10
Die Nacht war schwarz. Die dünne Sichel des Mondes sandte kaum Licht zur Erde. Abseits des Weges zeichneten sich Schemen von Sträuchern und Steinhaufen ab, die wie Geister den Ritt Kephallions verfolgten. Immer wieder sah er ängstlich nach rechts und links, als erwarte er jeden Moment, von einem Dämon gepackt und gefressen zu werden. Schwärme stummer Fledermäuse sirrten über seinen Kopf hinweg, Raben schreckten von toten Ästen auf, Eidechsen huschten durch das trockene Gehölz, und bei jedem Geräusch zuckte Kephallion derart zusammen, dass auch sein Pferd kurz scheute. Am liebsten hätte er die galiläische Hochebene im Galopp überquert, aber er musste langsam reiten, um nicht vom kaum sichtbaren Weg abzukommen und in einen Graben zu stürzen.
Dieser Ritt war Wahnsinn, das wusste er, nicht nur wegen der Dunkelheit. Das ganze Vorhaben war hochgefährlich. Kephallions Herz pochte schneller. Solche Abenteuer war er nicht gewöhnt, sie regten ihn auf. Schon vor einigen Stunden, als er aus dem Palast geschlichen war, zitterte er am ganzen Leib. Die Gänge des Palastes von Tiberias wurden regelmäßig von einer Streife der Palastgarde abgelaufen, und vor einigen Durchgängen standen sogar unentwegt Wachen. Er hatte Umwege gehen müssen, die ihn weit von den Ställen wegbrachten. Doch er nahm diese Verzögerungen eher in Kauf, als gesehen zu werden, wie er den Palast verließ. Allzu leicht könnte Antipas später den Zusammenhang zwischen seinen nächtlichen Aktivitäten heute und der Ermordung des Pilatus durch die Zeloten übermorgen herstellen.
Bei seinem heimlichen Streifzug durch die Gänge war er auch in einen Teil des Palastes geraten, der offiziell nicht in Benutzung war. Aus einem der Gemächer waren jedoch Stimmen gedrungen, und als er jene von Antipas erkannte, war er kurz stehen geblieben und hatte sein Ohr an die Tür gehalten.
»Nein, Herodias. Nein und nochmals Nein. Eine Scheidung von Haritha kommt nicht in Frage.«
»Der Sanhedrin wird dir bestimmt die Zustimmung geben, denn jeder weiß, dass deine Frau im Grunde eine Heidin geblieben ist, die nur der Form halber zum Judentum übergetreten ist. Ich hingegen …«
»Du bist meine Schwägerin, und das mosaische Gesetz …«
»Ich bin sicher, dass Rabban Jehudah einer Ausnahmeregelung für dich zustimmt. Er hasst Haritha, weil sie seine Moralvorstellungen verletzt. Liebend gerne würde er sie loswerden, und wenn du das an die Bedingung knüpfst, stattdessen mich heiraten zu dürfen …«
»Meine Astrologen erklären übereinstimmend, dass eine Scheidung von Haritha Verderben über mich brächte. Gott wird mich furchtbar strafen.«
»Oh, diese Scharlatane und deine verdammte Wundergläubigkeit!«
»Herodias!«, mahnte Antipas erschrocken, als sei bereits die Beschimpfung seiner Wahrsager ein Sakrileg.
Kephallion hörte gerade noch rechtzeitig, dass Herodias sich der Tür näherte. Er brachte sich in einem dunklen Winkel in Sicherheit, sah Herodias wutschnaubend nur eine Armeslänge von ihm entfernt vorbeiziehen und hörte auch, als sie vor sich hin fluchte: »Wenn nicht so, dann eben anders!«
Als sie außer Sicht war, setzte Kephallion seinen Streifzug fort. Dass Herodias zur Fürstin aufsteigen wollte, passte ihm nicht. Er hatte ihre Hurerei im Hain mit dem Römer, dem Besatzer, nicht vergessen. Aber in zwei Tagen würden sowohl Antipas als auch sie ganz andere Probleme haben, wenn nämlich Pilatus und Salome ihnen tot zu Füßen lägen.
Doch dazu musste er zunächst die Zeloten finden, denn sie sollten diese Gott gewidmete Tat vollbringen. Er hatte sich noch keine Gedanken gemacht, wie er das anstellen sollte. Er hatte noch nie Kontakt zu einem von ihnen gehabt, immer nur einzelne Geschichten über Sadoq und seine rechte Hand, Menahem, gehört, wie sie den Tempel blockierten, wie sie die Volkszählung verhindern wollten, gegen Augustus und Archelaos predigten und später gegen Tiberius, Coponius, Antipas … Sie waren Helden, lebten jedoch im Verborgenen. Derzeit, so hatte Kephallion über Umwege erfahren, war Nazareth ihr Zentrum. Darum musste er dorthin reiten.
Die Stadtmauer von Nazareth zeichnete sich endlich in der Dunkelheit ab. Kephallion passierte die Tore ohne Mühe, sie waren geöffnet und nur von einem alten Nachtwächter bewacht, der jeden durchließ. Nazareths enge Gassen und niedrige Häuser lagen wie Schatten vor ihm. Um leiser zu sein, saß er ab und führte das Pferd am Zaum neben sich her. Er sah sich um, ob er irgendjemanden entdeckte, der ihm weiterhelfen könnte. Doch da war niemand. Es war tiefste Nacht, in drei Stunden ginge die Sonne wieder auf. Wer sollte sich schon zu dieser Zeit hier …
Dort, in der Ecke, ein Bettler. Er schlief, aber das war Kephallion egal.
