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Salome saß über eine der Dutzenden von Schriftrollen gebeugt, die auf dem Schreibtisch verteilt lagen und zusammen De Republica bildeten, Ciceros Untersuchung republikanischer Verfassungen. Sie hatte fast ein Jahr darauf gewartet. Der Agent, den sie regelmäßig mit der Suche nach wissenschaftlichen oder politischen Werken beauftragte, hatte es schwer gehabt, an eine Abschrift davon zu kommen, denn der Autor war seit über einem halben Jahrhundert tot, die römische Republik hatte ihn nicht lange überlebt und die Kaiser mochten seine republikanischen Plädoyers nicht.
Zum ersten Mal las Salome etwas über die Elemente einer Verfassung, über die Möglichkeit der Trennung von Gerichtsbarkeit, Regierung und Polis, der Summe der Menschen eines Staates, die über die Gesetze abstimmten. Von einer solchen Regelung war Judäa weit entfernt. Offiziell waren die Gerichte unabhängig, allen voran der sanhedrin, die höchste richterliche Versammlung. Der sanhedrin verfügte über eine eigene Polizei, konnte nach Gutdünken Strafen verhängen und betonte seine Unabhängigkeit schon durch seine Lage auf dem Tempelberg, direkt neben dem Allerheiligsten. Sogar Gesetze wurden von ihm auf der Basis der thora erlassen. Doch das war nur Schein. Herodes hatte den sanhedrin gefügig gemacht, ebenso die Priesterschaft, und das Volk hatte ohnehin nichts zu sagen. Im Grunde war in Judäa unter Herodes genau das passiert, was auch in Rom unter Augustus geschehen war – vielleicht hatten die beiden sich deswegen so gut verstanden. Die Verfassungen, die die Macht auf mehrere Schultern verteilten, waren so lange ausgehöhlt worden, bis sie nur noch Fassade waren, republikanische Mäntel für autokratische Herrscher. Cicero, dachte Salome, würde sich wohl die Haare raufen, könnte er sehen, was aus seiner geliebten römischen Republik geworden war.
Sie seufzte und rollte das Pergament langsam wieder zusammen. Die Idee der Gewaltenteilung und der Beteiligung des Volkes an Entscheidungen war tot. Angesichts der römischen Besatzung sah Salome auch keinen Sinn darin, irgendwelche Gedankenspiele in dieser Richtung anzustellen, denn selbst die kleinsten Veränderungen kamen nur äußerst zäh voran.
Seit vier Jahren war sie nun Stadtfürstin von Ashdod, besaß großen Reichtum und ein kleines Stück der Macht, von der sie früher immer geträumt hatte. Sie hing jedoch schon längst nicht mehr diesen Mädchenträumen nach, die palatinischen Gärten zu besuchen, zu den Pyramiden zu reisen oder vom Ätna aus in die Glutröte des Sonnenaufgangs zu schauen. Timon hatte ihr einst den Anstoß gegeben, die Macht weniger eitel einzusetzen und sie in den Dienst des Volkes zu stellen – manchmal auch gegen dessen Ängste. Seine Worte hatte sie zu ihren gemacht, und gewissermaßen regierte sie über Ashdod auch für ihn und das, woran er glaubte. Leicht war es nicht, vor allem, wenn man alleine war. Zu erneuern hieß, harte Arbeit zu leisten und jeden einzelnen Tag die Menschen zu gewinnen versuchen. Es hieß, ein Leben damit zuzubringen, aus einem Land der blind Gläubigen eines der Sehenden, Freien und Gerechten zu machen, das Land einer neuen Zeit.
Nachdem sie vor vier Jahren Stadtfürstin von Ashdod geworden war, hatte sie festgestellt, dass sie ihre Vorstellungen nicht einfach in die Tat umsetzen konnte. Würdenträger und Beamte, der römische Prokurator und seine Offiziere, nicht zuletzt Theudion und Herodias – irgendjemand hatte immer einen Einwand, weshalb etwas nicht verändert werden durfte. Ihr Versuch, das polizeiliche Spitzelwesen in Ashdod abzuschaffen, stieß bei den misstrauischen Römern auf Widerstand, die nicht auf die heimlich gesammelten Informationen verzichten wollten; Herodias vereitelte eine geplante Befreiung der Kleinbauern von der Kopfsteuer, weil damit die Einnahmen Ashdods reduziert worden wären, und Theudion wandte sich vehement gegen die Einrichtung von Schulen für Mädchen. Der Streit darüber hatte Salome tief verletzt.
»Was für eine unverschämte Idee«, hatte er gerufen. »Schulen für Mädchen! Womöglich noch mit Frauen als Lehrerinnen, wie?«
»Warum nicht?«
»Frauen wissen zu wenig über die thora
»Natürlich, denn sie erhalten zu wenig Unterricht.«
»Und du hast zu viel erhalten, scheint mir. Du lebtest zu lange unter dem Einfluss deiner Großtante. Sie hat auch nie gewusst, wo ihr Platz war.«
»Sie hat nichts damit zu tun. Über Mädchenschulen hat sie nie gesprochen.«
»Weil selbst sie wusste, dass Gott keine Frauen will, die Bücher lesen. Heißt es nicht: ›Gepriesen sei er, der mich …‹«
»›… der mich nicht zu einer Frau gemacht hat‹, ja ja, dieser Satz kommt mir bekannt vor. Du hast ihn früher gerne verwendet, wenn du Mutter verletzen wolltest. In der Genesis heißt es aber auch: ›Jeder Mann, der keine Frau hat, ist kein Mensch.‹ Wenn wir es sind, die euch Männer erst zu Menschen machen, sind in Wahrheit vielleicht auch wir es, die euch erst zu klugen Menschen machen.«
Theudion verschränkte die Arme vor der Brust. »Zacharias hat mir schon vor einiger Zeit erzählt, dass du nicht nur eine Meisterin darin bist, die Worte des heiligen Buches zu verdrehen, sondern auch, dass du unseren Glauben insgesamt verhöhnst und sogar verleugnest. Er hatte Recht, das Blut meines ungläubigen Vaters hat dich infiziert. Du bist keine mehr von uns, und solange ich lebe, werde ich verhindern, dass du heiratest und Ashdod mit deinem Gebaren unrein machst. Ich sorge dafür, dass jeder einzelne Buchstabe der thora diese Stadt auch weiterhin beherrschen wird.«
Er hatte sich abgewandt und mit gedämpfter Stimme gesagt: »Wärst doch bloß du statt deines Zwillingsbruders kalt zur Welt gekommen, dann würde mir jetzt diese Schande erspart bleiben, eine Ungläubige mein eigen Fleisch und Blut zu nennen.«
Dieser Satz war tatsächlich ein nachgeholter Dolchstoß. Von jenem Tag an war sie nicht mehr ihres Vaters Tochter, sie war für ihn die lebendige Schande, und sie selbst entfremdete sich dadurch ihm, den Traditionen und dem Glauben immer mehr. Nur noch einmal war er seither einer Bitte von ihr nachgekommen. Es war dabei um die Erfüllung eines Versprechens gegangen, das sie Timon einst gegeben hatte: der Kampf gegen die Sklaverei.
»Wir können die Haltung von Sklaven nicht verbieten«, hatte Theudion eingewendet. »Die thora erlaubt es ausdrücklich, solange es sich bei den Sklaven um Angehörige nichtjüdischer Völker handelt. Und die thora ist bei uns Gesetz – falls du das vergessen hast«, fügte er missbilligend hinzu.
Salome betrachtete die thora nicht länger als das Buch Gottes, sondern als ein von Menschen geschaffenes Regelwerk, eingekleidet in spannende Sagen und Mythologien, Wahrheiten und Halbwahrheiten, ähnlich denen jeder anderen Religion. Vielleicht hatten die Verfasser ursprünglich wirklich geglaubt, im Namen des Herrn zu schreiben, und vielleicht hatten sie sogar die besten Absichten damit verfolgt. Tatsache blieb, dass neben viel Sinnvollem, welches das Leben zwischen Menschen mit all ihren Begierden ordnete, auch so manch Befremdliches geschrieben stand, das die Juden den anderen Völkern überordnete, die Männer den Frauen, die Kämpferischen den Milden und so weiter. Die Ungereimtheiten waren so auffällig, dass man nur darüber hinwegsehen konnte, wenn man jedes einzelne Wort zum unanzweifelbaren Heiligtum erhob. Nüchtern betrachtet jedoch steckte die thora voller Widersprüche. Oder wie sollte man es sonst nennen, dass die Sklaverei dem Herrn zwar als verwerflich galt, solange die Juden die Sklaven waren – wie damals in Ägypten -, hingegen erlaubt wurde, wenn die Juden selbst die Sklavenhalter waren?
Doch mit solchen Argumenten brauchte sie ihrem Vater nicht zu kommen. Daher schlug sie einen anderen Weg ein, um ihr Ziel zu erreichen.
»Ich dachte auch nicht an ein Verbot von Sklavenhaltung, Vater. Wir sollten jedoch die Einfuhr von Sklaven verteuern. Die meisten Sklavenhändler sind Römer und Griechen, die nicht in Ashdod wohnen und somit keine Steuern zahlen. Wenn wir die Zölle erhöhen, so kommt das allen Einwohnern Ashdods zugute.«
Ihr Vater hatte noch einen Tag lang über ihren Vorschlag gegrübelt; da in der thora nichts über die Höhe von Zöllen stand und er die Geschäftemacherei der Griechen und Römer verachtete, stimmte er schließlich zu. Und Herodias war ohnehin für alles zu haben, das noch mehr Geld einbrachte. Seither ging die Anzahl von Unfreien in Ashdod stetig zurück, denn ihr Kauf wurde zunehmend unrentabel.
Salomes nächstes Ziel war die Freilassung der Sklaven im Hain, doch dafür würde sie noch weit mehr Geschick – und Geduld – brauchen.
Salome ging langsam zum Fenster. Früher hatte ihre Großtante immer hier gestanden. Es war Akmes Blick auf Ashdod gewesen, ihr Schreibtisch, ihr gyneikon, ihr Palast. Und hier hatte die alte Frau vom Königsreif geträumt. Für die Erfüllung dieses Wunsches war Akme über Leichen gestiegen und am Ende doch gescheitert, zugrunde gegangen an dem Verrat einer Frau, die noch tückischer und rücksichtsloser als sie gewesen war. Bereits hinter den Hügeln, kaum eine Viertelstunde zu Pferd, begann das Territorium Livias, der bona mater roma, der guten römischen Mutter, wie sie genannt wurde. Wie sehr man sich doch in Vorbildern vertun konnte! Salome wusste das aus eigener schmerzhafter Erfahrung.
