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Salome saß über eine der Dutzenden von
Schriftrollen gebeugt, die auf dem Schreibtisch verteilt lagen und
zusammen De Republica bildeten, Ciceros Untersuchung
republikanischer Verfassungen. Sie hatte fast ein Jahr darauf
gewartet. Der Agent, den sie regelmäßig mit der Suche nach
wissenschaftlichen oder politischen Werken beauftragte, hatte es
schwer gehabt, an eine Abschrift davon zu kommen, denn der Autor
war seit über einem halben Jahrhundert tot, die römische Republik
hatte ihn nicht lange überlebt und die Kaiser mochten seine
republikanischen Plädoyers nicht.
Zum ersten Mal las Salome etwas über die Elemente
einer Verfassung, über die Möglichkeit der Trennung von
Gerichtsbarkeit, Regierung und Polis, der Summe der Menschen
eines Staates, die über die Gesetze abstimmten. Von einer solchen
Regelung war Judäa weit entfernt. Offiziell waren die Gerichte
unabhängig, allen voran der sanhedrin, die höchste
richterliche Versammlung. Der sanhedrin verfügte über eine
eigene Polizei, konnte nach Gutdünken Strafen verhängen und betonte
seine Unabhängigkeit schon durch seine Lage auf dem Tempelberg,
direkt neben dem Allerheiligsten. Sogar Gesetze wurden von ihm auf
der Basis der thora erlassen. Doch das war nur Schein.
Herodes hatte den sanhedrin gefügig gemacht, ebenso die
Priesterschaft, und das Volk hatte ohnehin nichts zu sagen. Im
Grunde war in Judäa unter Herodes genau das passiert, was auch in
Rom unter Augustus geschehen war – vielleicht hatten die beiden
sich deswegen so gut verstanden. Die Verfassungen, die die Macht
auf mehrere Schultern verteilten, waren so lange ausgehöhlt worden,
bis sie nur noch Fassade waren, republikanische Mäntel für
autokratische Herrscher. Cicero, dachte Salome, würde sich wohl die
Haare raufen, könnte er sehen, was aus seiner geliebten römischen
Republik geworden war.
Sie seufzte und rollte das Pergament langsam wieder
zusammen. Die Idee der Gewaltenteilung und der Beteiligung des
Volkes an Entscheidungen war tot. Angesichts der römischen
Besatzung sah Salome auch keinen Sinn darin, irgendwelche
Gedankenspiele in dieser Richtung anzustellen, denn selbst die
kleinsten Veränderungen kamen nur äußerst zäh voran.
Seit vier Jahren war sie nun Stadtfürstin von
Ashdod, besaß großen Reichtum und ein kleines Stück der Macht, von
der sie früher immer geträumt hatte. Sie hing jedoch schon längst
nicht mehr diesen Mädchenträumen nach, die palatinischen Gärten zu
besuchen, zu den Pyramiden zu reisen oder vom Ätna aus in die
Glutröte des Sonnenaufgangs zu schauen. Timon hatte ihr einst den
Anstoß gegeben, die Macht weniger eitel einzusetzen und sie in den
Dienst des Volkes zu stellen – manchmal auch gegen dessen Ängste.
Seine Worte hatte sie zu ihren gemacht, und gewissermaßen regierte
sie über Ashdod auch für ihn und das, woran er glaubte. Leicht war
es nicht, vor allem, wenn man alleine war. Zu erneuern hieß, harte
Arbeit zu leisten und jeden einzelnen Tag die Menschen zu gewinnen
versuchen. Es hieß, ein Leben damit zuzubringen, aus einem Land der
blind Gläubigen eines der Sehenden, Freien und Gerechten zu machen,
das Land einer neuen Zeit.
Nachdem sie vor vier Jahren Stadtfürstin von Ashdod
geworden war, hatte sie festgestellt, dass sie ihre Vorstellungen
nicht einfach in die Tat umsetzen konnte. Würdenträger und Beamte,
der römische Prokurator und seine Offiziere, nicht zuletzt Theudion
und Herodias – irgendjemand hatte immer einen Einwand, weshalb
etwas nicht verändert werden durfte. Ihr Versuch, das polizeiliche
Spitzelwesen in Ashdod abzuschaffen, stieß bei den misstrauischen
Römern auf Widerstand, die nicht auf die heimlich gesammelten
Informationen verzichten wollten; Herodias vereitelte eine geplante
Befreiung der Kleinbauern von der Kopfsteuer, weil damit die
Einnahmen Ashdods reduziert worden wären, und Theudion wandte sich
vehement gegen die Einrichtung von Schulen für Mädchen. Der Streit
darüber hatte Salome tief verletzt.
»Was für eine unverschämte Idee«, hatte er gerufen.
»Schulen für Mädchen! Womöglich noch mit Frauen als Lehrerinnen,
wie?«
»Warum nicht?«
»Frauen wissen zu wenig über die
thora.«
»Natürlich, denn sie erhalten zu wenig
Unterricht.«
»Und du hast zu viel erhalten, scheint mir. Du
lebtest zu lange unter dem Einfluss deiner Großtante. Sie hat auch
nie gewusst, wo ihr Platz war.«
»Sie hat nichts damit zu tun. Über Mädchenschulen
hat sie nie gesprochen.«
»Weil selbst sie wusste, dass Gott keine Frauen
will, die Bücher lesen. Heißt es nicht: ›Gepriesen sei er, der mich
…‹«
»›… der mich nicht zu einer Frau gemacht hat‹, ja
ja, dieser Satz kommt mir bekannt vor. Du hast ihn früher gerne
verwendet, wenn du Mutter verletzen wolltest. In der Genesis
heißt es aber auch: ›Jeder Mann, der keine Frau hat, ist kein
Mensch.‹ Wenn wir es sind, die euch Männer erst zu Menschen machen,
sind in Wahrheit vielleicht auch wir es, die euch erst zu
klugen Menschen machen.«
Theudion verschränkte die Arme vor der Brust.
»Zacharias hat mir schon vor einiger Zeit erzählt, dass du nicht
nur eine Meisterin darin bist, die Worte des heiligen Buches zu
verdrehen, sondern auch, dass du unseren Glauben insgesamt
verhöhnst und sogar verleugnest. Er hatte Recht, das Blut meines
ungläubigen Vaters hat dich infiziert. Du bist keine mehr von uns,
und solange ich lebe, werde ich verhindern, dass du heiratest und
Ashdod mit deinem Gebaren unrein machst. Ich sorge dafür, dass
jeder einzelne Buchstabe der thora diese Stadt auch
weiterhin beherrschen wird.«
Er hatte sich abgewandt und mit gedämpfter Stimme
gesagt: »Wärst doch bloß du statt deines Zwillingsbruders kalt zur
Welt gekommen, dann würde mir jetzt diese Schande erspart bleiben,
eine Ungläubige mein eigen Fleisch und Blut zu nennen.«
Dieser Satz war tatsächlich ein nachgeholter
Dolchstoß. Von jenem Tag an war sie nicht mehr ihres Vaters
Tochter, sie war für ihn die lebendige Schande, und sie selbst
entfremdete sich dadurch ihm, den Traditionen und dem Glauben immer
mehr. Nur noch einmal war er seither einer Bitte von ihr
nachgekommen. Es war dabei um die Erfüllung eines Versprechens
gegangen, das sie Timon einst gegeben hatte: der Kampf gegen die
Sklaverei.
»Wir können die Haltung von Sklaven nicht
verbieten«, hatte Theudion eingewendet. »Die thora erlaubt
es ausdrücklich, solange es sich bei den Sklaven um Angehörige
nichtjüdischer Völker handelt. Und die thora ist bei uns
Gesetz – falls du das vergessen hast«, fügte er missbilligend
hinzu.
Salome betrachtete die thora nicht länger
als das Buch Gottes, sondern als ein von Menschen geschaffenes
Regelwerk, eingekleidet in spannende Sagen und Mythologien,
Wahrheiten und Halbwahrheiten, ähnlich denen jeder anderen
Religion. Vielleicht hatten die Verfasser ursprünglich wirklich
geglaubt, im Namen des Herrn zu schreiben, und vielleicht hatten
sie sogar die besten Absichten damit verfolgt. Tatsache blieb, dass
neben viel Sinnvollem, welches das Leben zwischen Menschen mit all
ihren Begierden ordnete, auch so manch Befremdliches geschrieben
stand, das die Juden den anderen Völkern überordnete, die Männer
den Frauen, die Kämpferischen den Milden und so weiter. Die
Ungereimtheiten waren so auffällig, dass man nur darüber
hinwegsehen konnte, wenn man jedes einzelne Wort zum
unanzweifelbaren Heiligtum erhob. Nüchtern betrachtet jedoch
steckte die thora voller Widersprüche. Oder wie sollte man
es sonst nennen, dass die Sklaverei dem Herrn zwar als verwerflich
galt, solange die Juden die Sklaven waren – wie damals in Ägypten
-, hingegen erlaubt wurde, wenn die Juden selbst die Sklavenhalter
waren?
Doch mit solchen Argumenten brauchte sie ihrem
Vater nicht zu kommen. Daher schlug sie einen anderen Weg ein, um
ihr Ziel zu erreichen.
»Ich dachte auch nicht an ein Verbot von
Sklavenhaltung, Vater. Wir sollten jedoch die Einfuhr von Sklaven
verteuern. Die meisten Sklavenhändler sind Römer und Griechen, die
nicht in Ashdod wohnen und somit keine Steuern zahlen. Wenn wir die
Zölle erhöhen, so kommt das allen Einwohnern Ashdods zugute.«
Ihr Vater hatte noch einen Tag lang über ihren
Vorschlag gegrübelt; da in der thora nichts über die Höhe
von Zöllen stand und er die Geschäftemacherei der Griechen und
Römer verachtete, stimmte er schließlich zu. Und Herodias war
ohnehin für alles zu haben, das noch mehr Geld einbrachte. Seither
ging die Anzahl von Unfreien in Ashdod stetig zurück, denn ihr Kauf
wurde zunehmend unrentabel.
Salomes nächstes Ziel war die Freilassung der
Sklaven im Hain, doch dafür würde sie noch weit mehr Geschick – und
Geduld – brauchen.
Salome ging langsam zum Fenster. Früher hatte ihre
Großtante immer hier gestanden. Es war Akmes Blick auf Ashdod
gewesen, ihr Schreibtisch, ihr gyneikon, ihr Palast. Und
hier hatte die alte Frau vom Königsreif geträumt. Für die Erfüllung
dieses Wunsches war Akme über Leichen gestiegen und am Ende doch
gescheitert, zugrunde gegangen an dem Verrat einer Frau, die noch
tückischer und rücksichtsloser als sie gewesen war. Bereits hinter
den Hügeln, kaum eine Viertelstunde zu Pferd, begann das
Territorium Livias, der bona mater roma, der guten römischen
Mutter, wie sie genannt wurde. Wie sehr man sich doch in Vorbildern
vertun konnte! Salome wusste das aus eigener schmerzhafter
Erfahrung.