»Ich suche Sadoq«, gestand er dem verwahrlosten Mann, nachdem er ihn geweckt hatte.
»Wer bist du?«
»Ich gebe dir einen Silberling.«
Der Bettler schüttelte den Kopf.
»Nimm die Münze«, drängte Kephallion. »So viel bettelst du dir in einer Woche nicht zusammen. Also gut, zwei Silberlinge.«
Der Bettler schüttelte den Kopf.
»Fünf? Zehn, das ist mein letztes Angebot.«
»Wer bist du?«, fragte der alte Mann erneut.
»Du weißt, wo Sadoq ist?«
»Wer bist du?« Der Bettler ließ nicht locker.
Kephallion schluckte. Einem Unbekannten seinen Namen zu nennen, war aus mehreren Gründen riskant. Die Herodianer waren nicht gerade beliebt beim Volk. Am Ende würde nicht der verfluchte Prokurator, sondern er selbst sterben. Oder der Bettler verkaufte seinen Namen an die Spitzel des Antipas, was wenig besser wäre.
Er könnte sich umdrehen und gehen, könnte zurück in den Palast schleichen und den morgigen Tag leben, als sei nichts geschehen. Dann würde sich allerdings nie etwas ändern. Er, Kephallion, war dazu bestimmt, am Rad des Schicksals zu drehen. Er war Gottes Instrument.
»Ich bin Kephallion. Ich bin ein Mitglied der herodianischen Familie und habe wichtige Informationen für Sadoq. Du musst mir glauben.«
»Ich glaube dir«, sagte der Alte. »Wer käme sonst auf die wahnwitzige Idee, sich als Herodianer auszugeben? Komm mit.«
»Was ist mit den Silberlingen?«
»Ich will sie nicht. Nicht von dir.«
 
Kephallion hörte entfernte Schritte. Endlich. Seit einer Ewigkeit saß er in diesem düsteren, nur von einem winzigen Öllämpchen erhellten Raum.
Der alte Bettler hatte ihn zu einem Haus gebracht, den Besitzer geweckt und eine Weile mit ihm geflüstert. Der schwarzbärtige Mann schien skeptisch zu sein, und als er schließlich doch noch zustimmend nickte, warf er einen bösen Blick auf Kephallion. Der Bettler ging davon, und der Schwarzbart durchsuchte Kephallions Taschen, ohne ihn vorher zu fragen. Dann gab er ihm einen Schubs, was wohl heißen sollte, dass er vorangehen musste. Mit etlichen kleinen Stößen dirigierte der Mann ihn durch die kleinen Räume des Hauses, eine versteckte Treppe hinunter und von dort in einen schmalen Gang, in dem sie die Köpfe einziehen mussten. Nach etwa zwanzig Schritten kamen sie in einen anderen Keller und von dort in den Raum, in dem er jetzt saß.
Bei Gott, die Sonne ging gewiss bald auf. Nicht mehr lange und Zacharias und Berenike würden merken, dass er sich nicht im Palast befand.
Die Tür öffnete sich, und der Schwarzbärtige trat ein, gefolgt von einem jüngeren Mann.
»Sadoq?«, fragte Kephallion. Er hatte gehört, dass der Führer der Zeloten nur wenig älter als er selbst war. Sonst wusste er wenig über ihn.
Der Mann, in dem er zunächst Sadoq vermutete, trug gelockte Haare und einen sehr kurz geschorenen Bart. Er sah aus wie tausend andere Männer seines Alters. Seine Augen blickten gelassen, fast gelangweilt, und die weichen, glatten Züge offenbarten nicht die geringsten Anzeichen für Entschlossenheit und Kampfeswillen.
Das konnte unmöglich Sadoq sein, dachte er. Sadoq war ein Held.
»Meine Nachricht ist nur für Sadoq«, bekräftigte er.
»Wenn ich die Nachricht höre, werde ich entscheiden, ob sie für Sadoq ist oder nicht!«
Kephallion reckte das Kinn vor. Mal sehen, wie weit er gehen konnte. »Wenn ich weiß, wer du bist«, erwiderte er, »werde ich entscheiden, ob die Nachricht für dich ist oder nicht!«
Immerhin löste er mit dieser Antwort eine Reaktion in den matten Augen seines Gegenübers aus: sie zuckten verwundert.
Dieser Kerl war ein Schwächling, dachte er. Den konnte er schnell in die Ecke drängen. »Hör zu. Meine Nachricht ist von solcher Brisanz, dass mein Leben davon abhängt, wem ich sie anvertraue. Du weißt, wer ich bin, aber du willst mir nicht sagen, wer du bist. Schön, dann lassen wir das Geschäft sein. Ich reite zurück, und ihr verpasst eine einmalige Gelegenheit, den Römern einen Schlag zu versetzen und gleichzeitig einen Verbündeten eurer Sache am Fürstenhof zu bekommen.«
Der junge Mann überlegte einen Moment. »Ich bin Menahem«, bekannte er. »Ich bin Sadoqs bester Freund und Stellvertreter. Was du ihm erzählen würdest, kannst du auch mir erzählen.«
Das war Menahem? Dieser wankelmütige, leicht einzuschüchternde Bursche war der zweite Mann der Zeloten, ein Helfer des Herrn? Kephallion konnte es kaum glauben. Er hätte dem Kerl nicht mal sein Pferd anvertraut, und der sollte maßgeblich an Gottes Kampf gegen die Eindringlinge beteiligt sein? Sadoq musste eine sentimentale Stunde gehabt haben, als er ausgerechnet diesem Menahem eine so bedeutende Stellung übertrug.
