6
Salome lag ausgestreckt im Sand und blickte in den Himmel, wo zwei Schwalben höher und höher in das ungeheure, umfassende Blau kreisten, bis sie fast nicht mehr zu sehen waren, winzige, bewegliche Punkte, die in den Strahlen der blendenden Sonne verschwanden und einen Lidschlag später wieder zum Vorschein kamen. Sie tanzten umeinander, wurden schneller und entfernten sich, bis ihre Rufe nicht mehr zur Erde drangen, flogen weit über das Meer hinaus, wo sie schließlich in jenem fadendünnen Streifen, wo die Luft das Wasser berührte, endgültig dem Blick entschwanden.
Im Licht der Sonne und des Himmels, die im Wettstreit leuchteten, nahm das Meer vor Ashdods Küste eine fast grüne Farbe an; dazwischen blitzten in ständigem Spiel für winzige Momente die kleinen, weißen Schaumkronen der Wellen. Das mare nostrum war friedlich wie immer. Kaum hörte man, wie das Wasser auf die flach ansteigenden Ufer traf, nur ein leises Rauschen erfüllte diesen herrlichen Morgen.
Und zwischen all dem war Timon. Er schwamm hin und her, immer in Salomes Sichtweite, durchpflügte mal mit schnellen Bewegungen das Wasser oder peitschte die Arme, auf dem Rücken schwimmend, nach hinten. Gelegentlich tauchte er unter und an einer ganz anderen Stelle wieder auf.
Als Timon aus dem Wasser stieg und durch den feinen warmen Sand auf sie zu stapfte, versuchte sie, ihn möglichst wenig zu beachten, was ihr allerdings nicht gelang. Er trug nur ein leinenes, eng gewickeltes Hüfttuch, das wenig verbarg und zudem vor Nässe troff. Dergleichen war sie nicht gewohnt. Um seinen Hals spannte sich eine feine, goldene Kette, an der ein winziger Lapislazuli befestigt war. Und dann war da noch diese Narbe, die sich von der rechten Brust bis zum Bauchnabel zog und einst eine schlimme Wunde gewesen sein musste.
Einige Schritte von ihr entfernt kniete er sich in den Sand und breitete seine Arme aus wie ein Vogel, der nach dem Bad sein Gefieder spreizt. Da Timon außer seiner Tunika keinen Stoff dabei hatte, blieb ihm nur diese Möglichkeit zu trocknen; es war wohl nur ein Spaß, denn er ließ seine Arme schnell wieder sinken und lächelte Salome an.
»Ist es hier nicht wunderbar?«, fragte er und schüttelte übermütig seine Haare, so dass die Tropfen bis zu ihr spritzten. Sie schrie auf und beide lachten.
»Ja«, antwortete sie knapp, denn sie fürchtete, ihre Stimme könnte zittern und damit verraten, wie erregt sie war. Wie noch nie jemand zuvor wühlte Timon die seltsamsten, aufregendsten und wunderbarsten Gefühle in ihr auf, von denen sie nie gedacht hätte, dass sie ihrer fähig wäre. Irgendwie hatte sie immer geglaubt, die Tatsache, dass sie nicht gesund und schön war, würde sie davon ausschließen, jemals mehr als Respekt oder Freundschaft für einen Mann zu empfinden, geschweige denn das zu tun, was ihre Mutter einst mit Coponius im Hain getan hatte. Doch unwiderruflich kam ihr dieses Bild in den Sinn. Sie stellte sich vor, wie Timon, so wie er war, am Boden lag.
Sie schüttelte den Kopf, als wolle sie sich von einer Benommenheit befreien.
Hör auf damit, sagte sie sich.
»Alles in Ordnung?«, fragte er. »Du sahst gerade aus, als ginge es dir nicht gut.«
»Doch, doch«, erwiderte sie rasch.
Er schwieg, blickte unentschlossen in die Sonne, dann zum Meer. Sein Atem ging schwer, er sog ein paar Mal tief die Luft ein und stieß sie mit einem kurzen Seufzer wieder aus.
»Ich bin nach einer Muschel getaucht, habe aber keine gefunden«, sagte er.
»Wozu auch?«
»Um sie dir zu schenken, selbstverständlich.«
Er schien einen Moment zu überlegen, dann sprang er auf und ging zu seinem Pferd. Am Hals der Gescheckten war an einer Schnur ein Beutel befestigt, den Timon öffnete, einen Lederschlauch hervorzog und dann mit ihm zurückkam. Schwungvoll warf er sich neben Salome in den Sand. Er war ihr so nah, dass sie das Salzwasser roch, das auf seinem Körper trocknete.
»Hier habe ich etwas anderes für dich. Suche dir eins davon aus.«
»Was ist da drin?«
»Öffne, dann wirst du schon sehen.«
Sie holte eine Rolle aus dem Lederschlauch heraus, wie sie für Botschaften verwendet wurde. Zwischen zwei Holzstöcken war Pergament eingespannt und zusammengerollt worden. Zaghaft vor Respekt vor dem dünnen Papier entfaltete sie die ersten Fingerbreit und blickte auf eine Zeichnung. Ein rundes, von Säulen gesäumtes Gebäude mit spitzem Giebel erhob sich inmitten eines Gartens.
»Das stammt von dir?«, fragte sie verblüfft.
»Da war ich noch sehr jung, man sieht es an der krakeligen Strichführung. Das ist der Tempel der Venus in Rom.«
»Venus?«, fragte sie neugierig.
»Die Tochter des römischen Göttervaters Jupiter, Göttin der Liebe, der Schönheit, der Anmut. Sie wurde übrigens nicht weit von hier geboren, an der Küste Zyperns, wo sie der Sage nach dem silbernen Schaum der Wogen entstieg.«
»Klingt faszinierend. Wieso zeichnest du?«
»Einfach so. Na ja, eine Zeit lang, als ich in Jerusalem lebte, habe ich mir überlegt, Architekt zu werden.«
»Du wärst ein prächtiger Architekt«, rief Salome begeistert aus, doch als sie merkte, wie überschwänglich das geklungen hatte, fügte sie sachlich hinzu: »Ich kann mir dich sehr gut als Architekt vorstellen.«
Salome rollte das Papier weiter auf. Einem Aquädukt, wie sie es auch aus Jerusalem kannte, folgte die Zeichnung einer ländlichen Straße mit einigen kleinen Tempeln und Mausoleen auf beiden Seiten.
»Die Via Appia«, erklärte Timon. »Und das hier ist ein Leuchtturm im Hafen von Ostia. Und als Nächstes …«
»Jerusalem«, jauchzte Salome.
»Ja, der Tempel eures Gottes. Ich nehme an, du entscheidest dich für diese Zeichnung.«
Sie war außer sich vor Freude. Jemand machte ihr ein Geschenk, nicht Geld oder so etwas, nichts, um sie hübscher zu machen, nichts, was mit Münzen bezahlt worden war, sondern ein richtiges Geschenk, das mit eigener Zeit und Arbeit gefertigt worden war. Sie strahlte ihn an, mochte es auch unschicklich sein. Sie war schon so weit gegangen, dass sie mit ihm im Hain geruht und auf dem Pferd gesessen hatte und nun am Strand lag, kaum mehr als eine Handbreit von Timon entfernt. Sie war froh, hier zu sein. Wie konnte sie auch nicht? Er mochte sie, kein Zweifel. Und was ihre eigenen Gefühle betraf …
Noch einmal schweifte ihr Blick über das halb entrollte Pergament. »Nein«, sagte sie schließlich. »Du müsstest die Rolle zerschneiden, wenn ich eine der Zeichnungen nehme. Das will ich nicht.«
»Gut, dann schenke ich dir die erste Zeichnung«, bot er an. »Den Tempel der Liebesgöttin. So muss ich nur wenig schneiden.«
Sie schluckte. »Der Liebesgöttin?«
»Ist es dir nicht recht? Soll ich …«
»Nein«, rief sie. »Nein, das ist – sehr freundlich.«
Er nickte ihr lächelnd zu. »Ich reiße es dir gleich ab.« Er faltete das Papier zwischen den Zeichnungen und trennte den einen Teil ab. »Hier bitte«, sagte er. »Ich hoffe, du siehst dir die Zeichnung gelegentlich an.«
»Du weißt ja«, schränkte sie ein. »Zeichnungen missfallen dem Herrn, daher muss ich sie versteckt halten. Natürlich sieht der Herr sie auch so, aber Zacharias und meine Eltern nicht, und darauf kommt es an. Ich werde sie ziemlich oft hervorholen, das verspreche ich.«
Er ließ sich rückwärts in den Sand fallen, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und blickte träumend in den Himmel.
Salome blickte nicht weniger verträumt als er.