Allerdings nicht alles, was Akme und Livia
ausmachte, war schlecht. Beide Frauen hatten es geschafft, in ihrem
jeweiligen Umfeld eine einzigartige Machtposition einzunehmen, und
waren weit über die Möglichkeiten ihres Geschlechts
hinausgewachsen. Sie hatten sich erfolgreich gegen die Dominanz der
Männer gestemmt, indem sie schlauer, einfallsreicher und auf eine
ungewöhnliche Weise sogar einfühlsamer als sie gewesen waren, denn
sie erkannten deren Gefühle, Hoffnungen und Ängste und nutzten
diese gnadenlos aus. So weit bewunderte Salome die beiden Frauen,
denn auch sie glaubte fest daran, dass es legitim sei, sich aus
einer Rolle zu befreien, die man wie ein Sklave aufgezwungen bekam.
Das Üble an Akme war nicht ihr Verlangen nach Macht gewesen,
sondern dass sie mit dieser Macht nichts gestalten wollte. Sie
hätte sie nur zur Unterdrückung und zum Strafen genutzt, zur
Erhöhung ihrer eigenen Stellung. Keine Sekunde hätte sie an andere
gedacht, und wäre sie Königin geworden, hätte sie nur einen zweiten
Herodes abgegeben.
Wer weiß, was geschehen wäre, dachte Salome, wenn
Timon ihr nicht die Augen darüber geöffnet hätte.
Wieder versetzte ihr der Gedanke an Timon einen
Stich. Es verging kein Tag, an dem sie nicht an ihn dachte, doch
ihre Gefühle in diesen Augenblicken waren sehr unterschiedlich.
Meistens wünschte sie sich schlicht, er käme im nächsten Moment zur
Tür herein, strahlte sie an und gäbe ihr eine banale Erklärung
dafür, weshalb er sich seit vier Jahren nicht habe blicken lassen,
obwohl er ihr seine Freiheit verdankte. Schämte er sich für
seine Tat? Glaubte er, sie könne ihm den Anschlag auf Akme nicht
vergeben? Manchmal sorgte sie sich um ihn, hoffte, dass ihm nichts
geschehen sei, und manchmal geriet sie wegen seines enttäuschenden
Verhaltens regelrecht in Zorn. Und dann gab es Tage, da glaubte sie
nicht mehr daran, dass er sie jemals geliebt habe und dass er
deshalb nach seiner Freilassung durch Coponius aus dem Gefängnis
von Caesarea nicht mehr den Weg zu ihr gesucht hatte. Alles in ihr
sträubte sich gegen einen solchen Verdacht, trotzdem gewann er
bisweilen die Oberhand, und das waren die schlimmsten Stunden für
sie.
Der dunkle Klang eines shofar dröhnte über
den Palast und ganz Ashdod. Während des vergangenen Monats war das
traditionelle Widderhorn, das Moses einst auf dem Berg Sinai hörte,
zu jeder Stunde des Tages zwölfmal geblasen worden, so wie der
jüdische Brauch es vorsah. Heute erklang es vorläufig zum letzten
Mal, denn heute war der erste Tag des Monats Tishri und damit
rosh ha-shana, das Neujahrsfest. Die Juden der Stadt hatten
sich schon am frühen Morgen in den sieben Synagogen versammelt und
stundenlang Vergebungsgebete gemurmelt.
Das shofar war verklungen, und draußen wurde
es wieder ruhig. Der schwache Herbstwind wehte einige welke Blätter
von den Granatapfelbäumen und Platanen, und ein paar Vögel
raschelten auf der Suche nach Nahrung im knöcheltiefen Laub. Kein
Mensch war zu sehen. Rosh ha-shana war kein Fest der
fröhlichen Geselligkeit wie die anderen im Jahreskreis, sondern ein
Fest der Einkehr. Von hier oben konnte Salome es nicht sehen, da
ein naher Kiefernwald die Sicht versperrte, aber sie wusste, dass
zu dieser Stunde unten am Strand alle Juden von Ashdod ein
geschnürtes Tuch ins Meer werfen würden, in das sie zuvor alle ihre
Sünden gesprochen hatten. Zu Hause kochten bereits die Frauen die
typischen Speisen des Neujahrstages. Der Duft von Honigkuchen lag
über der ganzen Stadt, und die Palastköche bereiteten gesottenes
Huhn mit Honig und Orangensoße zu, wie Salome unschwer den
Aromaschwaden entnehmen konnte. Sie schloss ihre Augen, und ein
schwaches Lächeln glitt über ihr Gesicht.
»Verträumt wie immer«, rief Herodias, als sie ohne
Anmeldung das gyneikon betrat. »Selbst an einem Festtag
verkriechst du dich hinter deinen Studien. Also wirklich, Salome.
Neujahr ist doch nur einmal im Jahr.«
Sie trug eine himmelblaue Tunika mit einer
blassgelben stola und einem schillernden goldfarbenen
Umhang, der so lang war, dass er auf dem Boden schleifte. An ihren
Armen klimperte der schwere Goldschmuck, der einst Akme gehört
hatte und den sie nach deren Tod zwar nicht geerbt, dennoch an sich
genommen hatte, offenbar mit stillschweigender Billigung von
Coponius.
Salome verbeugte sich leicht. »Le-shana towa
tikatewu wetechatemu«, begrüßte sie ihre Mutter.
»Mögest auch du ein gutes Jahr haben«, erwiderte
Herodias eilig. »Nun sag, warum langweilst du dich hier?«
»Ich langweile mich nicht, Mutter.«
Herodias’ Blick glitt über die Schriftrollen von
De Republica, weiter zum Corpus, den medizinischen
Schriften des griechischen Arztes Hippokrates, und schloss mit
Vergils Aeneis. »Dass du die Beschäftigung mit Toten noch
immer als Vergnügen ansiehst …« Sie seufzte. »Möchtest du dich
nicht mir und meinen Freundinnen anschließen?«
Salome kannte die Schar jener wie Opium duftender
und wie Gänse schnatternder Damen, die wenigstens zweimal
wöchentlich in den Palast kam. Theudion hatte zwar kürzlich
versucht, diese – wie er sie nannte – leichten Frauen aus dem
Palast zu verbannen, aber Herodias hatte sich seiner Weisung
widersetzt und ihm klargemacht, dass sie ebenso Regentin sei wie er
und daher das Recht habe, einzuladen, wen sie wolle. Seine Befehle
kümmerten sie nicht mehr, und Salome gönnte ihrer Mutter diesen
Triumph. Dennoch, die Begleiterinnen mochte sie ebenso wenig wie
ihr Vater.
»Ein anderes Mal vielleicht«, wiegelte sie ab,
setzte sich wieder an den Schreibtisch und suchte nach einer
diplomatischen Begründung für die Absage, als die uralten
Traditionen sie einer Rechtfertigung enthoben. Das shofar
dröhnte laut und dunkel über dem Palast.
Herodias hielt sich beide Ohren zu. »Oh, dieses
Horn! Es treibt mich noch in den Wahnsinn. Wir sollten es nächstes
Jahr verbieten.«
»Das shofar ist den Leuten heilig«,
antwortete Salome und schrieb nebenbei Notizen über De
Republica auf ein Pergament. »Ein Verbot wäre unklug.«
»Und ich dachte, wir haben die gleiche Meinung über
veraltete Bräuche.«
Salome konnte nicht verleugnen, dass Herodias ihren
Anteil an Salomes weltlicher Einstellung hatte. Sie hatte erlebt,
wie ihre Mutter die Gebote ignoriert und mit einem fast fremden
Mann geschlafen hatte. Akme wiederum hatte mit ihrer weiblichen
Selbstbestimmtheit und der Art, die Religion als weiteres Mittel
der Politik anzusehen, großen Eindruck auf sie gemacht. Theudion,
Zacharias und Kephallion hatten ein Übriges getan und sie mit ihren
rigiden Unterdrückungsmechanismen geradezu aus dem Glauben
vertrieben. Trotzdem achtete sie die meisten Bräuche und
Traditionen des Volkes, viele mochte sie sogar, so zum Beispiel
rosh ha-shana und das shofar. Sie gaben ihr das
Gefühl – trotz aller Kritik, die sie am Glauben und dem, was die
Menschen daraus machten, hatte -, noch immer eine Verbindung zu
ihrem Volk zu haben. Ihr ging es nicht darum, irgendetwas zu
verbieten; sie wollte und konnte die Überzeugungen nicht
abschaffen, wohl aber in einigen Fragen langsam verändern. Sie war
jung und hatte noch viel Zeit – und den festen Willen.
»Wenn dir Ashdod nächstes Jahr zu laut wird, kannst
du ja für einige Wochen verreisen, irgendwohin, wo fast nur
Griechen leben.«
»Da du vom Reisen sprichst«, fiel Herodias ein.
»Ich möchte dich bitten, mich nächste Woche zu begleiten.«
Salome schrieb weiter. »Wohin?«
»Wohin wohl! Der Winter naht. Ich vertrage die
Seeluft im Winter nicht.«
Salome las einen Absatz aus De Republica und
sagte nebenher: »Du bist der einzige Mensch, den ich kenne, der die
milde Seeluft nicht verträgt.«
»Im Winter, sagte ich. Sie ist zu frisch, zu kalt.
Ich hasse Wind.«
»Ich liebe Wind.«
»Außerdem möchte ich die Familie
wiedersehen.«
Salome ließ die Feder sinken und atmete tief durch.
Der Großteil der Familie lebte in Galiläa, am Hof von Antipas.
Keiner der Verwandten hatte damals, nach Akmes Tod, hier in Ashdod
bleiben wollen. Die Aussicht, Herodias, über die sie stets abfällig
getuschelt hatten, als Regentin huldigen zu müssen, hatte sie
fortgetrieben. Salome machte sich allerdings nichts vor: Auch sie
selbst war bei der Familie alles andere als beliebt. Die einen
sahen in ihr das Abbild der koketten, leichtlebigen Mutter, die
anderen des trotzigen Vaters. Vor allem Zacharias machte damals
Stimmung gegen sie, beschimpfte sie als verstocktes, liederliches
Weib, und Kephallion tat überall genussvoll kund, dass er es ja
immer schon gesagt habe und ohnehin der Einzige gewesen sei, der
frühzeitig etwas gegen ihre Sünden unternommen habe. Seinen Disput
gegen sie im cheder stilisierte er zu einer
leidenschaftlichen Verteidigung der Lehren der Propheten hoch und
seine brutale Attacke auf dem Hof verkaufte er sogar als einsame
Heldentat, die nur durch die Feigheit anderer wirkungslos blieb.
Ganz offen zweifelten die beiden die Rechtmäßigkeit des Erbes an,
gegen das beeidete Protokoll und Coponius’ Vollstreckung kamen sie
jedoch nicht an. Und eine solche Familie wollte ihre Mutter
wiedersehen?
»Denkst du da an ein bestimmtes Familienmitglied?«,
fragte Salome. »An Onkel Antipas vielleicht?«
Herodias schnappte nach Luft. »Wie kommst du denn
darauf?«
»Oh bitte, Mutter. Denkst du denn, ich weiß nicht,
was ihr beiden miteinander treibt? Mir ist das schon seit zehn
Jahren klar, seit dem Tag des Leichenschmauses für Herodes.