Aber für solche Überlegungen war jetzt keine Zeit. Menahem war nun einmal, was er war, und es gab jetzt keinen weiteren Grund, ihm nichts von Pilatus zu erzählen.
»Der heidnische Prokurator wird übermorgen an der Einweihung der neuen Hauptstadt teilnehmen. Ich weiß, wo er sitzen wird, und kann dafür sorgen, dass ihr einige eurer Männer in seine Nähe bringen könnt. Gleich neben ihm sitzt Salome, die Stadtfürstin von Ashdod und eine Heidenhure, vielleicht sogar seine Heidenhure.«
Menahem wirkte unbeeindruckt. »Und?«
»Und?«, echote Kephallion. Musste er diesem Menahem jetzt etwa das Denken abnehmen? »Es ist ein Leichtes, beide zu töten. Das wird den Römern und allen Sündern zeigen, dass wir …«
»… törichte Einfaltspinsel sind«, ergänzte Menahem. »Die Römer würden durch eine solche Tat eher gestärkt als geschwächt. Sie würden sich gezwungen sehen, ihre Präsenz zu vergrößern, ja, vielleicht würden sie dem Tetrarchen sogar einige seiner Kompetenzen entziehen, unter anderem die Polizeigewalt. Und dann? Unter Antipas können wir uns noch einigermaßen frei entfalten, denn seine Spitzel stellen sich dumm an. Die Römer hingegen würden …«
»Das darf doch nicht wahr sein«, schrie Kephallion mit aufgerissenen Augen und erhobenen Händen. »Ich biete dir den Statthalter des heidnischen Kaisers auf einem Tablett, den Kopf des höchsten Repräsentanten unserer gehassten Besatzer, und du verkriechst dich vor Angst und Schreck in deiner Hütte wie ein altes Weib.«
»Es bleibt bei meiner Entscheidung«, entgegnete Menahem knapp und schickte sich an zu gehen.
»Warte«, rief Kephallion. Er sprang auf Menahem zu und hielt ihn am Arm fest. »Du gönnst mir den Ruhm nicht, deswegen lehnst du ab, nicht wahr? Du bist eifersüchtig, weil ich Sadoq eine einmalige Gelegenheit biete, die du ihm nicht geben kannst. Darum stößt du mich zurück, darum lässt du mich nicht teilhaben an dem heroischen Kampf.«
»Du täuschst dich«, sagte Menahem ruhig. »Da du selbst voll von Eifersucht bist, glaubst du, sie in allen anderen Menschen zu sehen.«
Kephallions Augen verengten sich. »Du kannst mich nicht leiden.«
»Wir können uns gegenseitig nicht leiden, Kephallion, aber wenn du wirklich den Zeloten angehören willst, dann musst du als Erstes lernen, dass bei uns solche persönlichen Gefühle hinter der Sache zurücktreten müssen.«
»Ich will zu Sadoq. Er wird mich verstehen.«
»Du bist hier kein Prinz von Judäa, Kephallion, du bist ein Fremder. Und ich entscheide, ob und wann du Sadoq zu Gesicht bekommst.«
Später, als Kephallion Nazareth wieder verlassen hatte und in den blutroten Sonnenaufgang über Galiläa ritt, drehten sich seine Gedanken nur um Pilatus und Salome und Menahem. Für jeden von ihnen empfand er den gleichen Hass. Gut, wenn die Zeloten nicht wollten, dann würde eben er es tun, dann würde seine eigene Hand, so wie einst König Davids Hand, den Dolch gegen die Unbeschnittenen und die Abtrünnigen führen.
 
Das große Ereignis warf seinen Schatten voraus. Einen Tag vor der festlichen Einweihung von Tiberias trafen Scharen von Gästen aus dem Orient, von Dienern, Höflingen und Sklaven ein, die wie Heuschrecken über das Westufer des Sees Genezareth herfielen. Abordnungen aus Phönizien, Mesopotamien und Nabatäa, aus Kilikien, Zypern und Armenien waren eingeladen, dem Spektakel beizuwohnen, und ihre Stimmen, bunten Gewänder und exotischen Düfte erfüllten jeden Winkel des Palastes und seiner Gärten.
Inmitten des Trubels lief Rabban Jehudah mit verkniffenem Gesicht durch die Gänge und traf zufällig auf Salome und Haritha, die ihren Spaziergang durch die fremde Menge genossen.
»Oh nein«, stieß Haritha aus, als sie ihn näher kommen sah. »Der Tag war so schön. Warum müssen wir ausgerechnet jetzt diesem Pharisäer begegnen?« Sie wollte vor Rabban Jehudah davonlaufen, aber Salome hielt sie fest.
