26
Als das Schiff nach elftägiger ruhiger Fahrt in
den Hafen von Caesarea einlief, bot sich Agrippa und den anderen
ein atemberaubendes Bild. Der Jubel Tausender empfing ihn schon von
Ferne und schwoll mit jedem Augenblick mehr an. Männer, Frauen,
Kinder, Greise winkten und hüpften, reckten die Köpfe und weinten,
als sie die ersten Umrisse ihres Königs auf dem Bug des Schiffes
sahen. Was für eine Kulisse bildete die Stadt! Weißer Marmor,
breite, saubere Straßen, ein ovales Theater, alles umrahmt von
sattgrünen Zedernwäldern. Im Hintergrund leuchteten die Berge
Samarias im Licht der hoch am Himmel stehenden
Frühlingssonne.
Agrippa war überwältigt. Die Melancholie der
letzten Tage war wie weggefegt. »Caesarea ist gewiss die schönste
Stadt meines Landes«, hauchte er.
»Das lasse nicht die Leute hören«, flüsterte Salome
ihm von hinten zu. »Caesarea ist überwiegend von Griechen
bewohnt.«
»Na und?«
»Die schönste Stadt deines Landes muss offiziell
immer Jerusalem sein.«
Er nickte wie ein lernbereiter Schüler, dann wandte
er sich wieder der Menschenmenge auf den Molen zu und winkte. Das
Freudengeschrei, das auf diese Geste folgte, war ohrenbetäubend,
und als das Schiff anlegte, mussten Scharen von Soldaten eine Gasse
freimachen, damit Agrippa überhaupt an Land gelangen konnte.
Erst jetzt, die begeisterten, verweinten, bewegten
Gesichter vor Augen, begriff er, was er diesen Menschen bedeutete.
Für sie war der Zustand höchsten Glücks erreicht. Der Prokurator
war gegangen, mit ihm die Adler, die Standarten, die
Steuereinnehmer, Legionäre, Tribunen und Centurionen, und Agrippa
war das Symbol dieser neuen Freiheit und Reinheit des Heiligen
Landes.
Salome reichte ihm von hinten den goldenen Reif der
Könige, den Claudius ihm zwar ausgehändigt, Agrippa jedoch noch
nicht ein einziges Mal aufgesetzt hatte.
»Seit Herodes hat ihn niemand mehr getragen«, sagte
sie. »Es wird Zeit.«
Und erneut brach ein Beifallssturm los, als er
ihren Rat befolgte und den Reif aufsetzte.
Einige Abgesandte aus Jerusalem begrüßten ihn
überschwänglich und äußerten die Hoffnung, er werde bald die
Hauptstadt besuchen.
»Ich freue mich schon, die schönste und
ehrwürdigste Stadt meines Landes zu erblicken«, antwortete er, der
Worte Salomes gedenkend.
Den Abgesandten der Griechen Caesareas hingegen
kanzelte er ab, als dieser ihn darauf hinwies, dass diese gewaltige
Anzahl von Juden, die nach Caesarea gekommen waren, einen Bruch der
mit Kaiser Claudius vereinbarten Regeln darstellten.
»Stell dich nicht so an«, sagte Agrippa. »Es ist
doch nur für heute.« Dann ging er weiter.
Salome hatte anschließend die größte Mühe, den
aufgebrachten Griechen wieder zu beruhigen. Diese Minderheit in
Judäa, die selbst jede Gelegenheit nutzte, um gegen die Juden zu
sticheln, war äußerst empfindlich, wenn sie selbst etwas einstecken
musste.
Es gelang Salome schließlich, einen Streit zu
verhindern, indem sie verkündete, es sei dem König ein Verlangen,
die Kosten für den nächsten Wettkampf in Caesarea zu übernehmen.
Daraufhin weiteten sich die Augen des Abgesandten, er gewann sein
Lächeln wieder und verbeugte sich sogar.
Agrippa wäre gern noch länger in Caesarea
geblieben, denn hier fühlte er sich sowohl verehrt und gefeiert wie
auch an Italien erinnert. Die Berge und die von Blütenstaub
glänzenden Haine waren beinahe ein Abbild der Campagna, und die
Bäder, Theater und cryptoportici, die Säulenhallen, hätten
auch in Rom stehen können. Hier konnte er wieder lachen und
trinken. In Jerusalem dagegen, das ahnte er, erwarteten ihn
Protokoll und Pflicht.
Salome jedoch drängte zum Aufbruch. Derzeit flogen
Agrippa alle Herzen zu, die Gelegenheit für erste wegweisende
Regierungshandlungen war einfach zu günstig. Nur einige wenige
Fehler, sei es nun in Caesarea oder sonstwo, könnten alles
erschweren.
Nach vier Tagen gab er endlich nach. Ihre erste
Station war Philippi, die Stadt, die als Idee in ihrem Kopf geboren
und von Timon und Kallisthenes zu Stein gemacht worden war. Sie
stand in ihrer Pracht Caesarea in nichts nach, aber ihren Glanz
gewann sie nicht aus Monumenten, sondern aus ihren herzlichen
Menschen. Die einstigen Sklaven und Erbauer stellten einen guten
Teil der Bewohner, und diese jubelten Salome zu, als sie zum ersten
Mal überhaupt Einzug im fertigen Philippi hielt.