Er fühlte das, was sie für ihn fühlte, dachte sie. Nichts anderes war jetzt noch wichtig. Eher beiläufig, nur um Timon nicht anzustarren, rollte sie das Pergament weiter auf, betrachtete Mausoleen, Tempel und Brücken, die sie in Italien vermutete. Timon besaß eine große zeichnerische Begabung, fand sie, eine für einen angehenden Architekten nicht unwichtige Fähigkeit. Sie stellte sich vor, wie er herrliche Villen und mächtige Brücken erbaute. Wenn sie erst Fürstin wäre, könnte sie ihm Aufträge verschaffen, er könnte zum Beispiel eine neue Küstenstraße von Jebna nach Askalon ziehen; das wäre für Kaufleute und Reisende eine nützliche Sache. Und dann könnte er die mangelhafte Wasserversorgung in den Städten verbessern, all das, worum sich Herodes nie gekümmert hatte. Und sollte sie eines Tages Königin sein, dann …
Sie erschrak. Sie hatte die Rolle weiter entfaltet und war auf ein ungewöhnliches Motiv gestoßen. Auf den anderen Zeichnungen Timons waren kaum Menschen abgebildet, und wenn, dann nur als kleine Striche auf den Straßen. Wozu auch, wenn er Architekt werden wollte? Doch von dieser Zeichnung blickten sie die Augen eines Mannes an.
Es war ein Gesicht mit kleinen Furchen an den Wangen, Narben auf der Stirn und einem kurzen Bart an Mund und Kinn und bis zu den Schläfen hoch. Ein gewöhnlicher Mann im mittleren Alter, alles in allem. Doch dem Bild haftete deutlich ein persönliches Urteil an. Vor allem an den dunklen, brutal leuchtenden Augen konnte Salome sehen, wie Timon diesen Mann verabscheute.
»Ich kenne ihn«, murmelte sie nachdenklich.
Erst jetzt bemerkte Timon, dass sie die Rolle weiter entfaltet hatte. Er richtete sich auf und fuhr sich mit der Hand über die Stelle auf seiner Brust, wo sich die Narbe befand. Seine spielerische Fröhlichkeit, seine jugendliche Ausstrahlung waren mit einem Mal wie ausgebrannt. Fordernd fragte er sie: »Woher? Wie heißt er?«
Salome dachte angestrengt nach. »Wie er heißt, weiß ich nicht mehr«, antwortete sie. »Er gehörte vor Jahren zum Gefolge meiner Großtante. Er nahm keine wichtige Stellung ein, glaube ich. Ab und an gab sie ihm einen Auftrag, dann war er eine Weile fort und kam immer wieder zurück. Ich habe ihn jedoch seit – ich weiß nicht mehr genau – seit mehreren Jahren nicht mehr gesehen. Irgendwann war er weg.«
Timon sah aus, als hätte sie ihm soeben die Antwort eines Rätsels präsentiert. Er legte sich wieder in den Sand und starrte in den Himmel. Er schwieg, und auch Salome spürte, dass sie ihn jetzt nicht mit ihrer Neugier behelligen sollte, obwohl sie darauf brannte, mehr über den Mann zu erfahren und weshalb Timon sich so sehr für ihn interessierte. Umso überraschender kam dann seine nächste Frage, die so gar nichts mit dem eben geführten Gespräch zu tun hatte.
»Du hast deine Großtante gern, nicht wahr?«
Sie stutzte. »Selbstverständlich. Sie hat mich immer gut behandelt und mir vieles beigebracht, sie hat zu mir und meinen Eltern gestanden, als es uns schlecht ging. Sie ist großartig.«
Timons Wangenknochen mahlten, er blickte weiter in den Himmel. »Ja, das hört sich alles nach einer lieben alten Frau an.«
»Natürlich muss sie als Herrscherin auch manchmal hart sein, das gehört dazu, vor allem, weil sie eine Frau ist und sich doppelt anstrengen muss, die ihr zustehende Achtung zu bekommen. Doch sie war immer gerecht.«
»Gerecht«, flüsterte Timon fast unhörbar in die sanfte Meeresbrise hinein. Dann blickte er Salome an. Sie konnte viel Zärtlichkeit in seinen Augen entdecken, aber da war noch etwas anderes, ein dunkler Schatten.
»Bist du ihr ähnlich?«, fragte er. »Was würdest du anders als sie machen, wenn du ihr nachfolgen solltest?«
Salome dachte nach. »Was sollte ich schon anders machen wollen?«
»Dir fällt nichts ein?«
»Nichts Wichtiges. Ich würde reisen wie sie, einen Hof unterhalten wie sie, das Leben genießen …«
»Kommt auch das Volk in deinen Überlegungen vor, oder denkst du nur an dich selbst?«, fragte er ärgerlich.
Salome zögerte. »Ich … verstehe nicht.«
»Du hast mir erzählt, wie schwierig es für dich war, zu lernen. Willst du es anderen Mädchen nicht leichter machen? Was ist mit den harten Strafen in Judäa? Oder mit der Mitsprache des Volkes bei wichtigen Entscheidungen? Mit der Ablehnung deines Volkes gegenüber den Wissenschaften? Mit den Spitzeln? Mit der Angst, Salome? Die Menschen da draußen fürchten sich vor euch, ist dir das nicht klar?«
Sie runzelte die Stirn. »Nein. Ich …«
»Ich, ich, ich, das ist alles, woran deine Familie interessiert ist. Nichts verändern, niemandem helfen, keinem vertrauen. Das solltet ihr euch als Motto zulegen. Du wirst einmal wie alle anderen Herodianer werden, und das ist verflucht schade. Denn in dir steckt eigentlich mehr.«
Salome rang um Worte. Ihr war, als hätte jemand aus einer anderen Welt zu ihr gesprochen. Tatsächlich redete man in der herodianischen Familie nie über mögliche Veränderungen in den Gesetzen, denn die stammten immerhin von Gott selbst. Sogar ihr Vater, der gewiss kein Freund von Herodes gewesen war, hatte stets nur den gewaltsamen Stil kritisiert, mit dem die Macht ausgeübt wurde, nicht jedoch die rechtlichen Fundamente. Salome kannte niemanden, der Judäa verändern wollte. Timon war der Erste.
»Womit würdest du denn anfangen?«, fragte sie ihn.
Er überlegte nicht lange. »Mit den Sklaven. Mein Vater hat mich gelehrt, dass kein Mensch einem anderen gehören dürfe.«
Salome nickte. »Das hört sich weise an.«
»Er war auch weise. Leider habe ich ihm das nie gesagt.«
Sie lächelte Timon an. Auch ihr hatte die Behandlung der Sklaven durch ihre Großtante noch nie gefallen, doch erst durch Timon wurde sie wirklich auf deren Schicksal aufmerksam. »Ich verspreche dir, eines Tages gegen die Sklaverei zu kämpfen.«
»Tust du das nur für mich?«
»Auch für dich. Mehr noch für die Sklaven.«
Damit schaffte sie es, wieder ein Lächeln auf sein Gesicht zu zaubern. Vom einen Moment zum anderen fiel alle Nachdenklichkeit von Timon ab, er war wieder heiter, und seine Augen strahlten sie an.
»Entschuldige, wenn ich etwas grob war. Das liegt daran, dass du mir nicht gleichgültig bist. Komm, leg dich eine Weile neben mich. Wir wollen die Stunde genießen, plaudern und träumen.«
Er nahm sachte ihre Hand und zog sie zu sich. Salome legte sich in den weichen Sand und blickte mit Timon in den Himmel. Er hielt weiter ihre Hand umklammert, und obwohl ihr Herz bis in die Kehle pochte, fühlte sie doch eine vollkommene Ruhe. Gleich darauf kam ihr der Gedanke, dass das, was sie in diesem Moment erlebte, Glück hieß.
Hinter einer Düne zwischen Gräsern, nur wenige Schritte von ihnen entfernt, lugte schon seit einer Weile ein Paar Augen hervor, das jetzt wieder hinter dem Sandhügel verschwand. Kephallion robbte langsam die Düne hinunter, und als er weit genug weg war, stand er auf und klopfte sich zufrieden grinsend den Sand von der Kleidung.
 
»Volk Israel«, gellte die Stimme Sadoqs über den weiten Platz unterhalb des Tempels des Einen Gottes. Seine Arme erhoben, stand er auf der obersten Stufe vor dem Hauptportal und sprach zu den vielen Menschen, die zu dieser Nachmittagsstunde ihren Geschäften im Zentrum Jerusalems nachgingen.
»Volk Israel«, wiederholte er laut, um mehr Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Erst als viele stehen blieben und zu ihm aufsahen, begann er: »Der Ethnarch hat uns verraten. Um König zu werden, verneigt er sich vor den Römern und tut alles, was sie wollen. Schon bald werden sie mit ihren Schreibern kommen, mit ihren Nummern, und werden uns alle in ihre Register einsortieren. Aber wir sind kein Teil von ihnen, wir sind keine Zahlen, wir gehören uns allein. Wer gibt dem Ethnarchen das Recht, uns preiszugeben? Wer gibt ihm überhaupt das Recht, irgendetwas in unserem Namen zu tun, wo doch nicht wir es waren, die ihn zum Herrscher gemacht haben, sondern der Augustus in Rom? Nein, Volk Israel, ich sage dir, Archelaos ist nicht dein Gebieter!«
Nach diesen Worten erfüllte Raunen den Platz, die Menschen diskutierten, gestikulierten, manche schimpften, andere klatschten. Sadoq musste nicht weiterreden, er hatte mit diesen wenigen Worten erreicht, was er wollte. Er nickte Menahem zu. Sein Freund stand neben ihm und gab nun seinerseits ein Zeichen, woraufhin sich etwa drei Dutzend Männer auf die Stufen vor das Portal setzten und es blockierten.