Allerdings nicht alles, was Akme und Livia ausmachte, war schlecht. Beide Frauen hatten es geschafft, in ihrem jeweiligen Umfeld eine einzigartige Machtposition einzunehmen, und waren weit über die Möglichkeiten ihres Geschlechts hinausgewachsen. Sie hatten sich erfolgreich gegen die Dominanz der Männer gestemmt, indem sie schlauer, einfallsreicher und auf eine ungewöhnliche Weise sogar einfühlsamer als sie gewesen waren, denn sie erkannten deren Gefühle, Hoffnungen und Ängste und nutzten diese gnadenlos aus. So weit bewunderte Salome die beiden Frauen, denn auch sie glaubte fest daran, dass es legitim sei, sich aus einer Rolle zu befreien, die man wie ein Sklave aufgezwungen bekam. Das Üble an Akme war nicht ihr Verlangen nach Macht gewesen, sondern dass sie mit dieser Macht nichts gestalten wollte. Sie hätte sie nur zur Unterdrückung und zum Strafen genutzt, zur Erhöhung ihrer eigenen Stellung. Keine Sekunde hätte sie an andere gedacht, und wäre sie Königin geworden, hätte sie nur einen zweiten Herodes abgegeben.
Wer weiß, was geschehen wäre, dachte Salome, wenn Timon ihr nicht die Augen darüber geöffnet hätte.
Wieder versetzte ihr der Gedanke an Timon einen Stich. Es verging kein Tag, an dem sie nicht an ihn dachte, doch ihre Gefühle in diesen Augenblicken waren sehr unterschiedlich. Meistens wünschte sie sich schlicht, er käme im nächsten Moment zur Tür herein, strahlte sie an und gäbe ihr eine banale Erklärung dafür, weshalb er sich seit vier Jahren nicht habe blicken lassen, obwohl er ihr seine Freiheit verdankte. Schämte er sich für seine Tat? Glaubte er, sie könne ihm den Anschlag auf Akme nicht vergeben? Manchmal sorgte sie sich um ihn, hoffte, dass ihm nichts geschehen sei, und manchmal geriet sie wegen seines enttäuschenden Verhaltens regelrecht in Zorn. Und dann gab es Tage, da glaubte sie nicht mehr daran, dass er sie jemals geliebt habe und dass er deshalb nach seiner Freilassung durch Coponius aus dem Gefängnis von Caesarea nicht mehr den Weg zu ihr gesucht hatte. Alles in ihr sträubte sich gegen einen solchen Verdacht, trotzdem gewann er bisweilen die Oberhand, und das waren die schlimmsten Stunden für sie.
Der dunkle Klang eines shofar dröhnte über den Palast und ganz Ashdod. Während des vergangenen Monats war das traditionelle Widderhorn, das Moses einst auf dem Berg Sinai hörte, zu jeder Stunde des Tages zwölfmal geblasen worden, so wie der jüdische Brauch es vorsah. Heute erklang es vorläufig zum letzten Mal, denn heute war der erste Tag des Monats Tishri und damit rosh ha-shana, das Neujahrsfest. Die Juden der Stadt hatten sich schon am frühen Morgen in den sieben Synagogen versammelt und stundenlang Vergebungsgebete gemurmelt.
Das shofar war verklungen, und draußen wurde es wieder ruhig. Der schwache Herbstwind wehte einige welke Blätter von den Granatapfelbäumen und Platanen, und ein paar Vögel raschelten auf der Suche nach Nahrung im knöcheltiefen Laub. Kein Mensch war zu sehen. Rosh ha-shana war kein Fest der fröhlichen Geselligkeit wie die anderen im Jahreskreis, sondern ein Fest der Einkehr. Von hier oben konnte Salome es nicht sehen, da ein naher Kiefernwald die Sicht versperrte, aber sie wusste, dass zu dieser Stunde unten am Strand alle Juden von Ashdod ein geschnürtes Tuch ins Meer werfen würden, in das sie zuvor alle ihre Sünden gesprochen hatten. Zu Hause kochten bereits die Frauen die typischen Speisen des Neujahrstages. Der Duft von Honigkuchen lag über der ganzen Stadt, und die Palastköche bereiteten gesottenes Huhn mit Honig und Orangensoße zu, wie Salome unschwer den Aromaschwaden entnehmen konnte. Sie schloss ihre Augen, und ein schwaches Lächeln glitt über ihr Gesicht.
»Verträumt wie immer«, rief Herodias, als sie ohne Anmeldung das gyneikon betrat. »Selbst an einem Festtag verkriechst du dich hinter deinen Studien. Also wirklich, Salome. Neujahr ist doch nur einmal im Jahr.«
Sie trug eine himmelblaue Tunika mit einer blassgelben stola und einem schillernden goldfarbenen Umhang, der so lang war, dass er auf dem Boden schleifte. An ihren Armen klimperte der schwere Goldschmuck, der einst Akme gehört hatte und den sie nach deren Tod zwar nicht geerbt, dennoch an sich genommen hatte, offenbar mit stillschweigender Billigung von Coponius.
Salome verbeugte sich leicht. »Le-shana towa tikatewu wetechatemu«, begrüßte sie ihre Mutter.
»Mögest auch du ein gutes Jahr haben«, erwiderte Herodias eilig. »Nun sag, warum langweilst du dich hier?«
»Ich langweile mich nicht, Mutter.«
Herodias’ Blick glitt über die Schriftrollen von De Republica, weiter zum Corpus, den medizinischen Schriften des griechischen Arztes Hippokrates, und schloss mit Vergils Aeneis. »Dass du die Beschäftigung mit Toten noch immer als Vergnügen ansiehst …« Sie seufzte. »Möchtest du dich nicht mir und meinen Freundinnen anschließen?«
Salome kannte die Schar jener wie Opium duftender und wie Gänse schnatternder Damen, die wenigstens zweimal wöchentlich in den Palast kam. Theudion hatte zwar kürzlich versucht, diese – wie er sie nannte – leichten Frauen aus dem Palast zu verbannen, aber Herodias hatte sich seiner Weisung widersetzt und ihm klargemacht, dass sie ebenso Regentin sei wie er und daher das Recht habe, einzuladen, wen sie wolle. Seine Befehle kümmerten sie nicht mehr, und Salome gönnte ihrer Mutter diesen Triumph. Dennoch, die Begleiterinnen mochte sie ebenso wenig wie ihr Vater.
»Ein anderes Mal vielleicht«, wiegelte sie ab, setzte sich wieder an den Schreibtisch und suchte nach einer diplomatischen Begründung für die Absage, als die uralten Traditionen sie einer Rechtfertigung enthoben. Das shofar dröhnte laut und dunkel über dem Palast.
Herodias hielt sich beide Ohren zu. »Oh, dieses Horn! Es treibt mich noch in den Wahnsinn. Wir sollten es nächstes Jahr verbieten.«
»Das shofar ist den Leuten heilig«, antwortete Salome und schrieb nebenbei Notizen über De Republica auf ein Pergament. »Ein Verbot wäre unklug.«
»Und ich dachte, wir haben die gleiche Meinung über veraltete Bräuche.«
Salome konnte nicht verleugnen, dass Herodias ihren Anteil an Salomes weltlicher Einstellung hatte. Sie hatte erlebt, wie ihre Mutter die Gebote ignoriert und mit einem fast fremden Mann geschlafen hatte. Akme wiederum hatte mit ihrer weiblichen Selbstbestimmtheit und der Art, die Religion als weiteres Mittel der Politik anzusehen, großen Eindruck auf sie gemacht. Theudion, Zacharias und Kephallion hatten ein Übriges getan und sie mit ihren rigiden Unterdrückungsmechanismen geradezu aus dem Glauben vertrieben. Trotzdem achtete sie die meisten Bräuche und Traditionen des Volkes, viele mochte sie sogar, so zum Beispiel rosh ha-shana und das shofar. Sie gaben ihr das Gefühl – trotz aller Kritik, die sie am Glauben und dem, was die Menschen daraus machten, hatte -, noch immer eine Verbindung zu ihrem Volk zu haben. Ihr ging es nicht darum, irgendetwas zu verbieten; sie wollte und konnte die Überzeugungen nicht abschaffen, wohl aber in einigen Fragen langsam verändern. Sie war jung und hatte noch viel Zeit – und den festen Willen.
»Wenn dir Ashdod nächstes Jahr zu laut wird, kannst du ja für einige Wochen verreisen, irgendwohin, wo fast nur Griechen leben.«
»Da du vom Reisen sprichst«, fiel Herodias ein. »Ich möchte dich bitten, mich nächste Woche zu begleiten.«
Salome schrieb weiter. »Wohin?«
»Wohin wohl! Der Winter naht. Ich vertrage die Seeluft im Winter nicht.«
Salome las einen Absatz aus De Republica und sagte nebenher: »Du bist der einzige Mensch, den ich kenne, der die milde Seeluft nicht verträgt.«
»Im Winter, sagte ich. Sie ist zu frisch, zu kalt. Ich hasse Wind.«
»Ich liebe Wind.«
»Außerdem möchte ich die Familie wiedersehen.«
Salome ließ die Feder sinken und atmete tief durch. Der Großteil der Familie lebte in Galiläa, am Hof von Antipas. Keiner der Verwandten hatte damals, nach Akmes Tod, hier in Ashdod bleiben wollen. Die Aussicht, Herodias, über die sie stets abfällig getuschelt hatten, als Regentin huldigen zu müssen, hatte sie fortgetrieben. Salome machte sich allerdings nichts vor: Auch sie selbst war bei der Familie alles andere als beliebt. Die einen sahen in ihr das Abbild der koketten, leichtlebigen Mutter, die anderen des trotzigen Vaters. Vor allem Zacharias machte damals Stimmung gegen sie, beschimpfte sie als verstocktes, liederliches Weib, und Kephallion tat überall genussvoll kund, dass er es ja immer schon gesagt habe und ohnehin der Einzige gewesen sei, der frühzeitig etwas gegen ihre Sünden unternommen habe. Seinen Disput gegen sie im cheder stilisierte er zu einer leidenschaftlichen Verteidigung der Lehren der Propheten hoch und seine brutale Attacke auf dem Hof verkaufte er sogar als einsame Heldentat, die nur durch die Feigheit anderer wirkungslos blieb. Ganz offen zweifelten die beiden die Rechtmäßigkeit des Erbes an, gegen das beeidete Protokoll und Coponius’ Vollstreckung kamen sie jedoch nicht an. Und eine solche Familie wollte ihre Mutter wiedersehen?