Vielleicht erinnerst du dich. Ich suchte dich damals im ganzen
Palast und fand dich, wie du aus den Räumen von Onkel Antipas
kamst. Und in den letzten drei Jahren hast du jeden Winter an
seinem Hof in Sepphoris verbracht, obwohl der Wind in den dortigen
Tälern, Berghängen und Hochebenen nicht weniger kräftig weht als
bei uns in Ashdod.«
Herodias straffte den Rücken. »Woher willst du das
wissen? Du warst nie dort.«
»Ich erhalte Briefe von Berenike, in denen sie sich
beklagt, dass der ständige Wind ihre hübschen Locken durcheinander
bringt. Du musst mir nichts vormachen, Mutter. Du reist nur wegen
Antipas nach Galiläa. Lass dich bloß nicht erwischen, und vor allem
ziehe mich da nicht hinein. Ich sehe keinen Grund, nach Galiläa zu
reisen.«
Herodias leugnete ihre wahren Beweggründe nicht
länger, lenkte jedoch von ihnen ab. »Doch, es gibt einen Grund.
Antipas weiht in einigen Wochen seine neue Hauptstadt ein. Er nennt
sie nach dem römischen Kaiser, Tiberias. Sein Palast liegt am See
Genezareth, dort soll es wunderschön sein, riesige Gärten, duftende
Wälder... Das magst du doch – wenngleich ich mich frage, was an
einer Pinie schöner als am Gold eines Palastes sein soll.«
»Ich bin hier unabkömmlich«, beharrte sie. »Die
Leute brauchen mich.«
Herodias legte den Kopf in den Nacken und stieß
einen geräuschvollen Fluch aus, wie immer, wenn sie ihren Willen
nicht bekam. »Warum muss man dieses Kind eigentlich immer zu seinem
Glück zwingen?«, fragte sie zur Decke hin und blickte dann Salome
auffordernd an. »Bei Antipas gehen reiche Männer ein und aus,
armenische Prinzen, syrische Magnaten, sogar römische Patrizier. In
Kürze besucht ihn der künftige römische Prokurator für Judäa,
Pontius … Pontius irgendwas. Dass diese Römer immer mehrere Namen
haben müssen, schrecklich. Als hätte man nicht genug damit zu tun,
sich einen Namen zu merken. Jedenfalls ist dieser Pilatus
Witwer. Muss ich noch mehr sagen?«
Salome täuschte sich nicht über die wahren Motive
ihrer Mutter, sie unbedingt mit nach Tiberias nehmen zu wollen.
Herodias wollte nur, dass sie in ihrer Abwesenheit nicht zu viel
Eigenständigkeiten entwickelte – Dummheiten nannte Herodias das –
und sich nicht langsam ihrer mütterlichen Führung entzog. Sie
konnte ihr das nicht übel nehmen. Vermutlich widerstrebte es jeder
Mutter, wenn ihr Kind erwachsen und damit eigenwillig wurde.
Sie wollte eine endgültige Absage formulieren, als
ein Diener eintrat und Coponius meldete.
»Er soll hereinkommen«, rief Herodias, bevor sie es
selbst tun konnte. »Sein Abschiedsbesuch«, erklärte Herodias ihr.
»Er ist in den Rang eines Senators aufgestiegen und wird von diesem
Pontius Dingsda abgelöst.«
Salome staunte. »Er wird römischer Senator? Dafür
muss man ein Vermögen von einer Million sesterti nachweisen.
Das sind über fünfzehntausend silberne denari. Wie kommt er
zu einem solchen Reichtum?«
»Liebes, woher soll ich das denn … Scht, da kommt
er.«
Coponius’ Brustpanzer und das Kurzschwert
klapperten wie eh und je. Er hatte sich in den letzten Jahren kaum
verändert, fand Salome, und sie konnte sich nur schwer vorstellen,
wie sein kämpferisches, vollbärtiges Gesicht aus der edlen,
purpurverbrämten Toga eines Senators herausragte. Wie konnte ein
Mann, der noch vor fünf Jahren ein einfacher Offizier gewesen war,
plötzlich so reich sein, dass er es bis in den römischen Senat
schaffte? Sie hatte Coponius nie gemocht – was nichts mit der
Episode im Hain zu tun hatte. Sie meinte, stets eine gewisse
Falschheit an ihm zu bemerken, die im krassen Gegensatz zu seinem
aufrechten und bisweilen aufgeplusterten römischen Auftreten stand.
Das war allerdings nur ein diffuses Gefühl, das sie durch keine
Tatsachen untermauern konnte, und manchmal rügte sie sich selbst
für ihre Unterstellungen. Denn Coponius hatte die Großzügigkeit
gehabt, Timon freizulassen. Mehr noch, als Timon verschwunden war,
kam er ihrer Bitte nach, nutzte seine Stellung als Prokurator und
seine Kontakte in benachbarte Provinzen, um nach Timon suchen zu
lassen. Sie hatte wirklich allen Grund, ihm dankbar zu sein.
Aus Höflichkeit stand sie auf, obwohl ihr Rang so
etwas nicht nötig machte, auch nicht vor dem Prokurator. »Nun,
edler Coponius. Ich höre, du verlässt unser schönes Land.«
Er war mit der Beschreibung Judäas offensichtlich
nicht einverstanden, denn er antwortete: »Ja, ich verlasse diesen
abgelegenen Flecken Erde und begebe mich in das Zentrum der Welt.
Zuvor wollte ich mich allerdings unbedingt verabschieden.«
Wohl weniger von ihr als von ihrer Mutter, dachte
sie, schluckte diese bissige Bemerkung allerdings hinunter. »Wie
nett«, kommentierte sie stattdessen.
»Bevor ich gehe, muss ich jedoch noch einmal auf
die Besorgnisse der hiesigen Sklavenhändler verweisen, die zum Teil
Römer sind und deren Interessen ich zu schützen verpflichtet bin.
Du hast zu viele Sklaven aus deinen Beständen freigelassen,
Fürstin.«
Salome setzte sich wieder auf den Stuhl hinter dem
Schreibtisch und sah Coponius unerschrocken an. »Ja, fast alle«,
sagte sie und fügte mit einem Seitenblick auf ihre Mutter hinzu:
»Außer die, die im Hain arbeiten. Dagegen haben meine Eltern als
Regenten Einspruch erhoben, da sie um die Wirtschaftlichkeit
fürchten. Ich hingegen bin nicht der Überzeugung, dass Menschen
besser arbeiten, wenn sie rechtlos und unbezahlt sind. Seit ich die
Arbeitsbedingungen in den Hainen verbessert habe, ist auch die
Arbeit effizienter geworden. Und die Bediensteten des Palastes
können mit dem kleinen Salär, das sie als freie Menschen erhalten
…«
»Doch die Sklavenhändler haben das Nachsehen«,
unterbrach Coponius. »Sie leiden unter den Zöllen. Außerdem bieten
einige der Freigelassenen ihre Dienste jetzt für geringes Geld an,
so dass die Nachfrage nach Sklaven sinkt.«
»Mein Mitleid mit den Sklavenhändlern ist
begrenzt«, erklärte sie.
»Und was«, schnauzte er, »hast du mit den vielen
Bediensteten vor, die du zusätzlich angestellt hast? Mir ist nicht
entgangen, dass du deinen Bürgern mehr als einhundert Sklaven
abgekauft und anschließend freigelassen hast und sie nun auch noch
verpflegst, obwohl sie nichts tun. Stellst du etwa ein Heer
auf?«
Salome schmunzelte. »Ich kann dir nicht verdenken,
dass du einen solch abstrusen Verdacht hegst. Ein Heer von hundert
Soldaten! Wem soll ich denn damit Angst machen? Ich vermute, wenn
man derart lange beim Militär ist wie du, edler Coponius, sieht man
in allem, was geschieht, stets nur militärische Hintergründe. Nein,
die Männer sind für den Bau einer Küstenstraße gedacht, die im
nächsten Frühling …«
»Die Küstenstraße durch Ashdod«, donnerte er, »soll
Teil einer römischen Appia zwischen Syrien und Ägypten
werden, entworfen von römischen Architekten, gebaut von
Sklaven, die Rom gehören. Du hast nichts damit zu tun.«
Für Salomes Geschmack hatten die Juden seit der
Besetzung durch römische Legionen viel zu wenig in und mit ihrem
eigenen Land zu tun. Sie ignorierte nicht die Vorteile, die Roms
Oberherrschaft mit sich brachte: Es ging wesentlich geordneter und
unblutiger zu als unter der Peitsche des Herodes oder während der
Herrschaft des Trunkenboldes Archelaos. Die Römer mischten sich
nicht in die jüdische Rechtsprechung ein, gewährten dauernde
Befreiung von der Pflicht, wenigstens einmal jährlich dem römischen
Göttervater Jupiter zum Wohl des Staates zu opfern, und zogen
jüdische Männer nicht zum Kriegsdienst ein wie die jungen Burschen
anderer Provinzen. Sie verhielten sich für ihre Verhältnisse
außergewöhnlich geschickt. Alles in allem konnte man sich also in
Judäa über die Fremdherrschaft nicht beklagen, und tatsächlich gab
es nur wenige, die sich offen gegen sie aussprachen. Dennoch spürte
Salome, was in den Herzen ihrer jüdischen Brüder und Schwestern
vorging. Das Land, seit vielen Jahrhunderten Eigentum des Volkes,
seit unzähligen Generationen bebaut, immer wieder mit hohem
Blutzoll verteidigt, Ort heiliger Geschehnisse, Wirkstätte der
Propheten – dieses Land gehörte ihnen nicht mehr. Dort, wo David
einst gegen die Philister geritten war, marschierten heute römische
Hilfstruppen, wo Moses seinen Bund mit den Israeliten geschlossen
hatte, stand heute eine Karawanenstation mit blökenden Kamelen und
Mauleseln, und nur einen Steinwurf vom Allerheiligsten entfernt,
von der Bundeslade im Tempel von Jerusalem, warfen
Legionsstandarten ihre Schatten über die Mauern der Burg Antonia.
Das Gefühl, ohnmächtig zu sein, bohrte sich wie ein leiser Schmerz
durch die jüdischen Herzen, und Salome wollte das ihre tun, um
diesen Schmerz ein wenig zu lindern.
Salome beugte sich vor und faltete gelassen die
Hände auf dem Schreibtisch. »Natürlich wird es eine im wesentlichen
römische Straße sein. Für das Selbstgefühl der jüdischen wie
griechischen Einwohner von Ashdod ist es jedoch wichtig, dass wir
nicht bloße Empfänger römischer Gunst sind. Wir sind durchaus in
der Lage, selbst einen Beitrag …«
»Rom bestimmt, wozu ihr in der Lage sein dürft und
wozu nicht«, fuhr Coponius dazwischen.