Sadoq überschaute seine Gruppe wie ein Feldherr seine Legionen. Drei Dutzend Männer. Mehr Herzen und Köpfe hatte er in diesen Jahren seit der Gründung nicht für sich gewonnen. Seine Zeloten, die Eifernden, waren unbekannt, niemand interessierte sich für sie, und die wenigen, die es doch taten, waren nicht lange in seiner Sekte geblieben. Sadoq kannte die Ursache. In ihren Augen tat er das Falsche. Sie wollten mit Steinen gegen Soldaten vorgehen und Archelaos aus dem Land jagen, doch was sagten Sadoq und Menahem zu ihnen: Keine Gewalt! Wir stellen uns allen Feinden des Volkes in den Weg, ohne zuzuschlagen! Gewalt brauchen wir nicht, nur Festigkeit. Wenn wir eines Tages viele sind und stark, dann werden die Fremden und die Böswilligen an ihrer eigenen Schwäche zerbrechen!
Doch den Zornigen war er damit zu methodisch, den Mutigen zu feige und den Ungeduldigen zu langsam. Und dann gab es noch jene, die sich daran störten, dass sein Bart noch immer nicht richtig wuchs, obwohl er nun doch schon Mitte zwanzig war. Auch die Tatsache, dass Menahem seinen Bart kurz hielt, war ihnen nicht geheuer. Konnten Männer, deren Äußeres nicht im Sinne der thora war, sie anführen? Konnte der Herr durch den Mund von Bartlosen sprechen?
Diese Fragen stellte Sadoq sich nicht, ebenso wenig Menahem. Der Herr hatte ihnen nicht beigestanden, als sie ihre Angehörigen verloren, und der Herr jagte die Römer nicht aus dem Land. Sie warfen ihm das nicht vor, aber sie erflehten auch nicht seine Hilfe. Und schon gar nicht beriefen sie sich auf ihn. Er sollte mit dem, was sie taten, nichts zu tun haben.
Drei Dutzend Männer, so wenige waren ihm nur geblieben, doch er hielt an seiner Taktik fest. Seine große Stunde würde noch kommen. Vielleicht war die jetzige ein erster Schritt dorthin.
Er setzte sich mit Menahem zu seinen wenigen Getreuen und ließ niemanden durch, der in den Tempel wollte. Einigen seiner Männer fiel es schwer, angesichts der Beleidigungen standhaft zu bleiben. Ihr wollt euch nur wichtig machen, meinten einige, und andere sprachen ihnen gar ab, im Sinne Gottes und des Volkes zu handeln. Das war hart, das traf ins Herz, aber Sadoqs Stärke gab auch seinen Anhängern Kraft. Setz dich zu uns, Freund, forderte er jeden auf, der ihn beschimpfte, und so machten es die anderen Zeloten ihm nach.
Auf dem Platz tat sich etwas. Ein berittener Offizier der Stadtwache kam aus einer der Straßen und schrie Befehle, die man bis zu Sadoq hinauf unmöglich verstehen konnte. Augenblicke später marschierten Soldaten auf, einige mit Bögen, andere mit Schwertern bewaffnet. Sie bahnten sich unter dem Murren der Bürger einen Weg bis zum Fuß der Stufen.
»Steht auf und geht eures Weges«, schrie der Offizier. »Dann passiert euch nichts.«
Die Zeloten wurden unruhig, Sadoq jedoch blieb ungerührt sitzen.
»Sie werden uns niedermachen«, stieß Menahem hervor.
Sadoq lächelte. »Jeder Pfeil und jeder Schwertstreich macht uns stärker. Sie treffen nur sich selbst.«
»Selbst wenn«, flüsterte Menahem, »bis die das merken, sind wir längst tot.«
Einzelne Zeloten sprangen auf und liefen davon, doch dem Offizier waren das nicht genug. Er schrie einen weiteren Befehl, und die Schützen spannten ihre Bogen.
Menahem schloss die Augen und blieb treu an Sadoqs Seite, wie auch die meisten der anderen Zeloten. Sadoq stimmte einen Psalm an, den einst König David in großer Bedrängnis auf dem Weg nach Jerusalem gesungen hatte: »Hart hat man mir zugesetzt von Anfang an, doch niemals hat man mich vernichten können. Den Rücken hat man mir aufgerissen wie ein Feld, in das man Furchen pflügt. Der Herr aber ist mir treu geblieben …«
Sadoqs Leute sangen mit, und der Platz war erfüllt von ihren tiefen Stimmen.
Der Offizier zögerte nur kurz, dann hob er unbarmherzig sein Schwert, um das Zeichen für die Schützen zu geben, doch in diesem Moment sprang einer aus dem Volk auf ihn zu und riss ihn vom Pferd. Und wie ein kleiner Funke ein trockenes Feld im Nu in Brand setzt, so griff die Wut und Entschlossenheit eines Einzelnen binnen weniger Momente auf viele andere über, sie fassten Mut und schlugen mit allem, was sie gerade in Händen hatten, auf die Soldaten ein, mit Stöcken und toten Fischen, Körben und sogar mit Geldbeuteln. Die Soldaten hätten ihnen leicht den Garaus machen können, waren allerdings so überrascht, dass sie nur schützend die Arme vor den Kopf hoben, um unbeschadet den Rückzug anzutreten, was ihnen auch gelang. Als sie vom Platz vertrieben waren, brandete kurzer Jubel auf, und Sadoq winkte seinen Rettern dankbar zu.
Die Menschen stoben wie Funken auseinander und verschwanden in der einsetzenden Dämmerung, denn es würde nicht lange dauern und die Soldaten kämen mit Verstärkung zurück, das wusste auch Sadoq und gab seinen Leuten das Zeichen, sich zu zerstreuen. Er selbst floh mit Menahem in eine der kleinen, dunklen Straßen der Unterstadt.
»Von heute an«, sagte er keuchend zu seinem Freund, während sie nebeneinander herrannten, »wird jeder in Jerusalem wissen, wer die Zeloten sind, glaube mir. Von heute an sind wir die vierte Sekte unseres Volkes.«
 
»Die drei Sekten des Volkes Israel sind«, begann Timon und dachte angestrengt nach. Er stand am Pult des cheder und sah aus, als forsche er nach etwas, das in einem entlegenen Winkel seiner Erinnerung verborgen lag.
»Äh«, sagte er und brachte damit die Schüler zum Kichern. Auch Salome amüsierte sich, selbst Zacharias, der ihm diese für einen Juden einfache Frage gestellt hatte, schmunzelte in seinen Bart hinein. Griechen war diese Einteilung in religiöse Gruppen natürlich fremd, in Judäa dagegen hatte sie eine lange Tradition, und wer das Volk Israel wenigstens im Ansatz verstehen wollte, musste die Sekten und die Grundzüge ihrer Überzeugungen kennen. Die Frage lag also ganz in Timons Interesse, doch mit der Antwort kämpfte er noch.
»Die Sadduzäer«, half Zacharias und benannte jene Sekte, der er am meisten Sympathie entgegenbrachte.
»Richtig, die Sadduzäer«, sagte Timon. »Sie werden von den vornehmen, priesterlichen Familien geführt und stellen bis heute auch den Hohepriester. Die geschriebene Lehre Gottes, die thora, ist der einzige Maßstab, den sie gelten lassen. Aber sie sind immer um Ausgleich mit fremden Völkern bemüht.«
Zacharias nickte wohlwollend, und Salome grinste in sich hinein. Timon hatte die Sadduzäer sehr schmeichelhaft beschrieben, fand sie. Was er gesagt hatte, stimmte zwar, aber er hatte auch eine Menge unterschlagen, zum Beispiel, dass die Sadduzäer sich für eine Art Adel hielten, dass sie sich oft hochmütig gebärdeten und auf die übrigen Sekten herabsahen, vor allem auf die Pharisäer, die um die Volksgunst buhlten. So etwas hatten die Sadduzäer nicht nötig – meinten sie zumindest.
»Die Pharisäer«, fuhr Timon fort. »Ihr Name bedeutet ›die Abgeschlossenen‹. Sie geben sich volkstümlich und fügen der thora ihre eigenen Lehren hinzu. Sie wollen neue Verhaltensweisen festschreiben und das gesamte Leben der Männer und Frauen bis ins Einzelne mit Richtlinien versehen: Kleidung, Festgebaren, welche Vergnügungen erlaubt sind und welche nicht und so weiter.«
Wieder hatte Timon etwas weggelassen, nämlich dass die Pharisäer weit beliebter als die Sadduzäer waren. Nicht bei Salome allerdings, denn wenn es nach den Pharisäern ginge, dürfte sie als Frau nicht am Unterricht teilnehmen und hätte weitaus weniger Rechte als jetzt.