»Denkst du da an ein bestimmtes Familienmitglied?«, fragte Salome. »An Onkel Antipas vielleicht?«
Herodias schnappte nach Luft. »Wie kommst du denn darauf?«
»Oh bitte, Mutter. Denkst du denn, ich weiß nicht, was ihr beiden miteinander treibt? Mir ist das schon seit zehn Jahren klar, seit dem Tag des Leichenschmauses für Herodes. Vielleicht erinnerst du dich. Ich suchte dich damals im ganzen Palast und fand dich, wie du aus den Räumen von Onkel Antipas kamst. Und in den letzten drei Jahren hast du jeden Winter an seinem Hof in Sepphoris verbracht, obwohl der Wind in den dortigen Tälern, Berghängen und Hochebenen nicht weniger kräftig weht als bei uns in Ashdod.«
Herodias straffte den Rücken. »Woher willst du das wissen? Du warst nie dort.«
»Ich erhalte Briefe von Berenike, in denen sie sich beklagt, dass der ständige Wind ihre hübschen Locken durcheinander bringt. Du musst mir nichts vormachen, Mutter. Du reist nur wegen Antipas nach Galiläa. Lass dich bloß nicht erwischen, und vor allem ziehe mich da nicht hinein. Ich sehe keinen Grund, nach Galiläa zu reisen.«
Herodias leugnete ihre wahren Beweggründe nicht länger, lenkte jedoch von ihnen ab. »Doch, es gibt einen Grund. Antipas weiht in einigen Wochen seine neue Hauptstadt ein. Er nennt sie nach dem römischen Kaiser, Tiberias. Sein Palast liegt am See Genezareth, dort soll es wunderschön sein, riesige Gärten, duftende Wälder... Das magst du doch – wenngleich ich mich frage, was an einer Pinie schöner als am Gold eines Palastes sein soll.«
»Ich bin hier unabkömmlich«, beharrte sie. »Die Leute brauchen mich.«
Herodias legte den Kopf in den Nacken und stieß einen geräuschvollen Fluch aus, wie immer, wenn sie ihren Willen nicht bekam. »Warum muss man dieses Kind eigentlich immer zu seinem Glück zwingen?«, fragte sie zur Decke hin und blickte dann Salome auffordernd an. »Bei Antipas gehen reiche Männer ein und aus, armenische Prinzen, syrische Magnaten, sogar römische Patrizier. In Kürze besucht ihn der künftige römische Prokurator für Judäa, Pontius … Pontius irgendwas. Dass diese Römer immer mehrere Namen haben müssen, schrecklich. Als hätte man nicht genug damit zu tun, sich einen Namen zu merken. Jedenfalls ist dieser Pilatus Witwer. Muss ich noch mehr sagen?«
Salome täuschte sich nicht über die wahren Motive ihrer Mutter, sie unbedingt mit nach Tiberias nehmen zu wollen. Herodias wollte nur, dass sie in ihrer Abwesenheit nicht zu viel Eigenständigkeiten entwickelte – Dummheiten nannte Herodias das – und sich nicht langsam ihrer mütterlichen Führung entzog. Sie konnte ihr das nicht übel nehmen. Vermutlich widerstrebte es jeder Mutter, wenn ihr Kind erwachsen und damit eigenwillig wurde.
Sie wollte eine endgültige Absage formulieren, als ein Diener eintrat und Coponius meldete.
»Er soll hereinkommen«, rief Herodias, bevor sie es selbst tun konnte. »Sein Abschiedsbesuch«, erklärte Herodias ihr. »Er ist in den Rang eines Senators aufgestiegen und wird von diesem Pontius Dingsda abgelöst.«
Salome staunte. »Er wird römischer Senator? Dafür muss man ein Vermögen von einer Million sesterti nachweisen. Das sind über fünfzehntausend silberne denari. Wie kommt er zu einem solchen Reichtum?«
»Liebes, woher soll ich das denn … Scht, da kommt er.«
Coponius’ Brustpanzer und das Kurzschwert klapperten wie eh und je. Er hatte sich in den letzten Jahren kaum verändert, fand Salome, und sie konnte sich nur schwer vorstellen, wie sein kämpferisches, vollbärtiges Gesicht aus der edlen, purpurverbrämten Toga eines Senators herausragte. Wie konnte ein Mann, der noch vor fünf Jahren ein einfacher Offizier gewesen war, plötzlich so reich sein, dass er es bis in den römischen Senat schaffte? Sie hatte Coponius nie gemocht – was nichts mit der Episode im Hain zu tun hatte. Sie meinte, stets eine gewisse Falschheit an ihm zu bemerken, die im krassen Gegensatz zu seinem aufrechten und bisweilen aufgeplusterten römischen Auftreten stand. Das war allerdings nur ein diffuses Gefühl, das sie durch keine Tatsachen untermauern konnte, und manchmal rügte sie sich selbst für ihre Unterstellungen. Denn Coponius hatte die Großzügigkeit gehabt, Timon freizulassen. Mehr noch, als Timon verschwunden war, kam er ihrer Bitte nach, nutzte seine Stellung als Prokurator und seine Kontakte in benachbarte Provinzen, um nach Timon suchen zu lassen. Sie hatte wirklich allen Grund, ihm dankbar zu sein.
Aus Höflichkeit stand sie auf, obwohl ihr Rang so etwas nicht nötig machte, auch nicht vor dem Prokurator. »Nun, edler Coponius. Ich höre, du verlässt unser schönes Land.«
Er war mit der Beschreibung Judäas offensichtlich nicht einverstanden, denn er antwortete: »Ja, ich verlasse diesen abgelegenen Flecken Erde und begebe mich in das Zentrum der Welt. Zuvor wollte ich mich allerdings unbedingt verabschieden.«
Wohl weniger von ihr als von ihrer Mutter, dachte sie, schluckte diese bissige Bemerkung allerdings hinunter. »Wie nett«, kommentierte sie stattdessen.
»Bevor ich gehe, muss ich jedoch noch einmal auf die Besorgnisse der hiesigen Sklavenhändler verweisen, die zum Teil Römer sind und deren Interessen ich zu schützen verpflichtet bin. Du hast zu viele Sklaven aus deinen Beständen freigelassen, Fürstin.«
Salome setzte sich wieder auf den Stuhl hinter dem Schreibtisch und sah Coponius unerschrocken an. »Ja, fast alle«, sagte sie und fügte mit einem Seitenblick auf ihre Mutter hinzu: »Außer die, die im Hain arbeiten. Dagegen haben meine Eltern als Regenten Einspruch erhoben, da sie um die Wirtschaftlichkeit fürchten. Ich hingegen bin nicht der Überzeugung, dass Menschen besser arbeiten, wenn sie rechtlos und unbezahlt sind. Seit ich die Arbeitsbedingungen in den Hainen verbessert habe, ist auch die Arbeit effizienter geworden. Und die Bediensteten des Palastes können mit dem kleinen Salär, das sie als freie Menschen erhalten …«
»Doch die Sklavenhändler haben das Nachsehen«, unterbrach Coponius. »Sie leiden unter den Zöllen. Außerdem bieten einige der Freigelassenen ihre Dienste jetzt für geringes Geld an, so dass die Nachfrage nach Sklaven sinkt.«
»Mein Mitleid mit den Sklavenhändlern ist begrenzt«, erklärte sie.
»Und was«, schnauzte er, »hast du mit den vielen Bediensteten vor, die du zusätzlich angestellt hast? Mir ist nicht entgangen, dass du deinen Bürgern mehr als einhundert Sklaven abgekauft und anschließend freigelassen hast und sie nun auch noch verpflegst, obwohl sie nichts tun. Stellst du etwa ein Heer auf?«
Salome schmunzelte. »Ich kann dir nicht verdenken, dass du einen solch abstrusen Verdacht hegst. Ein Heer von hundert Soldaten! Wem soll ich denn damit Angst machen? Ich vermute, wenn man derart lange beim Militär ist wie du, edler Coponius, sieht man in allem, was geschieht, stets nur militärische Hintergründe. Nein, die Männer sind für den Bau einer Küstenstraße gedacht, die im nächsten Frühling …«
»Die Küstenstraße durch Ashdod«, donnerte er, »soll Teil einer römischen Appia zwischen Syrien und Ägypten werden, entworfen von römischen Architekten, gebaut von Sklaven, die Rom gehören. Du hast nichts damit zu tun.«
Für Salomes Geschmack hatten die Juden seit der Besetzung durch römische Legionen viel zu wenig in und mit ihrem eigenen Land zu tun. Sie ignorierte nicht die Vorteile, die Roms Oberherrschaft mit sich brachte: Es ging wesentlich geordneter und unblutiger zu als unter der Peitsche des Herodes oder während der Herrschaft des Trunkenboldes Archelaos. Die Römer mischten sich nicht in die jüdische Rechtsprechung ein, gewährten dauernde Befreiung von der Pflicht, wenigstens einmal jährlich dem römischen Göttervater Jupiter zum Wohl des Staates zu opfern, und zogen jüdische Männer nicht zum Kriegsdienst ein wie die jungen Burschen anderer Provinzen. Sie verhielten sich für ihre Verhältnisse außergewöhnlich geschickt. Alles in allem konnte man sich also in Judäa über die Fremdherrschaft nicht beklagen, und tatsächlich gab es nur wenige, die sich offen gegen sie aussprachen. Dennoch spürte Salome, was in den Herzen ihrer jüdischen Brüder und Schwestern vorging. Das Land, seit vielen Jahrhunderten Eigentum des Volkes, seit unzähligen Generationen bebaut, immer wieder mit hohem Blutzoll verteidigt, Ort heiliger Geschehnisse, Wirkstätte der Propheten – dieses Land gehörte ihnen nicht mehr. Dort, wo David einst gegen die Philister geritten war, marschierten heute römische Hilfstruppen, wo Moses seinen Bund mit den Israeliten geschlossen hatte, stand heute eine Karawanenstation mit blökenden Kamelen und Mauleseln, und nur einen Steinwurf vom Allerheiligsten entfernt, von der Bundeslade im Tempel von Jerusalem, warfen Legionsstandarten ihre Schatten über die Mauern der Burg Antonia. Das Gefühl, ohnmächtig zu sein, bohrte sich wie ein leiser Schmerz durch die jüdischen Herzen, und Salome wollte das ihre tun, um diesen Schmerz ein wenig zu lindern.
Salome beugte sich vor und faltete gelassen die Hände auf dem Schreibtisch. »Natürlich wird es eine im wesentlichen römische Straße sein. Für das Selbstgefühl der jüdischen wie griechischen Einwohner von Ashdod ist es jedoch wichtig, dass wir nicht bloße Empfänger römischer Gunst sind. Wir sind durchaus in der Lage, selbst einen Beitrag …«
»Rom bestimmt, wozu ihr in der Lage sein dürft und wozu nicht«, fuhr Coponius dazwischen.