Salome atmete tief durch. »Ich handele nur im
römischen Interesse, Coponius. Die Stimmung unter den Juden ist
noch friedlich. Sie trauern vergangenen Zeiten nach, gewiss, sie
grollen jedoch den Römern nicht. Je aufdringlicher dagegen der
römische Machtanspruch wird, umso zorniger werden …«
»Soll das etwa eine Drohung sein?«
Salome erhob sich ruckartig und rief: »Wir sind
hier nicht auf einem Kasernenhof, Coponius. Es steht dir nicht
frei, eine Fürstin andauernd zu unterbrechen. Das ist nicht nur
schlechter Stil, sondern auch außerordentlich undiplomatisch und
töricht. Ich könnte mich bei Kaiser Tiberius über dich
beschweren.«
Coponius sah sie sichtlich irritiert an. Auf einen
solchen Ausbruch schien er nicht vorbereitet, was sie nicht
verwunderte. Weder als Legionskommandant in Syrien noch als
Prokurator von Judäa hatte es Menschen gegeben, die so mit ihm
sprachen. Seit Jahren gab es niemanden, von dem er Befehle oder
auch nur Zurechtweisungen erhielt, außer vielleicht in
schriftlicher Form vom Kaiser. Die Überraschung verschlug ihm die
Sprache, und Salome nutzte die Gelegenheit, die Wogen wieder zu
glätten. Ihr war es nur darum gegangen, die Würde Ashdods und ihre
eigene zu verteidigen, nicht aber, einen Konflikt vom Zaun zu
brechen.
»Du sollst mich nicht falsch verstehen, edler
Coponius. Ich bin dir sehr dankbar für das, was du in der
Vergangenheit für mich getan hast. Ich werde dir die Begnadigung
Timons nie vergessen.«
Er grinste. »Da du gerade davon sprichst, Fürstin:
Ich habe kürzlich eine Nachricht eines befreundeten Offiziers
erhalten, der Timon vermutlich gesehen hat. Er spricht von einem
jungen Mann deiner Größe, blond, griechisch, ein guter Reiter. Der
Mann hieß Timon.«
»Und wo?«, fragte Salome mit pochendem
Herzen.
»In Memphis, Fürstin.«
Ägypten. Was konnte Timon dort wollen? Setzte er
seine Studien fort, seine Reisen durch den Osten? Tat er es seinem
gelehrten Vater Nikolaos nach, der in jungen Jahren ebenfalls alle
Länder erkundet hatte?
Müde setzte sie sich auf den Stuhl. Timons Namen im
Kopf, konnte sie sich nicht länger konzentrieren. Mit Coponius
würde ihre letzte Informationsquelle das Land verlassen, denn ihre
eigenen Agenten – die gleichen, die seltene Manuskripte für sie
aufstöberten – hatten nie auch nur die geringste Spur von Timon
entdeckt. Es war fast so, als habe der Erdboden ihn verschluckt.
Ohne Coponius’ Hilfe würde sie Timon nie wiedersehen.
Plötzlich erinnerte sie sich an etwas, das ihre
Mutter vorhin erwähnt hatte. Der neue Prokurator wurde zur
Einweihung der neuen galiläischen Hauptstadt erwartet. Wenn sie
diesen Pontius Dingsda nun bitten würde …
»Um noch mal auf die Küstenstraße zurückzukommen
…«, riss Coponius sie aus ihren Tagträumen.
Salome wollte soeben etwas erwidern, als Herodias
sagte: »Ich denke, ihr beiden solltet es dabei bewenden lassen. Du,
Coponius, bist nächste Woche schon weit weg. Und wir in Ashdod
werden das alles noch einmal in Ruhe besprechen, nicht wahr,
Salome?«
Diese Floskel kannte Salome zur Genüge. Mit
»besprechen« meinte Herodias, dass am Ende nach ihrem und Theudions
Willen verfahren wurde. Dieser Zustand musste irgendwann einmal ein
Ende haben. Eines allerdings stimmte: Es machte keinen Sinn, diese
Auseinandersetzung heute und vor Coponius zu führen.
So gab Salome für den Augenblick nach und verbeugte
sich leicht vor dem Römer. »Dann gute Fahrt«, wünschte sie.
»Ave«, verabschiedete er sich mit
ausgestrecktem Arm und fügte mit einer merkwürdigen Betonung hinzu:
»Und viel Glück bei der Suche nach dem Griechen.«
Als er gegangen war, teilte sie ihrer Mutter mit,
dass sie sie auf der Reise nach Tiberias begleiten werde. Herodias
schien außerordentlich erfreut, geradezu erleichtert, und das
brachte Salome auf eine Idee.
»Nur, wenn du mir einen Gefallen tust,
Mutter.«
»Jeden«, erwiderte Herodias bester Laune. »Worum
geht es?«
Salome lächelte ihre Mutter mit funkelnden klugen
Augen an. »Ich möchte, dass du mir dabei hilfst, die Sklaven im
Hain freizulassen.«
Herodias tauchte die Feige in eine Schüssel mit
Honig, anschließend in eine Schale Zimt und reichte sie
schließlich, auf einen Stab gespießt, Coponius.
»Das essen wir Juden zum Neujahrsfest«, erklärte
sie. »Auf dass das kommende Jahr so süß werde wie das
vergangene.«
»Nein, danke«, wehrte Coponius ab. »Mir wird heute
noch übel, wenn ich an die Teigtaschen denke, die du mir damals auf
dem Fest der Alten verabreicht hast. Eure Traditionen liegen uns
Römern schwer im Magen.«
Herodias ließ sich von der mürrischen Ablehnung
nicht beirren, nahm einen großen Bissen von der Feige, leckte mit
der Zunge über die vom Honig klebrigen Lippen und küsste Coponius.
Doch er erwiderte ihren Kuss nicht, und als sie sich wieder
zurücklehnte, nahm er ein Tuch und wischte sich damit den
honigverschmierten Mund ab. Mit keinem Blick, keiner Geste und
keinem Wort ging er auf ihre Annäherungen ein. Schließlich gab sie
auf.
Sie grollte Coponius nicht, sie konnte ihn sogar
verstehen. Ihre Beziehung war seit heute eine abgeschlossene
Episode. Er ging nach Rom, sie blieb hier, so einfach war das. Eine
Zeit lang hatten sie Spaß gehabt und nebenbei ein für sie beide
lukratives Geschäft gemacht, sie hatten sich gegenseitig benutzt
und ergänzt, jeder hatte dem anderen zu dem verholfen, was er
brauchte. Aber in Beziehungen, die weder durch Liebe noch durch
Freundschaft verknüpft waren, gab es einen Zeitpunkt, an dem man
sich besser trennte. Dieser Zeitpunkt war jetzt gekommen, denn sie
vermochten einander nichts mehr zu geben.
Die Dinge, die noch zu klären waren, konnten sie in
wenigen Augenblicken besprechen.
»Könnte dein Mann uns überraschen?«
»Nein. Theudion hat sich eine Zweitfrau genommen,
ein braves Ding vom Lande. Seither besucht er mich nicht mehr – zum
Glück. Ich bin ihm wohl zu frech geworden.«
»Ein Spitzel berichtete mir, er beschäftigt sich in
letzter Zeit viel mit den Finanzen Ashdods. Das gefällt mir
nicht.«
»Theudion versteht nichts von Finanzen.«
»Weshalb beschäftigt er sich dann mit ihnen?«
»Mache dir keine Sorgen. Ich habe die Zahlungen an
dich derart komplex verschleiert, dass jemand wie Theudion nie
dahinter kommt.«
»Und eure Finanzbeamten?«
»Von mir bestochen, was glaubst denn du?«
Coponius seufzte erleichtert und lehnte sich
zurück. Es gab kaum einen Prokurator oder Statthalter, der sich an
der Provinz, die ihm unterstand, nicht schadlos hielt. Sie alle
stopften sich ihre Taschen mit Geld voll, das sie auf die eine oder
andere Weise aus dem Land pressten. Senat und Kaiser wussten es und
sahen großmütig darüber hinweg. Nur erwischen lassen durfte man
sich nicht, denn dann fielen alle entrüstet über das »schwarze
Schaf« her, das ihren guten Ruf befleckte. Coponius bekam Gelder
von den Sklavenhändlern und den Straßenbauern, deren Interessen er
im Gegenzug vertrat. Seine größte Einnahmequelle jedoch war Ashdod,
und zwar noch für ein ganzes Jahr.
»Du benachrichtigst mich«, mahnte er, »wenn in
dieser Sache irgendetwas schief läuft, hörst du?«
Sie nickte. »Und jetzt sage mir, weshalb du Salome
derart hinters Licht führst.«
»Tun wir das nicht beide?«
»Du weißt genau, was ich meine. Es war unnötig, ihr
heute eine Lüge über den Griechen aufzutischen. Nach vier Jahren
habe ich sie endlich so weit, dass sie anfängt, diesen Burschen zu
vergessen, und da kommst du daher und fachst ihre letzten
verglimmenden Hoffnungsfunken wieder an. Jetzt wird sie ihre Leute
nach Memphis schicken, anschließend nach Alexandria und Theben. Sie
wird ganz Ägypten nach ihm absuchen lassen, was Monate, vielleicht
sogar Jahre dauern kann. In dieser Zeit wird sie jeden Tag mit
trügerischer Hoffnung aufstehen und schmerzlicher Enttäuschung ins
Bett gehen. Sie ist eine junge Frau. Sie sollte sich vergnügen.
Dank dir wird daraus erst einmal nichts. Wieso machst du so etwas,
Coponius?«
Er zog seine Augenbrauen zusammen. »Hast du nicht
gehört, wie sie mich abgekanzelt hat? Wie sie mir mit dem Kaiser
drohte? Keiner redet ungestraft so mit mir, schon gar nicht ein
Früchtchen wie sie. Du solltest froh sein, dass sie weiter dem
Griechen nachhängt. Für dich bedeutet jedes Jahr, in dem sie
unverheiratet ist, ein hübsches Sümmchen mehr in deiner
Privatschatulle, die du dir mit Hilfe der bestochenen Beamten
sicher angelegt hast.«
»Ich bin ihre Mutter. Es ist mir nicht egal, wenn
sie unglücklich ist, versteh das doch.«
Coponius lachte verächtlich. »Und was für eine
Mutter du bist! Nimmst ihr den Mann, den sie liebt, schröpfst ihr
Vermögen, belügst sie nach Strich und Faden, regierst nach eigenem
Gutdünken … Da fällt mir ein: Dass du mir dafür sorgst, dass die
Küstenstraße im Namen Roms gebaut wird, nicht im Namen Ashdods.
Schlimm genug, dass ich nichts für die Sklavenhändler tun konnte,
da will ich nicht auch noch die Straßenbauer verprellen.«
Herodias biss sich auf die Lippe. Sie verschwieg
Coponius besser, dass sie erst vor einer Stunde zugestimmt hatte,
dabei zu helfen, alle Sklaven aus dem Hain freizulassen. Dieses
Luder von einer Tochter! Wie geschickt sie die Zustimmung zur Reise
mit etwas verknüpft hatte, was sie haben wollte.
Herodias grinste. Im Grunde eiferte ihre Tochter
ihr ja nur nach, wollte werden wie sie. Zwar schlugen bisweilen
noch Theudions Trotz und unvernünftige Offenheit in Salome durch,
doch das durfte man ihr nicht zum Vorwurf machen. In ein paar
Jahren hätte sie Salome zu ihrem Ebenbild gemacht.