Wenn ich erst Fürstin und Königin bin, dachte sie, werden die Pharisäer meine schlimmsten Gegner sein.
»Die Essäer«, komplettierte Timon seine Aufzählung. »Sie leben arm und bedürfnislos und mischen sich nie in die Politik ein. Viele sind ehelos geblieben, doch es gibt auch Ausnahmen. Sie dienen dem Herrn in Demut, leben manchmal in Gemeinschaften zusammen und predigen Güte.«
»Ausgezeichnet«, lobte Zacharias. »Deine Darstellung war zwar nicht ausführlich, du hast allerdings das Wesentliche wiedergegeben, und darauf kommt es an. Du darfst dich setzen.«
Timon setzte sich neben Salome, und sie zwinkerte ihm beifällig zu. Das meiste seines Vortrages hatte sie ihm beigebracht, denn was Zacharias ihn über die Sekten gelehrt hatte, war umständlich und weitschweifig gewesen, und Timon hatte fast nichts davon begriffen. Das war nur zu verständlich, umgekehrt ging es ihr ja ebenso. Was Timon ihr in den letzten Tagen über die griechischen und römischen Götter erzählt hatte, verwirrte sie. Allein diese vielen Zuständigkeiten der verschiedenen Gottheiten! Manches war ja noch nachvollziehbar, wie zum Beispiel eine Göttin für Weisheit, eine andere für Liebe und eine dritte für Fruchtbarkeit. Oder einige der männlichen Gottheiten, wie solche des Meeres, des Krieges oder des Handels. Brauchte man jedoch wirklich Göttinnen der Morgenröte, des Obstes, der Quellen und des Regenbogens? Einen Gott des Westwindes? Jedes Element und jedes Gefühl hatte eine eigene Gottheit, die darüber wachte. Da war ihr Gott, der einzig und allumfassend war, doch viel unkomplizierter. Schwierig war nur das, was die Menschen aus seinem Willen machten.
Zacharias wollte gerade den Unterricht mit einem anderen Thema fortsetzen, als Kephallion ihm zuvorkam. »Die Aufzählung war unvollständig«, behauptete er. »Es gibt noch eine vierte Sekte.«
»Was redest du da für einen Unsinn?«, fauchte Zacharias.
»Die Zeloten sind die vierte Sekte. Sie wollen das alte Judäa wiederherstellen, das Judäa unseres Herrn, frei von Gottlosen …«
»Falsch«, unterbrach Zacharias schneidend. »Die Zeloten sind ein Häuflein Verirrter, keinesfalls eine Sekte. Ihre Ziele sind rein politisch. Das kann man anhand des Vorfalls vor dem Tempel sehr gut sehen. Es geht ihnen nur um Provokation. Ihre Liebe zum Land und die Ablehnung alles Fremden ist völlig übersteigert und spiegelt nicht den Willen Gottes wider.«
»Sie haben regen Zulauf«, wusste Kephallion zu berichten, und in seiner Stimme schwang Begeisterung mit. Bisher schien er stets die Pharisäer zu favorisieren, jetzt hatte sich das offensichtlich geändert. »In Jerusalem gibt es mittlerweile viele, die ihre Ideen akzeptieren, selbst Pharisäer.«
»Daran sieht man nur, dass die Pharisäer Esel sind«, erwiderte Zacharias heftig. »Ein chamor, wer denkt wie sie. Wohin hat die Provokation der Zeloten denn geführt? Zu zahlreichen kleineren Unruhen im ganzen Land, zu unnützen Toten also, und dazu, dass unser Ethnarch zu Augustus abreisen musste, um wieder einmal zu erklären, warum Judäa das einzige Schutzkönigreich ist, das an dem Ast hackt, auf dem es sitzt. Nein, keinesfalls sind diese Narren eine vierte Sekte. Nie und nimmer.«
Zacharias stand mit rotem Kopf vor seinen Schülern. Allen war klar, dass seine Ansprache nicht zum Unterricht gehörte, sondern eher eine Warnung war, dass niemand aus der königlichen herodianischen Familie – zu der hier ja jeder außer Timon gehörte – mit den Ideen der Zeloten sympathisieren dürfe. Das kam überraschend. Bisher hatte Zacharias jedem Schüler freigestellt, welche Sekte er bevorzuge. Aus seiner Neigung für die elitären Sadduzäer hatte Zacharias nie einen Hehl gemacht; er hütete sich allerdings stets, seine Schüler dahingehend zu beeinflussen, und so gab es Anhänger jeder religiösen Richtung in der kleinen Palastschule. Zelotische Ideen jedoch schien er unbedingt vom cheder fern halten zu wollen.
Alles sah ganz danach aus, als würden Zacharias und Kephallion gleich wieder eine ihrer berüchtigten Redeschlachten austragen, die in letzter Zeit häufiger wurden und fast immer mit einem lauten Knall der Rute auf dem Pult endeten oder damit, dass Zacharias – völlig erschöpft – den Unterricht für beendet erklärte. Und tatsächlich ließ Kephallion auch diesmal nicht locker; es war fast so, als vertrete er aus Prinzip eine andere Meinung als Zacharias.
Salome lächelte, als sie Timon gähnen sah. Er hatte ihr schon vor einigen Tagen erzählt, dass er dieser Diskussionen längst müde geworden war. Seit er die Palastschule besuchte, hatte er alles über Sekten erfahren, hatte das Buch Levitikus und das zweite Buch Mose gelernt, das Buch Josua und das Buch Rut sowie die Schriften des Propheten Jesaja und einige Psalmen. Mittlerweile schwirrte ihm der Kopf, obwohl er sagte, dass er nichts erfahren habe, das ihm irgendwie nützlich vorkäme.
»Das in euren Schriften am häufigsten behandelte Thema«, hatte er gesagt, »heißt Gewalt. Zorn, Sühne, zerschmetterte Städte, verkohlte Schlachtfelder, misshandelte Menschen, Weltgericht, Strafgericht, Rachegericht … Euer Gott ist unentwegt damit beschäftigt, euch für irgendetwas zu strafen. Mal passt es ihm nicht, dass ihr feiert, dann wieder, dass ihr jammert, mal nimmt er es euch übel, dass ihr ihn um Hilfe ersucht, dann wieder, dass ihr nicht genug betet. Was mich vor allem an ihm stört, ist seine Gewohnheit, die blutige Niedermetzelung eines jeden zu verlangen, der ihm nicht schmeichelt. Einmal war er sogar zornig, weil die Bewohner Jerusalems nachts auf den Dächern gefeiert haben. Kann er bei dem Lärm sonst nicht schlafen, oder was? Kein Wunder, dass ihr ein ganzes Leben des Studiums braucht, um ihn zu verstehen.«
»Also haben dir meine Erläuterungen nicht geholfen?«, hatte sie ein wenig enttäuscht gefragt, denn sie wollte sich natürlich irgendwie für die vielen Lektionen in Mathematik, Rhetorik und Naturwissenschaft bei ihm revanchieren. Timon hatte sie es zu verdanken, dass die Sterne nun wunderbare Namen trugen, dass die Küsten des mare nostrum plötzlich voller lebendiger Völker waren und dass sie zum ersten Mal der Schönheit von Dichtungen begegnet war. Timon malte für sie zum besseren Verständnis des griechischen Theaters Szenen aus alten Dramen, berichtete von den Abenteuern des Odysseus und versuchte sich an Gesängen – was allerdings eher komisch als informativ gewesen war. Die Nachmittage mit ihm waren ausgefüllt mit Lachen und Denken, und Salome genoss jede einzelne Stunde. Doch sie wollte das Glück nicht einfach auskosten, sondern teilen. Sie wollte Timon auch etwas davon geben, denn er wirkte nicht selten traurig oder angespannt. Aber sie stellte fest, dass ihr eigenes Wissen über Gebote, Verbote und himmlische Strafen und Mahnungen spröde war im Vergleich zu den Wundern, die er für sie bereithielt.
Seine Gefühle allerdings verbarg er hinter dieser Mauer aus Wissen, hinter jenen korinthischen Säulen, blauen Sternen und lyrischen Dichtungen, über die er stundenlang erzählte. Er konnte, ohne mit der Wimper zu zucken, gegen Kephallion antreten und würde, um sie zu retten, vermutlich auch gegen dieses scheußliche Monster aus der griechischen Mythologie kämpfen, die Hydra; über sich selbst erzählte er so gut wie nichts. Er blieb rätselhaft.
»Doch, irgendwie haben deine Erklärungen mir geholfen«, räumte er zögernd ein. »Zum einen verstehe ich euer Volk etwas besser. Und zum anderen«, fügte er grinsend hinzu, »kann mir nach diesen komplexen religiösen Büchern keine statische Berechnung und keine mathematische Formel mehr Angst einjagen. Was ist schon der Bau eines Turms gegen achtundvierzig Bücher voll mit einem schlecht gelaunten Gott?«
Sie lächelte ihn an, streichelte seine Wange, strich ihm eine Strähne aus der Stirn, fasste schließlich seinen Arm an der Stelle, wo sie ihn zum ersten Mal ergriffen hatte, und blickte Timon unmissverständlich an.