»Wieso«, fragte Agrippa säuerlich, »rufen sie nur
deinen Namen und nicht meinen?«
»Sie hatten noch keine Gelegenheit, mir zu
danken.«
»Wieso kommen wir überhaupt hierher?«
»Weil ich noch keine Gelegenheit hatte,
ihnen zu danken.«
Agrippa brummte etwas in sich hinein und ließ den
zweitägigen Aufenthalt widerspruchslos über sich ergehen, doch es
war unübersehbar, dass ihm das Aufhebens um Salome nicht gefiel,
während er nur ehrenvoll und nicht begeistert begrüßt wurde.
Über Sepphoris, Tiberias, Jesreel und Jericho zogen
sie gen Jerusalem. Die sonnenfahlen Felder Galiläas, die Segelboote
der Fischer auf dem See Genezareth, die Reben des Jordantales, die
Wüste … Für Agrippa war es eine Reise durch fremde Gegenden, die
ihm vertraut werden mussten, damit er ein Gefühl für sein
Königreich und das Volk bekam.
»Die meisten Juden sind einfache Bauern«, erklärte
Salome. »Sie leben von Ackerland und Obstanbau, einige auch von
Viehzucht. An den Seen leben Fischer, an der Küste die Kaufleute.
Doch nicht jeder hat Arbeit. Viele Knechte haben nur zur Aussaat
und Ernte zu tun und streifen in der übrigen Zeit auf der Suche
nach Anstellung durch das Land. Als Hilfskräfte pflastern sie zum
Beispiel Straßen – was miserabel bezahlt wird.«
»Was du alles weißt …«
»Vielen Dank. Du wirst mich allerdings noch
verfluchen, denn wir haben viel Arbeit vor uns.«
Das Volk von Jerusalem bereitete Agrippa einen
nicht weniger herzlichen Empfang als die Bürgerschaften in den
Städten zuvor. Wie er jedoch bereits vermutet hatte, galt es hier,
protokollarische Aufgaben zu erfüllen, die nicht auf die leichte
Schulter genommen werden durften. Am Fuß des Tempels erwarteten ihn
bereits der Hohepriester, die kohen sowie die
Tempelaufseher, Kämmerer und Schatzmeister. Ein Chor intonierte
Psalmen, das Volk schwieg mit gesenkten Köpfen. Agrippa trat der
Priesterschaft entgegen. Zu Füßen des Hohepriesters stand ein Korb
mit Früchten und daneben zwei Knaben, die die Aufgabe hatten, ihn
die Stufen hoch zum Tempel und dort zum Altar zu tragen, damit
Agrippa die Früchte dem Einen Gott als Opfer darbringen konnte.
Intuitiv nahm Agrippa den Knaben den Korb ab und trug ihn selbst
die Stufen hinauf. Und wieder jubelte das Volk, so dass sogar die
Psalmen nicht mehr zu hören waren.
Nach dem Opfer wandte Agrippa sich direkt an die
Menschen. Den Tempel im Rücken, die Menschen zu Füßen, hielt er
eine Rede. Er versprach, die einst eingestürzte Halle des
Sanhedrin wieder aufzubauen, die Steuern maßvoll zu halten
und keine Ungerechtigkeit in seinem Königreich zu dulden. Er
versprach ein goldenes Zeitalter – und die Menschen glaubten ihm.
Agrippa übertraf ihre sämtlichen Erwartungen.
Am Abend, als er mit Salome und der übrigen Familie
im prächtigen Herodespalast eintraf, hatte der Jubel noch immer
nicht aufgehört. Agrippa platzte beinahe vor Freude und
Selbstbewusstsein. »Was soll denn schwierig an diesem Volk sein?«,
fragte er. »Es sind wunderbare Menschen.«
Er trat zusammen mit seinem Sohn Agrippinos auf
eine Terrasse, genoss ein weiteres Mal den Beifall der Menge und
winkte ihr wieder und wieder zu. Dann bat er auch seine übrige
Familie zu sich.
Wie oft hatte Salome sich früher gewünscht, ebenso
umjubelt zu werden, doch es war ihr nie vergönnt gewesen. Die
Versuchung, jetzt neben Agrippa zu treten und ein wenig von seinem
Glanz abzubekommen, war groß, denn sie hatte ihren Anteil daran,
dass er König geworden war und als Retter Judäas galt. Doch sie
vergaß die Worte Efraims nicht: Bleibe verborgen! Sei ein
unsichtbarer Geist! Sie musste lernen, damit zu leben, nie wieder
in der hellen Sonne der Macht zu stehen, sondern immer nur im
Schatten zu dienen.
Salome und Gilead blieben ein Stück hinter Agrippa
zurück, um von unten nicht gesehen zu werden.
Der König strahlte über das ganze Gesicht. »Ich bin
auf dem Gipfel angekommen, Salome. Auf dem höchsten Gipfel.«
Salome erwiderte nichts, um Agrippa die Laune nicht
zu verderben. Sie wusste aber, dass jemand, der auf dem Gipfel
stand, vom Abgrund umgeben war.