Salome atmete tief durch. »Ich handele nur im römischen Interesse, Coponius. Die Stimmung unter den Juden ist noch friedlich. Sie trauern vergangenen Zeiten nach, gewiss, sie grollen jedoch den Römern nicht. Je aufdringlicher dagegen der römische Machtanspruch wird, umso zorniger werden …«
»Soll das etwa eine Drohung sein?«
Salome erhob sich ruckartig und rief: »Wir sind hier nicht auf einem Kasernenhof, Coponius. Es steht dir nicht frei, eine Fürstin andauernd zu unterbrechen. Das ist nicht nur schlechter Stil, sondern auch außerordentlich undiplomatisch und töricht. Ich könnte mich bei Kaiser Tiberius über dich beschweren.«
Coponius sah sie sichtlich irritiert an. Auf einen solchen Ausbruch schien er nicht vorbereitet, was sie nicht verwunderte. Weder als Legionskommandant in Syrien noch als Prokurator von Judäa hatte es Menschen gegeben, die so mit ihm sprachen. Seit Jahren gab es niemanden, von dem er Befehle oder auch nur Zurechtweisungen erhielt, außer vielleicht in schriftlicher Form vom Kaiser. Die Überraschung verschlug ihm die Sprache, und Salome nutzte die Gelegenheit, die Wogen wieder zu glätten. Ihr war es nur darum gegangen, die Würde Ashdods und ihre eigene zu verteidigen, nicht aber, einen Konflikt vom Zaun zu brechen.
»Du sollst mich nicht falsch verstehen, edler Coponius. Ich bin dir sehr dankbar für das, was du in der Vergangenheit für mich getan hast. Ich werde dir die Begnadigung Timons nie vergessen.«
Er grinste. »Da du gerade davon sprichst, Fürstin: Ich habe kürzlich eine Nachricht eines befreundeten Offiziers erhalten, der Timon vermutlich gesehen hat. Er spricht von einem jungen Mann deiner Größe, blond, griechisch, ein guter Reiter. Der Mann hieß Timon.«
»Und wo?«, fragte Salome mit pochendem Herzen.
»In Memphis, Fürstin.«
Ägypten. Was konnte Timon dort wollen? Setzte er seine Studien fort, seine Reisen durch den Osten? Tat er es seinem gelehrten Vater Nikolaos nach, der in jungen Jahren ebenfalls alle Länder erkundet hatte?
Müde setzte sie sich auf den Stuhl. Timons Namen im Kopf, konnte sie sich nicht länger konzentrieren. Mit Coponius würde ihre letzte Informationsquelle das Land verlassen, denn ihre eigenen Agenten – die gleichen, die seltene Manuskripte für sie aufstöberten – hatten nie auch nur die geringste Spur von Timon entdeckt. Es war fast so, als habe der Erdboden ihn verschluckt. Ohne Coponius’ Hilfe würde sie Timon nie wiedersehen.
Plötzlich erinnerte sie sich an etwas, das ihre Mutter vorhin erwähnt hatte. Der neue Prokurator wurde zur Einweihung der neuen galiläischen Hauptstadt erwartet. Wenn sie diesen Pontius Dingsda nun bitten würde …
»Um noch mal auf die Küstenstraße zurückzukommen …«, riss Coponius sie aus ihren Tagträumen.
Salome wollte soeben etwas erwidern, als Herodias sagte: »Ich denke, ihr beiden solltet es dabei bewenden lassen. Du, Coponius, bist nächste Woche schon weit weg. Und wir in Ashdod werden das alles noch einmal in Ruhe besprechen, nicht wahr, Salome?«
Diese Floskel kannte Salome zur Genüge. Mit »besprechen« meinte Herodias, dass am Ende nach ihrem und Theudions Willen verfahren wurde. Dieser Zustand musste irgendwann einmal ein Ende haben. Eines allerdings stimmte: Es machte keinen Sinn, diese Auseinandersetzung heute und vor Coponius zu führen.
So gab Salome für den Augenblick nach und verbeugte sich leicht vor dem Römer. »Dann gute Fahrt«, wünschte sie.
»Ave«, verabschiedete er sich mit ausgestrecktem Arm und fügte mit einer merkwürdigen Betonung hinzu: »Und viel Glück bei der Suche nach dem Griechen.«
Als er gegangen war, teilte sie ihrer Mutter mit, dass sie sie auf der Reise nach Tiberias begleiten werde. Herodias schien außerordentlich erfreut, geradezu erleichtert, und das brachte Salome auf eine Idee.
»Nur, wenn du mir einen Gefallen tust, Mutter.«
»Jeden«, erwiderte Herodias bester Laune. »Worum geht es?«
Salome lächelte ihre Mutter mit funkelnden klugen Augen an. »Ich möchte, dass du mir dabei hilfst, die Sklaven im Hain freizulassen.«
 
Herodias tauchte die Feige in eine Schüssel mit Honig, anschließend in eine Schale Zimt und reichte sie schließlich, auf einen Stab gespießt, Coponius.
»Das essen wir Juden zum Neujahrsfest«, erklärte sie. »Auf dass das kommende Jahr so süß werde wie das vergangene.«
»Nein, danke«, wehrte Coponius ab. »Mir wird heute noch übel, wenn ich an die Teigtaschen denke, die du mir damals auf dem Fest der Alten verabreicht hast. Eure Traditionen liegen uns Römern schwer im Magen.«
Herodias ließ sich von der mürrischen Ablehnung nicht beirren, nahm einen großen Bissen von der Feige, leckte mit der Zunge über die vom Honig klebrigen Lippen und küsste Coponius. Doch er erwiderte ihren Kuss nicht, und als sie sich wieder zurücklehnte, nahm er ein Tuch und wischte sich damit den honigverschmierten Mund ab. Mit keinem Blick, keiner Geste und keinem Wort ging er auf ihre Annäherungen ein. Schließlich gab sie auf.
Sie grollte Coponius nicht, sie konnte ihn sogar verstehen. Ihre Beziehung war seit heute eine abgeschlossene Episode. Er ging nach Rom, sie blieb hier, so einfach war das. Eine Zeit lang hatten sie Spaß gehabt und nebenbei ein für sie beide lukratives Geschäft gemacht, sie hatten sich gegenseitig benutzt und ergänzt, jeder hatte dem anderen zu dem verholfen, was er brauchte. Aber in Beziehungen, die weder durch Liebe noch durch Freundschaft verknüpft waren, gab es einen Zeitpunkt, an dem man sich besser trennte. Dieser Zeitpunkt war jetzt gekommen, denn sie vermochten einander nichts mehr zu geben.
Die Dinge, die noch zu klären waren, konnten sie in wenigen Augenblicken besprechen.
»Könnte dein Mann uns überraschen?«
»Nein. Theudion hat sich eine Zweitfrau genommen, ein braves Ding vom Lande. Seither besucht er mich nicht mehr – zum Glück. Ich bin ihm wohl zu frech geworden.«
»Ein Spitzel berichtete mir, er beschäftigt sich in letzter Zeit viel mit den Finanzen Ashdods. Das gefällt mir nicht.«
»Theudion versteht nichts von Finanzen.«
»Weshalb beschäftigt er sich dann mit ihnen?«
»Mache dir keine Sorgen. Ich habe die Zahlungen an dich derart komplex verschleiert, dass jemand wie Theudion nie dahinter kommt.«
»Und eure Finanzbeamten?«
»Von mir bestochen, was glaubst denn du?«
Coponius seufzte erleichtert und lehnte sich zurück. Es gab kaum einen Prokurator oder Statthalter, der sich an der Provinz, die ihm unterstand, nicht schadlos hielt. Sie alle stopften sich ihre Taschen mit Geld voll, das sie auf die eine oder andere Weise aus dem Land pressten. Senat und Kaiser wussten es und sahen großmütig darüber hinweg. Nur erwischen lassen durfte man sich nicht, denn dann fielen alle entrüstet über das »schwarze Schaf« her, das ihren guten Ruf befleckte. Coponius bekam Gelder von den Sklavenhändlern und den Straßenbauern, deren Interessen er im Gegenzug vertrat. Seine größte Einnahmequelle jedoch war Ashdod, und zwar noch für ein ganzes Jahr.
»Du benachrichtigst mich«, mahnte er, »wenn in dieser Sache irgendetwas schief läuft, hörst du?«
Sie nickte. »Und jetzt sage mir, weshalb du Salome derart hinters Licht führst.«
»Tun wir das nicht beide?«
»Du weißt genau, was ich meine. Es war unnötig, ihr heute eine Lüge über den Griechen aufzutischen. Nach vier Jahren habe ich sie endlich so weit, dass sie anfängt, diesen Burschen zu vergessen, und da kommst du daher und fachst ihre letzten verglimmenden Hoffnungsfunken wieder an. Jetzt wird sie ihre Leute nach Memphis schicken, anschließend nach Alexandria und Theben. Sie wird ganz Ägypten nach ihm absuchen lassen, was Monate, vielleicht sogar Jahre dauern kann. In dieser Zeit wird sie jeden Tag mit trügerischer Hoffnung aufstehen und schmerzlicher Enttäuschung ins Bett gehen. Sie ist eine junge Frau. Sie sollte sich vergnügen. Dank dir wird daraus erst einmal nichts. Wieso machst du so etwas, Coponius?«
Er zog seine Augenbrauen zusammen. »Hast du nicht gehört, wie sie mich abgekanzelt hat? Wie sie mir mit dem Kaiser drohte? Keiner redet ungestraft so mit mir, schon gar nicht ein Früchtchen wie sie. Du solltest froh sein, dass sie weiter dem Griechen nachhängt. Für dich bedeutet jedes Jahr, in dem sie unverheiratet ist, ein hübsches Sümmchen mehr in deiner Privatschatulle, die du dir mit Hilfe der bestochenen Beamten sicher angelegt hast.«
»Ich bin ihre Mutter. Es ist mir nicht egal, wenn sie unglücklich ist, versteh das doch.«
Coponius lachte verächtlich. »Und was für eine Mutter du bist! Nimmst ihr den Mann, den sie liebt, schröpfst ihr Vermögen, belügst sie nach Strich und Faden, regierst nach eigenem Gutdünken … Da fällt mir ein: Dass du mir dafür sorgst, dass die Küstenstraße im Namen Roms gebaut wird, nicht im Namen Ashdods. Schlimm genug, dass ich nichts für die Sklavenhändler tun konnte, da will ich nicht auch noch die Straßenbauer verprellen.«
Herodias biss sich auf die Lippe. Sie verschwieg Coponius besser, dass sie erst vor einer Stunde zugestimmt hatte, dabei zu helfen, alle Sklaven aus dem Hain freizulassen. Dieses Luder von einer Tochter! Wie geschickt sie die Zustimmung zur Reise mit etwas verknüpft hatte, was sie haben wollte.
Herodias grinste. Im Grunde eiferte ihre Tochter ihr ja nur nach, wollte werden wie sie. Zwar schlugen bisweilen noch Theudions Trotz und unvernünftige Offenheit in Salome durch, doch das durfte man ihr nicht zum Vorwurf machen. In ein paar Jahren hätte sie Salome zu ihrem Ebenbild gemacht.