Er senkte den Kopf und rang um Worte. »Ich … ich bin gerne hier«, gestand er in jenem Augenblick. »Deinetwegen, Salome.«
Der Knall der Rute riss Salome unsanft aus ihren Erinnerungen und beendete ein weiteres Mal den Disput der Streithähne.
Zacharias fasste sich wieder an die Brust, wischte sich den Schweiß von der Stirn und schloss mit matter Stimme den Unterricht.
»Zum Strand?«, flüsterte Timon ihr zu.
»Zum Strand«, bestätigte sie ebenso leise.
 
Kephallion blieb zurück und sah ihnen nach. Er wartete, bis alle außer Zacharias gegangen waren. Dieser beachtete ihn absichtlich nicht, sondern räumte Bücher, Schriften und die kleinen Wachstafeln, die die Schüler für Notizen benutzten, ohne Hast unter sein Pult. Kephallion sah sich die künstliche Geschäftigkeit des Rabbiners eine Weile an, dann stand er auf und trat zu ihm.
»Wieso duldest du den unbeschnittenen, gottlosen Griechen noch länger in unseren heiligen Räumen?«
Zacharias ließ sich nicht unterbrechen. Ohne aufzusehen, sagte er: »Ach weißt du, Kephallion, ich bin zu müde, um dir zum zehnten Mal zu erklären, was Gastfreundschaft für einen Juden bedeutet – oder zumindest bedeuten sollte. Du würdest es doch nicht verstehen. Außerdem sind diese Räume nicht heilig. Dies hier ist ein Schulzimmer in einem Palast und nicht das Innerste des Tempels, falls dir das noch nicht aufgefallen ist.«
»Der gottlose Grieche missbraucht deine Gastfreundschaft.«
Zacharias räumte weiter auf. »Du warst von Anfang an gegen ihn, nicht, weil du gute Argumente hast. Nein, du siehst nur den Nichtjuden in ihm. Er könnte der vollkommenste Mensch der Welt sein, ausgestattet mit allen Tugenden, er bliebe für dich immer nur ein Unbeschnittener. Du wärst nie in der Lage, auch nur irgendetwas anderes in ihm zu sehen.«
Kephallion widersprach nicht. Zacharias konnte anderer Leute Motive messerscharf zerlegen und ergründen und ihnen anschließend den Spiegel der niedrigen Gesinnung vorhalten. Er konnte jede Handlung, die man beging, und jede Meinung, die man angenommen hatte, ihrer sachlichen Begründung entkleiden und als nackten Affekt hinstellen, als tierische Emotion. Doch bei niemandem wandte Zacharias diese Taktik so häufig an wie bei ihm, und bei keinem empfand der Alte dabei so viel Lust. Das Schlimme war, dass Zacharias meistens Recht hatte, so auch jetzt.
Kephallion schwieg einen Augenblick, dann sagte er: »Also gut, lassen wir den Griechen beiseite, denn er ist ungläubig und unterliegt daher nicht unseren Gesetzen. Mit Salome ist das anders.«
Zacharias lachte verächtlich vor sich hin. »Nichts, was du sagst, kann mich gegen sie einnehmen. Sie ist klüger als du, fleißiger und wendiger, und das stört dich. Ich nehme dir nicht übel, dass du gegen sie bist – das wäre ich auch, wenn ich so ein chamor wäre wie du. Doch tue mir den Gefallen und spinne keine hinterhältigen Ränke, sondern tritt offen gegen sie an.«
»Wie du willst«, sagte Kephallion. »So klage ich Salome ganz offen an, eine Liebschaft mit dem Griechen zu haben. Ich habe die beiden zusammen gesehen, am Strand, wo sie beieinander lagen.«
Zacharias ließ sofort alles stehen und liegen. »Was sagst du da?«, rief er. »Das ist … das ist eine sehr ernste Beschuldigung, Kephallion. Bist du dir sicher? Oder lügst du, um ihr zu schaden?«
Kephallion nahm eines der siddurot, der Gebetbücher, und presste es auf sein Herz. Empört rief er: »Beim Namen des unaussprechlichen Gottes, ich schwöre, die Wahrheit zu sagen.« Er trat so nahe an Zacharias heran, dass er seinen Atem spüren konnte, und blickte ihm fest in die Augen: »Sie hat eine Liebschaft mit Timon. Ist dir nicht aufgefallen, dass sie sich neuerdings anders anzieht als früher, dass sie Farbe auf die Lippen aufträgt und Stecknadeln für die Haare benutzt? Sie ist zur Hure geworden, wie ihre Mutter, wie so viele Mütter. Das kannst du nicht dulden. Du weißt doch am besten, was eine verbotene Liebschaft anrichten kann, nicht wahr? Noch dazu mit einem Ungläubigen.«
All die Jahre war Zacharias unverwundbar für Kephallion geblieben. Dieser Mann hatte alles gegen ihn ausgespielt, die größere Bildung, die intellektuelle Erhabenheit und die Stellung als Rabbiner. Kephallion konnte die Demütigungen nicht mehr zählen, denen er, seit er denken konnte, ausgesetzt war. Er war dumm genannt worden, rüpelhaft, fett, brutal, charakterschwach, begriffsstutzig, einfältig, schwerfällig … Tausendmal hatte Zacharias ihn einen chamor geschimpft, jeden einzelnen Tag seines Lebens. Es hatte lange gedauert, viele herbe, verwirrende Jahre, bis er erkannt hatte, wieso er verabscheut wurde. Zunächst hatte er einfach geglaubt, dass sein Vater von Natur aus abweisend und kalt war und auf die Liebe seiner Familie keinen Wert legte. Seine Eltern sprachen kaum miteinander, und wenn, dann nur mit einem zynischen Unterton. Sie konnten nicht über die einfachsten Dinge reden – gibst du mir bitte deinen Teller, wann kommst du zurück, lösche nachher die Kerzen, bevor du ins Bett gehst -, ohne wie Feinde miteinander zu sprechen. Seine Mutter ging zärtlich mit ihm um, daher wandte er sich immer mehr ihr zu und redete mit Zacharias so wenig wie möglich. Als Folge davon behandelte Zacharias ihn umso verächtlicher. »Du bist das Kind deiner Mutter«, sagte er oft.
Und so war es auch. Eines Tages, als seine Eltern sich allein glaubten, hörte er heimlich ein Gespräch. Sie waren nicht laut, sie schrien nie miteinander. Ihre Feindschaft war nicht leidenschaftlich, sie war eisig. »Du wirst nicht gehen«, sagte Zacharias. »Du kannst es nicht, denn ohne Erlaubnis des Ehemannes wird keine Scheidung ausgesprochen.«
»Ich brauche keine Scheidung, um zu gehen.«
»Solange du mein Weib bist, wirst du dieses Haus nicht verlassen. Tust du es doch, lasse ich dich suchen und wieder hierher schleppen. Dasselbe gilt für Kephallion.«
»Was soll das?«, fragte sie. »Du solltest froh sein, dass ich gehen will, nach allem, was ich dir angetan habe: Ich habe dich betrogen. Ich fand es schön. Ich habe ein Kind mit einem Römer gemacht. Ich würde es jederzeit wieder tun. In Wahrheit bin ich schon lange nicht mehr deine Frau, und Kephallion war noch nie dein Sohn.«
So kalt wie jetzt hatte Kephallion seinen Vater noch nie sprechen hören: »Eben weil du mir all das angetan hast, wirst du hierbleiben. Du wirst deines Lebens nicht mehr froh werden. Ich halte unsere Feindschaft noch lange durch, du allein wirst langsam an ihr kaputtgehen.«
Zacharias behielt Recht, und Kephallion hatte seinen Anteil daran. Nachdem er das über seine Mutter gehört hatte – aus ihrem eigenen Munde -, hasste er sie. Für ihre Lust also hatte er büßen müssen. Ihretwegen war er niemandes Sohn, ihretwegen verachtete Zacharias ihn. Und ihretwegen gehörte er nicht zum auserwählten Volk. Doch außer ihm selbst wussten nur noch zwei Menschen davon – und Gott. Seine Eltern würden schweigen, und Gott würde er noch überzeugen, dass er würdig war, den Auserwählten anzugehören. Fortan redete er wie Zacharias mit seiner Mutter, und der Schmerz darüber machte sie von Jahr zu Jahr schwächer, bis sie daran starb. »Weib, du bist Sünde«, hatte er ihr zuletzt ins Ohr geflüstert.
Doch von seinem Vater erhielt er dafür keine Anerkennung. Für nichts, was er tat, nicht für die Befolgung der Gebote, die Einhaltung der Festvorschriften, das Studium der Propheten … Zacharias schmähte ihn weiterhin und versuchte, ihn zu treffen, wo er konnte. Dafür war dem Alten jedes Werkzeug recht, so auch Salome, die er nur deshalb aufgenommen hatte, um ihn, den Bastard, zu beleidigen.