Natürlich ebbten die Feierlichkeiten und
Freudenfeste irgendwann ab. Was blieb, war die Zuversicht der
Menschen, dass alles nun besser würde, und ein großes Interesse an
den Entscheidungen, die der König traf. Einerseits versprach diese
Aufmerksamkeit des Volkes eine schwungvolle Beteiligung in der
Umsetzung etwaiger Maßnahmen, andererseits lag eine umso schwerere
Verantwortung auf Agrippa. Wie sollte er die Probleme lösen? Und
welche sollte er lösen? Wo durfte er reformieren und wo lagen die
Stolperfallen? Wenn er bei kniffligen Fragen nicht weiter wusste,
fragte er Salome um Rat und ließ sich von ihr auch gerne auf neue
Ideen bringen. Ihre Besprechungen hielten sie nie vor dem
Hohepriester, dem Schatzmeister oder anderen Beamten ab – Agrippa
wollte Selbständigkeit beweisen. Salome vermutete noch einen
weiteren Grund, dass es ihm nämlich peinlich war, von einer Frau
beraten zu werden, noch dazu von einer Nichte. Meistens also kamen
sie am Vorabend seiner Besprechungen zusammen, was zweimal
wöchentlich geschah. Ausreichend Zeit für Salome, nach Missständen
Ausschau zu halten und Verbesserungen vorzuschlagen.
»Du solltest dir einmal die Monopole ansehen,
Agrippa.«
»Monopole?«
»Einige Familien besitzen für Herstellung oder
Verkauf bestimmter Waren Monopole, die ihnen vor vielen Jahrzehnten
gewährt wurden. So besitzt zum Beispiel die Familie Garmo das
Monopol für die Zubereitung der Schau- und Opferbrote für den
Tempel.«
»Ich soll mich um Brote kümmern?«
»Es handelt sich über das Jahr gerechnet um
zweitausend Brote, und jedes einzelne kostet das Zwanzigfache eines
Brotes von anderen Bäckern. Die Kosten für diese umgerechnet
vierzigtausend Brote trägt nicht der Tempel, sondern deine
Staatskasse. Das Gleiche gilt übrigens für das Weihrauchmonopol der
Familie Abtinas. Du solltest die Monopole aufheben und allen
Bäckern und Weihrauchhändlern damit einen Gefallen tun.«
Er nickte bereitwillig, denn wo es um den Ausbau
seiner Beliebtheit ging, war Agrippa für alles zu haben.
Ein anderes Anliegen trug sie schon seit
Jahrzehnten mit sich herum, da es nur ein König umsetzen konnte.
Wenige Wochen nach der Ankunft in Jerusalem trug sie es Agrippa
vor.
»Ein Mann kann sich von seiner Frau scheiden
lassen, indem er ihr einen Scheidebrief zuschickt, den
gittin. Eine Frau hingegen kann sich nicht einmal dann
scheiden lassen, wenn ein Gericht ihr im Grunde Recht gibt.«
»Warum?«
»Ohne Einwilligung des Gatten ist bisher keine
Scheidung möglich.«
»Kann ich das überhaupt ändern?«
»Du brauchst die Einwilligung des Sanhedrin,
aber wenn du die Priestergehälter erhöhst, bekommst du die
leicht.«
Er rieb sich den flaumigen Bart, den er sich seit
einiger Zeit wachsen ließ. »Ob eine Änderung den Männern gefallen
wird?«, fragte er unsicher.
»Den Frauen wird sie gefallen. Es geht ja vorerst
nur darum, dass eine Ehe aufgelöst werden kann, wenn die Frau es
beantragt und ein Gericht zustimmt.«
Er seufzte. »Meinetwegen. Können wir zum Ausgleich
noch etwas beschließen, das den Männern gefällt? Ich muss an meine
Beliebtheit denken.«
Sie zwinkerte schelmisch. »Da fällt mir
bedauerlicherweise nichts ein.«
In den folgenden Monaten fielen ihr stattdessen
viele andere Verbesserungen ein. In den heiligen Schriften wimmelte
es von Regeln für den Alltag, zum Beispiel, wie Bauern ihre Böden
umzugraben hatten oder wie man den Brandschutz in den Städten
handhaben musste. Salome hatte nie verstanden, weshalb Gott sich
für die Höhe von Häusern interessieren sollte, und sie empfahl
Agrippa, die Gesetzeswerke daraufhin zu überarbeiten. Hier stieß er
allerdings auf den ersten Widerstand des Sanhedrin, vor
allem den der Pharisäer, die sich seit Jahrzehnten erfolgreich
bemühten, das Regelwerk stetig zu erweitern – zum Wohlgefallen des
Herrn, wie sie sagten. Dieses Argument allein reichte, um ihre
Anhänger im Volk zu überzeugen, dass alle diese Regeln einen Sinn
ergaben. Schließlich konnten sich hundert Prediger Gottes unmöglich
irren! Ein Ketzer, wer dem widersprach! Agrippa hatte es schwer mit
den Pharisäern, und zum ersten Mal seit seinem Eintreffen in Judäa
musste er sich anhören, gottlos zu sein, ja, sie gingen sogar so
weit, im Sanhedrin zu beantragen, dass Agrippa vorerst den
Tempel nicht mehr betreten dürfe. Er erschrak zutiefst und warf
Salome vor, ihn falsch beraten zu haben.