Sie wandte sich von Coponius ab. »Es ist besser, wenn du jetzt gehst, Coponius.«
Er zuckte mit den Schultern, stand auf, ohne Herodias noch einmal zu berühren, und öffnete die Tür. Dann fiel ihm noch etwas ein. »Ein guter Rat zum Schluss, Herodias, und ich meine das wortwörtlich, es ist wirklich ein guter Rat von einem guten Offizier. Nimm dich in Acht vor deiner Tochter. Sie hat hoch fliegende Ideen, ist klug, unerschrocken und willensstark. Solche Menschen sind nur schwer im Zaum zu halten. Eines Tages, Herodias, musst du dich entscheiden, ob du ihre Mutter – eine wirkliche Mutter – sein willst oder ihre Gegnerin. Versuchst du beides zu sein, wirst du ihr unterliegen, und dann möge dein Gott dir beistehen.«
 
Schon nach einer Woche konnte Salome den Anblick des Sees kaum noch ertragen. Er kam ihr viel zu schön vor, wie ein Paradies, in dem alle Sinne eine Heimat zu haben schienen und nichts unvollkommen geblieben war. Der ständig wehende, leise Wind kräuselte seine Oberfläche, und die Sonne verlieh ihm einen bläulichen Schimmer, der die Augen beruhigte und die Hitze kühlte. Sein süßes, frisches Wasser war voller Fische, eine nie versiegende Quelle des Wohlstands. Genezareth: Fast schon ein Meer, ein Meer aus Segeln, gesäumt von Pinien und Zedern, die auf diesem Fleck zwischen Wärme und Wasser ihren herben Duft besonders reichlich verströmten. Seine bewaldeten, zum Wasser abfallenden Ufer machten Genezareth zu einer warmen, abgeschlossenen Welt.
Doch diese Welt, dieses Paradies, wurde von Antipas regiert. Ihr Onkel war ein Widerling und verdarb ihr jede Laune. Alles an ihm stieß sie ab, seine ganze Erscheinung, seine überquellende Korpulenz, die im krassen Gegensatz zu seiner grotesken Schreckhaftigkeit stand, seine hohe Stimme, der meist ein jammernder Ton unterlegt war, das immerwährende Grinsen, das keines war, sondern ein Blecken der Zähne, ganz egal, was Antipas sagte oder tat, sein Mangel an Reinlichkeit, die Art, wie er schöne Frauen ansah, sein kindischer Aberglaube … Sie hätte die Aufzählung noch bequem bis in die Dunkelheit fortsetzen können.
Doch die offizielle Einweihung der neuen Hauptstadt Galiläas, Tiberias, fand erst in drei Wochen statt, und erst dann wurde auch Coponius’ Nachfolger Pontius Pilatus erwartet, der der einzige Grund ihres Aufenthalts war. So lange musste sie also noch hier bleiben und gemeinsam mit ihrer Mutter kuren, wie Herodias es nannte.
Salome wandte ihren Blick vom See ab und ging ein paar Schritte durch den Garten. Er war unglaublich dicht bewachsen, ein grünes Geflecht aus Pflanzen. Von dem Steinweg, der sich wie ein Pfad durch eine tiefe Schlucht wand, führten kleinere Seitenwege ab, die zu verborgenen Winkeln führten. Zypressen, Hanfpalmen und Drazenen ragten wie riesige Schwerter in den Himmel, und Lilien in den unterschiedlichsten Farben bildeten dichte Blumenteppiche. Salome fehlte jedoch der Geruch des Meeres und der Zitrushaine.
Vom Hügel, auf dem der Palast stand, kam Berenike heruntergelaufen. Sie trug trotz des für den Herbstmonat cheshwan warmen Wetters eine langärmelige, dunkelbraune Tunika aus grober Webarbeit, in der sie sicherlich furchtbar schwitzte. Das Gewand war zudem dermaßen hässlich, dass Salome sich ihres leuchtenden roten Kleides und des feinen goldenen Schmucks an Armen, Ohren und Hals beinahe schämte.
»Nun«, rief sie ihrer Freundin entgegen, »hat dein Mann vergessen abzuschließen, oder hat er heute seinen großzügigen Tag?«
Berenike hatte vor einem Jahr auf Wunsch ihrer Eltern heiraten müssen, und zwar ausgerechnet Kephallion. Wie Salome nicht anders erwartete, behandelte Kephallion ihre Freundin nicht gut. Er zwang sie in lange, unvorteilhafte Kleider, damit sie nicht in Versuchung käme. Er legte fest, wann sie im Palast zu bleiben hatte und wann sie hinausgehen durfte, wen sie empfangen durfte und wen nicht. In ihren Briefen an Salome hatte Berenike nichts von diesen Verboten berichtet, was daran lag, dass Kephallion jeden einzelnen vorher las. Erst hier hatte Salome davon erfahren.
Berenike machte ein betroffenes Gesicht. »Mach keine Witze darüber. Kephallion und ich haben uns darüber verständigt, wie oft du und ich uns sehen dürfen. Eine Stunde, jeden zweiten Tag.«
»Sehr nett von ihm«, kommentierte Salome sarkastisch. »Du hast Kephallion gegenüber ja schon immer eine gewisse Hörigkeit gezeigt. Hat er dich mittlerweile so weit, dass du den Unsinn, den er redet, auch noch gut findest?«
»Du verstehst das nicht, Salome. Es ist nicht nur Kephallion. Der ganze Hof hat in den letzten Jahren eine andere Richtung genommen.«
»Eine rückschrittliche«, präzisierte Salome und wusste, wer für diese Veränderung verantwortlich war: die Pharisäer. Antipas war ein schwacher, ängstlicher Herrscher. Wie einst Herodes fürchtete er, dass er vom Volk gestürzt oder von den Römern abgesetzt werden könnte, andererseits besaß er nicht die Härte und das politische Geschick seines Vaters. Herodes hatte alle beherrscht, den sanhedrin, die Priesterschaft, das Volk und die Sekten. Antipas hingegen machte sich aus lauter Furcht zum Sklaven der Interessengruppen. Er wollte es jedem recht machen, und wenn das nicht ging, suchte er sich die aus, die ihm am stärksten schienen, und gab ihnen Recht. Er fürchtete sich vor den radikalen Zeloten, die immer heftiger gegen die Römer und deren Unterstützer predigten. Doch sie waren zu extrem, um sie sich zu Freunden zu machen; die Sadduzäer und Essäer hingegen waren zu unauffällig und unbedeutend. Also warf er sich den beim Volk beliebten Pharisäern in die Arme, die sich völlig unpolitisch verhielten und sich nicht um die Römer, Griechen und andere Fremde im Land kümmerten. Sie strebten keine weltliche Herrschaft, sondern ausschließlich die vollständige Kontrolle über den Glauben an. Mit Antipas’ Genehmigung diktierten sie dem Hof ihre Vorstellungen von Religion und Welt. Sie dachten sich neue Gebote aus, die nirgendwo in der thora standen, oder interpretierten die vorhandenen Gebote auf eine Art, dass etwas völlig anderes aus ihnen entstand. Einen Zaun um die thora bauen, nannten sie das, so als errichteten sie eine Mauer um eine Festung, als schützten sie die thora damit. In Wahrheit gestalteten sie so die Welt nach ihren Vorstellungen. Sie schrieben den Leuten ihre Kleidung vor, die Essgewohnheiten, die Körperpflege, ihre Geschäfte und den Umgang mit Geld und sogar die Ausdrucksweise, also alle täglichen Gewohnheiten, so als reichten die sechshundertdreizehn göttlichen Gebote noch nicht, um das Leben in Bahnen zu halten. Die Zeloten, die ihnen seit Einmarsch der Römer Konkurrenz machten, ließen sie von Antipas von den Straßen und damit aus dem Blick des Volkes vertreiben. Um all das am Hof und in ganz Galiläa durchsetzen zu können, drückten sie beide Augen zu und erhoben weder Einwände gegen Antipas’ starke, heidnische Neigung für Hellseherei und Sternendeutung noch gegen seine privaten Ausschweifungen. Ihre Macht über Antipas wurde am Hofe repräsentiert durch Rabban Jehudah.
»Mir sind die Schriften des Rabban Jehudah wohl vertraut«, sagte Salome. »Er ist zweifellos einer der führenden Köpfe der Pharisäer, außerdem extrem konservativ, aber selbst er schreibt den Frauen nicht vor, wie viele Stunden sie im Freien zubringen dürfen. Eine tüchtige Zurechtweisung täte Kephallion nicht schaden. Du bist allerdings auch selbst schuld. Wie kann man sich nur derart unterordnen!«
»Pfui«, sagte Berenike, »du hast meine Gebete nicht verdient.«
Salome staunte. »Weshalb, um alles in der Welt, betest du für mich?«
Berenike beruhigte sich schnell wieder. Sie konnte nie lange böse auf jemanden sein. »Wegen Timon«, gestand sie mit gesenktem Kopf. »Ich bete, dass du ihn vergisst.«
Salome erstarrte. »Das ist doch wohl nicht zu fassen. Warum will eigentlich jeder, dass ich Timon vergesse?«
»Er macht sich in dir breit, Salome, darum. Ja, wenn er zum Anfassen wäre, aus Fleisch und Blut, würde ich nichts sagen, doch er ist längst zu einer fixen Idee geworden. Kein Brief, kein Wort, kein Zeichen von ihm. Würde er dich wirklich lieben, hätte er sich nach seiner Freilassung irgendwie mit dir in Verbindung gesetzt.«
Berenike war in diesem Moment wie ein Sprachrohr von Salomes eigenen, dunkelsten Stimmen, jenen Stimmen, die sie jeden Tag mühsam unterdrückte. Sie wurde ärgerlich.
»Na und? Was verliere ich schon, wenn ich weiter hoffe? Gar nichts. Warum also soll ich das Schönste, was mir in meinem Leben widerfahren ist, vergessen?«
»Du würdest offen sein für einen anderen Mann, Salome. Du würdest ihn heiraten, glücklich mit ihm sein …«
»So wie du mit deinem Mann, ja? Vielen Dank.«
Berenike senkte betroffen den Kopf; ein Zeichen, dass sie verletzt war. Diese Geste hatte Salome früher immer sofort beschwichtigt, doch jetzt war ihr Ärger über die Einmischung noch nicht verraucht. So schnell konnte sie nicht vergeben, dass jemand Zweifel an Timon wecken wollte.