Doch zum ersten Mal ergab sich die Gelegenheit, Zacharias mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. Salome, sein Werkzeug, sein hochgelobter Schützling, entpuppte sich als Sünderin wie zuvor sein Weib. Kephallion kostete jeden einzelnen Moment seines Triumphes aus. Zacharias sollte diejenige zerstören, die er selber aufgebaut hatte.
»Wenn ich selbst der Tetrarchin die Anklage vortrage«, meinte Kephallion, »wirkt es weniger glaubwürdig, als wenn du es tust.«
»Du verlangst von mir …«
»Soll sie etwa ungestraft davonkommen? Soll sie auch noch ermutigt werden und später ihren Gatten betrügen? Ihm die Kinder ihrer Ehebrüche unterschieben? Ihn zu einem Narren machen, so wie einst …« An dieser Stelle machte er eine bedeutungsvolle Pause. »Willst du dich mitschuldig daran machen, dass Salome sich weiterhin am Gesetz Gottes vergeht? In diesem Moment, während wir hier reden, sündigt sie wahrscheinlich schon wieder. Und Gott sieht es. Er sieht alles, was in seinem heiligen Land vorgeht. Er verlangt, dass du etwas dagegen unternimmst. Du musst sie anklagen, sobald die Tetrarchin zurück ist.«
Zacharias wandte sich von Kephallion ab, ging zum Fenster und blickte unsicher in das Grün hinaus. »Lass mich bitte allein«, bat er Kephallion ungewöhnlich mild.
»Ach ja«, fügte Kephallion noch hinzu, bevor er den cheder verließ. »Der Grieche lehrt Salome Grammatik, Mathematik, Redekunst, kurz gesagt, heidnische Wissenschaften. Die heiligen Schriften, die du lehrst, scheinen sie nicht mehr zu interessieren.«
 
Timon stemmte sich der Welle entgegen und ertrug ihre Wucht, dann kraulte er mit schnellen Armstößen hinaus ins Meer. Obwohl der Wind nicht stark war, türmten sich die Wogen höher als sonst auf. Die starke Strömung kostete Timon viel Kraft, aber er schwamm unverdrossen weiter, hielt das Gesicht meist unter Wasser und streckte es nur alle fünf Armschläge kurz über die Oberfläche, um einen schnellen Atemzug zu nehmen. Auch als er schon nicht mehr wusste, wie viele Armschläge er gemacht hatte, und ihn jedes Gefühl dafür verlassen hatte, wie weit er mittlerweile von der Küste entfernt war, hielt er nicht inne. Sein Herz schlug wild, seine Arme waren fast taub, aber er schwamm immer weiter. Völlige Erschöpfung war immer schon seine Art gewesen, Klarheit in die Gedanken zu bringen.
Damals, in Jerusalem, wo es kein Wasser zum Schwimmen gab, hatte er in Stunden der Verwirrung oder des Zorns seine Stute genommen und war geritten, was das Zeug hielt. Manchmal hatte er zwei Runden um die gesamte Stadtmauer Jerusalems gedreht, bevor er sich und dem Pferd Ruhe gönnte. Und vor Jerusalem, in Rom, kurz nach der Ermordung seines Vaters, hatte er im gymnasium mit Gleichaltrigen gerungen, wieder und wieder, fast einen ganzen Tag lang, wobei es ihm völlig egal gewesen war, ob er gewann oder verlor. Nur die Entkräftung zählte. Mit seinem Körper ermatteten auch seine Gefühle, und in diesen Minuten konnte er am klarsten denken, sich ganz auf seinen Willen konzentrieren und alle störenden Umstände vergessen.
Schwer atmend blickte er zurück zur Küste, die er weit hinter sich gelassen hatte. Salome war kaum noch zu sehen. Von hier aus betrachtet war sie kein Mädchen mehr, das auf ihn wartete, nicht einmal ein Mensch, sondern nur noch ein ferner Punkt.
Am ersten Tag, als er mit ihr ins gyneikon spaziert war, hatte er natürlich sofort gemerkt, was sie von ihm hielt. Er kannte die äußeren Anzeichen von Schwärmerei noch aus den Tagen im Palatinischen Palast. Dort war er immer nur auf zwei Sorten von Mädchen getroffen: jene, die ihn belächelten, weil er einen halben Kopf kleiner als gleichaltrige Jungen war, und jene, die ihn anlächelten, weil sein Gesicht ihnen gefiel. Diesen feinen Unterschied des Lächelns erkannte er sofort; er bestand aus einer winzigen Biegung der Mundwinkel, aus einem Millimeter, der das Urteil über ihn fällte. Salomes Lächeln war immer ehrlich. Sie mochte ihn, vielleicht sogar sehr, ja, wahrscheinlich sehr.
Während jener ersten Stunde mit ihr hatte er sie überhaupt nicht als Mädchen wahrgenommen, schon gar nicht als junge Frau. Sie war ein wissbegieriges Ding, das ihm gerade recht kam, weil er Informationen brauchte und sie ihm helfen konnte. Er dachte nicht schlecht über sie, sondern er dachte überhaupt nicht an sie. Ihr Aussehen, ihr Husten und ihre Probleme mit den jüdischen Sitten interessierten ihn damals ebenso wenig wie ihre Neugier und Schwärmerei. Das alles war für ihn nur insofern von Bedeutung, wie es ihm nutzen konnte, schneller an sein Ziel zu kommen.
Dann war sie ein paar Tage verschwunden, weil eine dämliche Sitte bestimmte, dass sie unrein war, und in diesen Tagen merkte er, wie abhängig er von Salomes Kenntnissen über Akme und ihrer Stellung am Hof war. Türen und Lippen blieben ihm verschlossen, denn er war ein ungläubiger Fremder, und außer ein wenig Klatsch unter Sklaven und unnütze Hinweise von Zacharias erfuhr er nichts. Er suchte immer noch den Beweis, dass Akme hinter dem Mord an seinem Vater stand.
Dann die Schlägerei: Er konnte Salome vor Kephallions wütendem Angriff retten. Natürlich hätte er ihr ohnehin geholfen, denn nichts fand er widerwärtiger als Jungen, die Mädchen schlugen, überhaupt Starke, die Schwache demütigten. Dass er auf diese Weise auch noch Salomes Dankbarkeit gewinnen konnte, war ein Glücksfall.
Doch im Hain geschah etwas Seltsames. Er nannte Salome indirekt schön – Recht auf Schönheit, hatte er sich so ausgedrückt? -, anfangs nur, um noch mehr ihres Vertrauens zu gewinnen, doch plötzlich stellte er fest, dass er sie tatsächlich schön fand. Nicht einfach hübsch, nein, das war sie nicht einmal. Hübsche Mädchen kannte er aus Rom und Jerusalem, hübsche Mädchen sahen anders aus. Salome dagegen hatte etwas an sich … Waren es ihre schwarzen Augen, waren es die leicht hervorstehenden Wangenknochen, oder war es ihr Mut? Es traf ihn wie ein Blitz: Er fand Salome einzigartig. Er war fasziniert von ihr und wollte mit ihr zusammen sein; nicht weil sie die Großnichte Akmes, sondern weil sie eine junge Frau war.
Von diesem Moment an bis heute vermischten sich seine Gefühle für sie zunehmend mit dem Plan, den er nach wie vor auszuführen gedachte. Beides vertrug sich nicht miteinander. Er konnte Salome nicht gleichzeitig lieben und ausnutzen, nicht begehren und gebrauchen.
Er würde aufhören müssen, sie zu lieben – oder er müsste ihr die Wahrheit sagen und seinen Plan fallen lassen. Er musste sich entscheiden. Jetzt.
Salome, der Punkt in der Ferne, winkte ihm vom Strand aus zu. Er winkte zurück. Die Strömung hatte ihn noch weiter hinaus aufs Meer getrieben, und er war erschöpft. Nur langsam kam er gegen den Sog an, der ihn immer wieder hinausziehen wollte. Er konnte nicht mehr kraulen, seine Arme hatten die Kraft dazu nicht mehr. Mühsam teilte er mit den Handflächen das Wasser, und beinahe mit jedem Zug stiegen andere Gefühle in ihm hoch, sah er andere Bilder vor sich: der letzte Blick seines Vaters, Archelaos’ Feigheit, die Narbe an seinem Bauch, der Mörder, die gehassten Jahre in Jerusalem, und dazwischen Salome, deren Gestalt immer wieder zwischen den auf und ab wogenden Wellen auftauchte. Liebe, Hass, Trauer, Zorn und der Wunsch nach Rache wechselten sich mit jedem der hastigen Atemzüge ab.
Als er endlich wieder Boden unter den Füßen verspürte, konnte er nur noch auf allen vieren an den Strand kriechen und jenseits der Brandung atemlos in den gelben, heißen Sand fallen. Er spürte Salomes Hand auf seinem Rücken, und er wusste, dass sie ihn gleich besorgt anschauen und – sobald sie erkannte, dass er nur erschöpft war – erleichtert anlächeln würde wie einen übermütigen kleinen Jungen.