»Ein König muss tun, was seinem Volk nutzt«,
erwiderte sie. »Nicht, was Religionsführern gefällt.«
»Und was meinem Volk nutzt, das bestimmst also
neuerdings du, ja?«
»Wenn du deinem Volk weiterhin jeden Gang zum Abort
vorschreiben willst, ist das deine Sache. Phantasie und
Wissenschaft werden sich dann in deinem Königreich allerdings nie
entwickeln.«
»Aber sie wollen die Reformen doch überhaupt
nicht.«
»Sie wollen sie nicht, weil sie Angst vor ihnen
haben. Und sie haben Angst vor ihnen, weil sie sie nicht kennen.
Wenn sie erst einmal mit den Änderungen leben, werden sie
feststellen, dass Gott nicht die Erde aufreißt und Judäa
verschlingt, nur weil die Abfallbeseitigung künftig im Ermessen der
Städte liegt.«
Agrippa setzte einige Änderungen widerwillig durch,
weil er sein Gesicht nicht verlieren wollte. Ihren künftigen
Empfehlungen stand er allerdings wesentlich skeptischer
gegenüber.
»Allgemeiner Unterricht an Schulen?«
»Jawohl. Geometrie, Rhetorik, Naturwissenschaften,
Geschichte, Medizin … alles, was auch in Griechenland und Rom
gelehrt wird. In Philippi und Ashdod habe ich solchen Unterricht
schon vor langem eingeführt.«
»Es heißt hierzulande, diese Wissenschaften seien
profan.«
Salome kannte dieses Argument noch aus ihrer
eigenen Schulzeit im cheder von Zacharias. »Wie kann etwas,
das uns die Welt besser verstehen lässt, profan sein?«
»Warum das Volk mit fremden Lehren in seinem
Glauben verunsichern?«
»Darauf wüsste ich tausend Antworten. Hier nur
eine: Wenn sich ein Glaube dadurch erschüttern lässt, dass die
Menschen verstehen, wie ihr Körper funktioniert oder wer Alexander
der Große war, dann scheint dieser Glaube schon vorher brüchig
gewesen zu sein, meinst du nicht?«
Letztendlich brachte Agrippa zwar den Vorschlag vor
den Sanhedrin, holte sich dort jedoch eine schroffe
Ablehnung, schon deswegen, weil er nicht entschieden genug auftrat.
Hatten die Pharisäer anfangs geglaubt, Agrippas Ideen seien auf
sein Leben in Rom zurückzuführen, kamen sie nun dahinter, dass im
Grunde nicht seine Stimme zu ihnen sprach, sondern die seiner
Nichte. Sie trachteten fortan danach, Salomes Einfluss zu
schmälern, wussten jedoch nicht, wie. Zudem tappten sie immer
wieder in Fallen, die ihnen Salome stellte. Kurz nachdem die
Pharisäer Agrippa eine Abfuhr mit seinem Schulgesetz erteilt
hatten, ließen sie sich dazu überreden, dass nur jene Schulen frei
von profanem Lehrstoff bleiben mussten, in denen Rabbiner
unterrichteten. Das waren alle, daher stimmten sie dem neuen Text
zu. Als Salome kurz darauf aus eigenen Mitteln je eine
Mädchenschule in Jericho, Jebna und Hebron gründete, in denen
jüdische Gelehrte aus der Diaspora heidnische Wissenschaften
unterrichteten – was dazu führen würde, dass einige junge Frauen
bald mehr von der Welt verstanden als gleichaltrige Männer -,
fühlten sie sich hintergangen. Ihr Ärger über die listige
Herodianerin, die im Volk nicht wenige »die Löwin« nannten,
steigerte sich allmählich zur Wut.
Wenn Salome keine Gesetzestexte auf Missstände
überprüfte, die Rechte der Frauen stärkte oder umfangreiche
Korrespondenz mit der Diaspora führte, um dortige Gelehrte nach
Judäa zu holen, machte sie Ausflüge mit Berenike und den Kindern.
Agrippa schloss sich ihnen selten an, aber er hatte nichts dagegen,
dass Agrippinos mit ihnen ging. Er selbst bevorzugte es, sich
einige Tage in Caesarea, Apollonia oder anderen vorwiegend von
Griechen bewohnten Küstenstädten zu amüsieren, denn hier durfte er
die strengen Regeln der thora, die auch für Könige galten,
etwas lockerer handhaben als im heiligen Jerusalem.
Sukkot, das herbstliche Laubhüttenfest im
Monat tishri, feierten Salome, Berenike und die Kinder daher
nur zu viert auf dem Land. Die beiden Frauen reisten in Sänften,
Gilead und Agrippinos dagegen galoppierten auf ihren jungen Pferden
die staubigen Wege entlang.
»Nicht so schnell«, mahnte Salome ihren Sohn,
sobald er ausnahmsweise einmal in Rufweite kam, doch es half
wenig.
»Er ist ein Wildfang«, lachte Berenike. »Das
bekommst du nicht aus ihm heraus.«
Salome lächelte. Gilead erinnerte sie tatsächlich
häufig an Timon. Die schwarzen Haare und Augen hatte er zwar von
ihr, doch die helle Haut und die schlanke, sehnige Gestalt stammten
eindeutig von Timon. Auch Gileads verhältnismäßig kleine Statur
rührte vom Vater. Er war verglichen mit Kindern seines Alters
beinahe einen halben Kopf kleiner, doch er glich dies durch
besondere Aufgewecktheit und Abenteuerlust aus. Agrippinos war weit
vorsichtiger als Gilead, und so kam es, dass er trotz seines
Altersvorsprungs selten derjenige war, der den Ton angab, sondern
sich häufig von Gilead mitreißen ließ.