»Wir müssen hier durch, wenn wir zu deinen Gemächern wollen«, sagte sie. »Außerdem wird er uns schon nicht fressen.«
»Da kennst du ihn schlecht.«
Das stimmte. Sie und Rabban Jehudah waren sich in den Wochen ihres Aufenthaltes sorgfältig aus dem Weg gegangen. Sie sahen sich nur während der Festmahle am wöchentlichen shabbat und jener, die für Pilatus gegeben wurden, und da waren genug andere Menschen anwesend, um den ganzen Abend kein Wort miteinander sprechen zu müssen. Jetzt jedoch konnten sie einander nicht ausweichen, denn es wäre ausgesprochen unverschämt von Jehudah gewesen, ohne ein Wort an Antipas’ Frau vorbeizugehen.
Wie vorherzusehen, blieb er vor ihnen stehen und verneigte sich kaum sichtbar. Er war hoch gewachsen, hatte einen Eierkopf, eine Glatze und riesige graue Augen, mit denen er Menschen einzuschüchtern verstand.
»Ich bin soeben auf dem Weg zu meinem maariv«, erklärte er überflüssigerweise, denn es war offensichtlich, dass er gleich das Abendgebet ablegen würde. Er war eingehüllt in seinen schwarzen tallit, den traditionellen weiten Gebetsmantel, und in der linken Hand bewaffnet mit dem Gebetbuch, dem siddur. Die schalenförmige Kopfbedeckung, die jarmulha, trug er in der rechten Hand, setzte sie jedoch im nächsten Moment auf.
»Ich hoffe«, ergänzte er mit großen Augen, »meine Ruhe zu finden inmitten dieser albernen Schar von Gecken. Es tut weh, mit anzusehen, wie sie sich aufführen.«
»Die Menschen amüsieren sich«, stellte Salome fest. »Sie reden, scherzen, lachen, bewundern den Palast … Alles ganz normale Dinge. Außerdem besteht kein Grund zur Sorge um deine Gebetsruhe, denn die Synagoge ist für die nichtjüdischen Gäste nicht zugänglich, wie du sicher weißt – das strenge Verbot stammt von dir selbst.«
Sie bemühte sich, in sachlichem Ton zu sprechen, doch das reichte bereits, um ihn zu provozieren. Rabban Jehudah fasste jeden Widerspruch, ja sogar die geringste Korrektur seiner Aussagen, als Auflehnung gegen sich und den ganzen Glauben auf. Er hatte allerdings die Eigenart, stets ruhig zu bleiben. Nie fuchtelte er mit seinen Händen in wildem Zorn herum, und niemals hörte man ihn laut sprechen, geschweige denn schreien. Bei ihm erfüllten seine riesigen Augen ihren Zweck, denn unter ihrem Blick fühlte Salome sich an die Propheten erinnert – so hatte sie sich als Mädchen die unentwegten Mahner und Unheilsverkünder längst vergangener Tage vorgestellt. Auch sie konnte sich nicht freimachen von der unheimlichen Wirkung dieser stechenden Augen, aber ihre Streitlust obsiegte. Rabban Jehudah personifizierte alles, was ihr immer schon unerträglich gewesen war: geistige Unbeweglichkeit verbunden mit einem Absolutheitsanspruch der eigenen Meinung.
»Vielen Dank für den freundlichen Hinweis«, entgegnete er. »Da wir gerade von der Synagoge sprechen – wir vermissen dort euer beider Anwesenheit. Vor allem du, Fürstin Haritha, solltest die Innigkeit deines Glaubens hin und wieder mit einem Besuch in der Gemeinde Gottes bekräftigen.«
Salome sah Haritha an. Ihre neu gewonnene Freundin hatte über den Tag verteilt bereits große Mengen theriac getrunken, und sie schwankte zwischen Hochstimmung und Apathie hin und her. Eben noch war sie agil gewesen, doch die letzten zwei Minuten hatten gereicht, sie lethargisch werden zu lassen.
Haritha antwortete dem Rabban einfach nicht.
»Wie du sicher weißt«, antwortete Salome für ihre Freundin, »sind Frauen seit jeher von religiösen Verpflichtungen befreit.«
»Ja, um sich um den Haushalt und die Kinder kümmern zu können. Doch Haritha nimmt im Haushalt keine Aufgaben wahr, und Kinder hat sie auch nicht. Es ist nicht gut, sich derart von der Gemeinde abzusondern.«
Wieder sprang Salome für Haritha in die Bresche. »Bedeutet der Ursprung des Namens ›Pharisäer‹ nicht ›die Abgesonderten‹?«, fragte Salome.
»Abgesondert vom falschen Glauben, ja«, erwiderte Jehudah, an Schärfe gewinnend. »Nicht von Gott. Da du dich so rege an diesem Gespräch beteiligst: Auch dich habe ich noch kein einziges Mal in der Synagoge gesehen.«
»Das muss daran liegen, dass ich noch nicht dort war.«
Er atmete tief durch. »Dein Verhalten ärgert uns.«
»Es tut mir Leid, dass ich diese Gefühle bei dir und deinen Anhängern verursache.«
»Du kannst leicht etwas dagegen tun. Trage angemessene Kleidung, gehe in die Synagoge, sei bescheiden und lasse dich von einem jüdischen Mann heiraten.«
Salome dachte nicht daran, das zu tun, was der Rabban gebot. Unter Begriffen wie angemessen und bescheiden, gegen die im Grunde nichts zu sagen war, verstanden die Pharisäer etwas völlig anderes als die meisten Menschen. Sie definierten die Eigenschaften nach Gutdünken. Aber das alles überraschte Salome nicht mehr und war keine Erwiderung wert. Nur die letzte Aufforderung des Rabbans reizte sie.
