, bringe ich dir
bei, weitere Ansprüche hast du nicht zu stellen. Du bist« – er
versuchte gar nicht erst, den Satz, der ihm auf der Zunge lag,
zurückzuhalten – »du bist eben nur ein Mädchen. Gott weiß, dass ich
selbst es gerne anders hätte.«
Nach diesen Worten wandte er sich wieder seiner
Schreibplatte zu. »Und nun erzähle, was du erlebt hast«, fügte er
mit wieder ruhiger Stimme hinzu.
Salome senkte den Kopf. Nach diesem Ausbruch ihres
Vaters und der abgeschlagenen Bitte um Unterricht war ihr jede Lust
vergangen, das Erlebnis in allen Farben auszuschmücken. Knapp
berichtete sie: »Drei Männer haben den Adler am Tempel
kaputtgemacht. Großvater hat befohlen, alle drei töten zu lassen.
Dann ist er zusammengebrochen und hat geblutet.«
Theudion erhob sich langsam von seinem Schemel.
Erneut tauschte er einen Blick mit Herodias, doch diesmal schienen
sie verschiedene Gedanken zu hegen. »Es geht zu Ende mit ihm«,
sagte Herodias mit großen, begierigen Augen.
»Ja, und der alte Tyrann will dieses Ende zu einem
weiteren Fanal machen. Wie viele Menschen sollen noch unschuldig
sterben, weil er sich verfolgt glaubt? Diese drei Männer haben nur
ein kleines Verbrechen begangen. Sie verdienen den Tod nicht,
ebenso wenig wie die Kinder von Bethlehem oder meine hingerichteten
Brüder diesen Tod verdienten.«
Herodias berührte ihren Mann am Arm, um ihn zu
beschwichtigen. Sie kannte seine Vorliebe für einen Eklat und
wusste, dass ihnen diese Eigenschaft bisher nur Nachteile gebracht
hatte. Warum wohl musste sie mit sieben Räumen vorlieb nehmen,
während Antipas und seinem anmaßenden Weib zwei Räume mehr zur
Verfügung standen!
»Das will er bestimmt nicht hören«, stellte sie
fest.
»Niemand will das hören«, bestätigte er. »Umso
wichtiger ist, dass es trotzdem jemand ausspricht.« Er schritt
eilig zur Tür.
»Nicht, Theudion«, rief sie hinter ihm her.
»Vielleicht stirbt er ja, bevor das Urteil vollstreckt wird. Du
machst uns nur unglücklich. Bleib hier.«
Doch ihre Worte waren nur Luft. Theudion knallte
die Tür hinter sich zu, und Herodias blieb zurück und ballte die
Hände zu Fäusten. Sie legte den Kopf in den Nacken, atmete einige
Male tief durch und stieß voller Wut und Verachtung die Luft wieder
aus den Lungen. Dann sah sie ihrer Tochter in die Augen, die wie
fast immer leicht gerötet waren.
»Er ist töricht, das war er schon immer«, sagte
sie. Sie streichelte ihrer Tochter nachdenklich über die dünnen
Haare und meinte schließlich: »Zum Glück hast du nichts von ihm,
sonst wärst du nie auf den Gedanken gekommen, etwas, das jemand
anderer von dir haben will, von dem, was du haben willst,
abhängig zu machen.«
Das war wirklich schlau von Salome, dachte
Herodias. Auch wenn es diesmal bloß um unnützen Unterricht gegangen
war – ihre Tochter hatte vielleicht Talente, die bisher verborgen
geblieben waren.
»In dieser Welt müssen wir Frauen zusammenhalten,
Kleines. Wir haben nur wenige Möglichkeiten, und die müssen wir
geschickt nützen. Männer erfüllen unsere Wünsche, und je mehr
Männer wir haben, umso mehr Wünsche werden uns erfüllt.«
Salome lächelte sie mit einem Ausdruck an, als sei
sie mit jedem Wort einverstanden.
Wie Schatten standen die vier Brüder in dem
düsteren Raum und warteten auf den Tod ihres Vaters. Sie waren in
ihre weiten Gebetsmäntel eingehüllt, wie es der Brauch vorsah, und
bildeten zusammen mit den etwas abseits stehenden Würdenträgern der
Beamtenschaft die chewra qadischa, die Heilige Gesellschaft,
die nach alter Überlieferung den Sterbenden in seinen letzten
Stunden begleitete und ihn nach seinem Tod zur Bestattung
vorbereitete. Jenen Teil ihrer Aufgabe würden die Königssöhne
freilich nur symbolisch übernehmen, die Bediensteten übernahmen die
Arbeit.