Sie gelangten auf eine herrliche, weite Wiese, aus
der sich bei jedem Schritt Schmetterlingsschwärme erhoben. Dort
stellten sie die Körbe ab, breiteten Decken aus und holten alle
Speisen hervor, die der Erntesegen in diesem Jahr Judäa geschenkt
hatte: Trauben, Granatäpfel, aromatische Salate, Süßspeisen aus
Feigen …
»Halt«, rief Salome den Kindern zu, »noch nicht
essen.«
»Wir haben Hunger.«
»Erst brauchen wir ein traditionelles
sukkot-Gebinde auf unserer Tafel, bestehend aus vier
verschiedenen Zweigen. Von einer Myrte, weil sie wohlriechend ist,
von einer Dattel, weil ihre Früchte wohlschmeckend sind, von einem
Zitrusbaum, weil er sowohl wohlriechend wie auch wohlschmeckend
ist, und von …«
Berenike übernahm für sie. »Und von einer
Bachweide, die zwar weder wohlriechend noch wohlschmeckend ist,
dafür aber nützlich. Alle vier sind unerlässlich fürs Leben. Die
Weisheit ist …«
Gilead und Agrippinos sahen sich ratlos an, und die
Freundinnen riefen gleichzeitig: »Kein Mensch ist unnütz.«
Dann fielen die Frauen rücklings ins Gras und
lachten, während die Jungen sich auf die Suche nach den Zweigen
machten.
Salome und Berenike kicherten wie Mädchen. Vor
vielen Jahrzehnten waren sie diejenigen gewesen, die die Weisheiten
des jüdischen Glaubens vorgebetet bekommen hatten. Allerdings waren
ihre Väter dabei wesentlich ernster vorgegangen. Salome und
Berenike achteten heutzutage zwar viele der Bräuche – sie tauchten
zum Beispiel jedes neue Geschirr im Palast eigenhändig in einen
Brunnen -, doch für sie war es mehr ein Spaß als eine heilige
Handlung.
»Du konntest die Sprüche deines Vaters nicht
ausstehen«, erinnerte sich Berenike. »Und du hast auf der Suche
nach den Zweigen geschummelt.«
»Wie bitte?«, fragte Salome in gespielter
Empörung.
»Jawohl! Du hast dir die Zweige bereits im Palast
gepflückt und unter das Gewand gesteckt. So warst du immer früher
als wir anderen mit deinem Gebinde fertig und konntest dich über
das charosseth hermachen.«
»Danach hatte ich immer Bauchschmerzen.«
»Und du tatest mir dann sogar noch Leid. Schön dumm
von mir!«
Salome blickte ihre Freundin liebevoll über das
sattgrüne Gras an. »Im Gegenteil. Damals habe ich mir oft
gewünscht, etwas von deiner Güte und Sanftmut zu haben, und heute
ist das manchmal auch noch so. Weißt du, diese vielen Pläne, die
ich hatte, kamen mich teuer zu stehen.«
»Und wohin hat meine Sanftmut mich gebracht?«,
widersprach Berenike. »Nein, Salome, so darf man sein Leben nicht
betrachten. Natürlich hast du einiges verloren, andererseits auch
vieles gewonnen. Gilead, vor allem, außerdem ein glückliches Ashdod
und schließlich Philippi. Du hast etwas, worauf du stolz sein
kannst. Was mich angeht: Ich bin zufrieden wie nie zuvor. Durch das
neue Scheidungsgesetz konnte ich die letzte Verbindung zwischen
Kephallion und mir endlich kappen. Ich bin eine freie Frau. Und ich
werde Menahem heiraten.«
Salome gefiel der neueste Plan Berenikes nicht,
diesen Menahem zu heiraten. Zwar hatten die Bluttaten aufgehört,
und der Sektenführer Sadoq hatte kürzlich sogar verlautbaren
lassen, er werde die Zeloten bald auflösen, da ihr Ziel eines von
Rom befreiten Judäas vollbracht sei, doch Salome traute dem neuen
Frieden im Land noch nicht.
Berenike bemerkte Salomes Skepsis. »Er hat mich vor
Kephallion gerettet.«
»Er ist ein Zelot.«
»Ein gemäßigter Zelot.«
»Das ist ein Widerspruch in sich, so als würde man
sagen ›himmlische Unterwelt‹ oder ›milder Hass‹.«
»Du selbst hast Agrippa dazu überredet, die Zeloten
schon bald zu begnadigen.«
»Ja, damit in diesem Land endlich die Gewalt
aufhört. Nichtsdestotrotz diente dein Menahem jahrzehntelang einem
Verrückten.«
»Sadoq ist nicht verrückt. Er will Frieden und
Freiheit.«
»Dann hat er eine seltsame Art, seinem Willen
Ausdruck zu verleihen.«
»Kephallion hat ihn zu einigen falschen
Entscheidungen überredet.«
»Dann ist Sadoq nicht nur verrückt, sondern auch
beeinflussbar, und solche Menschen sind im höchsten Grade
gefährlich.«
»Nackte Frauen, die tanzen, können auch gefährlich
sein.«
Berenike bereute im nächsten Moment ihre Worte und
schlug sich die Hand vor den Mund. »Das hätte ich nicht sagen
dürfen, Salome. Bitte verzeih.«
Salome richtete sich halb auf und blickte ihre
Freundin mit todernster Miene an. »So leicht kommst du mir nicht
davon«, sagte sie eisig.