»Zu gegebener Zeit wird sich ein Mann von mir heiraten lassen«, antwortete sie unter Veränderung der Betonungen und lächelte süß.
Seine Augen wurden noch größer und drohender, als sie ohnehin waren. »Deine Einstellung wird dir kein Glück bringen, Salome«, sagte er.
»Meine Einstellung gehört wenigstens mir selbst, die Einstellung so vieler anderer, die ich kenne, wird ihnen aufgezwungen. Und nun, ehrwürdiger Rabban, entschuldige uns bitte. Die Luft kommt uns heute so eng und stickig vor.«
Mit einem kurzen Kopfnicken verabschiedete sie sich von Jehudah, nahm Haritha bei der Hand und tauchte mit ihr in das Gewirr der bunten Gewänder ein.
 
Der klagende Klang der Flöte erfüllte den Saal, vermischte sich mit dem durch die Fenster strömenden Wind und dem Rauschen der Wellen des Sees. Salome und Haritha tanzten zu der Melodie, die Mensch und Natur gemeinsam spielten. Die Nacht war warm und melancholisch. Die Flämmchen der Öllampen flackerten, und ihr Licht brach hundertfach den Schatten der beiden Frauen, zauberte fliehende Schemen an die Wände, die wie Geister umherirrten. Feine Schwaden des Räucherwerks zogen durch den Saal und trugen ihren zimtartigen Duft bis in die äußersten Winkel.
Haritha klatschte sachte in die Hände. »Jetzt die Brücke von Sanaa.«
Salome wusste, was zu tun war. Sie bog ihren Rücken so weit nach hinten durch, dass sie mit den Händen den Boden berührte, zog den Körper langsam nach, so dass sie für einen kurzen Augenblick kopfüber stand, dann kam sie wieder auf die Beine. Sie konnte stolz sein, diese Figur bereits zu können, doch gegen Haritha wirkte sie noch immer wie eine Holzpuppe. Jede Biegung von Harithas Körper, jeder Schritt, jede Drehung erschien ihr wie ein Kunstwerk. In den Bewegungen der Araberin gab es keine Unterbrechung, keine Pausen oder Störungen, alles war eine flüssige Bewegung. Die Schleier und der Schmuck, die Arme und die Augen, all das gehörte zusammen und wurde genau im richtigen Augenblick eingesetzt. Mit der Selbstverständlichkeit und Schönheit, mit der die Nacht dem Tag folgte oder der Winter dem Sommer, reihten sich die Figuren bei Haritha aneinander, als habe die Natur es so gewollt. Diese Vollkommenheit faszinierte Salome.
Haritha klatschte in die Hände, woraufhin die Flöte hinter der Geheimwand verstummte. »Genug für heute«, rief sie.
»Oh, schon?«, klagte Salome.
»An den Bewegungen deiner Arme ist nichts mehr zu verbessern. Morgen Nacht, wenn wir die schreckliche Einweihungsfeier hinter uns gebracht haben, fangen wir mit den Beinen an. Du wirst lernen, sie wie einen Torbogen zu spannen, sie wie eine Schlange zu winden, wie eine Grille mit ihnen zu springen. Hüften, Rücken, Schultern, Kopf, jedes Körperteil kommt in den nächsten Wochen bei unserem Unterricht dran. Du wirst bald lernen, den Wind zu nutzen, den Schein des Feuers und die Spiegelungen des Wassers. Die Säule der Isis, die indische Flamme, die Tigriswelle: eine Figur nach der anderen wirst du dir einprägen.«
Salomes Augen leuchteten. »Die Nacht ist noch jung. Warum nicht weitermachen?«
Haritha trank einen großen Schluck von dem mit theriac versetzten Tee. Sie lächelte mild, fast abwesend. »Du bist heute nicht ganz bei der Sache. Du denkst immerzu an diesen Rabban, ich spüre es.«
Das konnte Salome nicht leugnen. »Das, wofür er einsteht, ist das Gegenteil von dem, was unser Land bräuchte.«
»Das ist deren Welt, Salome«, sagte Haritha, wobei ihr die Worte aus dem Mund zu schweben schienen. »Jehudah, Antipas, Herodias, Pilatus, sie alle besitzen hier, in meiner Welt, keine Macht. Sie sind nur Schatten, kraftlose Geister, die sich mühen, nicht dem Vergessen anheim zu fallen. Gegen den theriac kommen sie nicht an. Der theriac verjagt sie aus meinem Kopf.«
Haritha ging durch den Saal und blies eine Ölflamme nach der anderen aus. Als alle erloschen waren, entledigte sie sich ihrer Kleider, bis nur noch ein Hüfttuch und ein transparenter weißer Schleier übrig blieben. Ihre dunkle Haut schimmerte durch den dünnen Stoff, ihre Brüste zeichneten sich ab.
»Komm«, flüsterte sie und zog Salome sanft auf die Terrasse. Das silbrige Mondlicht strömte in Bahnen durch die Wolkenfetzen und spiegelte sich auf der ebenen Fläche des Sees Genezareth. Ein böiger Wind bog die Palmen des Gartens; er war warm und schmeichelnd, und Salome schloss die Augen, um ihn besser auf ihrer Haut zu spüren. Sie dachte daran, wie sie die Meeresbrise genossen hatte, an jenem Tag am Strand von Ashdod, mit Timon an ihrer Seite.