Sie wandte sich von Coponius ab. »Es ist besser,
wenn du jetzt gehst, Coponius.«
Er zuckte mit den Schultern, stand auf, ohne
Herodias noch einmal zu berühren, und öffnete die Tür. Dann fiel
ihm noch etwas ein. »Ein guter Rat zum Schluss, Herodias, und ich
meine das wortwörtlich, es ist wirklich ein guter Rat von einem
guten Offizier. Nimm dich in Acht vor deiner Tochter. Sie hat hoch
fliegende Ideen, ist klug, unerschrocken und willensstark. Solche
Menschen sind nur schwer im Zaum zu halten. Eines Tages, Herodias,
musst du dich entscheiden, ob du ihre Mutter – eine wirkliche
Mutter – sein willst oder ihre Gegnerin. Versuchst du beides zu
sein, wirst du ihr unterliegen, und dann möge dein Gott dir
beistehen.«
Schon nach einer Woche konnte Salome den Anblick
des Sees kaum noch ertragen. Er kam ihr viel zu schön vor, wie ein
Paradies, in dem alle Sinne eine Heimat zu haben schienen und
nichts unvollkommen geblieben war. Der ständig wehende, leise Wind
kräuselte seine Oberfläche, und die Sonne verlieh ihm einen
bläulichen Schimmer, der die Augen beruhigte und die Hitze kühlte.
Sein süßes, frisches Wasser war voller Fische, eine nie versiegende
Quelle des Wohlstands. Genezareth: Fast schon ein Meer, ein Meer
aus Segeln, gesäumt von Pinien und Zedern, die auf diesem Fleck
zwischen Wärme und Wasser ihren herben Duft besonders reichlich
verströmten. Seine bewaldeten, zum Wasser abfallenden Ufer machten
Genezareth zu einer warmen, abgeschlossenen Welt.
Doch diese Welt, dieses Paradies, wurde von Antipas
regiert. Ihr Onkel war ein Widerling und verdarb ihr jede Laune.
Alles an ihm stieß sie ab, seine ganze Erscheinung, seine
überquellende Korpulenz, die im krassen Gegensatz zu seiner
grotesken Schreckhaftigkeit stand, seine hohe Stimme, der meist ein
jammernder Ton unterlegt war, das immerwährende Grinsen, das keines
war, sondern ein Blecken der Zähne, ganz egal, was Antipas sagte
oder tat, sein Mangel an Reinlichkeit, die Art, wie er schöne
Frauen ansah, sein kindischer Aberglaube … Sie hätte die Aufzählung
noch bequem bis in die Dunkelheit fortsetzen können.
Doch die offizielle Einweihung der neuen Hauptstadt
Galiläas, Tiberias, fand erst in drei Wochen statt, und erst dann
wurde auch Coponius’ Nachfolger Pontius Pilatus erwartet, der der
einzige Grund ihres Aufenthalts war. So lange musste sie also noch
hier bleiben und gemeinsam mit ihrer Mutter kuren, wie Herodias es
nannte.
Salome wandte ihren Blick vom See ab und ging ein
paar Schritte durch den Garten. Er war unglaublich dicht bewachsen,
ein grünes Geflecht aus Pflanzen. Von dem Steinweg, der sich wie
ein Pfad durch eine tiefe Schlucht wand, führten kleinere
Seitenwege ab, die zu verborgenen Winkeln führten. Zypressen,
Hanfpalmen und Drazenen ragten wie riesige Schwerter in den Himmel,
und Lilien in den unterschiedlichsten Farben bildeten dichte
Blumenteppiche. Salome fehlte jedoch der Geruch des Meeres und der
Zitrushaine.
Vom Hügel, auf dem der Palast stand, kam Berenike
heruntergelaufen. Sie trug trotz des für den Herbstmonat
cheshwan warmen Wetters eine langärmelige, dunkelbraune
Tunika aus grober Webarbeit, in der sie sicherlich furchtbar
schwitzte. Das Gewand war zudem dermaßen hässlich, dass Salome sich
ihres leuchtenden roten Kleides und des feinen goldenen Schmucks an
Armen, Ohren und Hals beinahe schämte.
»Nun«, rief sie ihrer Freundin entgegen, »hat dein
Mann vergessen abzuschließen, oder hat er heute seinen großzügigen
Tag?«
Berenike hatte vor einem Jahr auf Wunsch ihrer
Eltern heiraten müssen, und zwar ausgerechnet Kephallion. Wie
Salome nicht anders erwartete, behandelte Kephallion ihre Freundin
nicht gut. Er zwang sie in lange, unvorteilhafte Kleider, damit sie
nicht in Versuchung käme. Er legte fest, wann sie im Palast zu
bleiben hatte und wann sie hinausgehen durfte, wen sie empfangen
durfte und wen nicht. In ihren Briefen an Salome hatte Berenike
nichts von diesen Verboten berichtet, was daran lag, dass
Kephallion jeden einzelnen vorher las. Erst hier hatte Salome davon
erfahren.
Berenike machte ein betroffenes Gesicht. »Mach
keine Witze darüber. Kephallion und ich haben uns darüber
verständigt, wie oft du und ich uns sehen dürfen. Eine Stunde,
jeden zweiten Tag.«
»Sehr nett von ihm«, kommentierte Salome
sarkastisch. »Du hast Kephallion gegenüber ja schon immer eine
gewisse Hörigkeit gezeigt. Hat er dich mittlerweile so weit, dass
du den Unsinn, den er redet, auch noch gut findest?«
»Du verstehst das nicht, Salome. Es ist nicht nur
Kephallion. Der ganze Hof hat in den letzten Jahren eine andere
Richtung genommen.«
»Eine rückschrittliche«, präzisierte Salome und
wusste, wer für diese Veränderung verantwortlich war: die
Pharisäer. Antipas war ein schwacher, ängstlicher Herrscher. Wie
einst Herodes fürchtete er, dass er vom Volk gestürzt oder von den
Römern abgesetzt werden könnte, andererseits besaß er nicht die
Härte und das politische Geschick seines Vaters. Herodes hatte alle
beherrscht, den sanhedrin, die Priesterschaft, das Volk und
die Sekten. Antipas hingegen machte sich aus lauter Furcht zum
Sklaven der Interessengruppen. Er wollte es jedem recht machen, und
wenn das nicht ging, suchte er sich die aus, die ihm am stärksten
schienen, und gab ihnen Recht. Er fürchtete sich vor den radikalen
Zeloten, die immer heftiger gegen die Römer und deren Unterstützer
predigten. Doch sie waren zu extrem, um sie sich zu Freunden zu
machen; die Sadduzäer und Essäer hingegen waren zu unauffällig und
unbedeutend. Also warf er sich den beim Volk beliebten Pharisäern
in die Arme, die sich völlig unpolitisch verhielten und sich nicht
um die Römer, Griechen und andere Fremde im Land kümmerten. Sie
strebten keine weltliche Herrschaft, sondern ausschließlich die
vollständige Kontrolle über den Glauben an. Mit Antipas’
Genehmigung diktierten sie dem Hof ihre Vorstellungen von Religion
und Welt. Sie dachten sich neue Gebote aus, die nirgendwo in der
thora standen, oder interpretierten die vorhandenen Gebote
auf eine Art, dass etwas völlig anderes aus ihnen entstand. Einen
Zaun um die thora bauen, nannten sie das, so als errichteten
sie eine Mauer um eine Festung, als schützten sie die thora
damit. In Wahrheit gestalteten sie so die Welt nach ihren
Vorstellungen. Sie schrieben den Leuten ihre Kleidung vor, die
Essgewohnheiten, die Körperpflege, ihre Geschäfte und den Umgang
mit Geld und sogar die Ausdrucksweise, also alle täglichen
Gewohnheiten, so als reichten die sechshundertdreizehn göttlichen
Gebote noch nicht, um das Leben in Bahnen zu halten. Die Zeloten,
die ihnen seit Einmarsch der Römer Konkurrenz machten, ließen sie
von Antipas von den Straßen und damit aus dem Blick des Volkes
vertreiben. Um all das am Hof und in ganz Galiläa durchsetzen zu
können, drückten sie beide Augen zu und erhoben weder Einwände
gegen Antipas’ starke, heidnische Neigung für Hellseherei und
Sternendeutung noch gegen seine privaten Ausschweifungen. Ihre
Macht über Antipas wurde am Hofe repräsentiert durch Rabban
Jehudah.
»Mir sind die Schriften des Rabban Jehudah
wohl vertraut«, sagte Salome. »Er ist zweifellos einer der
führenden Köpfe der Pharisäer, außerdem extrem konservativ, aber
selbst er schreibt den Frauen nicht vor, wie viele Stunden sie im
Freien zubringen dürfen. Eine tüchtige Zurechtweisung täte
Kephallion nicht schaden. Du bist allerdings auch selbst schuld.
Wie kann man sich nur derart unterordnen!«
»Pfui«, sagte Berenike, »du hast meine Gebete nicht
verdient.«
Salome staunte. »Weshalb, um alles in der Welt,
betest du für mich?«
Berenike beruhigte sich schnell wieder. Sie konnte
nie lange böse auf jemanden sein. »Wegen Timon«, gestand sie mit
gesenktem Kopf. »Ich bete, dass du ihn vergisst.«
Salome erstarrte. »Das ist doch wohl nicht zu
fassen. Warum will eigentlich jeder, dass ich Timon
vergesse?«
»Er macht sich in dir breit, Salome, darum. Ja,
wenn er zum Anfassen wäre, aus Fleisch und Blut, würde ich nichts
sagen, doch er ist längst zu einer fixen Idee geworden. Kein Brief,
kein Wort, kein Zeichen von ihm. Würde er dich wirklich lieben,
hätte er sich nach seiner Freilassung irgendwie mit dir in
Verbindung gesetzt.«
Berenike war in diesem Moment wie ein Sprachrohr
von Salomes eigenen, dunkelsten Stimmen, jenen Stimmen, die sie
jeden Tag mühsam unterdrückte. Sie wurde ärgerlich.
»Na und? Was verliere ich schon, wenn ich weiter
hoffe? Gar nichts. Warum also soll ich das Schönste, was mir in
meinem Leben widerfahren ist, vergessen?«
»Du würdest offen sein für einen anderen Mann,
Salome. Du würdest ihn heiraten, glücklich mit ihm sein …«
»So wie du mit deinem Mann, ja? Vielen Dank.«
Berenike senkte betroffen den Kopf; ein Zeichen,
dass sie verletzt war. Diese Geste hatte Salome früher immer sofort
beschwichtigt, doch jetzt war ihr Ärger über die Einmischung noch
nicht verraucht. So schnell konnte sie nicht vergeben, dass jemand
Zweifel an Timon wecken wollte.
»Und was meine Anstrengungen betrifft, so sind sie
noch lange nicht erschöpft. Ich will mit Pontius Pilatus sprechen,
dem neuen römischen Prokurator. Er soll mir irgendwie helfen. Darum
bin ich hier, aus keinem anderen Grund, und schon gar nicht, um mit
dir und deinem ganzen beklemmenden Leben Hand in Hand spazieren zu
gehen.«
Berenike schlug die Hände vor das Gesicht und
schluchzte. Auf der Stelle bereute Salome, was sie gesagt hatte,
zumal es nicht der Wahrheit entsprach – jedenfalls nicht ganz.