Vier cohenim, Priester aus dem Tempel des
Einen Gottes, standen an den Bettflanken und hielten die Kessel,
aus denen der Rauch der Myrrhe quoll. Trotz dieses reinigenden
Harzes erfüllte bestialischer Gestank, der einem kaum Luft zum
Atmen ließ, das Gemach. Archelaos, Antipas und Philipp schützten
sich mit feuchten Tüchern gegen die üblen Ausdünstungen des
Geschwürs, das Herodes heute oder morgen umbringen würde. Nur
Theudion hielt stand, so wie er es immer getan hatte: mit hoch
erhobenem Kopf und vor der Brust verschränkten Armen.
»Herr, wir rufen dich um Hilfe!«, murmelte der alte
Hohepriester abseits jeden Lichts in einer Ecke. »Du, der
Beschützer, stelle dich nicht taub. Wenn du uns schweigend von dir
weist, dann ist keine Hoffnung mehr. Höre uns, wenn wir dich rufen,
wenn wir zu dir um Hilfe schreien und betend unsere Hände
entgegenstrecken zum innersten Raum deines Heiligtums hin …«
Jeder der Brüder wusste, wie unsinnig das Gebet
war. Natürlich glaubten sie alle mehr oder weniger an den Einen
Gott und seine Kraft, doch mit dem Glauben des Herodes war es nicht
weit her, und es hätte gewiss eines wesentlich frommeren Juden
bedurft, um in einem solch hoffnungslosen Fall noch Rettung durch
den Herrn zu erwarten. Hier betete niemand wirklich, hier zählte
jeder nur noch die Atemzüge des Kranken.
»Herr, wir suchen bei dir Zuflucht; enttäusche uns
nicht. Rette uns, wie du es versprochen hast. Erhöre uns, hilf uns
schnell! Sei uns ein …«
Der Hohepriester verstummte, als er sah, dass
Herodes den Kopf hob. Der König stützte sich auf seine Ellenbogen
und richtete sich erstaunlich mühelos auf. Stirn und Wangen waren
aufgequollen, und die Haut war aschgrau, fast transparent. Es war
das Gesicht eines Menschen, der nicht mehr in diese Welt gehörte.
Herodes ließ jedoch keinen Zweifel daran, dass er noch lebte.
»Sind die drei Männer …« Er röchelte. »Sind sie
hingerichtet worden, wie ich befohlen habe?«
Der Hohepriester trat einen Schritt zum Bett und
verneigte sich leicht. »Sie wurden bei Sonnenuntergang
hingerichtet.«
Herodes röchelte erneut. »Sie sollen die ganze
Nacht am Galgen bleiben.«
Wie eine Klinge sausten Theudions Worte durch den
Sterberaum. »Das ist verboten. Das Gesetz besagt, dass niemand über
Nacht gehängt bleiben dürfe, um das Land nicht unrein werden zu
lassen.«
Jeder der Männer wusste nur zu gut, wie Recht
Theudion hatte. Er hatte das Gesetz Gottes und damit des Volkes
Israel nach Wort und Sinn korrekt wiedergegeben. Aber keiner sprang
Theudion zur Seite.
Herodes schien die ganze Kraft, die ihm geblieben
war, in seine Stimme zu legen. »Sie bleiben, wo sie sind, bis sie
verfaulen«, presste er hervor, dann fiel er auf das Kissen zurück.
Mühsam sog er die stickige Luft ein, und es dauerte eine Weile, bis
sein Atem den normalen Rhythmus wiederfand.
Theudion trat aus der Reihe seiner Brüder nach
vorne und bedachte seinen Vater mit einem verächtlichen Blick.
»Noch im Tod verschlingst du Leben, Herodes. Du stirbst, wie du
gelebt hast. Als Scheusal.« Ohne eine weitere Geste an Herodes und
die anderen zu verschwenden, drehte Theudion sich um und ging zum
Erstaunen aller hinaus. Er hatte die chewra qadischa
verlassen.
Herodes’ Atem ging schneller als zuvor. Einige
Augenblicke verstrichen, ehe der König mit einer kleinen Bewegung
seines Zeigefingers andeutete, einen Befehl geben zu wollen.
»Sofer«, rief er den amtlichen Schreiber mit
seinem Titel herbei. Der Gerufene trat mit einer Tafel neben ihn
und beugte sein Ohr zum Mund des Königs. »Neufassung meines letzten
Willens«, diktierte Herodes, und das plötzlich gestiegene Interesse
seiner Söhne bereitete ihm eine letzte Wonne. »Hinaus auch mit
euch«, rief er. »Ihr könnt eure Gier morgen befriedigen.«