»Und was meine Anstrengungen betrifft, so sind sie noch lange nicht erschöpft. Ich will mit Pontius Pilatus sprechen, dem neuen römischen Prokurator. Er soll mir irgendwie helfen. Darum bin ich hier, aus keinem anderen Grund, und schon gar nicht, um mit dir und deinem ganzen beklemmenden Leben Hand in Hand spazieren zu gehen.«
Berenike schlug die Hände vor das Gesicht und schluchzte. Auf der Stelle bereute Salome, was sie gesagt hatte, zumal es nicht der Wahrheit entsprach – jedenfalls nicht ganz. Tatsächlich empfand sie diesen Hof und das Leben, das Berenike führte, bedrückend. Und Pontius Pilatus war der wichtigste Grund ihrer Anwesenheit. Nichtsdestotrotz freute sie sich, ihre liebste Spielgefährtin von einst wiederzusehen, die Einzige, die stets eine Freundin für sie gewesen war.
Sie legte Berenike entschuldigend die Hand auf die Schulter, doch in dem Moment, als sie sie berührte, rannte Berenike davon. Salome lief hinter ihr her. »Berenike! Warte doch! Es tut mir Leid. Ich habe es nicht so gemeint.«
Die Verfolgungsjagd ging über die vielen Wege und Seitenwege des Gartens, über Rasenflächen, um Zypressen herum und durch Dickicht. Doch Salome geriet schnell außer Atem und musste schließlich entkräftet aufgeben. Keuchend lehnte sie sich gegen einen der großen, ovalen Steine, die hier überall herumlagen.
Von allen Schwächen der Kindheit war ihr nur noch die schnelle Erschöpfung geblieben. Ihre Ausschläge waren vor einigen Jahren verschwunden, ebenso die Blässe und die geröteten Augen. Heute schimmerte ihre Haut zartbraun und gesund, unterstützt von einer Mischung verschiedener Palmöle, die Herodias ihr zusammenstellte und fast täglich auftrug. Die Haare waren weitaus kräftiger geworden, doch Salome behielt die Frisur, die sie am Tag nach Timons Eintreffen in Ashdod von ihrer Mutter hatte machen lassen, unbeirrt bei. Sie flocht das Haar jeden Morgen über den Ohren, strich das Stirnhaar zurück und hielt es mit einer Perlenkette zusammen. Kein Husten peinigte sie mehr, und ihre hektischen Blicke und Bewegungen kontrollierte sie eisern, denn sie fand sie einer Stadtfürstin unangemessen.
Gegen die innere Unruhe konnte sie allerdings nichts tun. Sie konnte sich nie länger als eine Stunde auf eine bestimmte Tätigkeit konzentrieren, gleichgültig, ob es sich um Lernen, Lesen oder Diskutieren handelte. Dann gingen ihr andere Gedanken durch den Kopf, lenkten sie ab, führten sie zu anderen Themen und Orten. Sie musste dann fast zwanghaft ihre Tätigkeit unterbrechen, um irgendetwas nachzuschlagen, einen alten Bericht einzusehen oder einen ganz bestimmten Brief zu schreiben. Manchmal passierte ihr das mitten in der Nacht, dann entzündete sie eine Öllampe, ging zu ihrem Schreibtisch oder lief einfach im gyneikon auf und ab, oft stundenlang. Eine Weile hatte sie geglaubt, dass Timon der Grund dafür sei, und ganz bestimmt spielte er dabei eine gewisse Rolle. Wenn sie wüsste, dass er sich nichts aus ihr machte, ja sogar, wenn er tot wäre, würde alles ein wenig leichter für sie sein, auch wenn dieser Gedanke furchtbar war. Die Ungewissheit jedoch war bohrend und unerträglich, sie hasste sie.
Timon war der wichtigste, nicht jedoch der einzige Grund für ihre Ruhelosigkeit. Ihr Drang nach Verantwortung, nach einer wirklichen Aufgabe, wurde mit jedem Tag stärker, sogar hier am See Genezareth, fern von Ashdod, und sogar jetzt, wo sie noch immer nach Atem rang.
Plötzlich hatte sie das Gefühl, beobachtet zu werden. Sie blickte um sich, konnte aber weder links zwischen den Büschen noch rechts, wo Berenike schluchzend auf dem gewundenen Seitenweg verschwunden war, jemanden entdecken. Kaum zehn Schritte vor ihr erhob sich ein Teil des neu errichteten Palastes, dessen weiße Fassade in den Strahlen der Sonne so hell leuchtete, dass Salome schützend die Hand über die Augen halten musste. Sie sah an der Wand hoch und entdeckte auf einer mit Säulen geschmückten Balustrade eine Frau. Sie war noch keine dreißig Jahre alt, wunderbar schön, schlank und hoch gewachsen. Ihre nussbraune Hautfarbe wies sie unverkennbar als Nabatäerin aus, eine Angehörige des heidnischen Nachbarvolks, das in den Wüsten und Bergen Arabiens lebte und selbst den Römern zu unbedeutend war, um ihren politischen Einfluss dorthin auszudehnen. Die Gestalt der Frau war fremdartig. Ihre bunten Kleider waren mit den Tuniken, die in Judäa und Kleinasien getragen wurden, nicht zu vergleichen, sie waren weit geschnitten und luftig. Beim leisesten Windhauch bewegte sich der zarte, transparente Stoff, der außer Händen, Hals und Gesicht den ganzen Körper bedeckte, auch die Kopfhaare. Auf der Stirn der Araberin prangte eine zarte, runde Silberdublette in Münzgröße.
Bevor Salome einen Gruß hinaufschicken konnte, war die Unbekannte schon wieder verschwunden.
Hinter Salome raschelte es im Gebüsch. Sie drehte sich um und sah Berenike.
»Ich habe mich albern benommen«, sagte ihre Freundin. »Ich hätte das über Timon nicht sagen sollen, und ich hätte auch nicht weglaufen sollen. Nun ist unsere Stunde fast um, und ich muss wieder zwei Tage darauf warten, dich zu sehen.«
»So ein Un …« Das Wort »Unsinn« schluckte Salome hinunter, denn sie wollte Berenike nicht noch betroffener machen, als sie es ohnehin schon war. »Stunde hin oder her: Wir nehmen uns jetzt noch ein wenig Zeit. Komm, lass uns zum See gehen.«
Salome hakte sich bei Berenike unter und führte sie die einhundert Stufen hinab zum Ufer des Genezareth. Das Wasser plätscherte leise an die Ruderboote, die dort lagen, und Salome verspürte den Wunsch, in einen der Kähne zu steigen und hinaus auf den See zu rudern. Doch sie fühlte sich zu schwach, und Berenike hätte ohnehin zu viel Angst, also ließ sie den Plan wieder fallen und setzte sich stattdessen auf die kleine Ufermauer, zog die Sandalen aus und streckte die Füße ins Wasser.
»Ich habe eben eine Frau gesehen, die ich nicht kannte.«
»Wo?«, wollte Berenike wissen.
»Auf der Balustrade. Sie trug weite, bunte Gewänder.«
»Ach die«, rief Berenike. »Das war vermutlich Haritha, die Frau von Antipas.«
»Das war die Fürstin?«
Berenike zuckte mit den Schultern. »Antipas nennt sie nicht so. Wenn er von ihr spricht, sagt er einfach ›meine Frau‹ oder ›Haritha‹. Er spricht nicht oft von ihr. Sie tritt auch so gut wie nie vor dem Hof auf. Die meiste Zeit verbringt sie in ihren Gemächern, nur zu Feiertagen und anderen bedeutenden Ereignissen sieht man sie. Womit sie sich die Tage vertreibt, weiß niemand, denn sie hat kein Kind. Und Antipas ist überall, nur nicht bei ihr.«
»Sie sieht bezaubernd aus.«
Berenike machte ein Gesicht, als wäre ihr dieses Wort im Zusammenhang mit Haritha nie in den Sinn gekommen. »Sie ist … ungewöhnlich. Obwohl sie zum Judentum übergetreten ist, so wie alle fremdländischen Frauen, die einen jüdischen Mann heiraten, benimmt sie sich alles andere als jüdisch. Ihre Kleidung hast du ja gesehen. Sie zieht diese vielen Schleier übereinander an und umgeht damit das höfische Kleidergebot. Rabban Jehudah ist zwar empört, kann aber nichts gegen ihre Aufmachung tun, denn die Kleider bedecken fast den ganzen Körper und erfüllen damit die sittlichen Gebote. Trotzdem ist Haritha eine Provokation.«
»Wegen der Farben?«, fragte Salome und blickte an ihrer eigenen, leuchtend roten Tunika herab. »Dann wäre ich ja auch eine Provokation.«
Berenike kommentierte das nicht. »Vor allem wegen ihrer Bewegungen. Sie macht manchmal so seltsame Gesten mit den Händen, und ihr Gang ist der einer babylonischen Hu …« Berenike stockte, als sei es bereits eine Sünde, das Wort Hure auszusprechen. »Jedenfalls dringt manchmal heidnische Musik aus ihren Gemächern, und manche glauben, dass Haritha dort heimlich …« Berenike machte eine bedeutungsvolle Pause und flüsterte dann: »…tanzt.«
Salome lachte auf. Ihre Freundin tat so, als sei Tanz etwas Verwerfliches, und tatsächlich fand sich im Judentum keine Verwendung dafür, im Gegenteil. Der Tanz schöner Frauen oder muskulöser Männer galt als heidnischer Ritus, der in den Tempeln ägyptischer, syrischer oder afrikanischer Gottheiten teils ekstatisch praktiziert wurde. Salome hatte einiges darüber gelesen und fühlte sich von den Beschreibungen – mit Ausnahme einiger extremer Rituale, bei denen Blut oder gar Menschenopfer mit im Spiel waren – nicht im Geringsten abgestoßen. Es war jedoch nicht verwunderlich, dass ein gläubiger Jude, noch dazu an diesem Hof, noch dazu Kephallion, Tänze als teuflische Verführung verdammte.
»Solange sie nur für sich tanzt – wo ist das Problem?«, fragte Salome.
»Wer weiß, welche scheußlichen Riten sie dabei absolviert«, wandte Berenike ein.
»Ich höre jetzt ganz deutlich Kephallion sprechen.«
Berenike senkte die Augen wie eine Ertappte. »Ja, und in diesem Fall hat er Recht.« Plötzlich schien sie sich an etwas zu erinnern. Sie sprang auf und rief: »Ich muss jetzt gehen, Salome. Bis übermorgen um die gleiche Zeit.«
Noch ehe Salome ihr etwas nachrufen konnte, war Berenike schon die halbe Treppe hinaufgerannt. Sie blieb sitzen, sah auf den See hinaus, wo es von weißen Segeln und schreienden Möwen nur so wimmelte, und seufzte resigniert. Was sollte sie in den nächsten Tagen bloß mit ihrer Zeit anfangen? Die duftenden Pinienwälder, die leuchtenden Blumen und grasbewachsenen Ufer hatte sie bereits zur Genüge erforscht, und Herodias hatte kaum Zeit für sie, vermutlich, weil sie Tag und Nacht mit Antipas »kurte«.