»Es tut mir Leid. Ein Wort hat das andere
gegeben.«
»Weißt du, wie ich vor vielen Jahren Timon bestraft
habe, als er mich beleidigte?«
Berenike schluckte. »Nein, wie?« Im nächsten Moment
klatschte ihr ein klebriger Klumpen charosseth ins
Gesicht.
»So!«, sagte Salome lachend. »Da hast du jetzt das
charosseth bekommen, das dir als Kind entgangen ist.«
Ehe sie sich’s versah, klatschte Berenike ihr eine
Hand voll des süßen Breis ins Gesicht, woraufhin die beiden sich
lachend und kreischend mit Datteln und Trauben bewarfen und bald
wie die Spätsommerwiese in allen Farben leuchteten.
Als Gilead und Agrippinos zurückkamen, trauten sie
ihren Augen nicht. »Werden wir auch mal so?«, fragte
Agrippinos.
Gilead lächelte. »Hoffentlich.«
Und dann stürzten sie sich in die Schlacht.
Der Winter kam in diesem Jahr ungewöhnlich früh
und heftig nach Nazareth. Eisige Stürme peitschten über die
Hochebenen Galiläas, denen schon bald die Stille des Schnees
folgte. Das Leben ruhte. Bauern und Handwerker saßen untätig in
ihren Häusern, Märkte schlossen, und Soldaten und Polizei gingen
nicht mehr auf Streife. Durch den Schnee konnte man kaum
vorankommen. Nur einer kämpfte sich auf seinem Pferd durch die
Täler bis nach Nazareth hinein.
Sadoq schloss eilig die Tür hinter seinem Gast, und
zwar nicht nur wegen der Kälte.
»Du hättest nicht kommen dürfen«, sagte er.
»Warum? Hast du Angst vor mir?« Kephallion wartete
nicht ab, bis Sadoq ihm anbot, den Mantel abzulegen, sondern warf
ihn über das nächstbeste Möbelstück. »Ich hätte viel mehr Grund,
Angst vor dir zu haben als umgekehrt. Schließlich hast du mich
damals verraten.«
Sadoq schüttelte den Kopf. »Nicht, bevor du mich
verraten hast.«
Kephallion grinste. »Geschichten von vorgestern,
Sadoq. So etwas sollte nicht länger zwischen uns stehen.« Er ging
zum wärmenden Kohlenbecken und rieb sich die Hände. Er kannte die
Kälte noch von früher, doch in den letzten Jahren hatte er in
Arabien gelebt, wo die Römer ihm nichts anhaben konnten. Was für
ein grauenhaftes Leben hatte er dort geführt! Er, ein judäischer
Prinz, ein Diener Gottes, beinahe mittellos in einem Land voller
Ungläubiger. Wie sehr hatte er diese Jahre gehasst. Und wie sehr
hasste er jene, die an seinem Martyrium schuld waren. Er würde es
ihnen allen heimzahlen: Berenike, Menahem, den Römern und – auch
Sadoq. Der, den er früher für den Messias angesehen hatte,
war für ihn jetzt nur noch ein gewöhnlicher Greis ohne Rückgrat,
ein Verräter aus Schwäche. Nicht nur, dass Sadoq sich damals gegen
seinen treuesten Anhänger gewandt hatte, gegen ihn, heute wandte
Sadoq sich sogar gegen die Bewegung als Ganzes, gegen die
zelotische Idee, denn er plante die Auflösung der Sekte. Als
Kephallion in seinem arabischen Exil davon gehört hatte, war ihm
die Erleuchtung gekommen – im wahrsten Sinne des Wortes. Welch
einem Irrtum war er so viele Jahre aufgesessen! Wie blind war er
doch für den wahren Willen des Herrn gewesen! Nicht Sadoq war der
Messias, der große Befreier des Volkes, sondern er
selbst war es, Kephallion. Er war dazu bestimmt, den Staat Gottes
zu errichten.
Aber mit dieser Erleuchtung war ihm auch die
Erkenntnis gekommen, dass er raffinierter und geduldiger als damals
vorgehen musste, um das erhabene Ziel zu erreichen. Zunächst einmal
musste er wieder in die Führungsriege der Zeloten aufgenommen
werden, denn nur von dort aus konnte er weiterkommen.
»Ich habe damals Fehler gemacht«, räumte er ein.