Wie könnte er ihr Lächeln ehrlich und aus vollem Herzen erwidern, jetzt, wo seine Entscheidung gefallen war?
 
Ostia war im Sommer unerträglich. Über der größten Hafenstadt des tyrrhenischen Meeres brannte die Sonne, und die Luft war salzig vom Geruch der Salinen entlang der Küste. Seit Jahrhunderten trotzte man hier dem Wasser das kostbare Salz ab, das Fleisch und Fisch haltbar machte und den Speisen ihre Würze verlieh, aber der oft kräftige Westwind blies ein wenig des feinen Staubes vor sich her. Das Salz brannte in den Augen, legte sich auf das Obst der Märkte und machte die Haut trocken und schuppig, ein ständiges Ärgernis, an das nur gebürtige Ostianer sich gewöhnen konnten.
Doch weitaus anstrengender waren die Menschenmassen, die sich jeden Tag durch die Straßen und über die Piere schoben. Ostia war der Löffel Roms, Ostia fütterte die unersättliche Metropole. Täglich trafen hier Dutzende von Galeeren und Barken aus allen Teilen des Imperiums ein und spuckten ihre Waren aus den prall gefüllten Laderäumen. Getreide und Sklaven, Tiere und Gladiatoren, Gewürze und Marmor ergossen sich über die Molen und wurden von hier auf die letzten Meilen ihres Weges geschickt. An jeder Ecke standen bunt gekleidete Kaufleute und handelten in vielen Sprachen Preise, Termine und Qualitäten aus, so dass vom Vormittag bis in den Abend ein Gewirr von Stimmen über der Stadt lag.
Nachts wiederum, wenn die Salinen abgedeckt und die Händler verschwunden waren, drang der Lärm der trunkenen Seeleute durch die breiten Straßen. Die römische Kriegsflotte nutzte Ostia als Stützpunkt, und da die Küsten des mare nostrum fast gänzlich in römischer Hand waren und es zudem keine Piraten mehr gab, hatten die Marinesoldaten wenig zu tun und prassten stattdessen in den Wirtshäusern, denen es nie besser gegangen war als in den letzten vierzig Jahren des Friedens, den sie Augustus verdankten.
Nur der frühe Morgen konnte für den Lärm und Gestank Ostias entschädigen. Wenn die aufgehende Sonne den Himmel rot färbte und eine milde Brise über die Küste schickte, wenn das Geschrei der Möwen die Stille unterbrach und die erste Barke sich vorsichtig in den Hafen tastete, dann – so sagten die Ostianer – gab es keinen schöneren Platz auf der Welt, als an der Spitze der längsten Mole zu stehen und nach Westen in die Weite des Ozeans zu schauen.
Der richtige Ort, um ein Schicksal zu besiegeln, dachte Akme.
Das Schiff, das sie zurück nach Ashdod bringen würde, stand bereit, doch Akme verharrte weiter an der Mole und blickte auf die einfahrende Barke, deren einziger Mast mit dem Magen David, dem sechszackigen Schild Davids, geschmückt war und darauf hinwies, dass sich der regierende Monarch Judäas an Bord befand. Geduldig beobachtete Akme, wie das Schiff an dem Pier anlegte und die Landungsstege ausgebracht wurden. Dann sah sie Archelaos, und er sah sie.
Er ging zu ihr auf den Pier. »Tante, was für eine Freude«, begrüßte er sie und machte sogar eine leichte Verbeugung, die seiner höheren Stellung unangemessen war. »Ich wusste nicht, dass du auch nach Rom beordert wurdest.«
Sie lächelte. »Im Gegensatz zu dir bin ich ohne Aufforderung hier. Genau genommen bin ich schon wieder weg. Aber ich wollte unbedingt noch dein Gesicht sehen.«
»Oh, wie nett. Warst du bei Augustus?«
»Nicht – ganz«, antwortete sie gedehnt. »Das wäre auch schwierig gewesen, denn er ist zur Kur nach Nola in Süditalien gefahren.«
»Unmöglich«, behauptete Archelaos. »Ich habe eine Audienz bei ihm. Er selbst hat mir eine Botschaft geschickt und …«
»Erzähl mir nicht, was ich schon weiß«, unterbrach sie ihn unhöflich, und fuhr nicht weniger garstig fort: »Du bist ein Unglücksrabe und Dummkopf, Archelaos. Jeder spielt sein Spiel mit dir, und du merkst es erst, wenn es vorbei ist.«
Er war von ihrem Tonfall überrascht. »Ich verstehe nicht, Tante.«
»Das wundert mich nicht. Wie gefällt es dir eigentlich in den Pyrenäen, hm?«
Archelaos blickte zunehmend verwirrt. »Pyrenäen? Wie soll ich das wissen? Ich war noch nie dort.«
»Nun, das wird sich bald ändern. Du wirst nämlich den Rest deines Lebens dort verbringen, und zwar in einem Ort mit dem hübschen Namen … Oh weh, jetzt hab ich’s vergessen. Kein Wunder, ist ja auch ein kleines, was sage ich, ein winziges Fleckchen Erde. Ja, mein lieber Neffe. Augustus hat dich abgesetzt und wird eine Neuordnung vornehmen. Sobald die Unruheherde in Judäa ausgemerzt sind, wird Augustus mich zur Königin Judäas erheben. Du hast richtig gehört. Zur Königin. Und du kannst dich in den Pyrenäen ausgiebig selbst bemitleiden. Du musst mir unbedingt schreiben, wie du die Kälte dort erträgst.«
Archelaos wurde zuerst blass, dann rot. »Dahinter steckst du, du bösartige …«
Sie kniff ihm in die Wange. »Was für ein schlaues Kerlchen du doch sein kannst, wenn du dich nur ein bisschen anstrengst. Ja, in der Tat, ich habe mich mit deiner Tollpatschigkeit verbündet und dich aus dem Feld geschlagen. Vor Jahren nahm ich dir deinen einzigen Freund und Berater, der etwas taugte, ich ließ deine dir treu ergebenen Untertanen niedermetzeln, und schließlich … Na, ich will mal nicht zu viel verraten, damit dir in deinem langweiligen Exil noch etwas zum Grübeln bleibt.«
»Ich habe es immer gewusst. Du hast Nikolaos umbringen lassen, hast dich mit dieser falschen Schlange Livia verbündet …«
»Sie lässt dich übrigens schön grüßen.«
»Miststück!« Er riss an ihrem Kleid und packte sie am Hals. Zwei abseits stehende römische Legionäre kamen ihr zu Hilfe. Vergeblich zappelte der schmächtige Archelaos in den Armen der Soldaten.
»Führt ihn ab«, befahl sie. »Bringt ihn zu jenem Ort, den Augustus euch aufgetragen hat.«
Während sie Archelaos über die Mole zerrten, stieß er einen Fluch nach dem anderen aus. »Das wirst du bereuen, Akme. An deiner eigenen Gemeinheit wirst du zu Grunde gehen. Der Rächer, der dir den Todesstoß gibt, ist schon ganz in deiner Nähe.«
Seine Stimme verebbte im Geschrei der Möwen, und bald war er nicht mehr zu sehen, nur seine letzten Worte vom Rächer hallten in ihr nach. Sie nahm sich vor, wachsamer zu sein denn je, und mit dem Gefühl des Argwohns, aber auch dem des Triumphs bestieg sie ihr Schiff.
 
Die Blumen in Ashdods Gärten verblassten. Der Flieder verlor seine Blüten, und das Grün der Granatapfelbäume büßte seine Frische ein. Träge hing die Luft über den aufgewärmten Teichen. Die Vögel sangen nur noch selten, und die Grillen, die noch vor wenigen Wochen hinter jedem Grashalm zirpten, waren völlig verstummt. Das war der Monat Elul, der Monat, in dem der Sommer leise ging.
Zwei junge Menschen lagen auf dem trockenen Gras und kicherten wie im Frühling in die Stille hinein.
»Ich werde nie den Blick des Kellermeisters vergessen«, lachte Salome, »als du behauptet hast, eigens aus Athen gekommen zu sein, um eine Probe judäischen Weines zur Verkostung dorthin zu bringen.«
»Er hat’s nicht geglaubt.«
»Hätte ich auch nicht.«
»Was soll’s? Wichtig dabei war ja nur, dass du hinter seinem Rücken zwei Schläuche stehlen konntest, während ich ihn ablenkte.«
Beide wälzten sich vor Lachen im Gras, und Salome trank noch einen Schluck aus ihrem Weinschlauch.
»He«, rief Timon, »nicht so schnell. Das ist süßer zyprischer commandaria, ein Verführer, der es mächtig in sich hat.«
Salome schloss die Augen. »Zypern. Dort, wo die Liebesgöttin ihren Ursprung hat. War es nicht so?«
Sie neigte sich zu Timon und fuhr mit ihrer Hand über seine Narbe, von der Brust bis zum Bauchnabel. Sie fühlte sich so unbeschwert wie noch nie. Das Blut rauschte heiß in ihren Adern, das Leben war wunderbar. Sie liebte und wurde geliebt, sie war schön, und sie war bald eine Fürstin. Alles veränderte sich zum Guten.