Arme Haritha, dachte sie. Fern der Heimat, in einem fremden Land, ohne Freunde, ohne Kind, an diesem Hof, mit diesem Mann, der sie auch noch betrog. Was Herodias nur an ihm fand? Und ob Haritha von der Beziehung wusste?
Während sie noch immer auf der Ufermauer saß und ihr all das durch den Kopf ging, spürte sie plötzlich einen feinen Luftzug hinter sich. Sie wandte sich halb um und blickte auf einen duftigen, türkisfarbenen Schleier.
 
Salome saß in der Mitte eines zwanzig Schritte im Quadrat großen Raumes, der vollkommen leer war. Die Wände nach Osten und Süden waren von etlichen Fenstern durchbrochen, an denen sich kalkweiße Vorhänge im Wind blähten, die Sonnenstrahlen einfingen, filterten und gleichmäßig über den Raum verteilten. Der Saal war in ein helles milchiges Licht getaucht, das von dem gleichfarbigen, glatten Marmor noch verstärkt wurde. In der Luft hing der Duft von Orangen. Alles wirkte rein und frisch und trotz der Leere nicht im Geringsten abweisend. Sie fühlte sich hier wohl, obgleich ihr alles rätselhaft vorkam.
Haritha hatte sie unten am Ufer in ihre Gemächer eingeladen, und sie hatte sofort angenommen. Zum einen war das die erste Einladung eines Familienmitglieds, die Salome erhielt, denn die meisten schürzten noch immer die Lippen und sahen in eine andere Richtung, wenn sie ihr begegneten. Zum anderen schien Haritha nach allem, was Berenike erzählt hatte, die ungewöhnlichste und deshalb interessanteste Frau am Hof von Tiberias zu sein. Auf dem Weg hierher bemühte Salome sich um eine höfliche Konversation, Haritha dagegen blieb, bis sie in ihren Gemächern waren, wortkarg. Der Dienerin, die sie empfing, gab Haritha einige schnelle Anweisungen in der Sprache ihres Heimatlandes, dann verstummte sie und führte ihren Gast durch die weitläufigen Gemächer. Salome folgte ihr von einem Raum in den anderen, doch immer fand sie an der gegenüberliegenden Wand noch eine Tür und noch eine … Sie staunte über die kräftigen Farben, die überall vorherrschten. Die Bänke und Liegen leuchteten in dunklem Purpur, und die Böden waren über und über mit flauschigen bunten Teppichen ausgelegt, die sich zum Teil überlappten. Jeder Raum wirkte gemütlich, doch ausgerechnet in diesem leeren Saal, dem letzten Raum, bot Haritha ihr einen Platz auf einem der großen runden Kissen an. Dann verschwand sie wortlos und ließ sie allein zurück. Aber Salome langweilte sich kein bisschen, sie nutzte die Zeit, um die vielen Eindrücke von Haritha und den exotischen Räumen zu verarbeiten.
Die Dienerin kam herein und stellte wortlos zwei Kelche mit einem heißen, dampfenden Getränk vor ihr ab.
»Was ist das?«, fragte Salome und betrachtete die Dienerin neugierig. Sie hatte die gleiche dunkle Hautfarbe wie Haritha und verstand offenbar kein Aramäisch, die wichtigste Sprache in Judäa. Im Alltag wurde fast nur sie gesprochen, denn Hebräisch galt als die Sprache der thora und damit Gottes. Sie sollte nicht mit niedrigen Handlungen in Verbindung gebracht werden und wurde darum vornehmlich bei religiösen Zeremonien und Gemeindeversammlungen in den Synagogen benutzt. Ohne große Hoffnung versuchte Salome nun auch, auf Hebräisch mit der Dienerin zu sprechen und anschließend auf Lateinisch und sogar auf Griechisch, das sie von Timon gelernt und weiter geübt hatte, aber die Dienerin lächelte sie nur entschuldigend an. Dann verbeugte sie sich, indem sie ihre Hände auf die Knie legte, und verschwand wieder.
Das Getränk, offenbar ein Tee, duftete sowohl würzig wie süß. Einzelne Aromen kamen Salome vertraut vor, wie der Duft von Nelken, Zimt und Honig, doch vieles in der Mischung war ihr unbekannt. An der etwas dunkleren Farbe der Flüssigkeit in dem anderen Kelch erkannte sie, dass Haritha offenbar eine andere Variante bevorzugte; als sie daran roch, konnte sie keinen Unterschied feststellen.
Sie hatte den anderen Kelch eben abgestellt, als Haritha hereinkam. Die Fürstin hatte sich umgezogen und trug nun weite Gewänder und Schleier in verschiedenen Abstufungen von Gelb. Darin strahlte sie wie die Sonne, doch in ihrem Gesicht spiegelte sich diese Heiterkeit nicht wider. Salome vermochte nicht in den unergründlichen Zügen der Nabatäerin zu lesen. Haritha blickte sie aus ihren dunklen, geheimnisvollen Augen an, als sie sich zu ihr setzte.
»Nun bist du also hier«, sagte Haritha.
Salome wusste darauf nichts zu antworten, denn es war überflüssig, Harithas Aussage zu bestätigen.
»Ich habe dich vorhin erschöpft gesehen. Bist du krank?«
»Nur eine Schwäche, die sich bei Überanstrengung einstellt.«
»Wir sind uns ähnlich, weißt du das?«
Diese Feststellung überraschte Salome. »Inwiefern?«
»Wir sind beide Ausgestoßene dieses Volkes …«
»Ich bin nicht ausgestoßen«, protestierte Salome.
Haritha lächelte mild. »Doch, das bist du. Du willst es nur noch nicht wahrhaben. Wenn du lieber andere Parallelen vorziehst: Wir fühlen uns hier beide nicht wohl, wir sind beide Fürstinnen ohne Macht – und wir ermüden beide schnell.« Als erinnere sie sich an etwas, trank sie einen großen Schluck aus dem Kelch. Anschließend seufzte sie erleichtert.
»Du siehst nicht aus, als würdest du schnell erschöpft sein«, nahm Salome den Faden auf.
»Oh, Erschöpfung muss nicht körperlicher Natur sein. Das weißt du ja auch.«
Salome zog die Augenbrauen hoch. »So?«
»Du trauerst einem Mann nach und ich …« Sie ließ offen, wem oder was sie nachtrauerte und nahm stattdessen einen weiteren Schluck des Trankes. »Er ist Grieche, nicht wahr? Wundere dich bitte nicht, dass ich so manches weiß. Ich habe mich in den letzten Tagen ein wenig über dich informiert, und was ich hörte, hat mir gefallen.«
Harithas Arm vollführte eine anmutige Bewegung, um einen der feinen Stoffe, der allzu weit über die Hand gerutscht war, zurückzuschieben, und anschließend streifte sie den Kopfschleier ab. Ihr schimmerndes, schwarzes Haar reichte weit über die Schultern.
Salome fand sie wunderschön.
»Dann bist du im Vorteil«, stellte sie fest. »Ich weiß kaum etwas über dich.«
Haritha nickte. »Darum bist du hier.« Sie rief etwas auf Nabatäisch, das der Dienerin galt, und nur einen Augenblick später tauchte diese mit Stoffen und einer Schatulle beladen auf und legte diese vor Haritha ab. Dann verschwand sie wieder.
»Das ist für dich«, erklärte Haritha. »Ich habe die für dich passende Kleidung ausgesucht: warme, tiefgründige Farben bei den Stoffen und fein gearbeiteter Schmuck aus meiner Heimat.«
Haritha breitete die Tücher und Schleier nacheinander in einem Kreis um sie herum aus – zimtfarbene, himbeerrote und dunkelviolette Gewänder.
»Das kann ich nicht annehmen«, sagte Salome überwältigt.
Als habe Haritha sie nicht gehört, sprach sie weiter. »Dazu helle Bronze und Bernstein, rate ich dir. Ich selbst neige zu Silberschmuck, aber der ist zu kalt für dich, und Gold kommt überhaupt nicht in Frage. Gold ist aufdringlich, du kannst es in zwanzig Jahren tragen, nicht jetzt.«
Haritha musterte Salomes Haar mit einem skeptischen Blick. »Diese Frisur hat dir deine Mutter empfohlen, richtig? Dachte ich es mir doch. Sie macht dich zu vornehm.«
»Was ist falsch daran?«
»Vornehm ist unsinnlich. Vornehm ist westlich. Trage dein Haar offen wie eine Araberin und umkränze es mit einem Reif. Hier, setze dir den auf.«
Zwischen ihren Fingerspitzen schaukelte ein Bronzereif, versehen mit geheimnisvollen Ornamenten. Er sah aus wie vor langer Zeit in einer fernen Kultur gefertigt.
Salome streckte die Hand nach ihm aus, scheute jedoch im letzten Moment zurück. Diese Geschenke waren derart prächtig, dass sie schon unter normalen Umständen beschämt gewesen wäre; sie nun ausgerechnet von Haritha zu bekommen, einer Frau, die sie erst seit einer Stunde kannte … Noch dazu das problematische Verhältnis, in dem sie zu ihr stand.
Haritha schien das Problem nach einem einzigen Blick in Salomes Augen erfasst zu haben. »Du zögerst, weil du die Tochter der Frau bist, die mit meinem Mann schläft, so ist es doch?«
Salome senkte den Blick und rutschte unruhig auf ihrem Kissen herum.
»Zerbrich dir darüber nicht den Kopf, Salome. Diese Sache interessiert mich weniger, als du glaubst. Sie ist unwichtig.« Haritha blickte einen Moment in den Kelch und leerte ihn vollends. Der Tee schien bei ihr eine Wirkung zu entfalten, die Salome an sich selbst nicht spürte. Harithas Bewegungen wurden fast tänzerisch, und ab und zu schloss sie die Augen und öffnete leicht den Mund.
»Was trinken wir hier eigentlich?«, wollte Salome wissen.
»Oh, nur einen Tee aus verschiedenen Gewürzen, von Karawanen aus östlichen Ländern mitgebracht«, antwortete Haritha in einem seltsamen Singsang. »Arabische Zimtrinde, syrischer Lorbeer, Nelkenpulver und indischer Kardamom … Du kennst Kardamom nicht? Es ist der Samen einer Pflanze. Man zerstößt ihn zu Staub.«
»Entfaltet er diese Wirkung, die ich an dir beobachte?«, fragte Salome.
»Nein«, antwortete Haritha gedehnt und mit geschlossenen Augen. »Die Wirkung kommt von einem Zusatz in meinem Tee, dem theriac
Ihr Lerneifer der letzten Jahre kam Salome nun zugute. Theriac, so hatte sie gelesen, war ein Arzneisaft, der aus sechzig verschiedenen Bestandteilen hergestellt wurde, darunter Gewürze, Baldrian, Mohn und das Blut von Nattern. Er wurde als Gegengift bei Schlangenbissen oder Skorpionstichen verwendet, und von einigen historischen Königen wurde berichtet, dass sie sich mit täglich eingenommenen kleinsten Mengen des Trankes – eine Bohne voll, wie es hieß – immun gegen Giftanschläge machten. Bei einer hohen Dosierung drohte der schnelle Tod, aber wenn man nur ein wenig mehr als »eine Bohne voll« nahm, schien theriac eine seltsame, berauschende Wirkung zu entfalten.