»Heute sehe ich die Dinge anders, das musst du mir glauben.«
Sadoq setzte sich müde auf ein Bodenkissen. »Was
macht das für einen Unterschied, ob ich dir glaube oder nicht? Die
Schlacht ist geschlagen, unser Kampf ist zu Ende. Der Zweck,
weshalb ich die Zeloten einst gründete, hat sich erfüllt. Judäa ist
frei. Ich warte nur noch auf die Bestätigung, dass alle Zeloten
begnadigt werden, dann löse ich die Sekte auf. Ich rechne noch in
diesem Monat mit der Amnestie des Königs.«
Des Königs, dachte Kephallion bitter. Warum fiel
das Volk bloß auf diesen so genannten König herein? Agrippa war
doch eher ein Römer denn ein Jude, eingesetzt vom römischen Kaiser,
dazu ein Sünder, der lieber in Caesarea seichten Vergnügen frönte,
als von Jerusalem aus Judäa zu einem starken Staat zu machen. Wenn
es noch eines Beweises bedurft hätte, wie gottlos Agrippa war, dann
musste man sich nur ansehen, welche Gesetze er in den letzten
Monaten beschlossen hatte: Rechte für Frauen, Bruch der
Traditionen, und alles unter dem Einfluss der Heidenhure
Salome.
»Gewiss, die Römer sind abgezogen, Sadoq, aber was
wäre, wenn Judäa nun von anderer Seite Gefahr drohte?«
Sadoq runzelte die faltige Stirn. »Ich verstehe
nicht. Von welcher Seite?«
»Antworte mir. Warum hast du die Zeloten
gegründet?«
»Wegen der Römer.«
»Es waren doch nicht nur Römer, die deinen Freund
Zelon umgebracht haben. Verräterische, vom Glauben abgefallene
Juden wie Archelaos waren ebenso beteiligt gewesen. Sind solche
Juden nicht ebenso unsere Feinde wie die Römer? Sind sie nicht noch
viel gefährlicher, weil sie unseren Glauben unterwandern?«
»Schon richtig. Aber diese Zeiten sind längst
vorbei, Kephallion. Agrippa mag nicht unser Idealkönig sein, aber
er ist kein Verräter an unserem Glauben.«
»Ich spreche nicht von Agrippa«, orakelte
Kephallion. »Im Gegenteil. Wenn ich dir nun sagen würde, dass
Agrippa die Zeloten bald schon bräuchte, um eine Gefahr vom Volk
abzuwehren, würdest du dich dann diesem Auftrag verweigern? Und
würdest du meinen Beistand in diesem Kampf ablehnen?«
Sadoq verstand überhaupt nichts mehr. »Natürlich
nicht«, antwortete er. »Er bittet uns, ihm zu
helfen?«
»Er wird, Sadoq, er wird. Erst muss ich Kontakt zu
den Pharisäern aufnehmen, dann …«
»Den Pharisäern?«
Kephallion grinste. »Bevor ich dir erzähle, worum
es geht, trinken wir erst einmal einen guten heißen Tee.«
Salome beugte sich in ihrem Gemach über den Plan
der heiligen Stadt und studierte ihn eingehend. Agrippa hatte sich
in den Kopf gesetzt, Jerusalem ein großartiges Bauwerk zu schenken,
das auf immer mit seinem Namen verknüpft werden sollte. Das war
schwierig, denn Jerusalem hatte von Herodes und seinen Vorgängern
bereits alles bekommen, was eine Stadt sich wünschen konnte:
Paläste, Festungen, Türme, Heiligtümer … Was Monumentalbauten
anging, stand Jerusalem Städten wie Alexandria und Antiochia in
nichts nach. Was hingegen fehlte, waren eine gute Wasserversorgung
und gepflasterte Straßen – die Gassen der Unterstadt wurden jeden
Winter zu Schlammlöchern. Doch davon wollte Agrippa nichts wissen.
Als sie ihm einen entsprechenden Vorschlag unterbreitet hatte,
hatte er sie angesehen, als sei sie nicht mehr ganz richtig im
Kopf. Er wollte nicht, dass sein Name in hundert Jahren mit simplen
Wasserleitungen oder ein paar Pflastersteinen verknüpft würde. Ihm
schwebte ein Jahrtausendwerk vor.
»Jahrtausendwerk, lächerlich«, murmelte Salome, als
ihr Blick über den Stadtplan huschte. Sie hatte für diesen
aberwitzigen und kostspieligen Plan insgeheim nur Hohn übrig.
»Warum nicht gleich ein Jahrmillionenwerk, warum nicht den Turm zu
Babylon neu errichten oder Jerusalem in Agrippopolis umbenennen?«
Natürlich war sie diplomatischer vorgegangen, als sie versucht
hatte, Agrippa diese Idee auszureden – vergeblich. Wenn also schon
monströs gebaut werden musste, dann wenigstens etwas Sinnvolles.
Ihr Zusammenleben mit Timon und der Bau Philippis hatten ihr Auge
für Pläne und Bauwerke geschärft, doch ihr wollten nur Gebäude
einfallen, die auch einen praktischen oder künstlerischen Zweck
erfüllten, oder solche, die nur von Nichtjuden genutzt würden, wie
zum Beispiel eine Therme. Agrippa bestand dagegen auf etwas, das
die Herzen des jüdischen Volkes erfreuen würde.
Ihr Finger glitt auf der Karte langsam von Norden
nach Süden, über die Hügel Golgatha und Ophel, über Oberstadt und
Unterstadt und wieder zurück. Es war zum Verzweifeln. Das Einzige,
was ihr einfiel, war ein Mausoleum für die kommenden Könige, aber
ob Agrippa so begeistert davon wäre, jetzt schon sein künftiges
Grabmal …
»Ich hatte die Möglichkeit, dich zu töten«, raunte
plötzlich eine Stimme hinter ihr.