Plötzlich trug Haritha einen zweiten Kelch in der Hand. »Du solltest ihn versuchen, den theriac. Er ist warm und alles durchdringend. Obwohl du allein bist, fühlst du die Umarmung lieber Menschen, und du erinnerst dich an lange vergangene Tage des Glücks, so als lägen sie noch vor dir. Der theriac erfüllt dir jeden Wunsch.«
Salome griff nach dem Kelch. Harithas Worte waren ebenso betörend wie der Duft des Sees, der vom Wind herbeigetragen wurde. Wer konnte ihr besseren Trost spenden? Zu wem konnte sie mit ihren Ängsten und Hoffnungen gehen? Berenike, Herodias, Theudion, sie alle verstanden weder ihre Sehnsucht nach Timon noch nach einem neuen Judäa.
Salome führte den Kelch an ihre Lippen, doch dann sah sie, wie Haritha leicht schwankte und nur noch mit Mühe den Rest ihres theriac trank. Diese Frau war nicht mehr Herrin über ihren Körper, und ihr Geist spiegelte ihr falsche Wahrheiten vor, wie die Wüste es manchmal mit den Reisenden der Karawanen tat. Im letzten Moment setzte Salome den Kelch wieder ab.
»Lieber nicht«, sagte sie.
Haritha riss sich vom Anblick des glitzernden Sees los und blickte sie an. In ihrem vernebelten Blick blitzte ein Anflug von Ärger auf. »Du glaubst, gegen sie kämpfen zu können, nicht wahr? Du meinst, weil du eine Stadtfürstin bist, vermagst du die Welt zu ändern. Wie kindlich du noch bist! Die gemeine, schmutzige, ungerechte Welt lässt sich nicht ändern, und die Verteidiger dieser Welt werden dich ohne Skrupel mit einem Handschlag hinwegfegen. Die wenigen Sehnsüchte, die sich in deinem Leben erfüllen werden, ertrinken in der Flut enttäuschter Hoffnungen. Du wirst zugrunde gehen, Salome, denn in der Tiefe deines Herzens genießt du es, fremd und ausgestoßen zu sein, ein bunter, flatternder Vogel zwischen Abertausenden von wandelnden Gebetbüchern. Aber solche Vögel werden entweder abgeschossen oder in Käfige gesperrt.« Haritha drückte ihr den Kelch an die Lippen »Trink, dann spürst du nichts mehr davon.«
Salome entzog sich ihrer Freundin. »Es ist besser, wenn ich jetzt gehe.«
»Warte, Salome. Geh nicht.«
Harithas Stimme war plötzlich mild und bittend. Der Wind blähte ihren Schleier, und man konnte meinen, dass er Haritha im nächsten Augenblick mit sich forttrüge. Salome konnte durch die Dunkelheit ihr Gesicht nicht sehen, sie spürte jedoch, dass es gerade jetzt von Trauer und Sehnsucht gezeichnet war.
»Ich war zu hart«, gestand Haritha. »Ich habe eigentlich nicht dich beschimpft, sondern mich selbst.« Sie streckte die Hand aus. »Komm zurück.«
Salome zögerte keinen Augenblick. Sie ergriff Harithas Hand und blickte wieder mit ihr hinaus in die windige Nacht. Sie wusste, dass Haritha gleich etwas sagen würde, und schwieg.
»Als neunjähriges Mädchen«, begann die Nabatäerin leise, »wurde ich zur Priesterin der Göttin Atargatis ernannt. Fortan lebte ich im Tempel, der in das Gebirge gegraben ist, auf dem unsere Hauptstadt Petra steht. Keine der Priesterinnen war älter als sechzehn, alle stammten aus vornehmen Familien. Zu Ehren der Göttin tanzten wir in den Gewölben, tagein und tagaus, wir verbrannten Räucherwerk und trugen die herrlichsten Stoffe. Nur einmal im Jahr traten wir ans Licht, zum Feiertag der Atargatis, und tanzten vor dem Volk. Als Tochter des Königs wurde ich schon bald zur ersten Priesterin ernannt, und ich tanzte mehr denn je. Alles, was ich an Kraft in mir hatte, gab ich dem Tanz. Nach sieben Jahren in der Abgeschiedenheit und beruhigenden Stille des Berges war ich zu alt für die Göttin. Man holte mich von einer Stunde auf die andere von dort weg.
Mein Vater war in der Zwischenzeit alt und schwach geworden, mein älterer Bruder war tot, der jüngere noch ein kleiner Knabe. Die Priester unseres obersten Gottes Dhu ash-Shara hatten das Sagen, und sie verwalteten das Land schlecht. Als ich mich einmischte und die übelsten Missstände bekämpfte, teilte man mir mit, dass ich als Braut eines jüdischen Prinzen vorgesehen sei, ich hätte seinen Glauben anzunehmen und meine Heimat zu vergessen.
Und dann verliebte ich mich auch noch in einen Offizier. Ich wünschte, ich hätte damals meine Jungfräulichkeit an ihn verloren – es kam nicht mehr dazu. Ehe ich mich’s versah, saß ich in der Sänfte nach Judäa und verlor alles, was mir etwas bedeutete.«
Haritha schwieg in die Nacht hinein.
»Was … Was ist aus ihm geworden?«, fragte Salome zögerlich.
»Ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist, aber ich weiß, was aus mir geworden ist, Salome. Nichts quält einen mehr als das unerfüllte Verlangen nach Zärtlichkeit und Liebe. Dieses Verlangen ist ein Räuber, es zehrt dich jeden Tag ein Stück mehr auf, du merkst es zunächst gar nicht. Am Anfang hast du noch Hoffnung, die große Täuscherin. Sie ist wie Balsam, der dir den Schmerz nimmt und dich stimuliert. Du lebst auf. Eine Weile ist die Hoffnung auf baldiges Glück fast ebenso schön, als wenn du das Glück tatsächlich erlebtest. Manchmal kehrt der Schmerz zurück, doch nur kurz, denn du rufst die Hoffnung herbei, und sie hilft dir immer. Mit der Zeit klammerst du dich an sie, du betest sie an, deine Gedanken drehen sich nur noch darum. Doch im Lauf der Jahre zerrinnt dir die Hoffnung zwischen den Fingern, ohne dass du etwas dagegen tun kannst. Sie lässt dich allein mit deinen Wunden. Du windest dich, und wenn du glaubst, du musst sterben, kommt die Schwester der Hoffnung und bietet dir ihre Hilfe an. Weißt du, welchen Namen sie trägt, diese Schwester?«
Salome blickte mit Haritha gemeinsam hinaus in die Dunkelheit. Der Wind schlug ihr heftig ins Gesicht, aber sie regte sich nicht.
»Resignation«, löste Haritha das Rätsel. »Gleichgültigkeit. Auch sie bietet dir Rettung aus deiner Not an, auch sie kann dir den Schmerz nehmen. Ihr Balsam ist tückisch. Er gibt dir nicht deine Lebenskraft zurück, sondern saugt dir das letzte bisschen davon aus. Wenn du dich der Resignation hingibst, verlierst du nicht nur den Schmerz, sondern überhaupt jedes Gefühl. Du empfindest keine Freude mehr, keinen Zorn, keine Sehnsucht … Die Stunde, in der du deinen letzten Atemzug tust, ist nur eine Farce, ein Theater für die Welt. In Wahrheit bist du schon lange vorher gestorben.«
Haritha wandte sich ihr zu. Ihr Silberschmuck und der weiße Schleier leuchteten im Mondlicht. Sie fassten sich an den Händen und blickten einander an, zwei schwarze Augenpaare, die sich nicht mehr losließen.
»Was auch immer geschieht«, flüsterte Haritha, »du darfst nicht resignieren. Was ich vorhin über den Kampf gesagt habe, war falsch. Es war der Neid der Gescheiterten, der aus mir sprach, die Stimme einer Süchtigen, die andere die Sucht lehren will. Leide, wenn es sein muss. Sieh die Hoffnung schwinden und ertrage den Schmerz. Kämpfe dagegen an, schlage um dich. Und wenn du vor dem Scherbenhaufen deiner Träume stehst, dann laufe darüber hinweg und suche neue, egal, wie weh es tut. Aber nie, Salome, niemals darfst du tatenlos stehen bleiben und dich von der Resignation packen lassen.«
Salome konnte die Kraft spüren, die mit diesen Worten in sie einströmte. Sie hatte in diesem Moment das Gefühl, dass nichts auf der Welt ihr etwas anhaben könnte.
»Ich verspreche es«, sagte sie.
»Versprich es nicht mir«, bat Haritha. »Ich werde nicht immer da sein, um dich daran zu erinnern. Versprich es dir selbst.«
Sie sahen sich noch eine Weile an, dann lösten sie ihre Hände voneinander. Salome folgte Harithas Blick zur fernen Ostseite des Sees, wo die Mondsichel über den Hügeln stand und sie mit ihrem weißlichen Schimmer benetzte.
Ich verspreche es, dachte sie.
 
Als Timon sich von der Felswand auf das sichere Plateau zog, riss ihm ein kleiner scharfer Stein die Haut am Unterschenkel auf. Er stöhnte vor Schmerz auf, stellte jedoch sofort fest, dass die Wunde nicht schlimm war. Sie würde nur eine Narbe hinterlassen, die sichtbare Erinnerung an eine schreckliche Zeit, die mit der heutigen Nacht jedoch zu Ende war.
Onex hatte lange nach Einbruch der Dunkelheit gewartet, bis er das Zeichen zur Flucht gab. Timon hatte sofort damit begonnen, die Tücher um die Fußketten zu wickeln, um die Geräusche der Eisen zu dämpfen. Trotzdem wachten einige der anderen Gefangenen auf und merkten, was vor sich ging. Sie schwiegen jedoch, allerdings nicht aus Freundschaft, sondern aus Gleichgültigkeit.
Timon und Onex schlichen langsam über den Steinbruch. Die Nacht war ideal für eine Flucht, denn die Mondsichel war hinter einer Wolkendecke verborgen, so dass sie nicht zu hell schien, jedoch noch genug Licht spendete, um die Umrisse der Steine und die eingeschlagenen Kerben in der Felswand zu finden.
Timon kletterte voran, doch gleich nach der ersten Kerbe verfing sich etwas an einem kleinen Felsvorsprung, löste sich von seinem Schurz und fiel zu Boden.
»Verflucht«, schimpfte Onex stimmlos. »Was machst du für einen Lärm? Was ist das?« Er hob es auf.