»Und nun«, sagte Haritha und begann, ihre Hüften sanft zu schwingen, »ziehe dir alles an, was ich dir geschenkt habe, lasse nichts weg. Lege dir einen Schleier über den anderen. Schleier sind wunderbar. Sie sind dicht genug, um die darunter liegenden Farben zu verhüllen, und durchsichtig genug, um die Konturen deines Körpers anzudeuten. Sie verdecken, aber sie stimulieren auch. Sie hängen nicht einfach an deinem Körper, sondern schmiegen sich an ihn, legen sich in Falten, bilden Hügel und Täler in mannigfacher, unendlicher Vielfalt, kräuseln und glätten sich wie ein fruchtbarer Strom. Schleier bedeuten Geheimnisse und Schleier bedeuten Verheißungen. Sie verstecken und versprechen etwas. Den Männern erschaffen sie Bilder, die gar nicht da sind, die nur in ihrem Kopf existieren. Das Einzige, was Schleier brauchen, um all das zu sein, was ich eben beschrieben habe, ist die Bewegung. Ohne sie sind sie nutzlos, tot. Nur der Tanz bringt sie zum Leben, Salome. Der Tanz.«
Salome hörte ihr gebannt zu wie einst den thora-Vorlesungen des alten Zacharias; anders als damals bekam sie heute eine Gänsehaut.
»Es gibt nichts Sinnlicheres, Salome, als wenn jeder Teil deines Körpers in Schwingung gerät. Kannst du es spüren? Ich weiß, du vermagst noch nicht einen einzigen Schritt zu tanzen, und doch ist schon jetzt etwas in dir, das in diesem Augenblick nichts anderes mehr will, als die Bewegungen auszuprobieren. Der Tanz ist dir nicht fremd, Salome, denn Tanz ist Leidenschaft, und Leidenschaft steckt in dir, das fühle ich. Du bist auserwählt zu tanzen. Warte nicht länger, Salome.«
Die Fürstin klatschte dreimal in die Hände, und nur einen Atemzug später erklang eine leise Musik, die der Wind mit sich zu bringen schien. Eine einzelne Flöte spielte eine Melodie so fremd wie Haritha und ihre Welt. Dann kam eine zweite dazu, die einen dunkleren, einen magischen, samtigen Ton zauberte. Ein Tamburin, leise rasselnd, brachte einen etwas schnelleren Rhythmus in die Melodie.
Haritha machte keinen Schritt. Nur ihre zur Decke gestreckten Arme schaukelten sachte von einer zur anderen Seite, wie von dem hereinströmenden Wind bewegt. Nach und nach passten ihr Kopf und der Oberkörper sich an. Dann, fast unmerklich, ging die Bewegung in ein sanftes Kreisen über. Haritha war biegsam wie ein junger Zweig. Der Rhythmus der Melodie wurde schneller und mit ihr Harithas Bewegungen. Noch immer verharrte sie auf einem Fleck, und doch schienen sie und die wehenden gelben Schleier den ganzen Saal auszufüllen. Salome konnte nicht einen Moment den Blick von ihr abwenden. Über diesem Tanz vergaß sie alles, sogar den dunkel schimmernden Schmuck in ihren Händen.
»Haritha!« Ein Ruf von nebenan brach wie ein Unwetter in diese Welt hinein. Antipas. Salome zuckte zusammen. Pfeilschnell und plötzlich wieder hellwach, stürzte Haritha auf sie zu, packte sie am Arm und zog sie mit sich zum anderen Ende des Saales, wo sie ihre flache Hand auf einen bestimmten Punkt des Mosaiks presste. Eine Drehtür öffnete sich und gab einen Raum frei.
Haritha schubste Salome hinein. »Er darf dich hier nicht sehen. Das ist zu deinem eigenen Besten.« Dann schloss sich die Tür wieder.
Salome wagte keine Bewegung und atmete flach und schnell. Sie dachte über die merkwürdigen Worte Harithas nach. Warum war es zu ihrem eigenen Besten, sich hier vor Antipas zu verstecken? Er kannte sie doch. Und was konnte er ihr schon tun?
Sie sah sich um. Der geheime Raum war höchstens zwei Schritte breit und zog sich über die ganze Länge der Saalwand. Die Fackeln erhellten nicht nur seine enge, fensterlose Düsternis, sie brachten auch Licht in ein Rätsel. Am Ende des Raumes erkannte Salome die Umrisse von fünf Männern, jeder mit einem anderen Instrument in Händen. Von hier also kam die Musik. Einer von ihnen löste sich aus dem Quintett, ging auf Zehenspitzen auf sie zu und entfernte wortlos einen münzgroßen Deckel von der Wand. Lächelnd wandte er sich wieder um und ging zu den Musikern zurück.
Salome bedankte sich mit einem Kopfnicken. Bisher hatte sie nicht mitbekommen, was in dem Saal vor sich ging. Nun presste sie ihr Gesicht an die Wand und blickte mit einem Auge durch die Öffnung, die klein genug war, um vom Saal aus nicht entdeckt zu werden.
Dort standen Antipas und Haritha beisammen. Nichts deutete darauf hin, weshalb er seine Frau besuchte. Er schwieg, schien ihr also nichts mitteilen zu wollen. Er sah sie auch nicht mit funkelnden Augen an wie jemand, den die Sehnsucht getrieben hatte. Eher gleichgültig sah er der arabischen Dienerin zu, die einige Polsterkissen brachte, auf dem Boden verteilte und dann von ihrer Herrin weitere Befehle erwartete. Antipas kam seiner Frau zuvor und schickte die Dienerin mit einem ungeduldigen Wink hinaus.
Einen Moment schwiegen er und Haritha, schließlich legte er sich auf die Kissen und rief, ohne jede Zärtlichkeit in der Stimme: »Tanze, Haritha.«
Das klang wie ein eingeübter Befehl, der schon tausendmal gegeben worden war und immer das gleiche Ritual nach sich zog. Die Musiker, für das Fürstenpaar unsichtbar hinter der Wand verborgen, setzten die Instrumente an. Haritha nahm die gleiche Position in der Mitte des Saales ein, in der Salome sie vorhin angetroffen hatte. Sie klatschte aber nicht dreimal wie vorhin, sondern viermal, und nur einen Lidschlag später peitschten die Hände eines Musikers mit unglaublicher Geschwindigkeit über den mit Darmhaut bezogenen Hohlkörper.
Im Takt dieses aufwühlenden Rhythmus wirbelte Haritha auf dem Boden um Antipas herum. Ihre Füße sprangen und huschten, sie bog ihren Körper, drehte ihn, ließ die Hüften kreisen und die Arme Figuren in der Luft zeichnen. Das Tamburin beschleunigte den Rhythmus noch weiter. Haritha war eine Sklavin der Musik, sie folgte jedem ihrer Befehle. Dann, mit einem Ruck so schnell, dass Salome ihn gar nicht wahrnahm, warf sie den ersten Schleier ab. Der feine, gelbe Stoff flog zu Antipas, der ihn sogleich griff und daran roch, ohne seinen Blick von der Tänzerin zu nehmen. Der Tetrarch grinste breit, doch man konnte dieses Mienenspiel bei ihm nie deuten. Er konnte sowohl amüsiert sein als auch gereizt, angestrengt, erregt …
Der zweite Schleier flog durch die Luft. Nun schimmerte bereits Harithas dunkle Haut verheißungsvoll durch den dritten Schleier. Noch blieben die Konturen ihres Körpers eine vage Andeutung, nur dann sichtbar, wenn eine bestimmte Drehung sie einen Takt lang freigab.
Antipas’ Augen weiteten sich. Sein Mund stand offen, verlor jedoch das breite Grinsen nicht. Er atmete schwer, die Zunge lag auf seinen Lippen. Der Fürst sackte mehr und mehr in sich zusammen.
Antipas war in diesem Moment offensichtlich nicht mehr der Herr Harithas, nicht der Mann, der ihr Befehle geben und sie mit ständiger Nichtachtung strafen konnte. Er war ihr Geschöpf. Ein Tanz machte ihn zu einem willenlosen Narren, der sich mit der Hand zwischen den Schenkeln rieb, aus dessen Mund Speichel tropfte, der zwischen Ohnmacht und aufgepeitschter Erregung schwankte.
Der dritte Schleier landete auf dem Boden. Außer den Kettchen und Reifen an Armen und Beinen war Haritha nackt und wirbelte um Antipas herum, immer dicht davor, ihn zu berühren, und doch unerreichbar für den Geschwächten.
Die Musik steigerte sich, sie wurde schnell und unangenehm laut. Trommel und Tamburin wetteiferten in ihrer ekstatischen Klangfülle miteinander, überschlugen sich. Jeden einzelnen Atemzug lang produzierten sie Hunderte von Tönen.
Doch drinnen im Saal war der Kampf längst entschieden. Antipas japste wie ein Erstickender und vermochte kaum noch Harithas wildem Tanz zu folgen. Er wälzte sich auf den Kissen, er stöhnte, jammerte hilflos und genoss dabei jede einzelne Sekunde.
Dann, von einem Moment zum anderen, verstummte die Musik. Haritha sprang mit einem gewaltigen Satz zu Antipas, landete auf den Knien, beugte sich über ihn, sodass ihre Brüste unmittelbar vor seinen Augen waren, berührte ihn nur ganz kurz und sacht wie ein Hauch zwischen den Schenkeln, und schon stöhnte Antipas auf, als sei dies sein letzter Laut auf Erden. Er zuckte dreimal, dann war es vorbei. Alles an ihm erschlaffte.
Salome dachte tatsächlich, der Fürst sei in der Erregung gestorben, aber dann, nur wenige Augenblicke später, in denen niemand sich bewegte, in denen Haritha neben ihm kniete und Salome vor Aufregung das Atmen vergaß, gab er wieder einen Laut von sich. Er schnarchte.
Haritha stand auf. Während sie auf die Geheimtür zuging, sammelte sie jene Schleier vom Boden auf, die sie Salome geschenkt hatte. Sie drückte den Knopf, und die Tür öffnete sich.
Ein feuchter Glanz überzog Harithas Haut, die dichten schwarzen Haare hüllten fast ihr ganzes Gesicht ein. Sie lächelte voller Ironie und Verachtung, und Salome wusste, dass es nicht ihr, sondern Antipas galt, dem Besiegten.
»Und das alles«, sagte Haritha, »bringe ich dir bei.«
Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
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