Sie führte erneut den Schlauch an ihre Lippen und trank einen Schluck.
»Vorsicht, sagte ich«, rief Timon. »Halt! Du bist Wein nicht gewöhnt.«
Sie setzte den Schlauch ab. »Na, irgendwann muss man mit dem Gewöhnen doch mal anfangen.«
Ihrer beider Gelächter war so laut, dass es zwei neugierige Enten verschreckte; schnatternd flatterte das Federvieh in den nahe gelegenen Teich zurück.
»Siehst du«, sagte Timon, »wir trinken zu viel und benehmen uns daneben, das meinen auch die Enten.«
»Heute ist der Erinnerungstag des Weinlesefestes«, erklärte Salome.
»Ist das so etwas wie die römischen Bacchanalien? Betrinken die Juden sich an diesem Tag?«
Salome dachte einen Moment über die Frage nach, sah Timon ernst an und antwortete: »Nein.«
Erneut lachten sie, bis sie vor Erschöpfung ächzten und kraftlos in die dahinziehenden Wolken über ihnen blickten. Ab und an hob Salome den Kopf und vergewisserte sich, dass niemand sie sah. Gewiss, sie hatten sich eine abgelegene Stelle für ihren Umtrunk ausgesucht und den heutigen Festtag verbrachten die Juden in der Regel ohnehin außerhalb der Städte, möglichst dort, wo Weinlesen stattfanden.
Sie wusste, dass sie unvernünftig war, doch an diesem Tag sollte ihr das egal sein. Sie war jung, sie war angetrunken, sie hatte ein Recht, unvernünftig zu sein, wenigstens heute, wenigstens für diese paar Stunden. Der Sommer war schon fast gegangen, war Timon es auch? Es war so wenig zwischen ihnen geklärt worden, fast nichts. Nachdem sie wochenlang gefühlt hatte, dass sie sich immer näher kamen, war Timon seit einigen Tagen wieder merkwürdig distanziert. Ja, er verbrachte noch immer viel Zeit mit ihr, lehrte sie weiterhin, trieb Späße mit ihr wie den Diebstahl des Weins und lag mit ihr im Gras. Er berührte sie allerdings fast nicht mehr und mied die unmittelbare Nähe. Nahm er nur Rücksicht auf die hiesigen Bräuche? So musste es sein. Er liebte sie. Was sonst hielt ihn in dieser Stadt am Rande Judäas, in der er nichts als Psalmen und längst verhallte Worte von Propheten lernen konnte und in der selbst der Hof wegen der Abwesenheit der Tetrarchin glanz- und ereignislos vor sich hindämmerte? Sie musste ihn fragen.
»Wie lange bleibst du noch in Ashdod, Timon?«
Er richtete sich auf, zögerte. »Ich … ich wollte noch eine Weile bleiben. Schließlich habe ich deine Großtante noch immer nicht kennen gelernt.«
Das war nicht die ideale Antwort, die sie sich erhofft hatte; doch wenigstens ging er noch nicht fort.
»Du bist ja ganz versessen darauf, sie zu treffen.«
»Treffen?«, wiederholte er. »Das ist das richtige Wort. Genau genommen will ich sie tatsächlich treffen, und zwar seit langer Zeit.« Nach einer Pause fuhr Timon zögerlich fort: »Angenommen, du würdest erfahren, dass deine Großtante etwas Schlimmes getan hat, etwas, das du ganz und gar nicht gut finden würdest …«
»So etwas ist fast nicht möglich.«
»Wenn aber doch!«
»Zum Beispiel?«
»Ein Mord.«
»Eine Hinrichtung, meinst du?«
»Nein, einen Mord. Und zwar an einem harmlosen Mann, der ihr nichts getan hat.«
Nun richtete auch Salome sich auf. Sie runzelte die Stirn. »Wenn der Mann ihr nichts getan hat, wieso sollte sie ihn ermorden?«
»Vielleicht steht er ihr im Weg? Vielleicht hat er etwas, das sie will?«
»Sie hat doch alles, was sie will: Land, Macht, Gold …«
»Vielleicht will sie noch mehr von allem, vielleicht ist es das, wonach sie strebt.«
»So ein Unsinn«, schimpfte Salome. »Diese Frage ist dermaßen hypothetisch, dass mir die Einbildungskraft für ihre Beantwortung fehlt.«
Sie ließ sich ein wenig ärgerlich ins Gras fallen und blickte einer Wolke nach, die der Wind über sie hinwegtrieb. Sie sah Timon nicht mehr an, obwohl sie spürte, dass er genau das jetzt wollte. Was redete er auch für ein dummes Zeug daher! Immerzu musste er auf ihrer Familie herumhacken. Ein Mord an einem Mann! Welcher Mann denn?
Da fiel ihr etwas ein. »Der Mann auf der Zeichnung! Hat der etwas mit deiner Frage zu tun?«
Timon druckste herum: »Vergiss einfach, was ich gesagt habe.«
»Nein«, beharrte Salome. »Nein, das will ich nicht, denn ich werde das Gefühl nicht los, dass mit diesem Mann und dir irgendetwas nicht stimmt. Ihr kennt euch, nicht wahr? Ist er verantwortlich für die Narbe? Du bist auf der Suche nach ihm, und Akme soll dir dabei helfen. So ist es doch. Nun rede schon, du weißt doch, dass du mir alles erzählen kannst …«
»Alles?«
»Sagte ich doch.«
»Und du wirst mit niemandem darüber sprechen?«
Im ersten Moment machte sie ein empörtes Gesicht, dann wurde ihre Stimme sanft, fast zerbrechlich. »Wie kannst du nur so etwas von mir denken, Timon? Ich habe dir so viel zu verdanken, und damit meine ich nicht nur die schönen Kleider, die Frisur und den Schmuck, die ich durch deine Hilfe weiterhin tragen kann. Kephallion lässt mich seither in Ruhe. Auch weiß ich so viel mehr als noch vor einigen Wochen, ich habe durch dich eine ganz andere Sicht auf die Welt, und sollte ich je die Macht erhalten, die ich mir erträume, dann will ich sie für die Menschen einsetzen. Ich werde Schulen bauen, die Spitzel abschaffen … Keiner in Judäa soll mehr Angst haben. Du hast mir die Augen geöffnet. Aber da ist – noch mehr. Wenn du bei mir bist, fühle ich mich wohl. Ich habe dann das Gefühl, mit dir zusammen alles schaffen zu können. So vieles fällt mir leichter, seit wir uns kennen. Da ist plötzlich ein Mut …«
»Den hast du immer schon besessen, Salome.«
»Vielleicht. Mein Mut war aber unbeständig, wechselhaft, und jetzt ist eine gleichmäßige Kraft daraus geworden. Alles ist viel leichter geworden, ich brauche nur daran denken, dass du und ich … Dass wir uns …« Salomes Stimme erstarb. Sie wusste nicht, wie sie sich ausdrücken sollte. Doch Timon würde verstehen, was sie mit all dem sagen wollte, und nun war es an ihm, etwas darauf zu erwidern. Sie hatte weit mehr gesagt, als das bei unverheirateten Mädchen ihres Alters üblich war, hatte nicht nur einen ungewöhnlich persönlichen Dank ausgesprochen, sondern auch ihre Gefühle vor Timon ausgebreitet. Weiter wollte sie jetzt nicht gehen. Wenn er etwas für sie empfand, sollte er es aussprechen und sich auch in ihre Hand begeben.
»Bei mir ist es umgekehrt«, sagte er und korrigierte sich sofort. »Du hast von deinem Mut gesprochen, von der Beständigkeit einer neuen Kraft – bei mir ist es anders herum. Seit ich dich kenne, fange ich an zu zweifeln. Ich bin mir nicht mehr sicher, ob ich das, was mir bisher das Wichtigste war …«
Von dem Hügel, auf dem der Palast stand, dröhnte es dreimal laut über ganz Ashdod. Salome packte vor Freude und Überraschung Timons Arm.
»Die Hörner«, rief sie. »Das Begrüßungssignal. Die Tetrarchin ist angekommen, meine Großtante ist da. Endlich.«
Timon sprang auf. »Endlich«, wiederholte er.
Salome ließ sich von ihm auf die Beine helfen. »Entschuldige«, sagte sie. »Ich habe dich unterbrochen. Bitte, sprich weiter. Ich warte schon eine Weile darauf, weißt du?«
Er sah ihr tief in die Augen. »Das läuft uns nicht weg, Salome.«
»Heißt das, du wirst hier bleiben?«, fragte sie hoffnungsvoll.
Er atmete tief durch und sah zum Palast. »Ja, ich werde Ashdod wohl nicht mehr verlassen.«
Salome strahlte vor Glück. Sie nahm Timons Hand und drückte sie. »Dann komm. Ich werde dich der Tetrarchin vorstellen. Du kannst gleich selbst sehen, wie nett sie ist.«
Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
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