Tatsächlich empfand sie diesen Hof und das Leben, das Berenike
führte, bedrückend. Und Pontius Pilatus war der wichtigste Grund
ihrer Anwesenheit. Nichtsdestotrotz freute sie sich, ihre liebste
Spielgefährtin von einst wiederzusehen, die Einzige, die stets eine
Freundin für sie gewesen war.
Sie legte Berenike entschuldigend die Hand auf die
Schulter, doch in dem Moment, als sie sie berührte, rannte Berenike
davon. Salome lief hinter ihr her. »Berenike! Warte doch! Es tut
mir Leid. Ich habe es nicht so gemeint.«
Die Verfolgungsjagd ging über die vielen Wege und
Seitenwege des Gartens, über Rasenflächen, um Zypressen herum und
durch Dickicht. Doch Salome geriet schnell außer Atem und musste
schließlich entkräftet aufgeben. Keuchend lehnte sie sich gegen
einen der großen, ovalen Steine, die hier überall herumlagen.
Von allen Schwächen der Kindheit war ihr nur noch
die schnelle Erschöpfung geblieben. Ihre Ausschläge waren vor
einigen Jahren verschwunden, ebenso die Blässe und die geröteten
Augen. Heute schimmerte ihre Haut zartbraun und gesund, unterstützt
von einer Mischung verschiedener Palmöle, die Herodias ihr
zusammenstellte und fast täglich auftrug. Die Haare waren weitaus
kräftiger geworden, doch Salome behielt die Frisur, die sie am Tag
nach Timons Eintreffen in Ashdod von ihrer Mutter hatte machen
lassen, unbeirrt bei. Sie flocht das Haar jeden Morgen über den
Ohren, strich das Stirnhaar zurück und hielt es mit einer
Perlenkette zusammen. Kein Husten peinigte sie mehr, und ihre
hektischen Blicke und Bewegungen kontrollierte sie eisern, denn sie
fand sie einer Stadtfürstin unangemessen.
Gegen die innere Unruhe konnte sie allerdings
nichts tun. Sie konnte sich nie länger als eine Stunde auf eine
bestimmte Tätigkeit konzentrieren, gleichgültig, ob es sich um
Lernen, Lesen oder Diskutieren handelte. Dann gingen ihr andere
Gedanken durch den Kopf, lenkten sie ab, führten sie zu anderen
Themen und Orten. Sie musste dann fast zwanghaft ihre Tätigkeit
unterbrechen, um irgendetwas nachzuschlagen, einen alten Bericht
einzusehen oder einen ganz bestimmten Brief zu schreiben. Manchmal
passierte ihr das mitten in der Nacht, dann entzündete sie eine
Öllampe, ging zu ihrem Schreibtisch oder lief einfach im
gyneikon auf und ab, oft stundenlang. Eine Weile hatte sie
geglaubt, dass Timon der Grund dafür sei, und ganz bestimmt spielte
er dabei eine gewisse Rolle. Wenn sie wüsste, dass er sich nichts
aus ihr machte, ja sogar, wenn er tot wäre, würde alles ein wenig
leichter für sie sein, auch wenn dieser Gedanke furchtbar war. Die
Ungewissheit jedoch war bohrend und unerträglich, sie hasste
sie.
Timon war der wichtigste, nicht jedoch der einzige
Grund für ihre Ruhelosigkeit. Ihr Drang nach Verantwortung, nach
einer wirklichen Aufgabe, wurde mit jedem Tag stärker, sogar hier
am See Genezareth, fern von Ashdod, und sogar jetzt, wo sie noch
immer nach Atem rang.
Plötzlich hatte sie das Gefühl, beobachtet zu
werden. Sie blickte um sich, konnte aber weder links zwischen den
Büschen noch rechts, wo Berenike schluchzend auf dem gewundenen
Seitenweg verschwunden war, jemanden entdecken. Kaum zehn Schritte
vor ihr erhob sich ein Teil des neu errichteten Palastes, dessen
weiße Fassade in den Strahlen der Sonne so hell leuchtete, dass
Salome schützend die Hand über die Augen halten musste. Sie sah an
der Wand hoch und entdeckte auf einer mit Säulen geschmückten
Balustrade eine Frau. Sie war noch keine dreißig Jahre alt,
wunderbar schön, schlank und hoch gewachsen. Ihre nussbraune
Hautfarbe wies sie unverkennbar als Nabatäerin aus, eine Angehörige
des heidnischen Nachbarvolks, das in den Wüsten und Bergen Arabiens
lebte und selbst den Römern zu unbedeutend war, um ihren
politischen Einfluss dorthin auszudehnen. Die Gestalt der Frau war
fremdartig. Ihre bunten Kleider waren mit den Tuniken, die in Judäa
und Kleinasien getragen wurden, nicht zu vergleichen, sie waren
weit geschnitten und luftig. Beim leisesten Windhauch bewegte sich
der zarte, transparente Stoff, der außer Händen, Hals und Gesicht
den ganzen Körper bedeckte, auch die Kopfhaare. Auf der Stirn der
Araberin prangte eine zarte, runde Silberdublette in
Münzgröße.
Bevor Salome einen Gruß hinaufschicken konnte, war
die Unbekannte schon wieder verschwunden.
Hinter Salome raschelte es im Gebüsch. Sie drehte
sich um und sah Berenike.
»Ich habe mich albern benommen«, sagte ihre
Freundin. »Ich hätte das über Timon nicht sagen sollen, und ich
hätte auch nicht weglaufen sollen. Nun ist unsere Stunde fast um,
und ich muss wieder zwei Tage darauf warten, dich zu sehen.«
»So ein Un …« Das Wort »Unsinn« schluckte Salome
hinunter, denn sie wollte Berenike nicht noch betroffener machen,
als sie es ohnehin schon war. »Stunde hin oder her: Wir nehmen uns
jetzt noch ein wenig Zeit. Komm, lass uns zum See gehen.«
Salome hakte sich bei Berenike unter und führte sie
die einhundert Stufen hinab zum Ufer des Genezareth. Das Wasser
plätscherte leise an die Ruderboote, die dort lagen, und Salome
verspürte den Wunsch, in einen der Kähne zu steigen und hinaus auf
den See zu rudern. Doch sie fühlte sich zu schwach, und Berenike
hätte ohnehin zu viel Angst, also ließ sie den Plan wieder fallen
und setzte sich stattdessen auf die kleine Ufermauer, zog die
Sandalen aus und streckte die Füße ins Wasser.
»Ich habe eben eine Frau gesehen, die ich nicht
kannte.«
»Wo?«, wollte Berenike wissen.
»Auf der Balustrade. Sie trug weite, bunte
Gewänder.«
»Ach die«, rief Berenike. »Das war vermutlich
Haritha, die Frau von Antipas.«
»Das war die Fürstin?«
Berenike zuckte mit den Schultern. »Antipas nennt
sie nicht so. Wenn er von ihr spricht, sagt er einfach ›meine Frau‹
oder ›Haritha‹. Er spricht nicht oft von ihr. Sie tritt auch so gut
wie nie vor dem Hof auf. Die meiste Zeit verbringt sie in ihren
Gemächern, nur zu Feiertagen und anderen bedeutenden Ereignissen
sieht man sie. Womit sie sich die Tage vertreibt, weiß niemand,
denn sie hat kein Kind. Und Antipas ist überall, nur nicht bei
ihr.«
»Sie sieht bezaubernd aus.«
Berenike machte ein Gesicht, als wäre ihr dieses
Wort im Zusammenhang mit Haritha nie in den Sinn gekommen. »Sie ist
… ungewöhnlich. Obwohl sie zum Judentum übergetreten ist, so wie
alle fremdländischen Frauen, die einen jüdischen Mann heiraten,
benimmt sie sich alles andere als jüdisch. Ihre Kleidung hast du ja
gesehen. Sie zieht diese vielen Schleier übereinander an und umgeht
damit das höfische Kleidergebot. Rabban Jehudah ist zwar
empört, kann aber nichts gegen ihre Aufmachung tun, denn die
Kleider bedecken fast den ganzen Körper und erfüllen damit die
sittlichen Gebote. Trotzdem ist Haritha eine Provokation.«
»Wegen der Farben?«, fragte Salome und blickte an
ihrer eigenen, leuchtend roten Tunika herab. »Dann wäre ich ja auch
eine Provokation.«
Berenike kommentierte das nicht. »Vor allem wegen
ihrer Bewegungen. Sie macht manchmal so seltsame Gesten mit den
Händen, und ihr Gang ist der einer babylonischen Hu …« Berenike
stockte, als sei es bereits eine Sünde, das Wort Hure
auszusprechen. »Jedenfalls dringt manchmal heidnische Musik aus
ihren Gemächern, und manche glauben, dass Haritha dort heimlich …«
Berenike machte eine bedeutungsvolle Pause und flüsterte dann:
»…tanzt.«
Salome lachte auf. Ihre Freundin tat so, als sei
Tanz etwas Verwerfliches, und tatsächlich fand sich im Judentum
keine Verwendung dafür, im Gegenteil. Der Tanz schöner Frauen oder
muskulöser Männer galt als heidnischer Ritus, der in den Tempeln
ägyptischer, syrischer oder afrikanischer Gottheiten teils
ekstatisch praktiziert wurde. Salome hatte einiges darüber gelesen
und fühlte sich von den Beschreibungen – mit Ausnahme einiger
extremer Rituale, bei denen Blut oder gar Menschenopfer mit im
Spiel waren – nicht im Geringsten abgestoßen. Es war jedoch nicht
verwunderlich, dass ein gläubiger Jude, noch dazu an diesem Hof,
noch dazu Kephallion, Tänze als teuflische Verführung
verdammte.
»Solange sie nur für sich tanzt – wo ist das
Problem?«, fragte Salome.
»Wer weiß, welche scheußlichen Riten sie dabei
absolviert«, wandte Berenike ein.
»Ich höre jetzt ganz deutlich Kephallion
sprechen.«
Berenike senkte die Augen wie eine Ertappte. »Ja,
und in diesem Fall hat er Recht.« Plötzlich schien sie sich an
etwas zu erinnern. Sie sprang auf und rief: »Ich muss jetzt gehen,
Salome. Bis übermorgen um die gleiche Zeit.«
Noch ehe Salome ihr etwas nachrufen konnte, war
Berenike schon die halbe Treppe hinaufgerannt. Sie blieb sitzen,
sah auf den See hinaus, wo es von weißen Segeln und schreienden
Möwen nur so wimmelte, und seufzte resigniert. Was sollte sie in
den nächsten Tagen bloß mit ihrer Zeit anfangen? Die duftenden
Pinienwälder, die leuchtenden Blumen und grasbewachsenen Ufer hatte
sie bereits zur Genüge erforscht, und Herodias hatte kaum Zeit für
sie, vermutlich, weil sie Tag und Nacht mit Antipas »kurte«.