Sie fuhr erschrocken herum.
»Kephallion!«
Er grinste. »Ich bin gerührt, dass du mich nach all
den Jahren sofort erkennst.«
Für einen Augenblick war es, als blicke sie einen
Geist an. Sie hatte diesen Mann, der früher sie und dann Berenike
gepeinigt hatte, völlig vergessen. Seine Züge waren noch
ausgeprägter als damals: pralle Backen und zwei tiefe Furchen an
der Nase entlang, die Augen in tiefen Höhlen liegend, ein kleiner
dicklippiger Mund, der schon seit langer Zeit nicht mehr ehrlich
gelacht zu haben schien – das Gesicht eines Menschen, der nur für
eine einzige Idee lebte.
»Deine Fratze würde ich immer erkennen, und wenn du
fünf Masken trügest«, erwiderte sie scharf. Sie hatte sich schnell
vom ersten Schreck erholt und blickte Kephallion misstrauisch
an.
»Zuletzt haben wir uns in Tiberias gesehen«, fuhr
er fort. »Das waren noch Zeiten, was? Zur Einweihung der Stadt
stand ich hinter dir und dem Römer, und beinahe hätte ich
zugestoßen.«
»Du warst schon immer ein Feigling«, parierte sie
und genoss das kurze zornige Aufblitzen in seinen Augen.
»Unverschämt wie je«, stellte er mit falschem
Grinsen fest.
Salome war angewidert von ihm. Seine Verbrechen
fielen unter die Amnestie, dagegen war nichts zu machen. Sie würde
jedoch verhindern, dass er wieder den Status eines Prinzen von
Judäa bekäme und womöglich in den Palast einzöge.
»Was willst du hier? Berenikes Hochzeit verhindern?
Das wird dir nicht gelingen. Sie ist rechtmäßig von dir geschieden
und kann heiraten, wen sie will.«
»Mir ist sogar recht, dass sie Menahem heiratet.
Dann leben sie zusammen und ich kann die beiden irgendwann –
besuchen. Das macht vieles einfacher für mich.«
»Ich rate dir gut, die beiden in Ruhe zu lassen,
sonst …«
Er lachte schallend. »Die Prinzessin droht mir. Ich
zittere, oh, siehst du, wie ich zittere?« Er ging einen Schritt auf
sie zu.
Sie wich instinktiv zurück und griff nach einem
Gegenstand.
»Nicht doch«, sagte er. »Du denkst doch wohl nicht,
ich würde Hand an dich legen? Jetzt bin ich enttäuscht. Nein, das
wäre billig und einfallslos. Ich habe mir etwas viel Besseres für
dich überlegt. Nacheinander werde ich dir alles nehmen, was dir
noch etwas bedeutet. Mit deinem Einfluss auf Agrippa fange ich
an.«
»Ich lasse dich auf der Stelle aus dem Palast
werfen.«
Wieder lachte er. »Typisch Salome, impulsiv bis ins
Grab. Ich gebe dir einen Rat. Das mit dem Rausschmiss solltest du
besser bleiben lassen, denn ich bin auf Einladung des Königs hier.
Noch in dieser Stunde habe ich eine Besprechung mit ihm, dem
Hohepriester und einem Führer der Pharisäer.«
»Mit … Agrippa?«, fragte sie verwundert.
»Soweit ich weiß, ist er der König – noch
jedenfalls. Er zählt auch zu den Dingen, die ich dir eines Tages
nehmen werde, ebenso übrigens wie deine Freundin und …« Er machte
eine Pause und funkelte sie gemein an. »Ich habe eben dein
niedliches Söhnchen getroffen. Dafür, dass er ein Hurensohn ist,
sieht er erstaunlich jüdisch aus. Für mich ein Zeichen, dass
jüdisches Blut stärker ist als griechisches. Dennoch bleibt der
Bursche ein Bastard, und niemand wird ihm eine Träne nachweinen,
wenn ich ihn eines Tages …«
Ihre Ohrfeige hallte wie ein Peitschenknall durch
das Gemach. »Wenn du ihn auch nur schief ansiehst«, flüsterte sie,
»wirst du es bereuen. Das schwöre ich dir, chamor.«
Kephallion rieb sich die feuerrote Wange. »Der
Letzte, der mich so genannt hat – mein Vater, wie du weißt – starb
mit meinem Dolch im Rücken. Du wirst länger leiden, Hure, das
schwöre ich dir.«
Salome wartete, bis Kephallion den Raum verlassen
hatte, dann erst setzte sie sich und atmete tief durch. Sie gestand
es sich nicht gerne ein, aber Kephallion hatte es geschafft, sie
aufzuregen. Seine Drohungen, seine unheimlichen Andeutungen
bezüglich Gilead und Agrippa … Und dann diese seltsame Besprechung:
der König, die Zeloten, die Pharisäer. Eine beunruhigende
Konstellation. Schon die Tatsache, dass zwei verfeindete Sekten bei
Agrippa zusammentrafen, verwirrte sie.
Kephallion hatte immer schon eine Spur von Gewalt
hinterlassen, wo er stand und ging. Wenn er nach Jerusalem gekommen
war, dann nur, um Verderben zu bringen.