Timon kletterte wieder zurück. »Danke«, sagte er nur. Die Lederrolle mit einer Kette, die er von seinem Vater bekommen hatte, und den Zeichnungen aus Rom, Ostia und Jerusalem darin war das Einzige, was er noch besaß. Es waren in den letzten Jahren sogar weitere Zeichnungen dazugekommen. Das Pergament hatte er sich bei den Soldaten zusammengebettelt, die die Bücher über Neuankömmlinge und »Abgänger«, die Toten, führten. Meist arbeiteten sie schlampig. Alte Papiere verloren für sie ihren Nutzen, und ein paar Mal war es ihm gelungen, ihnen einige Bögen abzuschwatzen. Als Stifte dienten Timon feine Steinsplitter. Was er damit zustande brachte, war unter ästhetischen Gesichtspunkten eine Katastrophe, aber es lenkte ihn ab und führte ihn für eine Weile in eine Welt, die ihm sonst verloren gegangen wäre.
»Nun geh endlich«, drängte Onex, und Timon befestigte die Rolle wieder an seinem Schurz und kletterte voraus. Die Kerben waren selbst für den ungelenken Onex leicht zu besteigen, trotzdem mussten sie im Dunkeln vorsichtig sein, denn leicht konnte man einen Schatten oder einen getrockneten Klumpen Erde für einen sicheren Halt erachten und abstürzen. Onex atmete schwer, und einige Male glaubte Timon, sein Partner schaffe es nicht. Manchmal fasste Onex Timons Fußknöchel, weil er nicht mehr weiter wusste, doch Timon konnte ihm immer sagen, wo die nächste Kerbe zu finden war, und so kam es zu keiner einzigen bedrohlichen Situation.
Als Timon ihm nun die Hand entgegenstreckte und ihn den letzten Schritt nach oben hievte, wusste er, dass es geschafft war.
Er ließ sich zurückfallen. »Frei«, flüsterte er, »endlich frei.«
»Wir haben keine Zeit zu verlieren«, keuchte Onex, und da kam auch schon die Wache, mit der er im Bunde war. »Wo ist der Schlüssel?«, fragte Onex ihn. »Mach uns frei.«
»Erst die Bezahlung«, antwortete die Wache.
Timon konnte in der Finsternis das Gesicht des Mannes nicht sehen. Die Stimme klang rau und nicht mehr jung. »Ich warte dann hier«, sagte Timon und bemitleidete Onex für die Aufgabe, die dieser nun zu erledigen hatte.
Onex räusperte sich. »Tja, weißt du, der gute Rufius hier interessiert sich nicht mehr für mich.«
Timon suchte in der Dunkelheit Onex’ Augen. »Sondern? Was will er?«
»Als ich ihm sagte, dass du mein Partner bei der Flucht bist …«
»Was schwafelt ihr hier rum?«, ging Rufius, die römische Wache, dazwischen. »Onex, du hast mir gesagt, dass der Grieche einverstanden ist.«
Timon sprang auf. »Ich soll …«
»Du hast gesagt, dass du für deine Freiheit alles tun würdest.«
»Das hast du gesagt«, entgegnete Timon.
»Und du hast stillschweigend zugestimmt. Nun mach schon. Es geht schnell.«
Timon hielt vor Fassungslosigkeit die Luft an. Er erstarrte und blickte abwechselnd auf die Schemen von Onex und der Wache.
»Ich … ich kann nicht«, sagte Timon.
»Tu es«, drängte Onex ärgerlich und schubste Timon in die Arme des Römers.
Timon sah Rufius nun direkt in die hungrigen Augen. Die Hände des Römers maßen seine Schultern, dann seinen Rücken, die Hüften und schließlich … Timon schloss die Augen. Er spürte den Atem auf seinem Gesicht, hörte das angestrengte Keuchen, zuckte zusammen, als er die Lippen des Römers auf seinen fühlte.
Er machte sich aus der Umklammerung des Römers frei und trat einen Schritt zurück. »Ich kann nicht«, wiederholte er, diesmal entschlossen.
»Bei allen Göttern«, fluchte Rufius. »Glaubt nicht, dass ihr mir so durchkommt.«
Er holte tief Luft und wollte eben einen Alarm in die Nacht schreien, als Onex sich auf ihn stürzte und ihn zu Boden riss. Der Römer versuchte vergeblich, sein Kurzschwert zu greifen oder den Speer, den er zuvor beiseite gelegt hatte. Onex versetzte ihm einen Faustschlag, der ihn benommen machte, griff nach dem Schlüsselbund und schloss die Kette auf, die seine Füße fesselte. Dann warf er ohne ein weiteres Wort Timon den Bund zu und lief davon.
Timon, der zuerst von der plötzlich veränderten Situation überrascht war, griff den Bund und versuchte, den richtigen Schlüssel zu finden, um ebenfalls seine Kette zu lösen. Er hatte Glück. Eine Wolkenlücke gab in diesem Moment den Mond frei und erleichterte ihm die Arbeit. In breiten Bahnen fiel das silbrige Licht zur Erde und erhellte den Steinbruch.
Timon blickte kurz auf. Der Römer hatte sich bereits wieder aufgerappelt, griff nach dem Speer und warf ihn dem flüchtenden Onex hinterher. Ein entsetzlicher Aufschrei – und Onex fiel mit dem Gesicht nach unten zu Boden.
Timon hatte zwischenzeitlich den richtigen Schlüssel gefunden. Über seine Fußfessel gebeugt, löste er ihr schweres Eisen von seinen Knöcheln. Doch in diesem Moment fielen Schatten über ihn, die Schatten des Römers und seines gezückten Schwertes.
Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
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