Arme Haritha, dachte sie. Fern der Heimat, in einem
fremden Land, ohne Freunde, ohne Kind, an diesem Hof, mit
diesem Mann, der sie auch noch betrog. Was Herodias nur an
ihm fand? Und ob Haritha von der Beziehung wusste?
Während sie noch immer auf der Ufermauer saß und
ihr all das durch den Kopf ging, spürte sie plötzlich einen feinen
Luftzug hinter sich. Sie wandte sich halb um und blickte auf einen
duftigen, türkisfarbenen Schleier.
Salome saß in der Mitte eines zwanzig Schritte im
Quadrat großen Raumes, der vollkommen leer war. Die Wände nach
Osten und Süden waren von etlichen Fenstern durchbrochen, an denen
sich kalkweiße Vorhänge im Wind blähten, die Sonnenstrahlen
einfingen, filterten und gleichmäßig über den Raum verteilten. Der
Saal war in ein helles milchiges Licht getaucht, das von dem
gleichfarbigen, glatten Marmor noch verstärkt wurde. In der Luft
hing der Duft von Orangen. Alles wirkte rein und frisch und trotz
der Leere nicht im Geringsten abweisend. Sie fühlte sich hier wohl,
obgleich ihr alles rätselhaft vorkam.
Haritha hatte sie unten am Ufer in ihre Gemächer
eingeladen, und sie hatte sofort angenommen. Zum einen war das die
erste Einladung eines Familienmitglieds, die Salome erhielt, denn
die meisten schürzten noch immer die Lippen und sahen in eine
andere Richtung, wenn sie ihr begegneten. Zum anderen schien
Haritha nach allem, was Berenike erzählt hatte, die ungewöhnlichste
und deshalb interessanteste Frau am Hof von Tiberias zu sein. Auf
dem Weg hierher bemühte Salome sich um eine höfliche Konversation,
Haritha dagegen blieb, bis sie in ihren Gemächern waren, wortkarg.
Der Dienerin, die sie empfing, gab Haritha einige schnelle
Anweisungen in der Sprache ihres Heimatlandes, dann verstummte sie
und führte ihren Gast durch die weitläufigen Gemächer. Salome
folgte ihr von einem Raum in den anderen, doch immer fand sie an
der gegenüberliegenden Wand noch eine Tür und noch eine … Sie
staunte über die kräftigen Farben, die überall vorherrschten. Die
Bänke und Liegen leuchteten in dunklem Purpur, und die Böden waren
über und über mit flauschigen bunten Teppichen ausgelegt, die sich
zum Teil überlappten. Jeder Raum wirkte gemütlich, doch
ausgerechnet in diesem leeren Saal, dem letzten Raum, bot Haritha
ihr einen Platz auf einem der großen runden Kissen an. Dann
verschwand sie wortlos und ließ sie allein zurück. Aber Salome
langweilte sich kein bisschen, sie nutzte die Zeit, um die vielen
Eindrücke von Haritha und den exotischen Räumen zu
verarbeiten.
Die Dienerin kam herein und stellte wortlos zwei
Kelche mit einem heißen, dampfenden Getränk vor ihr ab.
»Was ist das?«, fragte Salome und betrachtete die
Dienerin neugierig. Sie hatte die gleiche dunkle Hautfarbe wie
Haritha und verstand offenbar kein Aramäisch, die wichtigste
Sprache in Judäa. Im Alltag wurde fast nur sie gesprochen, denn
Hebräisch galt als die Sprache der thora und damit Gottes.
Sie sollte nicht mit niedrigen Handlungen in Verbindung gebracht
werden und wurde darum vornehmlich bei religiösen Zeremonien und
Gemeindeversammlungen in den Synagogen benutzt. Ohne große Hoffnung
versuchte Salome nun auch, auf Hebräisch mit der Dienerin zu
sprechen und anschließend auf Lateinisch und sogar auf Griechisch,
das sie von Timon gelernt und weiter geübt hatte, aber die Dienerin
lächelte sie nur entschuldigend an. Dann verbeugte sie sich, indem
sie ihre Hände auf die Knie legte, und verschwand wieder.
Das Getränk, offenbar ein Tee, duftete sowohl
würzig wie süß. Einzelne Aromen kamen Salome vertraut vor, wie der
Duft von Nelken, Zimt und Honig, doch vieles in der Mischung war
ihr unbekannt. An der etwas dunkleren Farbe der Flüssigkeit in dem
anderen Kelch erkannte sie, dass Haritha offenbar eine andere
Variante bevorzugte; als sie daran roch, konnte sie keinen
Unterschied feststellen.
Sie hatte den anderen Kelch eben abgestellt, als
Haritha hereinkam. Die Fürstin hatte sich umgezogen und trug nun
weite Gewänder und Schleier in verschiedenen Abstufungen von Gelb.
Darin strahlte sie wie die Sonne, doch in ihrem Gesicht spiegelte
sich diese Heiterkeit nicht wider. Salome vermochte nicht in den
unergründlichen Zügen der Nabatäerin zu lesen. Haritha blickte sie
aus ihren dunklen, geheimnisvollen Augen an, als sie sich zu ihr
setzte.
»Nun bist du also hier«, sagte Haritha.
Salome wusste darauf nichts zu antworten, denn es
war überflüssig, Harithas Aussage zu bestätigen.
»Ich habe dich vorhin erschöpft gesehen. Bist du
krank?«
»Nur eine Schwäche, die sich bei Überanstrengung
einstellt.«
»Wir sind uns ähnlich, weißt du das?«
Diese Feststellung überraschte Salome.
»Inwiefern?«
»Wir sind beide Ausgestoßene dieses Volkes …«
»Ich bin nicht ausgestoßen«, protestierte
Salome.
Haritha lächelte mild. »Doch, das bist du. Du
willst es nur noch nicht wahrhaben. Wenn du lieber andere
Parallelen vorziehst: Wir fühlen uns hier beide nicht wohl, wir
sind beide Fürstinnen ohne Macht – und wir ermüden beide schnell.«
Als erinnere sie sich an etwas, trank sie einen großen Schluck aus
dem Kelch. Anschließend seufzte sie erleichtert.
»Du siehst nicht aus, als würdest du schnell
erschöpft sein«, nahm Salome den Faden auf.
»Oh, Erschöpfung muss nicht körperlicher Natur
sein. Das weißt du ja auch.«
Salome zog die Augenbrauen hoch. »So?«
»Du trauerst einem Mann nach und ich …« Sie ließ
offen, wem oder was sie nachtrauerte und nahm stattdessen einen
weiteren Schluck des Trankes. »Er ist Grieche, nicht wahr? Wundere
dich bitte nicht, dass ich so manches weiß. Ich habe mich in den
letzten Tagen ein wenig über dich informiert, und was ich hörte,
hat mir gefallen.«
Harithas Arm vollführte eine anmutige Bewegung, um
einen der feinen Stoffe, der allzu weit über die Hand gerutscht
war, zurückzuschieben, und anschließend streifte sie den
Kopfschleier ab. Ihr schimmerndes, schwarzes Haar reichte weit über
die Schultern.
Salome fand sie wunderschön.
»Dann bist du im Vorteil«, stellte sie fest. »Ich
weiß kaum etwas über dich.«
Haritha nickte. »Darum bist du hier.« Sie rief
etwas auf Nabatäisch, das der Dienerin galt, und nur einen
Augenblick später tauchte diese mit Stoffen und einer Schatulle
beladen auf und legte diese vor Haritha ab. Dann verschwand sie
wieder.
»Das ist für dich«, erklärte Haritha. »Ich habe die
für dich passende Kleidung ausgesucht: warme, tiefgründige Farben
bei den Stoffen und fein gearbeiteter Schmuck aus meiner
Heimat.«
Haritha breitete die Tücher und Schleier
nacheinander in einem Kreis um sie herum aus – zimtfarbene,
himbeerrote und dunkelviolette Gewänder.
»Das kann ich nicht annehmen«, sagte Salome
überwältigt.
Als habe Haritha sie nicht gehört, sprach sie
weiter. »Dazu helle Bronze und Bernstein, rate ich dir. Ich selbst
neige zu Silberschmuck, aber der ist zu kalt für dich, und Gold
kommt überhaupt nicht in Frage. Gold ist aufdringlich, du kannst es
in zwanzig Jahren tragen, nicht jetzt.«
Haritha musterte Salomes Haar mit einem skeptischen
Blick. »Diese Frisur hat dir deine Mutter empfohlen, richtig?
Dachte ich es mir doch. Sie macht dich zu vornehm.«
»Was ist falsch daran?«
»Vornehm ist unsinnlich. Vornehm ist westlich.
Trage dein Haar offen wie eine Araberin und umkränze es mit einem
Reif. Hier, setze dir den auf.«
Zwischen ihren Fingerspitzen schaukelte ein
Bronzereif, versehen mit geheimnisvollen Ornamenten. Er sah aus wie
vor langer Zeit in einer fernen Kultur gefertigt.
Salome streckte die Hand nach ihm aus, scheute
jedoch im letzten Moment zurück. Diese Geschenke waren derart
prächtig, dass sie schon unter normalen Umständen beschämt gewesen
wäre; sie nun ausgerechnet von Haritha zu bekommen, einer Frau, die
sie erst seit einer Stunde kannte … Noch dazu das problematische
Verhältnis, in dem sie zu ihr stand.
Haritha schien das Problem nach einem einzigen
Blick in Salomes Augen erfasst zu haben. »Du zögerst, weil du die
Tochter der Frau bist, die mit meinem Mann schläft, so ist es
doch?«
Salome senkte den Blick und rutschte unruhig auf
ihrem Kissen herum.
»Zerbrich dir darüber nicht den Kopf, Salome. Diese
Sache interessiert mich weniger, als du glaubst. Sie ist
unwichtig.« Haritha blickte einen Moment in den Kelch und leerte
ihn vollends. Der Tee schien bei ihr eine Wirkung zu entfalten, die
Salome an sich selbst nicht spürte. Harithas Bewegungen wurden fast
tänzerisch, und ab und zu schloss sie die Augen und öffnete leicht
den Mund.
»Was trinken wir hier eigentlich?«, wollte Salome
wissen.
»Oh, nur einen Tee aus verschiedenen Gewürzen, von
Karawanen aus östlichen Ländern mitgebracht«, antwortete Haritha in
einem seltsamen Singsang. »Arabische Zimtrinde, syrischer Lorbeer,
Nelkenpulver und indischer Kardamom … Du kennst Kardamom nicht? Es
ist der Samen einer Pflanze. Man zerstößt ihn zu Staub.«
»Entfaltet er diese Wirkung, die ich an dir
beobachte?«, fragte Salome.
»Nein«, antwortete Haritha gedehnt und mit
geschlossenen Augen. »Die Wirkung kommt von einem Zusatz in meinem
Tee, dem theriac.«
Ihr Lerneifer der letzten Jahre kam Salome nun
zugute. Theriac, so hatte sie gelesen, war ein Arzneisaft,
der aus sechzig verschiedenen Bestandteilen hergestellt wurde,
darunter Gewürze, Baldrian, Mohn und das Blut von Nattern. Er wurde
als Gegengift bei Schlangenbissen oder Skorpionstichen verwendet,
und von einigen historischen Königen wurde berichtet, dass sie sich
mit täglich eingenommenen kleinsten Mengen des Trankes – eine Bohne
voll, wie es hieß – immun gegen Giftanschläge machten. Bei einer
hohen Dosierung drohte der schnelle Tod, aber wenn man nur ein
wenig mehr als »eine Bohne voll« nahm, schien theriac eine
seltsame, berauschende Wirkung zu entfalten.
»Und nun«, sagte Haritha und begann, ihre Hüften
sanft zu schwingen, »ziehe dir alles an, was ich dir geschenkt
habe, lasse nichts weg. Lege dir einen Schleier über den anderen.
Schleier sind wunderbar. Sie sind dicht genug, um die darunter
liegenden Farben zu verhüllen, und durchsichtig genug, um die
Konturen deines Körpers anzudeuten. Sie verdecken, aber sie
stimulieren auch. Sie hängen nicht einfach an deinem Körper,
sondern schmiegen sich an ihn, legen sich in Falten, bilden Hügel
und Täler in mannigfacher, unendlicher Vielfalt, kräuseln und
glätten sich wie ein fruchtbarer Strom. Schleier bedeuten
Geheimnisse und Schleier bedeuten Verheißungen. Sie verstecken und
versprechen etwas. Den Männern erschaffen sie Bilder, die gar nicht
da sind, die nur in ihrem Kopf existieren. Das Einzige, was
Schleier brauchen, um all das zu sein, was ich eben beschrieben
habe, ist die Bewegung. Ohne sie sind sie nutzlos, tot. Nur der
Tanz bringt sie zum Leben, Salome. Der Tanz.«
Salome hörte ihr gebannt zu wie einst den
thora-Vorlesungen des alten Zacharias; anders als damals
bekam sie heute eine Gänsehaut.
»Es gibt nichts Sinnlicheres, Salome, als wenn
jeder Teil deines Körpers in Schwingung gerät. Kannst du es spüren?
Ich weiß, du vermagst noch nicht einen einzigen Schritt zu tanzen,
und doch ist schon jetzt etwas in dir, das in diesem Augenblick
nichts anderes mehr will, als die Bewegungen auszuprobieren. Der
Tanz ist dir nicht fremd, Salome, denn Tanz ist Leidenschaft, und
Leidenschaft steckt in dir, das fühle ich. Du bist auserwählt zu
tanzen. Warte nicht länger, Salome.«
Die Fürstin klatschte dreimal in die Hände, und nur
einen Atemzug später erklang eine leise Musik, die der Wind mit
sich zu bringen schien. Eine einzelne Flöte spielte eine Melodie so
fremd wie Haritha und ihre Welt. Dann kam eine zweite dazu, die
einen dunkleren, einen magischen, samtigen Ton zauberte. Ein
Tamburin, leise rasselnd, brachte einen etwas schnelleren Rhythmus
in die Melodie.
Haritha machte keinen Schritt. Nur ihre zur Decke
gestreckten Arme schaukelten sachte von einer zur anderen Seite,
wie von dem hereinströmenden Wind bewegt. Nach und nach passten ihr
Kopf und der Oberkörper sich an. Dann, fast unmerklich, ging die
Bewegung in ein sanftes Kreisen über. Haritha war biegsam wie ein
junger Zweig. Der Rhythmus der Melodie wurde schneller und mit ihr
Harithas Bewegungen. Noch immer verharrte sie auf einem Fleck, und
doch schienen sie und die wehenden gelben Schleier den ganzen Saal
auszufüllen. Salome konnte nicht einen Moment den Blick von ihr
abwenden. Über diesem Tanz vergaß sie alles, sogar den dunkel
schimmernden Schmuck in ihren Händen.
»Haritha!« Ein Ruf von nebenan brach wie ein
Unwetter in diese Welt hinein. Antipas. Salome zuckte zusammen.
Pfeilschnell und plötzlich wieder hellwach, stürzte Haritha auf sie
zu, packte sie am Arm und zog sie mit sich zum anderen Ende des
Saales, wo sie ihre flache Hand auf einen bestimmten Punkt des
Mosaiks presste. Eine Drehtür öffnete sich und gab einen Raum
frei.
Haritha schubste Salome hinein. »Er darf dich hier
nicht sehen. Das ist zu deinem eigenen Besten.« Dann schloss sich
die Tür wieder.
Salome wagte keine Bewegung und atmete flach und
schnell. Sie dachte über die merkwürdigen Worte Harithas nach.
Warum war es zu ihrem eigenen Besten, sich hier vor Antipas zu
verstecken? Er kannte sie doch. Und was konnte er ihr schon
tun?
Sie sah sich um. Der geheime Raum war höchstens
zwei Schritte breit und zog sich über die ganze Länge der Saalwand.
Die Fackeln erhellten nicht nur seine enge, fensterlose Düsternis,
sie brachten auch Licht in ein Rätsel. Am Ende des Raumes erkannte
Salome die Umrisse von fünf Männern, jeder mit einem anderen
Instrument in Händen. Von hier also kam die Musik. Einer von ihnen
löste sich aus dem Quintett, ging auf Zehenspitzen auf sie zu und
entfernte wortlos einen münzgroßen Deckel von der Wand. Lächelnd
wandte er sich wieder um und ging zu den Musikern zurück.
Salome bedankte sich mit einem Kopfnicken. Bisher
hatte sie nicht mitbekommen, was in dem Saal vor sich ging. Nun
presste sie ihr Gesicht an die Wand und blickte mit einem Auge
durch die Öffnung, die klein genug war, um vom Saal aus nicht
entdeckt zu werden.
Dort standen Antipas und Haritha beisammen. Nichts
deutete darauf hin, weshalb er seine Frau besuchte. Er schwieg,
schien ihr also nichts mitteilen zu wollen. Er sah sie auch nicht
mit funkelnden Augen an wie jemand, den die Sehnsucht getrieben
hatte. Eher gleichgültig sah er der arabischen Dienerin zu, die
einige Polsterkissen brachte, auf dem Boden verteilte und dann von
ihrer Herrin weitere Befehle erwartete. Antipas kam seiner Frau
zuvor und schickte die Dienerin mit einem ungeduldigen Wink
hinaus.
Einen Moment schwiegen er und Haritha, schließlich
legte er sich auf die Kissen und rief, ohne jede Zärtlichkeit in
der Stimme: »Tanze, Haritha.«
Das klang wie ein eingeübter Befehl, der schon
tausendmal gegeben worden war und immer das gleiche Ritual nach
sich zog. Die Musiker, für das Fürstenpaar unsichtbar hinter der
Wand verborgen, setzten die Instrumente an. Haritha nahm die
gleiche Position in der Mitte des Saales ein, in der Salome sie
vorhin angetroffen hatte. Sie klatschte aber nicht dreimal wie
vorhin, sondern viermal, und nur einen Lidschlag später peitschten
die Hände eines Musikers mit unglaublicher Geschwindigkeit über den
mit Darmhaut bezogenen Hohlkörper.
Im Takt dieses aufwühlenden Rhythmus wirbelte
Haritha auf dem Boden um Antipas herum. Ihre Füße sprangen und
huschten, sie bog ihren Körper, drehte ihn, ließ die Hüften kreisen
und die Arme Figuren in der Luft zeichnen. Das Tamburin
beschleunigte den Rhythmus noch weiter. Haritha war eine Sklavin
der Musik, sie folgte jedem ihrer Befehle. Dann, mit einem Ruck so
schnell, dass Salome ihn gar nicht wahrnahm, warf sie den ersten
Schleier ab. Der feine, gelbe Stoff flog zu Antipas, der ihn
sogleich griff und daran roch, ohne seinen Blick von der Tänzerin
zu nehmen. Der Tetrarch grinste breit, doch man konnte dieses
Mienenspiel bei ihm nie deuten. Er konnte sowohl amüsiert sein als
auch gereizt, angestrengt, erregt …
Der zweite Schleier flog durch die Luft. Nun
schimmerte bereits Harithas dunkle Haut verheißungsvoll durch den
dritten Schleier. Noch blieben die Konturen ihres Körpers eine vage
Andeutung, nur dann sichtbar, wenn eine bestimmte Drehung sie einen
Takt lang freigab.
Antipas’ Augen weiteten sich. Sein Mund stand
offen, verlor jedoch das breite Grinsen nicht. Er atmete schwer,
die Zunge lag auf seinen Lippen. Der Fürst sackte mehr und mehr in
sich zusammen.
Antipas war in diesem Moment offensichtlich nicht
mehr der Herr Harithas, nicht der Mann, der ihr Befehle geben und
sie mit ständiger Nichtachtung strafen konnte. Er war ihr Geschöpf.
Ein Tanz machte ihn zu einem willenlosen Narren, der sich mit der
Hand zwischen den Schenkeln rieb, aus dessen Mund Speichel tropfte,
der zwischen Ohnmacht und aufgepeitschter Erregung schwankte.
Der dritte Schleier landete auf dem Boden. Außer
den Kettchen und Reifen an Armen und Beinen war Haritha nackt und
wirbelte um Antipas herum, immer dicht davor, ihn zu berühren, und
doch unerreichbar für den Geschwächten.
Die Musik steigerte sich, sie wurde schnell und
unangenehm laut. Trommel und Tamburin wetteiferten in ihrer
ekstatischen Klangfülle miteinander, überschlugen sich. Jeden
einzelnen Atemzug lang produzierten sie Hunderte von Tönen.
Doch drinnen im Saal war der Kampf längst
entschieden. Antipas japste wie ein Erstickender und vermochte kaum
noch Harithas wildem Tanz zu folgen. Er wälzte sich auf den Kissen,
er stöhnte, jammerte hilflos und genoss dabei jede einzelne
Sekunde.
Dann, von einem Moment zum anderen, verstummte die
Musik. Haritha sprang mit einem gewaltigen Satz zu Antipas, landete
auf den Knien, beugte sich über ihn, sodass ihre Brüste unmittelbar
vor seinen Augen waren, berührte ihn nur ganz kurz und sacht wie
ein Hauch zwischen den Schenkeln, und schon stöhnte Antipas auf,
als sei dies sein letzter Laut auf Erden. Er zuckte dreimal, dann
war es vorbei. Alles an ihm erschlaffte.
Salome dachte tatsächlich, der Fürst sei in der
Erregung gestorben, aber dann, nur wenige Augenblicke später, in
denen niemand sich bewegte, in denen Haritha neben ihm kniete und
Salome vor Aufregung das Atmen vergaß, gab er wieder einen Laut von
sich. Er schnarchte.
Haritha stand auf. Während sie auf die Geheimtür
zuging, sammelte sie jene Schleier vom Boden auf, die sie Salome
geschenkt hatte. Sie drückte den Knopf, und die Tür öffnete
sich.
Ein feuchter Glanz überzog Harithas Haut, die
dichten schwarzen Haare hüllten fast ihr ganzes Gesicht ein. Sie
lächelte voller Ironie und Verachtung, und Salome wusste, dass es
nicht ihr, sondern Antipas galt, dem Besiegten.
»Und das alles«, sagte Haritha, »bringe ich dir
bei.«